Evangelii gaudium (Wortlaut): Unterschied zwischen den Versionen

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'''114.''' Kirche sein bedeutet Volk Gottes sein, in Übereinstimmung mit dem großen Plan der Liebe des Vaters. Das schließt ein, das Ferment Gottes inmitten der Menschheit zu sein. Es bedeutet, das Heil Gottes in dieser unserer Welt zu verkünden und es hineinzutragen in diese unsere Welt, die sich oft verliert, die es nötig hat, Antworten zu bekommen, die ermutigen, die Hoffnung geben, die auf dem Weg neue Kraft verleihen. Die Kirche muss der Ort der ungeschuldeten Barmherzigkeit sein, wo alle sich aufgenommen und geliebt fühlen können, wo sie Verzeihung erfahren und sich ermutigt fühlen können, gemäß dem guten Leben des Evangeliums zu leben.
 
'''114.''' Kirche sein bedeutet Volk Gottes sein, in Übereinstimmung mit dem großen Plan der Liebe des Vaters. Das schließt ein, das Ferment Gottes inmitten der Menschheit zu sein. Es bedeutet, das Heil Gottes in dieser unserer Welt zu verkünden und es hineinzutragen in diese unsere Welt, die sich oft verliert, die es nötig hat, Antworten zu bekommen, die ermutigen, die Hoffnung geben, die auf dem Weg neue Kraft verleihen. Die Kirche muss der Ort der ungeschuldeten Barmherzigkeit sein, wo alle sich aufgenommen und geliebt fühlen können, wo sie Verzeihung erfahren und sich ermutigt fühlen können, gemäß dem guten Leben des Evangeliums zu leben.
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====EIN VOLK DER VIELEN GESICHTER====
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'''115.''' Dieses Volk Gottes nimmt in den Völkern der Erde Gestalt an, und jedes dieser Völker besitzt seine eigene Kultur. Der Begriff der Kultur ist ein wertvolles Instrument, um die verschiedenen Ausdrucksformen des christlichen Lebens zu verstehen, die es im Volk Gottes gibt. Es handelt sich um den Lebensstil einer bestimmten Gesellschaft, um die charakteristische Weise ihrer Glieder, miteinander, mit den anderen Geschöpfen und mit Gott in Beziehung zu treten. So verstanden, umfasst die Kultur die Gesamtheit des Lebens eines Volkes.<ref>Vgl. III. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Puebla (23. März 1979), 386–387.</ref> Jedes Volk entwickelt in seinem geschichtlichen Werdegang die eigene Kultur in legitimer Autonomie.<ref>[[Zweites Vatikanisches Konzil]], [[Pastorale Konstitution]] [[Gaudium et spes]] über die Kirche in der Welt von heute, 36. </ref> Das ist darauf zurückzuführen, dass die menschliche Person »von ihrem Wesen selbst her des gesellschaftlichen Lebens durchaus bedarf«<ref>Ebd., 25.</ref> und immer auf die Gesellschaft bezogen ist, wo sie eine konkrete Weise lebt, mit der Wirklichkeit in Beziehung zu treten. Der Mensch ist immer kulturell beheimatet: »Natur und Kultur hängen engstens zusammen.«<ref>Ebd., 53.</ref> Die Gnade setzt die Kultur voraus, und die Gabe Gottes nimmt Gestalt an in der Kultur dessen, der sie empfängt.
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'''116.''' In diesen zwei Jahrtausenden des Christentums haben unzählige Völker die Gnade des Glaubens empfangen, haben sie in ihrem täglichen Leben erblühen lassen und sie entsprechend ihrer eigenen kulturellen Beschaffenheit weitergegeben. Wenn eine Gemeinschaft die Verkündigung des Heils aufnimmt, befruchtet der Heilige Geist ihre Kultur mit der verwandelnden Kraft des Evangeliums. So verfügt das Christentum, wie wir in der Geschichte der Kirche sehen können, nicht über ein einziges kulturelles Modell, sondern »es bewahrt voll seine eigene Identität in totaler Treue zur Verkündigung des Evangeliums und zur Tradition der Kirche und trägt auch das Angesicht der vielen Kulturen und Völker, in die es hineingegeben und verwurzelt wird«<ref>[[Papst]] [[Johannes Paul II.]], [[Apostolisches Schreiben]] [[Novo millennio ineunte]] (6. Januar 2001), 40: [[AAS]] 93 (2001), 294–295. </ref>. In den verschiedenen Völkern, die die Gabe Gottes entsprechend ihrer eigenen [[Kultur]] erfahren, drückt die Kirche ihre authentische Katholizität aus und zeigt die »Schönheit dieses vielseitigen Gesichtes«<ref>Ebd., 40: [[AAS]] 93 (2001), 295.</ref>. In den christlichen Ausdrucksformen eines evangelisierten Volkes verschönert der Heilige Geist die Kirche, indem er ihr neue Aspekte der Offenbarung zeigt und ihr ein neues Gesicht schenkt. In der Inkulturation führt die Kirche »die Völker mit ihren Kulturen in die Gemeinschaft mit ihr ein«<ref>[[Papst]] [[Johannes Paul II.]], [[Enzyklika]] [[Redemptoris missio]] (7. Dezember 1990), 52: [[AAS]] 83 (1991), 300; vgl. [[Apostolisches Schreiben]] [[Catechesi tradendae]] (16. Oktober 1979), 53: [[AAS]] 71 (1979), 1321.</ref>, denn »jede Kultur bietet Werte und positive Formen, welche die Weise, das Evangelium zu verkünden, zu verstehen und zu leben, bereichern können«<ref>[[Papst]] [[Johannes Paul II.]], Nachsynodales [[Apostolisches Schreiben]] [[Ecclesia in oceania]] (22. November 2001), 16: [[AAS]] 94 (2002), 384.</ref>. Auf diese Weise wird die Kirche »zur sponsa ornata monilibus suis, „Braut, die ihr Geschmeide anlegt“ (vgl. Jes 61,10) «<ref>DERS., Nachsynodales [[Apostolisches Schreiben]] [[Ecclesia in africa]] (14. September 1995), 61: [[AAS]] 88 (1996), 39.</ref>.
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'''117.''' Wenn sie richtig verstanden wird, bedroht die kulturelle Verschiedenheit die [[Einheit]] der Kirche nicht. Der vom Vater und vom Sohn gesandte Heilige Geist ist es, der unsere Herzen verwandelt und uns fähig macht, in die vollkommene Gemeinschaft der Heiligsten Dreifaltigkeit einzutreten, wo alles zur Einheit findet. Er schafft die Gemeinschaft und die Harmonie des Gottesvolkes. Der Heilige Geist ist selbst die Harmonie, so wie er das Band der Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist.<ref>Vgl. [[Thomas von Aquin]], S. Th. I, q. 39, a. 8 cons. 2: „Wenn man den Heiligen Geist ausschließt, der die Verbindung zwischen dem Vater und dem Sohn ist, kann man die Einigkeit beider nicht verstehen“; vgl. auch I, q. 37, a. 1, ad 3.</ref> Er ist derjenige, der einen vielfältigen und verschiedenartigen Reichtum der Gaben hervorruft und zugleich eine Einheit aufbaut, die niemals Einförmigkeit ist, sondern vielgestaltige Harmonie, die anzieht. Die Evangelisierung erkennt freudig diesen vielfältigen Reichtum, den der Heilige Geist in der Kirche erzeugt. Es würde der Logik der Inkarnation nicht gerecht, an ein monokulturelles und eintöniges Christentum zu denken. Obwohl es zutrifft, dass einige Kulturen eng mit der Verkündigung des Evangeliums und mit der Entwicklung des christlichen Denkens verbunden waren, identifiziert sich die offenbarte Botschaft mit keiner von ihnen und besitzt einen transkulturellen Inhalt. Darum kann man bei der Evangelisierung neuer Kulturen oder solcher, die die christliche Verkündigung noch nicht aufgenommen haben, darauf verzichten, zusammen mit dem Angebot des Evangeliums eine bestimmte Kulturform durchsetzen zu wollen, so schön und alt sie auch sein mag. Die Botschaft, die wir verkünden, weist immer irgendeine kulturelle Einkleidung vor, doch manchmal verfallen wir in der Kirche der selbstgefälligen Sakralisierung der eigenen Kultur, und damit können wir mehr Fanatismus als echten Missionseifer erkennen lassen.
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'''118.''' Die Bischöfe Ozeaniens haben gefordert, dass die Kirche dort »ein Verständnis und eine Darstellung der Wahrheit Christi entwickelt, welche die Traditionen und Kulturen der Region einbezieht«. Sie haben alle Missionare ermahnt, »in Harmonie mit den einheimischen Christen zu wirken, um sicherzustellen, dass der Glaube und das Leben der Kirche sich in legitimen, jeder einzelnen Kultur angemessenen Formen ausdrücken«.<ref>[[Papst]] [[Johannes Paul II.]], Nachsynodales [[Apostolisches Schreiben]] [[Ecclesia in oceania]] (22. November 2001), 17: [[AAS]] 94 (2002), 385.</ref> Wir können nicht verlangen, dass alle Völker aller Kontinente in ihrem Ausdruck des christlichen Glaubens die Modalitäten nachahmen, die die europäischen Völker zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte angenommen haben, denn der Glaube kann nicht in die Grenzen des Verständnisses und der Ausdrucksweise einer besonderen Kultur eingeschlossen werden.<ref>Vgl. DERS., Nachsynodales [[Apostolisches Schreiben]] [[Ecclesia in asia]] (6. November 1999), 20: [[AAS]] 92 (2000), 478–482.</ref> Es ist unbestreitbar, dass eine einzige Kultur das Erlösungsgeheimnis Christi nicht erschöpfend darstellt.
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====ALLE SIND WIR MISSIONARISCHE JÜNGER====
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'''119.''' In allen Getauften, vom ersten bis zum letzten, wirkt die heiligende Kraft des Geistes, die zur Evangelisierung drängt. Das Volk Gottes ist heilig in Entsprechung zu dieser Salbung, die es „in credendo“ unfehlbar macht. Das bedeutet, dass es, wenn es glaubt, sich nicht irrt, auch wenn es keine Worte findet, um seinen Glauben auszudrücken. Der Geist leitet es in der Wahrheit und führt es zum Heil.<ref>Vgl. [[Zweites Vatikanisches Konzil]], [[Dogmatische Konstitution]] [[Lumen gentium]] über die Kirche, 12.</ref> Als Teil seines Geheimnisses der Liebe zur Menschheit begabt Gott die Gesamtheit der Gläubigen mit einem Instinkt des Glaubens – dem sensus fidei –, der ihnen hilft, das zu unterscheiden, was wirklich von Gott kommt. Die Gegenwart des Geistes gewährt den Christen eine gewisse Wesensgleichheit mit den göttlichen Wirklichkeiten und eine Weisheit, die ihnen erlaubt, diese intuitiv zu erfassen, obwohl sie nicht über die geeigneten Mittel verfügen, sie genau auszudrücken.
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'''120.''' Kraft der empfangenen [[Taufe]] ist jedes Mitglied des Gottesvolkes ein missionarischer Jünger geworden (vgl. Mt 28,19). Jeder Getaufte ist, unabhängig von seiner Funktion in der Kirche und dem Bildungsniveau seines Glaubens, aktiver Träger der Evangelisierung, und es wäre unangemessen, an einen Evangelisierungsplan zu denken, der von qualifizierten Mitarbeitern umgesetzt würde, wobei der Rest des gläubigen Volkes nur Empfänger ihres Handelns wäre. Die neue Evangelisierung muss ein neues Verständnis der tragenden Rolle eines jeden Getauften einschließen. Diese Überzeugung wird zu einem unmittelbaren Aufruf an jeden Christen, dass niemand von seinem Einsatz in der Evangelisierung ablasse; wenn einer nämlich wirklich die ihn rettende Liebe Gottes erfahren hat, braucht er nicht viel Vorbereitungszeit, um sich aufzumachen und sie zu verkündigen; er kann nicht darauf warten, dass ihm viele Lektionen erteilt oder lange Anweisungen gegeben werden. Jeder Christ ist in dem Maß Missionar, in dem er der Liebe Gottes in Jesus Christus begegnet ist; wir sagen nicht mehr, dass wir „Jünger“ und „Missionare“ sind, sondern immer, dass wir „missionarische Jünger“ sind. Wenn wir nicht überzeugt sind, schauen wir auf die ersten Jünger, die sich unmittelbar, nachdem sie den Blick Jesu kennen gelernt hatten, aufmachten, um ihn voll Freude zu verkünden: »Wir haben den Messias gefunden « (Joh 1,41). Kaum hatte die Samariterin ihr Gespräch mit Jesus beendet, wurde sie Missionarin, und viele Samariter kamen zum Glauben an Jesus »auf das Wort der Frau hin« (Joh 4,39). Nach seiner Begegnung mit Jesus Christus machte sich auch der heilige Paulus auf, »und sogleich verkündete er Jesus … und sagte: Er ist der Sohn Gottes. « (Apg 9,20). Und wir, worauf warten wir?
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'''121.''' Gewiss sind wir alle gerufen, als Verkünder des Evangeliums zu wachsen. Zugleich bemühen wir uns um eine bessere Ausbildung, eine Vertiefung unserer Liebe und ein deutlicheres Zeugnis für das Evangelium. Daher müssen wir uns alle gefallen lassen, dass die anderen uns ständig evangelisieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir unterdessen von unserer Aufgabe zu evangelisieren absehen müssen, sondern wir sollen die Weise finden, die der Situation angemessen ist, in der wir uns befinden. In jedem Fall sind wir alle gerufen, den anderen ein klares Zeugnis der heilbringenden Liebe des Herrn zu geben, der uns jenseits unserer Unvollkommenheiten seine Nähe, sein Wort und seine Kraft schenkt und unserem Leben Sinn verleiht. Dein Herz weiß, dass das Leben ohne ihn nicht dasselbe ist. Was du entdeckt hast, was dir zu leben hilft und dir Hoffnung gibt, das sollst du den anderen mitteilen. Unsere Unvollkommenheit darf keine Entschuldigung sein; im Gegenteil, die Aufgabe ist ein ständiger Anreiz, sich nicht der Mittelmäßigkeit hinzugeben, sondern weiter zu wachsen. Das Glaubenszeugnis, das jeder Christ zu geben berufen ist, schließt ein, wie der heilige Paulus zu bekräftigen: »Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen … und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist « (Phil 3,12-13).
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====DIE EVANGELISIERENDE KRAFT DER VOLKSFRÖMMIGKEIT====
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'''122.''' In gleicher Weise können wir uns vorstellen, dass die verschiedenen Völker, in die das Evangelium inkulturiert worden ist, aktive kollektive Träger und Vermittler der Evangelisierung sind. Das ist tatsächlich so, weil jedes Volk der Schöpfer der eigenen Kultur und der Protagonist der eigenen Geschichte ist. Die Kultur ist etwas Dynamisches, das von einem Volk ständig neu erschaffen wird; und jede Generation gibt an die folgende eine Gesamtheit von auf die verschiedenen Lebenssituationen bezogenen Einstellungen weiter, die diese angesichts ihrer eigenen Herausforderungen überarbeiten muss. Der Mensch »ist zugleich Kind und Vater der Kultur, in der er eingebunden ist«.<ref>[[Papst]] [[Johannes Paul II.]], [[Enzyklika]] [[Fides et ratio]] (14. September 1998), 71: [[AAS]] 91 (1999), 60.</ref> Wenn in einem Volk das Evangelium inkulturiert worden ist, gibt es in seinem Prozess der Übermittlung der Kultur auch den Glauben auf immer neue Weise weiter; daher die Wichtigkeit der als Inkulturation verstandenen Evangelisierung. Jeder Teil des Gottesvolkes gibt, indem er die Gabe Gottes dem eigenen Geist entsprechend in sein Leben überträgt, Zeugnis für den empfangenen Glauben und bereichert ihn mit neuen, aussagekräftigen Ausdrucksformen. Man kann sagen: »Das Volk evangelisiert fortwährend sich selbst.«<ref>III. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Puebla (23. März 1979), 450; vgl. V. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 264. </ref> Hier ist die Volksfrömmigkeit von Bedeutung, die ein authentischer Ausdruck des spontanen missionarischen Handelns des Gottesvolkes ist. Es handelt sich um eine in fortwährender Entwicklung begriffene Wirklichkeit, in der der Heilige Geist der Protagonist ist.<ref>Vgl. [[Papst]] [[Johannes Paul II.]], Nachsynodales [[Apostolisches Schreiben]] [[Ecclesia in asia]] (6. November 1999), 21: [[AAS]] 92 (2000), 482–484.</ref>
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'''123.''' In der [[Volksfrömmigkeit]] kann man die Weise erfassen, in der der empfangene Glaube in einer Kultur Gestalt angenommen hat und ständig weitergegeben wird. Während sie zeitweise mit Misstrauen betrachtet wurde, war sie in den Jahrzehnten nach dem Konzil Gegenstand einer Neubewertung. Paul VI. hat in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi einen entscheidenden Impuls in diesem Sinn gegeben. Dort erklärt er, dass in der Volksfrömmigkeit »ein Hunger nach Gott zum Ausdruck (kommt), wie ihn nur die Einfachen und Armen kennen«<ref>Nr. 48: [[AAS]] 68 (1976), 38.</ref>, und fährt fort: »Sie befähigt zur Großmut und zum Opfer, ja zum Heroismus, wenn es gilt, den Glauben zu bekunden«<ref>Ebd.</ref>. Näher an unseren Tagen hat Benedikt XVI. in Lateinamerika darauf hingewiesen, dass sie »ein kostbarer Schatz der katholischen Kirche« ist und dass in ihr »die Seele der lateinamerikanischen Völker zum Vorschein kommt«.<ref>Ansprache während der Eröffnungssitzung der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik (13. Mai 2007), 1: [[AAS]] 99 (2007), 446–447.</ref>
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'''124.''' Im Dokument von Aparecida werden die Reichtümer beschrieben, die der Heilige Geist in der Volksfrömmigkeit mit seiner unentgeltlichen Initiative entfaltet. In jenem geliebten Kontinent, wo viele Christen ihren Glauben durch die Volksfrömmigkeit zum Ausdruck bringen, nennen die Bischöfe sie auch »Volksspiritualität« oder »Volksmystik«.<ref>V. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 262.</ref> Es handelt sich um eine wahre »in der Kultur der Einfachen verkörperte Spiritualität«<ref>Ebd., 263. </ref>. Sie ist nicht etwa ohne Inhalte, sondern sie entdeckt und drückt diese mehr auf symbolischem Wege als durch den Gebrauch des funktionellen Verstandes aus, und im Glaubensakt betont sie mehr das credere in Deum als das credere Deum<ref>Vgl. [[Thomas von Aquin]], [[Summa theologiae]] II–II, q. 2, a. 2.</ref>. Es ist »eine legitime Weise, den Glauben zu leben, eine Weise, sich als Teil der Kirche zu fühlen und Missionar zu sein«<ref>V. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 264.</ref>; sie bringt die Gnade des Missionsgeistes, des Aus-sich-Herausgehens und des Pilgerseins mit sich: »Das gemeinsame Gehen zu den Wallfahrtsorten und die Teilnahme an anderen Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit, wobei man auch die Kinder mitnimmt oder andere Menschen dazu einlädt, ist in sich selbst ein Akt der Evangelisierung.«<ref>Ebd.</ref> Tun wir dieser missionarischen Kraft keinen Zwang an und maßen wir uns nicht an, sie zu kontrollieren!
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'''125.''' Um diese Wirklichkeit zu verstehen, muss man sich ihr mit dem Blick des Guten Hirten nähern, der nicht darauf aus ist, zu urteilen, sondern zu lieben. Allein von der natürlichen Hinneigung her, die die Liebe schenkt, können wir das gottgefällige Leben würdigen, das in der Frömmigkeit der christlichen Völker, besonders bei den Armen, vorhanden ist. Ich denke an den festen Glauben jener Mütter am Krankenbett des Sohnes, die sich an einen Rosenkranz klammern, auch wenn sie die Sätze des Credo nicht zusammenbringen; oder an den enormen Gehalt an Hoffnung, der sich mit einer Kerze verbreitet, die in einer bescheidenen Wohnung angezündet wird, um Maria um Hilfe zu bitten; oder an jene von tiefer Liebe erfüllten Blicke auf den gekreuzigten Christus. Wer das heilige gläubige Volk Gottes liebt, kann diese Handlungen nicht einzig als eine natürliche Suche des Göttlichen ansehen. Sie sind der Ausdruck eines gottgefälligen Lebens, beseelt vom Wirken des Heiligen Geistes, der in unsere Herzen eingegossen ist (vgl. Röm 5,5).
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'''126.''' Da die [[Volksfrömmigkeit]] Frucht des inkulturierten Evangeliums ist, ist in ihr eine aktiv evangelisierende Kraft eingeschlossen, die wir nicht unterschätzen dürfen; anderenfalls würden wir die Wirkung des Heiligen Geistes verkennen. Wir sind vielmehr aufgerufen, sie zu fördern und zu verstärken, um den Prozess der Inkulturation zu vertiefen, der niemals abgeschlossen ist. Die Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit haben vieles, das sie uns lehren können, und für den, der imstande ist, sie zu deuten, sind sie ein theologischer Ort. Diesem sollen wir Aufmerksamkeit schenken, besonders im Hinblick auf die neue Evangelisierung.
  
 
[Fortsetzung folgt]
 
[Fortsetzung folgt]

Version vom 8. Mai 2014, 09:37 Uhr

Apostolisches Schreiben
Evangelii gaudium

unseres Heiligen Vaters
Franziskus
an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und die christgläubigen Laien
über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute
24. November 2013

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite,
Die Anmerkungen sind aus: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 194)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Inhaltsverzeichnis

Die Freude des Evangeliums

1. Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen. Diejenigen, die sich von ihm retten lassen, sind befreit von der Sünde, von der Traurigkeit, von der inneren Leere und von der Vereinsamung. Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder – die Freude. In diesem Schreiben möchte ich mich an die Christgläubigen wenden, um sie zu einer neuen Etappe der Evangelisierung einzuladen, die von dieser Freude geprägt ist, und um Wege für den Lauf der Kirche in den kommenden Jahren aufzuzeigen.

I. FREUDE, DIE SICH ERNEUERT UND SICH MITTEILT

2. Die große Gefahr der Welt von heute mit ihrem vielfältigen und erdrückenden Konsumangebot ist eine individualistische Traurigkeit, die aus einem bequemen, begehrlichen Herzen hervorgeht, aus der krankhaften Suche nach oberflächlichen Vergnügungen, aus einer abgeschotteten Geisteshaltung. Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließt, gibt es keinen Raum mehr für die anderen, finden die Armen keinen Einlass mehr, hört man nicht mehr die Stimme Gottes, genießt man nicht mehr die innige Freude über seine Liebe, regt sich nicht die Begeisterung, das Gute zu tun. Auch die Gläubigen laufen nachweislich und fortwährend diese Gefahr. Viele erliegen ihr und werden zu gereizten, unzufriedenen, empfindungslosen Menschen. Das ist nicht die Wahl eines würdigen und erfüllten Lebens, das ist nicht Gottes Wille für uns, das ist nicht das Leben im Geist, das aus dem Herzen des auferstandenen Christus hervorsprudelt.

3. Ich lade jeden Christen ein, gleich an welchem Ort und in welcher Lage er sich befindet, noch heute seine persönliche Begegnung mit Jesus Christus zu erneuern oder zumindest den Entschluss zu fassen, sich von ihm finden zu lassen, ihn jeden Tag ohne Unterlass zu suchen. Es gibt keinen Grund, weshalb jemand meinen könnte, diese Einladung gelte nicht ihm, denn » niemand ist von der Freude ausgeschlossen, die der Herr uns bringt «.<ref>Paul VI., Apostolisches Schreiben Gaudete in domino (9. Mai 1975), 22: AAS 67 (1975), 297.</ref> Wer etwas wagt, den enttäuscht der Herr nicht, und wenn jemand einen kleinen Schritt auf Jesus zu macht, entdeckt er, dass dieser bereits mit offenen Armen auf sein Kommen wartete. Das ist der Augenblick, um zu Jesus Christus zu sagen: „Herr, ich habe mich täuschen lassen, auf tausenderlei Weise bin ich vor deiner Liebe geflohen, doch hier bin ich wieder, um meinen Bund mit dir zu erneuern. Ich brauche dich. Kaufe mich wieder frei, nimm mich noch einmal auf in deine erlösenden Arme.“ Es tut uns so gut, zu ihm zurückzukehren, wenn wir uns verloren haben! Ich beharre noch einmal darauf: Gott wird niemals müde zu verzeihen; wir sind es, die müde werden, um sein Erbarmen zu bitten. Der uns aufgefordert hat, » siebenundsiebzigmal « zu vergeben (Mt 18,22), ist uns ein Vorbild: Er vergibt siebenundsiebzigmal. Ein ums andere Mal lädt er uns wieder auf seine Schultern. Niemand kann uns die Würde nehmen, die diese unendliche und unerschütterliche Liebe uns verleiht. Mit einem Feingefühl, das uns niemals enttäuscht und uns immer die Freude zurückgeben kann, erlaubt er uns, das Haupt zu erheben und neu zu beginnen. Fliehen wir nicht vor der Auferstehung Jesu, geben wir uns niemals geschlagen, was auch immer geschehen mag. Nichts soll stärker sein als sein Leben, das uns vorantreibt!

4. Die Bücher des Alten Testaments hatten die Freude des Heils angekündigt, die es dann in den messianischen Zeiten im Überfluss geben sollte. Der Prophet Jesaja wendet sich an den erwarteten Messias und begrüßt ihn voll Freude: » Du erregst lauten Jubel und schenkst große Freude. Man freut sich in deiner Nähe… « (9,2). Und er ermuntert die Bewohner von Zion, ihn mit Gesängen zu empfangen: » Jauchzt und jubelt! « (12,6). Den, der ihn schon am Horizont gesehen hat, lädt der Prophet ein, zu einem Boten für die anderen zu werden: » Steig auf einen hohen Berg, Zion, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme mit Macht, Jerusalem, du Botin der Freude! « (40,9). Die ganze Schöpfung nimmt an dieser Freude des Heils teil: » Jubelt, ihr Himmel, jauchze, o Erde, freut euch, ihr Berge! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und sich seiner Armen erbarmt « (49,13).

Sacharja sieht den Tag des Herrn und fordert dazu auf, den König hochleben zu lassen, der » demütig « kommt und » auf einem Esel reitet «: » Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft « (9,9).

Aber die am stärksten mitreißende Aufforderung ist wohl die des Propheten Zefanja, der uns Gott selbst wie einen leuchtenden Mittelpunkt des Festes und der Fröhlichkeit vor Augen führt, der seinem Volk diese heilbringende Freude vermittelt. Es ergreift mich, wenn ich diesen Text wieder lese: » Der Herr, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein Held, der Rettung bringt. Er freut sich und jubelt über dich, er erneuert seine Liebe zu dir, er jubelt über dich und frohlockt « (3,17). Es ist die Freude, die man in den kleinen Dingen des Alltags erlebt, als Antwort auf die liebevolle Einladung Gottes, unseres Vaters: » Mein Sohn, wenn du imstande bist, pflege dich selbst (…) Versag dir nicht das Glück des heutigen Tages « (Sir 14,11.14). Wie viel zärtliche Vaterliebe ist in diesen Worten zu spüren!

5. Das Evangelium, in dem das Kreuz Christi „glorreich“ erstrahlt, lädt mit Nachdruck zur Freude ein. Nur einige Beispiele: » Chaire – freue dich « ist der Gruß des Engels an Maria (Lk 1,28). Der Besuch Marias bei Elisabet lässt Johannes im Mutterschoß vor Freude hüpfen (vgl. Lk 1,41). In ihrem Lobgesang bekundet Maria: » Mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter « (Lk 1,47). Als Jesus sein öffentliches Wirken beginnt, ruft Johannes aus: » Nun ist diese meine Freude vollkommen « (Joh 3,29). Jesus selber » rief (…) vom Heiligen Geist erfüllt, voll Freude aus… « (Lk 10,21). Seine Botschaft ist Quelle der Freude: » Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird « (Joh 15,11). Unsere christliche Freude entspringt der Quelle seines überfließenden Herzens. Er verheißt seinen Jüngern: » Ihr werdet bekümmert sein, aber euer Kummer wird sich in Freude verwandeln « (Joh 16,20), und beharrt darauf: » Ich werde euch wiedersehen; dann wird euer Herz sich freuen, und niemand nimmt euch eure Freude « (Joh 16,22). Als sie ihn später als Auferstandenen sahen, » freuten « sie sich (Joh 20,20). Die Apostelgeschichte erzählt von der ersten Gemeinde: Sie »hielten miteinander Mahl in Freude « (2,46). Wo die Jünger vorbeikamen, » herrschte große Freude « (8,8), und sie selber waren mitten in der Verfolgung » voll Freude « (13,52). Ein äthiopischer Hofbeamter zog, nachdem er die Taufe empfangen hatte, » voll Freude « weiter (8,39), und der Gefängniswärter » war mit seinem ganzen Haus voll Freude, weil er zum Glauben an Gott gekommen war « (16,34). Warum wollen nicht auch wir in diesen Strom der Freude eintreten?

6. Es gibt Christen, deren Lebensart wie eine Fastenzeit ohne Ostern erscheint. Doch ich gebe zu, dass man die Freude nicht in allen Lebensabschnitten und -umständen, die manchmal sehr hart sind, in gleicher Weise erlebt. Sie passt sich an und verwandelt sich, und bleibt immer wenigstens wie ein Lichtstrahl, der aus der persönlichen Gewissheit hervorgeht, jenseits von allem grenzenlos geliebt zu sein. Ich verstehe die Menschen, die wegen der schweren Nöte, unter denen sie zu leiden haben, zur Traurigkeit neigen, doch nach und nach muss man zulassen, dass die Glaubensfreude zu erwachen beginnt, wie eine geheime, aber feste Zuversicht, auch mitten in den schlimmsten Ängsten: » Du hast mich aus dem Frieden hinausgestoßen; ich habe vergessen, was Glück ist (…) Das will ich mir zu Herzen nehmen, darauf darf ich harren: Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende. Neu ist es an jedem Morgen; groß ist deine Treue (…) Gut ist es, schweigend zu harren auf die Hilfe des Herrn « (Klgl 3,17.21-13.26).

7. Die Versuchung erscheint häufig in Form von Entschuldigungen und Beanstandungen, als müssten unzählige Bedingungen erfüllt sein, damit Freude möglich ist. Denn » es ist der technologischen Gesellschaft gelungen, die Vergnügungsangebote zu vervielfachen, doch es fällt ihr sehr schwer, Freude zu erzeugen «.<ref>Ebd., 8: AAS 67 (1975), 292.</ref> Ich kann wohl sagen, dass die schönsten und spontansten Freuden, die ich im Laufe meines Lebens gesehen habe, die ganz armer Leute waren, die wenig haben, an das sie sich klammern können. Ich erinnere mich auch an die unverfälschte Freude derer, die es verstanden haben, sogar inmitten bedeutender beruflicher Verpflichtungen ein gläubiges, großzügiges und einfaches Herz zu bewahren. Auf verschiedene Weise schöpfen diese Freuden aus der Quelle der stets größeren Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus kundgetan hat. Ich werde nicht müde, jene Worte Benedikts XVI. zu wiederholen, die uns zum Zentrum des Evangeliums führen: » Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt. «<ref>Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 1: AAS 98 (2006), 217.</ref>

8. Allein dank dieser Begegnung – oder Wiederbegegnung – mit der Liebe Gottes, die zu einer glücklichen Freundschaft wird, werden wir von unserer abgeschotteten Geisteshaltung und aus unserer Selbstbezogenheit erlöst. Unser volles Menschsein erreichen wir, wenn wir mehr als nur menschlich sind, wenn wir Gott erlauben, uns über uns selbst hinaus zu führen, damit wir zu unserem eigentlicheren Sein gelangen. Dort liegt die Quelle der Evangelisierung. Wenn nämlich jemand diese Liebe angenommen hat, die ihm den Sinn des Lebens zurückgibt, wie kann er dann den Wunsch zurückhalten, sie den anderen mitzuteilen?

II. DIE INNIGE UND TRÖSTLICHE FREUDE DER VERKÜNDIGUNG DES EVANGELIUMS

9. Das Gute neigt immer dazu, sich mitzuteilen. Jede echte Erfahrung von Wahrheit und Schönheit sucht von sich aus, sich zu verbreiten, und jeder Mensch, der eine tiefe Befreiung erfährt, erwirbt eine größere Sensibilität für die Bedürfnisse der anderen. Wenn man das Gute mitteilt, fasst es Fuß und entwickelt sich. Darum gibt es für jeden, der ein würdiges und erfülltes Leben zu führen wünscht, keinen anderen Weg, als den anderen anzuerkennen und sein Wohl zu suchen. So dürften uns also einige Worte des heiligen Paulus nicht verwundern: » Die Liebe Christi drängt uns « (2 Kor 5,14); » Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde! « (1 Kor 9,16).

10. Der Vorschlag lautet, auf einer höheren Ebene zu leben, jedoch nicht weniger intensiv: » Das Leben wird reicher, wenn man es hingibt; es verkümmert, wenn man sich isoliert und es sich bequem macht. In der Tat, die größte Freude am Leben erfahren jene, die sich nicht um jeden Preis absichern, sondern sich vielmehr leidenschaftlich dazu gesandt wissen, anderen Leben zu geben. «<ref>V. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 360. </ref> Wenn die Kirche zum Einsatz in der Verkündigung aufruft, tut sie nichts anderes, als den Christen die wahre Dynamik der Selbstverwirklichung aufzuzeigen: » Hier entdecken wir ein weiteres Grundgesetz der Wirklichkeit: Das Leben wird reifer und reicher, je mehr man es hingibt, um anderen Leben zu geben. Darin besteht letztendlich die Mission. «<ref>Ebd. </ref> Folglich dürfte ein Verkünder des Evangeliums nicht ständig ein Gesicht wie bei einer Beerdigung haben. Gewinnen wir den Eifer zurück, mehren wir ihn und mit ihm » die innige und tröstliche Freude der Verkündigung des Evangeliums, selbst wenn wir unter Tränen säen sollten (…) Die Welt von heute, die sowohl in Angst wie in Hoffnung auf der Suche ist, möge die Frohbotschaft nicht aus dem Munde trauriger und mutlos gemachter Verkünder hören, die keine Geduld haben und ängstlich sind, sondern von Dienern des Evangeliums, deren Leben voller Glut erstrahlt, die als erste die Freude Christi in sich aufgenommen haben. «<ref>Papst Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 80: AAS 68 (1976), 75.</ref>

EINE EWIGE NEUHEIT

11. Eine erneuerte Verkündigung schenkt den Gläubigen – auch den lauen oder nicht praktizierenden – eine neue Freude im Glauben und eine missionarische Fruchtbarkeit. In Wirklichkeit ist das Zentrum und das Wesen des Glaubens immer dasselbe: der Gott, der seine unermessliche Liebe im gestorbenen und auferstandenen Christus offenbart hat. Er lässt seine Gläubigen immer neu sein, wie alt sie auch sein mögen; sie » schöpfen neue Kraft, sie bekommen Flügel wie Adler. Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und werden nicht matt « (Jes 40,31). Christus ist das » ewige Evangelium « (Offb 14,6), und er ist » derselbe gestern, heute und in Ewigkeit « (Hebr 13,8), aber sein Reichtum und seine Schönheit sind unerschöpflich. Er ist immer jung und eine ständige Quelle von Neuem. Die Kirche hört nicht auf zu staunen über die » Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes « (Röm 11,33). Der heilige Johannes vom Kreuz sagte: » Dieses Dickicht von Gottes Weisheit und Wissen ist so tief und unendlich, dass ein Mensch, auch wenn er noch so viel davon weiß, immer noch tiefer eindringen kann. «<ref>Geistlicher Gesang, 36, 10.</ref> Oder mit den Worten des heiligen Irenäus: » (Christus) hat jede Neuheit gebracht, indem er sich selber brachte. «<ref>Adversus haereses, IV, Kap. 34, Nr. 1: PG 7, 1083: „Omnem novitatem attulit, semetipsum afferens.“</ref> Er kann mit seiner Neuheit immer unser Leben und unsere Gemeinschaft erneuern, und selbst dann, wenn die christliche Botschaft dunkle Zeiten und kirchliche Schwachheiten durchläuft, altert sie nie. Jesus Christus kann auch die langweiligen Schablonen durchbrechen, in denen wir uns anmaßen, ihn gefangen zu halten, und überrascht uns mit seiner beständigen göttlichen Kreativität. Jedes Mal, wenn wir versuchen, zur Quelle zurückzukehren und die ursprüngliche Frische des Evangeliums wiederzugewinnen, tauchen neue Wege, kreative Methoden, andere Ausdrucksformen, aussagekräftigere Zeichen und Worte reich an neuer Bedeutung für die Welt von heute auf. In der Tat, jedes echte missionarische Handeln ist immer „neu“.

12. Obwohl dieser Auftrag uns einen großherzigen Einsatz abverlangt, wäre es ein Irrtum, ihn als heldenhafte persönliche Aufgabe anzusehen, da es vor allem sein Werk ist, jenseits von dem, was wir herausfinden und verstehen können. Jesus ist » der allererste und größte Künder des Evangeliums «.<ref> Papst Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 7: AAS 68 (1976), 9.</ref> In jeglicher Form von Evangelisierung liegt der Vorrang immer bei Gott, der uns zur Mitarbeit mit ihm gerufen und uns mit der Kraft seines Geistes angespornt hat. Die wahre Neuheit ist die, welche Gott selber geheimnisvoll hervorbringen will, die er eingibt, die er erweckt, die er auf tausenderlei Weise lenkt und begleitet. Im ganzen Leben der Kirche muss man immer deutlich machen, dass die Initiative bei Gott liegt, dass » er uns zuerst geliebt « hat (1 Joh 4,19) und dass es » nur Gott (ist), der wachsen lässt « (1 Kor 3,7). Diese Überzeugung erlaubt uns, inmitten einer so anspruchsvollen und herausfordernden Aufgabe, die unser Leben ganz und gar vereinnahmt, die Freude zu bewahren. Sie verlangt von uns alles, aber zugleich bietet sie uns alles.

13. Wir dürfen die Neuheit dieses Auftrags auch nicht wie eine Entwurzelung verstehen, wie ein Vergessen der lebendigen Geschichte, die uns aufnimmt und uns vorantreibt. Das Gedächtnis ist eine Dimension unseres Glaubens, die wir „deuteronomisch“ nennen könnten, in Analogie zum Gedächtnis Israels. Jesus hinterlässt uns die Eucharistie als tägliches Gedächtnis der Kirche, das uns immer mehr in das Paschageheimnis einführt (vgl. Lk 22,19). Die Freude der Verkündigung erstrahlt immer auf dem Hintergrund der dankbaren Erinnerung: Es ist eine Gnade, die wir erbitten müssen. Die Apostel haben nie den Moment vergessen, in dem Jesus ihr Herz anrührte: » Es war um die zehnte Stunde « (Joh 1,39). Gemeinsam mit Jesus vergegenwärtigt uns das Gedächtnis eine wahre » Wolke von Zeugen « (Hebr 12,1). Unter ihnen heben sich einige Personen hervor, die besonders prägend dazu beigetragen haben, dass unsere Glaubensfreude aufkeimte: » Denkt an eure Vorsteher, die euch das Wort Gottes verkündet haben « (Hebr 13,7). Manchmal handelt es sich um einfache Menschen in unserer Nähe, die uns in das Glaubensleben eingeführt haben: » Ich denke an deinen aufrichtigen Glauben, der schon in deiner Großmutter Loïs und in deiner Mutter Eunike lebendig war « (2 Tim 1,5). Der Gläubige ist grundsätzlich ein „Erinnerungsmensch“.

III. DIE NEUE EVANGELISIERUNG FÜR DIE WEITERGABE DES GLAUBENS

14. Im Hören auf den Geist, der uns hilft, gemeinschaftlich die Zeichen der Zeit zu erkennen, wurde vom 7. bis zum 28. Oktober 2012 die XIII. Ordentliche Vollversammlung der Bischofssynode unter dem Thema Die neue Evangelisierung für die Weitergabe des christlichen Glaubens abgehalten. Dort wurde daran erinnert, dass die neue Evangelisierung alle aufruft und dass sie sich grundsätzlich in drei Bereichen abspielt.<ref>Vgl. Propositio 7. 11</ref> An erster Stelle erwähnen wir den Bereich der gewöhnlichen Seelsorge, » die mehr vom Feuer des Heiligen Geistes belebt sein muss, um die Herzen der Gläubigen zu entzünden, die sich regelmäßig in der Gemeinde zusammenfinden und sich am Tag des Herrn versammeln, um sich vom Wort Gottes und vom Brot ewigen Lebens zu ernähren «.<ref>Papst Benedikt XVI., Homilie während der Eucharistiefeier zum Abschluss der XIII. Ordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode (28. Oktober 2012): AAS 104 (2012), 890.</ref> In diesen Bereich sind ebenso die Gläubigen einzubeziehen, die einen festen und ehrlichen katholischen Glauben bewahren und ihn auf verschiedene Weise zum Ausdruck bringen, auch wenn sie nicht häufig am Gottesdienst teilnehmen. Diese Seelsorge ist auf das Wachstum der Gläubigen ausgerichtet, damit sie immer besser und mit ihrem ganzen Leben auf die Liebe Gottes antworten.

An zweiter Stelle erwähnen wir den Bereich der » Getauften, die jedoch in ihrer Lebensweise den Ansprüchen der Taufe nicht gerecht werden «,<ref>Ebd. </ref> keine innere Zugehörigkeit zur Kirche haben und nicht mehr die Tröstung des Glaubens erfahren. Als stets aufmerksame Mutter setzt sich die Kirche dafür ein, dass sie eine Umkehr erleben, die ihnen die Freude am Glauben und den Wunsch, sich mit dem Evangelium zu beschäftigen, zurückgibt.

Schließlich unterstreichen wir, dass die Evangelisierung wesentlich verbunden ist mit der Verkündigung des Evangeliums an diejenigen, die Jesus Christus nicht kennen oder ihn immer abgelehnt haben. Viele von ihnen suchen Gott insgeheim, bewegt von der Sehnsucht nach seinem Angesicht, auch in Ländern alter christlicher Tradition. Alle haben das Recht, das Evangelium zu empfangen. Die Christen haben die Pflicht, es ausnahmslos allen zu verkünden, nicht wie jemand, der eine neue Verpflichtung auferlegt, sondern wie jemand, der eine Freude teilt, einen schönen Horizont aufzeigt, ein erstrebenswertes Festmahl anbietet. Die Kirche wächst nicht durch Prosyletismus, sondern » durch Anziehung «.<ref>Papst Benedikt XVI., Homilie während der Eucharistiefeier zur Eröffnung der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik im Heiligtum „La Aparecida“ (13. Mai 2007): AAS 99 (2007), 437.</ref>

15. Johannes Paul II. hat uns ans Herz gelegt anzuerkennen, dass » die Kraft nicht verloren gehen (darf) für die Verkündigung « an jene, die fern sind von Christus, denn dies ist » die erste Aufgabe der Kirche «.<ref>Enzyklika Redemptoris missio (7. Dezember 1990), 34: AAS 83 (1991), 280.</ref> » Die Missionstätigkeit stellt auch heute noch die größte Herausforderung für die Kirche dar «<ref>Ebd., 40: AAS 83 (1991), 287. </ref>, und so » muss das missionarische Anliegen das erste sein «.<ref>Ebd., 86: AAS 83 (1991), 333.</ref> Was würde geschehen, wenn wir diese Worte wirklich ernst nehmen würden? Wir würden einfach erkennen, dass das missionarische Handeln das Paradigma für alles Wirken der Kirche ist. Auf dieser Linie haben die lateinamerikanischen Bischöfe bekräftigt: » Wir können nicht passiv abwartend in unseren Kirchenräumen sitzen bleiben «,<ref>V. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 548. </ref> und die Notwendigkeit betont, » von einer rein bewahrenden Pastoral zu einer entschieden missionarischen Pastoral überzugehen «.<ref>Ebd., 370.</ref> Diese Aufgabe ist weiterhin die Quelle der größten Freuden für die Kirche: » Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren « (Lk 15,7).

ANLIEGEN UND GRENZEN DIESES SCHREIBENS

16. Ich habe die Einladung der Synodenväter, dieses Schreiben zu verfassen, gerne angenommen.<ref>Vgl. Propositio 1.</ref> Indem ich es tue, ernte ich den Reichtum der Arbeiten der Synode. Ich habe auch verschiedene Personen zu Rate gezogen, und ich beabsichtige außerdem, die Besorgnisse zum Ausdruck zu bringen, die mich in diesem konkreten Moment des Evangelisierungswerkes der Kirche bewegen. Zahllos sind die mit der Evangelisierung in der Welt von heute verbundenen Themen, die man hier entwickeln könnte. Doch ich habe darauf verzichtet, diese vielfältigen Fragen ausführlich zu behandeln; sie müssen Gegenstand des Studiums und der sorgsamen Vertiefung sein. Ich glaube auch nicht, dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen. Es ist nicht angebracht, dass der Papst die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen. In diesem Sinn spüre ich die Notwendigkeit, in einer heilsamen „Dezentralisierung“ voranzuschreiten.

17. Hier habe ich die Wahl getroffen, einige Linien vorzuschlagen, die in der gesamten Kirche einer neuen Etappe der Evangelisierung voller Eifer und Dynamik Mut und Orientierung verleihen können. In diesem Rahmen und auf der Basis der Lehre der dogmatischen Konstitution Lumen gentium habe ich mich entschieden, unter den anderen Themen die folgenden Fragen ausführlich zu behandeln:

a) Die Reform der Kirche im missionarischen Aufbruch

b) Die Versuchungen der in der Seelsorge Tätigen

c) Die Kirche, verstanden als die Gesamtheit des evangelisierenden Gottesvolkes

d) Die Predigt und ihre Vorbereitung

e) Die soziale Eingliederung der Armen

f) Der Friede und der soziale Dialog

g) Die geistlichen Beweggründe für den missionarischen Einsatz

18. Ich habe diese Themen in einer Ausführlichkeit behandelt, die vielleicht übertrieben erscheinen mag. Aber ich habe es nicht in der Absicht getan, eine Abhandlung vorzulegen, sondern nur, um die bedeutende praktische Auswirkung dieser Argumente in der gegenwärtigen Aufgabe der Kirche zu zeigen. Sie alle helfen nämlich, einen bestimmten Stil der Evangelisierung zu umreißen, und ich lade ein, diesen in allem, was getan wird, zu übernehmen. Und so können wir auf diese Weise inmitten unserer täglichen Arbeit der Aufforderung des Wortes Gottes nachkommen: » Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! « (Phil 4,4).

ERSTES KAPITEL: DIE MISSIONARISCHE UMGESTALTUNG DER KIRCHE

19. Die Evangelisierung folgt dem Missionsauftrag Jesu: » Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe « (Mt 28,19-20). In diesen Versen ist der Moment dargestellt, in dem der Auferstandene die Seinen aussendet, das Evangelium zu jeder Zeit und an allen Orten zu verkünden, so dass der Glaube an ihn sich bis an alle Enden der Erde ausbreite.

I. EINE KIRCHE „IM AUFBRUCH“

20. Im Wort Gottes erscheint ständig diese Dynamik des „Aufbruchs“, die Gott in den Gläubigen auslösen will. Abraham folgte dem Aufruf, zu einem neuen Land aufzubrechen (vgl. Gen 12,1-3). Mose gehorchte dem Ruf Gottes: » Geh! Ich sende dich « (Ex 3,10), und führte das Volk hinaus, dem verheißenen Land entgegen (vgl. Ex 3,17). Zu Jeremia sagte Gott: » Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen « (Jer 1,7). Heute sind in diesem „Geht“ Jesu die immer neuen Situationen und Herausforderungen des Evangelisierungsauftrags der Kirche gegenwärtig, und wir alle sind zu diesem neuen missionarischen „Aufbruch“ berufen. Jeder Christ und jede Gemeinschaft soll unterscheiden, welches der Weg ist, den der Herr verlangt, doch alle sind wir aufgefordert, diesen Ruf anzunehmen: hinauszugehen aus der eigenen Bequemlichkeit und den Mut zu haben, alle Randgebiete zu erreichen, die das Licht des Evangeliums brauchen.

21. Die Freude aus dem Evangelium, die das Leben der Gemeinschaft der Jünger erfüllt, ist eine missionarische Freude. Die zweiundsiebzig Jünger, die voll Freude von ihrer Sendung zurückkehren, erfahren sie (vgl. Lk 10,17). Jesus erlebt sie, als er im Heiligen Geist vor Freude jubelt und den Vater preist, weil seine Offenbarung die Armen und die Kleinsten erreicht (vgl. Lk 10,21). Voll Verwunderung spüren sie die Ersten, die sich bekehren, als am Pfingsttag, in der Predigt der Apostel, » jeder sie in seiner Sprache reden « hört (Apg 2,6). Diese Freude ist ein Zeichen, dass das Evangelium verkündet wurde und bereits Frucht bringt. Aber sie hat immer die Dynamik des Aufbruchs und der Gabe, des Herausgehens aus sich selbst, des Unterwegsseins und des immer neuen und immer weiteren Aussäens. Der Herr sagt: » Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen! « (Mk 1,38). Wenn der Same an einem Ort ausgesät ist, hält Jesus sich dort nicht mehr auf, um etwas besser zu erklären oder um weitere Zeichen zu wirken, sondern der Geist führt ihn, zu anderen Dörfern aufzubrechen.

22. Das Wort Gottes trägt in sich Anlagen, die wir nicht voraussehen können. Das Evangelium spricht von einem Samen, der, wenn er einmal ausgesät ist, von sich aus wächst, auch wenn der Bauer schläft (vgl. Mk 4,26-29). Die Kirche muss diese unfassbare Freiheit des Wortes akzeptieren, das auf seine Weise und in sehr verschiedenen Formen wirksam ist, die gewöhnlich unsere Prognosen übertreffen und unsere Schablonen sprengen.

23. Die innige Verbundenheit der Kirche mit Jesus ist eine Verbundenheit auf dem Weg, und die Gemeinschaft » stellt sich wesentlich als missionarische Communio dar «.<ref>Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 32: AAS 81 (1989), 451.</ref> In der Treue zum Vorbild des Meisters ist es lebenswichtig, dass die Kirche heute hinausgeht, um allen an allen Orten und bei allen Gelegenheiten ohne Zögern, ohne Widerstreben und ohne Angst das Evangelium zu verkünden. Die Freude aus dem Evangelium ist für das ganze Volk, sie darf niemanden ausschließen. So verkündet es der Engel den Hirten von Bethlehem: » Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll « (Lk 2,10). Die Offenbarung des Johannes spricht davon, dass » den Bewohnern der Erde ein ewiges Evangelium zu verkünden (ist), allen Nationen, Stämmen, Sprachen und Völkern « (Offb 14,6).

DIE INITIATIVE ERGREIFEN, SICH EINBRINGEN, BEGLEITEN, FRUCHT BRINGEN UND FEIERN

24. Die Kirche „im Aufbruch“ ist die Gemeinschaft der missionarischen Jünger, die die Initiative ergreifen, die sich einbringen, die begleiten, die Frucht bringen und feiern. „Primerear – die Initiative ergreifen“: Entschuldigt diesen Neologismus! Die evangelisierende Gemeinde spürt, dass der Herr die Initiative ergriffen hat, ihr in der Liebe zuvorgekommen ist (vgl. 1 Joh 4,10), und deshalb weiß sie voranzugehen, versteht sie, furchtlos die Initiative zu ergreifen, auf die anderen zuzugehen, die Fernen zu suchen und zu den Wegkreuzungen zu gelangen, um die Ausgeschlossenen einzuladen. Sie empfindet einen unerschöpflichen Wunsch, Barmherzigkeit anzubieten – eine Frucht der eigenen Erfahrung der unendlichen Barmherzigkeit des himmlischen Vaters und ihrer Tragweite. Wagen wir ein wenig mehr, die Initiative zu ergreifen! Als Folge weiß die Kirche sich „einzubringen“. Jesus hat seinen Jüngern die Füße gewaschen. Der Herr bringt sich ein und bezieht die Seinen ein, indem er vor den anderen niederkniet, um sie zu waschen. Aber dann sagt er zu den Jüngern: » Selig seid ihr, wenn ihr das wisst und danach handelt « (Joh 13,17). Die evangelisierende Gemeinde stellt sich durch Werke und Gesten in das Alltagsleben der anderen, verkürzt die Distanzen, erniedrigt sich nötigenfalls bis zur Demütigung und nimmt das menschliche Leben an, indem sie im Volk mit dem leidenden Leib Christi in Berührung kommt. So haben die Evangelisierenden den „Geruch der Schafe“, und diese hören auf ihre Stimme. Die evangelisierende Gemeinde stellt sich also darauf ein, zu „begleiten“. Sie begleitet die Menschheit in all ihren Vorgängen, so hart und langwierig sie auch sein mögen. Sie kennt das lange Warten und die apostolische Ausdauer. Die Evangelisierung hat viel Geduld und vermeidet, die Grenzen nicht zu berücksichtigen. In der Treue zur Gabe des Herrn weiß sie auch „Frucht zu bringen“. Die evangelisierende Gemeinde achtet immer auf die Früchte, denn der Herr will, dass sie fruchtbar ist. Sie nimmt sich des Weizens an und verliert aufgrund des Unkrauts nicht ihren Frieden. Wenn der Sämann inmitten des Weizens das Unkraut aufkeimen sieht, reagiert er nicht mit Gejammer und Panik. Er findet den Weg, um dafür zu sorgen, dass das Wort Gottes in einer konkreten Situation Gestalt annimmt und Früchte neuen Lebens trägt, auch wenn diese scheinbar unvollkommen und unvollendet sind. Der Jünger weiß sein ganzes Leben hinzugeben und es als Zeugnis für Jesus Christus aufs Spiel zu setzen bis hin zum Martyrium, doch sein Traum ist nicht, Feinde gegen sich anzusammeln, sondern vielmehr, dass das Wort Gottes aufgenommen werde und seine befreiende und erneuernde Kraft offenbare. Und schließlich versteht die fröhliche evangelisierende Gemeinde immer zu „feiern“. Jeden kleinen Sieg, jeden Schritt vorwärts in der Evangelisierung preist und feiert sie. Die freudige Evangelisierung wird zur Schönheit in der Liturgie inmitten der täglichen Anforderung, das Gute zu fördern. Die Kirche evangelisiert und evangelisiert sich selber mit der Schönheit der Liturgie, die auch Feier der missionarischen Tätigkeit und Quelle eines erneuerten Impulses zur Selbsthingabe ist.

II. SEELSORGE IN NEUAUSRICHTUNG

25. Ich weiß sehr wohl, dass heute die Dokumente nicht dasselbe Interesse wecken wie zu anderen Zeiten und schnell vergessen werden. Trotzdem betone ich, dass das, was ich hier zu sagen beabsichtige, eine programmatische Bedeutung hat und wichtige Konsequenzen beinhaltet. Ich hoffe, dass alle Gemeinschaften dafür sorgen, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um auf dem Weg einer pastoralen und missionarischen Neuausrichtung voranzuschreiten, der die Dinge nicht so belassen darf wie sie sind. Jetzt dient uns nicht eine » reine Verwaltungsarbeit «.<ref>V. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER 22 KARIBIK, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 201.</ref> Versetzen wir uns in allen Regionen der Erde in einen » Zustand permanenter Mission «.<ref>Ebd., 551.</ref>

26. Paul VI. forderte, den Aufruf zur Erneuerung auszuweiten, um mit Nachdruck zu sagen, dass er sich nicht nur an Einzelpersonen wandte, sondern an die gesamte Kirche. Wir erinnern an diesen denkwürdigen Text, der seine interpellierende Kraft nicht verloren hat: » Die Kirche muss das Bewusstsein um sich selbst vertiefen und über das ihr eigene Geheimnis nachsinnen (…) Aus diesem erleuchteten und wirkenden Bewusstsein erwächst ein spontanes Verlangen, das Idealbild der Kirche wie Christus sie sah, wollte und liebte, als seine heilige und makellose Braut (vgl. Eph 5,27), mit dem wirklichen Gesicht, das die Kirche heute zeigt, zu vergleichen (…) Es erwächst deshalb ein großherziges und fast ungeduldiges Bedürfnis nach Erneuerung, das heißt nach Berichtigung der Fehler, die dieses Bewusstsein aufzeigt und verwirft, gleichsam wie eine innere Prüfung vor dem Spiegel des Vorbildes, das Christus uns von sich hinterlassen hat. «<ref>Papst Paul VI., Enzyklika Ecclesiam suam (6. August 1964), 3: AAS 56 (1964), 611–612.</ref>

Das Zweite Vatikanische Konzil hat die kirchliche Neuausrichtung dargestellt als die Öffnung für eine ständige Reform ihrer selbst aus Treue zu Jesus Christus: » Jede Erneuerung der Kirche besteht wesentlich im Wachstum der Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung (…) Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform gerufen, deren sie allzeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist. «<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Unitatis redintegratio über den Ökumenismus, 6.</ref> Es gibt kirchliche Strukturen, die eine Dynamik der Evangelisierung beeinträchtigen können; gleicherweise können die guten Strukturen nützlich sein, wenn ein Leben da ist, das sie beseelt, sie unterstützt und sie beurteilt. Ohne neues Leben und echten, vom Evangelium inspirierten Geist, ohne „Treue der Kirche gegenüber ihrer eigenen Berufung“ wird jegliche neue Struktur in kurzer Zeit verderben.

EINE UNAUFSCHIEBBARE KIRCHLICHE ERNEUERUNG

27. Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für die pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des „Aufbruchs“ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet. Wie Johannes Paul II. zu den Bischöfen Ozeaniens sagte, muss » jede Erneuerung in der Kirche (…) auf die Mission abzielen, um nicht einer Art kirchlicher Introversion zu verfallen. «<ref>Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in oceania (22. November 2001), 19: AAS 94 (2002), 390.</ref>

28. Die Pfarrei ist keine hinfällige Struktur; gerade weil sie eine große Formbarkeit besitzt, kann sie ganz verschiedene Formen annehmen, die die innere Beweglichkeit und die missionarische Kreativität des Pfarrers und der Gemeinde erfordern. Obwohl sie sicherlich nicht die einzige evangelisierende Einrichtung ist, wird sie, wenn sie fähig ist, sich ständig zu erneuern und anzupassen, weiterhin » die Kirche (sein), die inmitten der Häuser ihrer Söhne und Töchter lebt «.<ref>DERS., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 26: AAS 81 (1989), 438. </ref> Das setzt voraus, dass sie wirklich in Kontakt mit den Familien und dem Leben des Volkes steht und nicht eine weitschweifige, von den Leuten getrennte Struktur oder eine Gruppe von Auserwählten wird, die sich selbst betrachten. Die Pfarrei ist eine kirchliche Präsenz im Territorium, ein Bereich des Hörens des Wortes Gottes, des Wachstums des christlichen Lebens, des Dialogs, der Verkündigung, der großherzigen Nächstenliebe, der Anbetung und der liturgischen Feier.<ref>Vgl. Propositio 26.</ref> Durch all ihre Aktivitäten ermutigt und formt die Pfarrei ihre Mitglieder, damit sie aktiv Handelnde in der Evangelisierung sind.<ref>Vgl. Propositio 44.</ref> Sie ist eine Gemeinde der Gemeinschaft, ein Heiligtum, wo die Durstigen zum Trinken kommen, um ihren Weg fortzusetzen, und ein Zentrum ständiger missionarischer Aussendung. Wir müssen jedoch zugeben, dass der Aufruf zur Überprüfung und zur Erneuerung der Pfarreien noch nicht genügend gefruchtet hat, damit sie noch näher bei den Menschen sind, Bereiche lebendiger Gemeinschaft und Teilnahme bilden und sich völlig auf die Mission ausrichten.

29. Die anderen kirchlichen Einrichtungen, Basisgemeinden und kleinen Gemeinschaften, Bewegungen und andere Formen von Vereinigungen sind ein Reichtum der Kirche, den der Geist erweckt, um alle Umfelder und Bereiche zu evangelisieren. Oftmals bringen sie einen neuen Evangelisierungs-Eifer und eine Fähigkeit zum Dialog mit der Welt ein, die zur Erneuerung der Kirche beitragen. Aber es ist sehr nützlich, dass sie nicht den Kontakt mit dieser so wertvollen Wirklichkeit der örtlichen Pfarrei verlieren und dass sie sich gerne in die organische Seelsorge der Teilkirche einfügen.<ref>Vgl. Propositio 26.</ref> Diese Integration wird vermeiden, dass sie nur mit einem Teil des Evangeliums und der Kirche verbleiben oder zu Nomaden ohne Verwurzelung werden.

30. Jede Teilkirche ist als Teil der katholischen Kirche unter der Leitung ihres Bischofs ebenfalls zur missionarischen Neuausrichtung aufgerufen. Sie ist der wichtigste Träger der Evangelisierung<ref>Vgl. Propositio 41.</ref>, insofern sie der konkrete Ausdruck der einen Kirche an einem Ort der Welt ist und in ihr » die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche Christi wahrhaft wirkt und gegenwärtig ist «.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Christus Dominus über die Hirtenaufgabe der Bischöfe, 11.</ref> Es ist die Kirche, die in einem bestimmten Raum Gestalt annimmt, mit allen von Christus geschenkten Heilsmitteln versehen ist, zugleich jedoch ein lokales Angesicht trägt. Ihre Freude, Jesus Christus bekannt zu machen, findet ihren Ausdruck sowohl in ihrer Sorge, ihn an anderen, noch bedürftigeren Orten zu verkünden, als auch in einem beständigen Aufbruch zu den Peripherien des eigenen Territoriums oder zu den neuen soziokulturellen Umfeldern.<ref>Vgl. Papst Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer am Internationalen Kongress zum 40. Jahrestag des Konzilsdekrets Ad gentes über die Missionstätigkeit der Kirche (11. März 2006): AAS 98 (2006), 337. </ref> Sie setzt sich dafür ein, immer dort gegenwärtig zu sein, wo das Licht und das Leben des Auferstandenen am meisten fehlen.<ref>Vgl. Propositio 42.</ref> Damit dieser missionarische Impuls immer stärker, großherziger und fruchtbarer sei, fordere ich auch jede Teilkirche auf, in einen entschiedenen Prozess der Unterscheidung, der Läuterung und der Reform einzutreten.

31. Der Bischof muss immer das missionarische Miteinander in seiner Diözese fördern, indem er das Ideal der ersten christlichen Gemeinden verfolgt, in denen die Gläubigen ein Herz und eine Seele waren (vgl. Apg 4,32). Darum wird er sich bisweilen an die Spitze stellen, um den Weg anzuzeigen und die Hoffnung des Volkes aufrecht zu erhalten, andere Male wird er einfach inmitten aller sein mit seiner schlichten und barmherzigen Nähe, und bei einigen Gelegenheiten wird er hinter dem Volk hergehen, um denen zu helfen, die zurückgeblieben sind, und – vor allem – weil die Herde selbst ihren Spürsinn besitzt, um neue Wege zu finden. In seiner Aufgabe, ein dynamisches, offenes und missionarisches Miteinander zu fördern, wird er die Reifung der vom Kodex des Kanonischen Rechts <ref> Vgl. Canones 460–468; 492–502; 511–514; 536–537.</ref> vorgesehenen Mitspracheregelungen sowie anderer Formen des pastoralen Dialogs anregen und suchen, in dem Wunsch, alle anzuhören und nicht nur einige, die ihm Komplimente machen. Doch das Ziel dieser Prozesse der Beteiligung soll nicht vornehmlich die kirchliche Organisation sein, sondern der missionarische Traum, alle zu erreichen.

32. Da ich berufen bin, selbst zu leben, was ich von den anderen verlange, muss ich auch an eine Neuausrichtung des Papsttums denken. Meine Aufgabe als Bischof von Rom ist es, offen zu bleiben für die Vorschläge, die darauf ausgerichtet sind, dass eine Ausübung meines Amtes der Bedeutung, die Jesus Christus ihm geben wollte, treuer ist und mehr den gegenwärtigen Notwendigkeiten der Evangelisierung entspricht. Johannes Paul II. bat um Hilfe, um » eine Form der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet «.<ref>Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995), 95: AAS 87 (1995), 977–978. </ref> In diesem Sinn sind wir wenig vorangekommen. Auch das Papsttum und die zentralen Strukturen der Universalkirche haben es nötig, dem Aufruf zu einer pastoralen Neuausrichtung zu folgen. Das Zweite Vatikanische Konzil sagte, dass in ähnlicher Weise wie die alten Patriarchatskirchen » die Bischofskonferenzen vielfältige und fruchtbare Hilfe leisten (können), um die kollegiale Gesinnung zu konkreter Verwirklichung zu führen «.<ref>Dogmatische Konstitution Lumen gentium über die Kirche, 23.</ref> Aber dieser Wunsch hat sich nicht völlig erfüllt, denn es ist noch nicht deutlich genug eine Satzung der Bischofskonferenzen formuliert worden, die sie als Subjekte mit konkreten Kompetenzbereichen versteht, auch einschließlich einer gewissen authentischen Lehrautorität.<ref>Vgl. Papst Johannes Paul II., Motu proprio Apostolos suos (21. Mai 1998): AAS 90 (1998), 641–658.</ref> Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen.

33. Die Seelsorge unter missionarischem Gesichtspunkt verlangt, das bequeme pastorale Kriterium des „Es wurde immer so gemacht“ aufzugeben. Ich lade alle ein, wagemutig und kreativ zu sein in dieser Aufgabe, die Ziele, die Strukturen, den Stil und die Evangelisierungs- Methoden der eigenen Gemeinden zu überdenken. Eine Bestimmung der Ziele ohne eine angemessene gemeinschaftliche Suche nach den Mitteln, um sie zu erreichen, ist dazu verurteilt, sich als bloße Fantasie zu erweisen. Ich rufe alle auf, großherzig und mutig die Anregungen dieses Dokuments aufzugreifen, ohne Beschränkungen und Ängste. Wichtig ist, Alleingänge zu vermeiden, sich immer auf die Brüder und Schwestern und besonders auf die Führung der Bischöfe zu verlassen, in einer weisen und realistischen pastoralen Unterscheidung.

III. AUS DEM HERZEN DES EVANGELIUMS

34. Wenn wir alles unter einen missionarischen Gesichtspunkt stellen wollen, dann gilt das auch für die Weise, die Botschaft bekannt zu machen. In der Welt von heute mit der Schnelligkeit der Kommunikation und der eigennützigen Auswahl der Inhalte durch die Medien ist die Botschaft, die wir verkünden, mehr denn je in Gefahr, verstümmelt und auf einige ihrer zweitrangigen Aspekte reduziert zu werden. Daraus folgt, dass einige Fragen, die zur Morallehre der Kirche gehören, aus dem Zusammenhang gerissen werden, der ihnen Sinn verleiht. Das größte Problem entsteht, wenn die Botschaft, die wir verkünden, dann mit diesen zweitrangigen Aspekten gleichgesetzt wird, die, obwohl sie relevant sind, für sich allein nicht das Eigentliche der Botschaft Jesu Christi ausdrücken. Es ist also besser, realistisch zu sein und nicht davon auszugehen, dass unsere Gesprächspartner den vollkommenen Hintergrund dessen kennen, was wir sagen, oder dass sie unsere Worte mit dem wesentlichen Kern des Evangeliums verbinden können, der ihnen Sinn, Schönheit und Anziehungskraft verleiht.

35. Eine Seelsorge unter missionarischem Gesichtspunkt steht nicht unter dem Zwang der zusammenhanglosen Vermittlung einer Vielzahl von Lehren, die man durch unnachgiebige Beharrlichkeit aufzudrängen sucht. Wenn man ein pastorales Ziel und einen missionarischen Stil übernimmt, der wirklich alle ohne Ausnahmen und Ausschließung erreichen soll, konzentriert sich die Verkündigung auf das Wesentliche, auf das, was schöner, größer, anziehender und zugleich notwendiger ist. Die Aussage vereinfacht sich, ohne dadurch Tiefe und Wahrheit einzubüßen, und wird so überzeugender und strahlender.

36. Alle offenbarten Wahrheiten entspringen aus derselben göttlichen Quelle und werden mit ein und demselben Glauben geglaubt, doch einige von ihnen sind wichtiger, um unmittelbarer das Eigentliche des Evangeliums auszudrücken. In diesem grundlegenden Kern ist das, was leuchtet, die Schönheit der heilbringenden Liebe Gottes, die sich im gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus offenbart hat. In diesem Sinn hat das Zweite Vatikanische Konzil gesagt, » dass es eine Rangordnung oder „Hierarchie“ der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre gibt, je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens «.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Unitatis redintegratio über den Ökumenismus, 11.</ref> Das gilt sowohl für die Glaubensdogmen als auch für das Ganze der Lehre der Kirche, einschließlich der Morallehre.

37. Der heilige Thomas von Aquin lehrte, dass es auch in der moralischen Botschaft der Kirche eine Hierarchie gibt, in den Tugenden und in den Taten, die aus ihnen hervorgehen.<ref>Vgl. Summa theologiae I–II, q. 66, a. 4–6.</ref> Hier ist das, worauf es ankommt, vor allem » den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist « (Gal 5,6). Die Werke der Nächstenliebe sind der vollkommenste äußere Ausdruck der inneren Gnade des Geistes: » Das Hauptelement des neuen Gesetzes ist die Gnade des Heiligen Geistes, die deutlich wird durch den Glauben, der durch die Liebe handelt. «<ref>Summa theologiae I–II, q. 108, a. 1.</ref> Darum behauptet der heilige Thomas, dass in Bezug auf das äußere Handeln die Barmherzigkeit die größte aller Tugenden ist: » An sich ist die Barmherzigkeit die größte der Tugenden. Denn es gehört zum Erbarmen, dass es sich auf die anderen ergießt und – was mehr ist – der Schwäche der anderen aufhilft; und das gerade ist Sache des Höherstehenden. Deshalb wird das Erbarmen gerade Gott als Wesensmerkmal zuerkannt; und es heißt, dass darin am meisten seine Allmacht offenbar wird. «<ref>Summa theologiae II–II, q. 30, a. 4. Vgl. ebd., q. 30, a. 4, ad 1: „Wir ehren Gott durch die äußeren Opfer und Geschenke nicht seinetwegen, sondern unseretwegen und des Nächsten wegen; denn er bedarf unserer Opfer nicht, sondern will, dass sie ihm dargebracht werden um unserer Hingabe und um des Nutzens des Nächsten willen. Deshalb ist das Er- barmen, durch das wir dem Elend der anderen zu Hilfe kommen, ein Opfer, das ihm wohlgefälliger ist, weil es dem Nutzen des Nächsten näher kommt.“</ref>

38. Es ist wichtig, die pastoralen Konsequenzen aus der Konzilslehre zu ziehen, die eine alte Überzeugung der Kirche aufnimmt. Vor allem ist zu sagen, dass in der Verkündigung des Evangeliums notwendigerweise ein rechtes Maß herrschen muss. Das kann man an der Häufigkeit feststellen, mit der einige Themen behandelt werden, und an den Akzenten, die in der Predigt gesetzt werden. Wenn zum Beispiel ein Pfarrer während des liturgischen Jahres zehnmal über die Enthaltsamkeit und nur zwei- oder dreimal über die Liebe oder über die Gerechtigkeit spricht, entsteht ein Missverhältnis, durch das die Tugenden, die in den Schatten gestellt werden, genau diejenigen sind, die in der Predigt und in der Katechese mehr vorkommen müssten. Das Gleiche geschieht, wenn mehr vom Gesetz als von der Gnade, mehr von der Kirche als von Jesus Christus, mehr vom Papst als vom Wort Gottes gesprochen wird.

39. Ebenso wie der organische Zusammenhang zwischen den Tugenden verhindert, irgendeine von ihnen aus dem christlichen Ideal auszuschließen, wird auch keine Wahrheit geleugnet. Man darf die Vollständigkeit der Botschaft des Evangeliums nicht verstümmeln. Außerdem versteht man jede Wahrheit besser, wenn man sie in Beziehung zu der harmonischen Ganzheit der christlichen Botschaft setzt, und in diesem Zusammenhang haben alle Wahrheiten ihre Bedeutung und erhellen sich gegenseitig. Wenn die Predigttätigkeit treu gegenüber dem Evangelium ist, zeigt sich in aller Klarheit die Zentralität einiger Wahrheiten, und es wird deutlich, dass die christliche Morallehre keine stoische Ethik ist, dass sie mehr ist als eine Askese, dass sie weder eine bloße praktische Philosophie ist, noch ein Katalog von Sünden und Fehlern. Das Evangelium lädt vor allem dazu ein, dem Gott zu antworten, der uns liebt und uns rettet – ihm zu antworten, indem man ihn in den anderen erkennt und aus sich selbst herausgeht, um das Wohl aller zu suchen. Diese Einladung darf unter keinen Umständen verdunkelt werden! Alle Tugenden stehen im Dienst dieser Antwort der Liebe. Wenn diese Einladung nicht stark und anziehend leuchtet, riskiert das moralische Gebäude der Kirche, ein Kartenhaus zu werden, und das ist unsere schlimmste Gefahr. Denn dann wird es nicht eigentlich das Evangelium sein, was verkündet wird, sondern einige lehrmäßige oder moralische Schwerpunkte, die aus bestimmten theologischen Optionen hervorgehen. Die Botschaft läuft Gefahr, ihre Frische zu verlieren und nicht mehr „den Duft des Evangeliums“ zu haben.

IV. DIE MISSION, DIE IN DEN MENSCHLICHEN BEGRENZUNGEN GESTALT ANNIMMT

40. Die Kirche, die eine missionarische Jüngerin ist, muss in ihrer Interpretation des offenbarten Wortes und in ihrem Verständnis der Wahrheit wachsen. Die Aufgabe der Exegeten und der Theologen trägt dazu bei, dass » das Urteil der Kirche reift «.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Dei Ver-bum über die göttliche Offenbarung, 12.</ref> Auf andere Weise tun dies auch die anderen Wissenschaften. In Bezug auf die Sozialwissenschaften, zum Beispiel, hat Johannes Paul II. gesagt, dass die Kirche ihren Beiträgen Achtung schenkt, » um daraus konkrete Hinweise zu gewinnen, die ihr helfen, ihre Aufgabe des Lehramtes zu vollziehen «.<ref>Motu proprio Socialium Scientiarum (1. Januar 1994): AAS 86 (1994), 209.</ref> Außerdem gibt es innerhalb der Kirche unzählige Fragen, über die mit großer Freiheit geforscht und nachgedacht wird. Die verschiedenen Richtungen des philosophischen, theologischen und pastoralen Denkens können, wenn sie sich vom Geist in der gegenseitigen Achtung und Liebe in Einklang bringen lassen, zur Entfaltung der Kirche beitragen, weil sie helfen, den äußerst reichen Schatz des Wortes besser deutlich zu machen. Denjenigen, die sich eine monolithische, von allen ohne Nuancierungen verteidigte Lehre erträumen, mag das als Unvollkommenheit und Zersplitterung erscheinen. Doch in Wirklichkeit hilft diese Vielfalt, die verschiedenen Aspekte des unerschöpflichen Reichtums des Evangeliums besser zu zeigen und zu entwickeln.<ref>Der heilige Thomas von Aquin betonte, „dass die Unterscheidung und Vielheit der Dinge aus der Absicht des ersten Wirkenden stammt“, dessen, der will, „dass das, was dem einen Geschöpfe in der Darstellung der göttlichen Güte fehlt, aus einem anderen ergänzt wird“, weil seine Güte „durch ein einzelnes Geschöpf nicht hinreichend dargestellt werden kann“ (Summa theologiae I, q. 47, a. 1). Deshalb müssen wir die Vielheit der Dinge in ihren vielfachen Beziehungen (vgl. Summa theologiae I, q. 47, a. 2, ad 1; q. 47, a. 3) erfassen. Aus ähnlichen Gründen haben wir es nötig, einander zu hören und uns in unserer partiellen Wahrnehmung der Wirklichkeit und des Evangeliums gegenseitig zu ergänzen.</ref>

41. Zugleich erfordern die enormen und schnellen kulturellen Veränderungen, dass wir stets unsere Aufmerksamkeit darauf richten und versuchen, die ewigen Wahrheiten in einer Sprache auszudrücken, die deren ständige Neuheit durchscheinen lässt. Denn im Glaubensgut der christlichen Lehre » ist das eine die Substanz (…) ein anderes die Art und Weise, diese auszudrücken «.<ref>Papst JOHANNES XXIII., Ansprache zur feierlichen Eröffnung des Zwei- ten Vatikanischen Konzils (11. Oktober 1962): AAS 54 (1962), 792: „Est enim aliud ipsum depositum Fidei, seu veritates, quae veneranda doctrina nostra continentur, aliud modus, quo eaedem enuntiantur“.</ref> Manchmal ist das, was die Gläubigen beim Hören einer vollkommen musterhaften Sprache empfangen, aufgrund ihres eigenen Sprachgebrauchs und -verständnisses etwas, was nicht dem wahren Evangelium Jesu Christi entspricht. In der heiligen Absicht, ihnen die Wahrheit über Gott und den Menschen zu vermitteln, geben wir ihnen bei manchen Gelegenheiten einen falschen „Gott“ und ein menschliches Ideal, das nicht wirklich christlich ist. Auf diese Weise sind wir einer Formulierung treu, überbringen aber nicht die Substanz. Das ist das größte Risiko. Denken wir daran: » Die Ausdrucksform der Wahrheit kann vielgestaltig sein. Und die Erneuerung der Ausdrucksformen erweist sich als notwendig, um die Botschaft vom Evangelium in ihrer unwandelbaren Bedeutung an den heutigen Menschen weiterzugeben. «<ref> Papst Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995), 19: AAS 87 (1995), 933.</ref>

42. Das hat eine große Relevanz in der Verkündigung des Evangeliums, wenn es uns wirklich am Herzen liegt zu erreichen, dass seine Schönheit besser wahrgenommen und von allen angenommen wird. In jedem Fall können wir die Lehren der Kirche nie zu etwas machen, das leicht verständlich ist und die uneingeschränkte Würdigung aller erfährt. Der Glaube behält immer einen Aspekt des Kreuzes, eine gewisse Unverständlichkeit, die jedoch die Festigkeit der inneren Zustimmung nicht beeinträchtigt. Es gibt Dinge, die man nur von dieser inneren Zustimmung her versteht und schätzt, die eine Schwester der Liebe ist, jenseits der Klarheit, mit der man ihre Gründe und Argumente erfassen kann. Darum ist daran zu erinnern, dass jede Unterweisung in der Lehre in einer Haltung der Evangelisierung geschehen muss, die durch die Nähe, die Liebe und das Zeugnis die Zustimmung des Herzens weckt.

43. In ihrem bewährten Unterscheidungsvermögen kann die Kirche auch dazu gelangen, eigene, nicht direkt mit dem Kern des Evangeliums verbundene, zum Teil tief in der Geschichte verwurzelte Bräuche zu erkennen, die heute nicht mehr in derselben Weise interpretiert werden und deren Botschaft gewöhnlich nicht entsprechend wahrgenommen wird. Sie mögen schön sein, leisten jedoch jetzt nicht denselben Dienst im Hinblick auf die Weitergabe des Evangeliums. Haben wir keine Angst, sie zu revidieren! In gleicher Weise gibt es kirchliche Normen oder Vorschriften, die zu anderen Zeiten sehr wirksam gewesen sein mögen, aber nicht mehr die gleiche erzieherische Kraft als Richtlinien des Lebens besitzen. Der heilige Thomas von Aquin betonte, dass die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln gegeben wurden, » ganz wenige « sind.<ref> Summa theologiae I–II, q. 107, a. 4.</ref> Indem er den heiligen Augustinus zitierte, schrieb er, dass die von der Kirche später hinzugefügten Vorschriften mit Maß einzufordern sind, » um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen « und unsere Religion nicht in eine Sklaverei zu verwandeln, während » die Barmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei sei «.<ref>Ebd.</ref> Diese Warnung, die vor einigen Jahrhunderten gegeben wurde, besitzt eine erschreckende Aktualität. Sie müsste eines der Kriterien sein, die in Betracht zu ziehen sind, wenn über eine Reform der Kirche und ihrer Verkündigung nachgedacht wird, die wirklich erlaubt, alle zu erreichen.

44. Andererseits dürfen sowohl die Hirten als auch alle Gläubigen, die ihre Brüder im Glauben oder auf einem Weg der Öffnung auf Gott hin begleiten, nicht vergessen, was der Katechismus der Katholischen Kirche mit großer Klarheit lehrt: » Die Anrechenbarkeit einer Tat und die Verantwortung für sie können durch Unkenntnis, Unachtsamkeit, Gewalt, Furcht, Gewohnheiten, übermäßige Affekte sowie weitere psychische oder gesellschaftliche Faktoren vermindert, ja sogar aufgehoben sein. «<ref>Nr. 1735.</ref>

Daher muss man, ohne den Wert des vom Evangelium vorgezeichneten Ideals zu mindern, die möglichen Wachstumsstufen der Menschen, die Tag für Tag aufgebaut werden, mit Barmherzigkeit und Geduld begleiten.<ref>Vgl. Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981), 34: AAS 74 (1982), 123-125.</ref> Die Priester erinnere ich daran, dass der Beichtstuhl keine Folterkammer sein darf, sondern ein Ort der Barmherzigkeit des Herrn, die uns anregt, das mögliche Gute zu tun. Ein kleiner Schritt inmitten großer menschlicher Begrenzungen kann Gott wohlgefälliger sein als das äußerlich korrekte Leben dessen, der seine Tage verbringt, ohne auf nennenswerte Schwierigkeiten zu stoßen. Alle müssen von dem Trost und dem Ansporn der heilbringenden Liebe Gottes erreicht werden, der geheimnisvoll in jedem Menschen wirkt, jenseits seiner Mängel und Verfehlungen.

45. So sehen wir, dass der evangelisierende Einsatz sich innerhalb der Grenzen der Sprache und der Umstände bewegt. Er versucht immer, die Wahrheit des Evangeliums in einem bestimmten Kontext bestmöglich mitzuteilen, ohne auf die Wahrheit, das Gute und das Licht zu verzichten, die eingebracht werden können, wenn die Vollkommenheit nicht möglich ist. Ein missionarisches Herz weiß um diese Grenzen und wird » den Schwachen ein Schwacher (…) allen alles « (vgl. 1 Kor 9,22). Niemals verschließt es sich, niemals greift es auf die eigenen Sicherheiten zurück, niemals entscheidet es sich für die Starrheit der Selbstverteidigung. Es weiß, dass es selbst wachsen muss im Verständnis des Evangeliums und in der Unterscheidung der Wege des Geistes, und so verzichtet es nicht auf das mögliche Gute, obwohl es Gefahr läuft, sich mit dem Schlamm der Straße zu beschmutzen.

V. EINE MUTTER MIT OFFENEM HERZEN

46. Eine Kirche „im Aufbruch“ ist eine Kirche mit offenen Türen. Zu den anderen hinauszugehen, um an die menschlichen Randgebiete zu gelangen, bedeutet nicht, richtungs- und sinnlos auf die Welt zuzulaufen. Oftmals ist es besser, den Schritt zu verlangsamen, die Ängstlichkeit abzulegen, um dem anderen in die Augen zu sehen und zuzuhören, oder auf die Dringlichkeiten zu verzichten, um den zu begleiten, der am Straßenrand geblieben ist. Manchmal ist sie wie der Vater des verlorenen Sohns, der die Türen offen lässt, damit der Sohn, wenn er zurückkommt, ohne Schwierigkeit eintreten kann.

47. Die Kirche ist berufen, immer das offene Haus des Vaters zu sein. Eines der konkreten Zeichen dieser Öffnung ist es, überall Kirchen mit offenen Türen zu haben. So stößt einer, wenn er einer Eingebung des Geistes folgen will und näherkommt, weil er Gott sucht, nicht auf die Kälte einer verschlossenen Tür. Doch es gibt noch andere Türen, die ebenfalls nicht geschlossen werden dürfen. Alle können in irgendeiner Weise am kirchlichen Leben teilnehmen, alle können zur Gemeinschaft gehören, und auch die Türen der Sakramente dürften nicht aus irgendeinem beliebigen Grund geschlossen werden. Das gilt vor allem, wenn es sich um jenes Sakrament handelt, das „die Tür“ ist: die Taufe. Die Eucharistie ist, obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen.<ref>Vgl. AMBROSIUS, De Sacramentis, IV, 6, 28: PL 16, 464: „Ich muss ihn immer empfangen, damit er immer meine Sünden vergibt. Wenn ich ständig sündige, muss ich immer ein Heilmittel haben“; ebd., IV, 5, 24: PL 16, 463: „Wer das Manna aß, starb; wer von diesem Leib isst, wird die Vergebung seiner Sünden erhalten.“ CYRILL VON ALEXANDRIEN, In Joh. Evang. IV, 2: PG 73, 584–585: „Ich habe mich geprüft und erkannt, dass ich unwürdig bin. Denen, die so reden, sage ich: Und wann werdet ihr würdig sein? Wann werdet ihr also vor Christus erscheinen? Und wenn eure Sünden euch hindern, näherzukommen, und wenn ihr niemals aufhört zu fallen – wer bemerkt seine eigenen Fehler, sagt der Psalm – werdet ihr schließlich nicht teilhaben an der Heiligung, die Leben schenkt für die Ewigkeit?“</ref> Diese Überzeugungen haben auch pastorale Konsequenzen, und wir sind berufen, sie mit Besonnenheit und Wagemut in Betracht zu ziehen. Häufig verhalten wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keine Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben.

48. Wenn die gesamte Kirche diese missionarische Dynamik annimmt, muss sie alle erreichen, ohne Ausnahmen. Doch wen müsste sie bevorzugen? Wenn einer das Evangelium liest, findet er eine ganz klare Ausrichtung: nicht so sehr die reichen Freunde und Nachbarn, sondern vor allem die Armen und die Kranken, diejenigen, die häufig verachtet und vergessen werden, die » es dir nicht vergelten können « (Lk 14,14). Es dürfen weder Zweifel bleiben, noch halten Erklärungen stand, die diese so klare Botschaft schwächen könnten. Heute und immer gilt: » Die Armen sind die ersten Adressaten des Evangeliums «<ref>Papst Benedikt XVI., Ansprache anlässlich der Begegnung mit den brasilianischen Bischöfen in der Kathedrale von São Paulo, Brasilien (11. Mai 2007), 3: AAS 99 (2007), 428.</ref>, und die unentgeltlich an sie gerichtete Evangelisierung ist ein Zeichen des Reiches, das zu bringen Jesus gekommen ist. Ohne Umschweife ist zu sagen, dass – wie die Bischöfe Nordost-Indiens lehren – ein untrennbares Band zwischen unserem Glauben und den Armen besteht. Lassen wir die Armen nie allein!

49. Brechen wir auf, gehen wir hinaus, um allen das Leben Jesu Christi anzubieten! Ich wiederhole hier für die ganze Kirche, was ich viele Male den Priestern und Laien von Buenos Aires gesagt habe: Mir ist eine „verbeulte“ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist. Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein, und schließlich in einer Anhäufung von fixen Ideen und Streitigkeiten verstrickt ist. Wenn uns etwas in heilige Sorge versetzen und unser Gewissen beunruhigen soll, dann ist es die Tatsache, dass so viele unserer Brüder und Schwestern ohne die Kraft, das Licht und den Trost der Freundschaft mit Jesus Christus leben, ohne eine Glaubensgemeinschaft, die sie aufnimmt, ohne einen Horizont von Sinn und Leben. Ich hoffe, dass mehr als die Furcht, einen Fehler zu machen, unser Beweggrund die Furcht sei, uns einzuschließen in die Strukturen, die uns einen falschen Schutz geben, in die Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in denen wir uns ruhig fühlen, während draußen eine hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns pausenlos wiederholt: » Gebt ihr ihnen zu essen! « (Mk 6,37).

ZWEITES KAPITEL: IN DER KRISE DES GEMEINSCHAFTLICHEN ENGAGEMENTS

50. Bevor wir über einige grundlegende Fragen in Bezug auf das evangelisierende Handeln sprechen, sollte kurz erwähnt werden, welches der Rahmen ist, in dem wir zu leben und zu wirken haben. Heute wird gewöhnlich von einem „diagnostischen Überhang“ gesprochen, der nicht immer von wirklich anwendbaren Lösungsvorschlägen begleitet ist. Andererseits würde uns auch eine rein soziologische Sicht nicht nützen, die den Anspruch erhebt, die ganze Wirklichkeit mit ihrer Methodologie in einer nur hypothetisch neutralen und unpersönlichen Weise zu umfassen. Was ich vorzulegen gedenke, geht vielmehr in die Richtung einer Unterscheidung anhand des Evangeliums. Es ist die Sicht des missionarischen Jüngers, die » lebt vom Licht und von der Kraft des Heiligen Geistes «.<ref>Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Pastores dabo vobis (25. März 1992), 10: AAS 84 (1992), 673.</ref>

51. Es ist nicht Aufgabe des Papstes, eine detaillierte und vollkommene Analyse der gegenwärtigen Wirklichkeit zu bieten, aber ich fordere alle Gemeinschaften auf, sich um » eine immer wachsame Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erforschen «<ref>Papst Paul VI., Enzyklika Ecclesiam suam (6. August 1964), 19: AAS 56 (1964), 632.</ref> zu bemühen. Wir stehen hier vor einer großen Verantwortung, weil einige gegenwärtige Situationen, falls sie keine guten Lösungen finden, Prozesse einer Entmenschlichung auslösen können, die dann nur schwer rückgängig zu machen sind. Es ist angebracht zu klären, was eine Frucht des Gottesreiches sein kann, und auch, was dem Plan Gottes schadet. Das schließt nicht nur ein, die Eingebungen des guten und des bösen Geistes zu erkennen und zu interpretieren, sondern – und hier liegt das Entscheidende – die des guten Geistes zu wählen und die des bösen Geistes zurückzuweisen. Ich setze die verschiedenen Analysen voraus, welche die anderen Dokumente des universalen Lehramtes dargeboten haben, wie auch die, welche die regionalen und nationalen Bischofskonferenzen vorgestellt haben. In diesem Schreiben will ich nur kurz und unter pastoralem Gesichtspunkt auf einige Aspekte der Wirklichkeit eingehen, welche die Dynamiken der missionarischen Erneuerung der Kirche anhalten oder schwächen können, sei es, weil sie das Leben und die Würde des Gottesvolkes betreffen, sei es, weil sie sich auch auf die Personen auswirken, die unmittelbarer zu den kirchlichen Institutionen gehören und Evangelisierungsaufgaben erfüllen.

I. EINIGE HERAUSFORDERUNGEN DER WELT VON HEUTE

52. Die Menschheit erlebt im Moment eine historische Wende, die wir an den Fortschritten ablesen können, die auf verschiedenen Gebieten gemacht werden. Lobenswert sind die Erfolge, die zum Wohl der Menschen beitragen, zum Beispiel auf dem Gebiet der Gesundheit, der Erziehung und der Kommunikation. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass der größte Teil der Männer und Frauen unserer Zeit in täglicher Unsicherheit lebt, mit unheilvollen Konsequenzen. Einige Pathologien nehmen zu. Angst und Verzweiflung ergreifen das Herz vieler Menschen, sogar in den sogenannten reichen Ländern. Häufig erlischt die Lebensfreude, nehmen Respektlosigkeit und Gewalt zu, die soziale Ungleichheit tritt immer klarer zutage. Man muss kämpfen, um zu leben – und oft wenig würdevoll zu leben. Dieser epochale Wandel ist verursacht worden durch die enormen Sprünge, die in Bezug auf Qualität, Quantität, Schnelligkeit und Häufung im wissenschaftlichen Fortschritt sowie in den technologischen Neuerungen und ihren prompten Anwendungen in verschiedenen Bereichen der Natur und des Lebens zu verzeichnen sind. Wir befinden uns im Zeitalter des Wissens und der Information, einer Quelle neuer Formen einer sehr oft anonymen Macht.

NEIN ZU EINER WIRTSCHAFT DER AUSSCHLIESSUNG

53. Ebenso wie das Gebot „du sollst nicht töten“ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen“ sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. Das ist Ausschließung. Es ist nicht mehr zu tolerieren, dass Nahrungsmittel weggeworfen werden, während es Menschen gibt, die Hunger leiden. Das ist soziale Ungleichheit. Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Als Folge dieser Situation sehen sich große Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. Wir haben die „Wegwerfkultur“ eingeführt, die sogar gefördert wird. Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht „Ausgebeutete“, sondern Müll, „Abfall“.

54. In diesem Zusammenhang verteidigen einige noch die „Überlauf“-Theorien (trickle-down theories), die davon ausgehen, dass jedes vom freien Markt begünstigte Wirtschaftswachstum von sich aus eine größere Gleichheit und soziale Einbindung in der Welt hervorzurufen vermag. Diese Ansicht, die nie von den Fakten bestätigt wurde, drückt ein undifferenziertes, naives Vertrauen auf die Güte derer aus, die die wirtschaftliche Macht in Händen halten, wie auch auf die sakralisierten Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems. Inzwischen warten die Ausgeschlossenen weiter. Um einen Lebensstil vertreten zu können, der die anderen ausschließt, oder um sich für dieses egoistische Ideal begeistern zu können, hat sich eine Globalisierung der Gleichgültigkeit entwickelt. Fast ohne es zu merken, werden wir unfähig, Mitleid zu empfinden gegenüber dem schmerzvollen Aufschrei der anderen, wir weinen nicht mehr angesichts des Dramas der anderen, noch sind wir daran interessiert, uns um sie zu kümmern, als sei all das eine uns fern liegende Verantwortung, die uns nichts angeht. Die Kultur des Wohlstands betäubt uns, und wir verlieren die Ruhe, wenn der Markt etwas anbietet, was wir noch nicht gekauft haben, während alle diese wegen fehlender Möglichkeiten unterdrückten Leben uns wie ein bloßes Schauspiel erscheinen, das uns in keiner Weise erschüttert.

NEIN ZUR NEUEN VERGÖTTERUNG DES GELDES

55. Einer der Gründe dieser Situation liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vorherrschaft über uns und über unsere Gesellschaften. Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel. Die weltweite Krise, die das Finanzwesen und die Wirtschaft erfasst, macht ihre Unausgeglichenheiten und vor allem den schweren Mangel an einer anthropologischen Orientierung deutlich – ein Mangel, der den Menschen auf nur eines seiner Bedürfnisse reduziert: auf den Konsum.

56. Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen. Darum bestreiten sie das Kontrollrecht der Staaten, die beauftragt sind, über den Schutz des Gemeinwohls zu wachen. Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei, die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und ihre Regeln aufzwingt. Außerdem entfernen die Schulden und ihre Zinsen die Länder von den praktikablen Möglichkeiten ihrer Wirtschaft und die Bürger von ihrer realen Kaufkraft. Zu all dem kommt eine verzweigte Korruption und eine egoistische Steuerhinterziehung hinzu, die weltweite Dimensionen angenommen haben. Die Gier nach Macht und Besitz kennt keine Grenzen. In diesem System, das dazu neigt, alles aufzusaugen, um den Nutzen zu steigern, ist alles Schwache wie die Umwelt wehrlos gegenüber den Interessen des vergötterten Marktes, die zur absoluten Regel werden.

NEIN ZU EINEM GELD, DAS REGIERT, STATT ZU DIENEN

57. Hinter dieser Haltung verbergen sich die Ablehnung der Ethik und die Ablehnung Gottes. Die Ethik wird gewöhnlich mit einer gewissen spöttischen Verachtung betrachtet. Sie wird als kontraproduktiv und zu menschlich angesehen, weil sie das Geld und die Macht relativiert. Man empfindet sie als eine Bedrohung, denn sie verurteilt die Manipulierung und die Degradierung der Person. Schließlich verweist die Ethik auf einen Gott, der eine verbindliche Antwort erwartet, die außerhalb der Kategorien des Marktes steht. Für diese, wenn sie absolut gesetzt werden, ist Gott unkontrollierbar, nicht manipulierbar und sogar gefährlich, da er den Menschen zu seiner vollen Verwirklichung ruft und zur Unabhängigkeit von jeder Art von Unterjochung. Die Ethik – eine nicht ideologisierte Ethik – erlaubt, ein Gleichgewicht und eine menschlichere Gesellschaftsordnung zu schaffen. In diesem Sinn rufe ich die Finanzexperten und die Regierenden der verschiedenen Länder auf, die Worte eines Weisen des Altertums zu bedenken: » Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu bestehlen und ihnen das Leben zu entziehen. Die Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, sondern ihnen. «<ref> Johannes Chrysostomus, De Lazaro conciones II,6: PG 48, 992 D.</ref>

58. Eine Finanzreform, welche die Ethik nicht ignoriert, würde einen energischen Wechsel der Grundeinstellung der politischen Führungskräfte erfordern, die ich aufrufe, diese Herausforderung mit Entschiedenheit und Weitblick anzunehmen, natürlich ohne die Besonderheit eines jeden Kontextes zu übersehen. Das Geld muss dienen und nicht regieren! Der Papst liebt alle, Reiche und Arme, doch im Namen Christi hat er die Pflicht daran zu erinnern, dass die Reichen den Armen helfen, sie achten und fördern müssen. Ich ermahne euch zur uneigennützigen Solidarität und zu einer Rückkehr von Wirtschaft und Finanzleben zu einer Ethik zugunsten des Menschen.

NEIN ZUR SOZIALEN UNGLEICHHEIT, DIE GEWALT HERVORBRINGT

59. Heute wird von vielen Seiten eine größere Sicherheit gefordert. Doch solange die Ausschließung und die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft und unter den verschiedenen Völkern nicht beseitigt werden, wird es unmöglich sein, die Gewalt auszumerzen. Die Armen und die ärmsten Bevölkerungen werden der Gewalt beschuldigt, aber ohne Chancengleichheit finden die verschiedenen Formen von Aggression und Krieg einen fruchtbaren Boden, der früher oder später die Explosion verursacht. Wenn die lokale, nationale oder weltweite Gesellschaft einen Teil ihrer selbst in den Randgebieten seinem Schicksal überlässt, wird es keine politischen Programme, noch Ordnungskräfte oder Intelligence geben, die unbeschränkt die Ruhe gewährleisten können. Das geschieht nicht nur, weil die soziale Ungleichheit gewaltsame Reaktionen derer provoziert, die vom System ausgeschlossen sind, sondern weil das gesellschaftliche und wirtschaftliche System an der Wurzel ungerecht ist. Wie das Gute dazu neigt, sich auszubreiten, so neigt das Böse, dem man einwilligt, das heißt die Ungerechtigkeit, dazu, ihre schädigende Kraft auszudehnen und im Stillen die Grundlagen jeden politischen und sozialen Systems aus den Angeln zu heben, so gefestigt es auch erscheinen mag. Wenn jede Tat ihre Folgen hat, dann enthält ein in den Strukturen einer Gesellschaft eingenistetes Böses immer ein Potenzial der Auflösung und des Todes. Das in den ungerechten Gesellschaftsstrukturen kristallisierte Böse ist der Grund, warum man sich keine bessere Zukunft erwarten kann. Wir befinden uns weit entfernt vom sogenannten „Ende der Geschichte“, da die Bedingungen für eine vertretbare und friedliche Entwicklung noch nicht entsprechend in die Wege geleitet und verwirklicht sind.

60. Die Mechanismen der augenblicklichen Wirtschaft fördern eine Anheizung des Konsums, aber es stellt sich heraus, dass der zügellose Konsumismus, gepaart mit der sozialen Ungleichheit das soziale Gefüge doppelt schädigt. Auf diese Weise erzeugt die soziale Ungleichheit früher oder später eine Gewalt, die der Rüstungswettlauf nicht löst, noch jemals lösen wird. Er dient nur dem Versuch, diejenigen zu täuschen, die größere Sicherheit fordern, als wüssten wir nicht, dass Waffen und gewaltsame Unterdrückung, anstatt Lösungen herbeizuführen, neue und schlimmere Konflikte schaffen. Einige finden schlicht Gefallen daran, die Armen und die armen Länder mit ungebührlichen Verallgemeinerungen der eigenen Übel zu beschuldigen und sich einzubilden, die Lösung in einer „Erziehung“ zu finden, die sie beruhigt und in gezähmte, harmlose Wesen verwandelt. Das wird noch anstößiger, wenn die Ausgeschlossenen jenen gesellschaftlichen Krebs wachsen sehen, der die in vielen Ländern – in den Regierungen, im Unternehmertum und in den Institutionen – tief verwurzelte Korruption ist, unabhängig von der politischen Ideologie der Regierenden.

EINIGE KULTURELLE HERAUSFORDERUNGEN

61. Wir evangelisieren auch dann, wenn wir versuchen, uns den verschiedenen Herausforderungen zu stellen, die auftauchen können.<ref>Vgl. Propositio 13.</ref> Manchmal zeigen sie sich in echten Angriffen auf die Religionsfreiheit oder in neuen Situationen der Christenverfolgung, die in einigen Ländern alarmierende Stufen des Hasses und der Gewalt erreicht haben. An vielen Orten handelt es sich eher um eine verbreitete relativistische Gleichgültigkeit, verbunden mit der Ernüchterung und der Krise der Ideologien, die als Reaktion auf alles, was totalitär erscheint, eingetreten ist. Das schadet nicht nur der Kirche, sondern dem Gesellschaftsleben allgemein. Geben wir zu, dass in einer Kultur, in der jeder Träger einer eigenen subjektiven Wahrheit sein will, die Bürger schwerlich das Verlangen haben, sich an einem gemeinsamen Projekt zu beteiligen, das die persönlichen Interessen und Wünsche übersteigt.

62. In der herrschenden Kultur ist der erste Platz besetzt von dem, was äußerlich, unmittelbar, sichtbar, schnell, oberflächlich und provisorisch ist. Das Wirkliche macht dem Anschein Platz. In vielen Ländern hat die Globalisierung mit der Invasion von Tendenzen aus anderen, wirtschaftlich entwickelten, aber ethisch geschwächten Kulturen einen beschleunigten Verfall der kulturellen Wurzeln bedingt. Das haben in mehreren Synoden die Bischöfe verschiedener Kontinente zum Ausdruck gebracht. Die afrikanischen Bischöfe haben zum Beispiel in Anknüpfung an die Enzyklika Sollicitudo rei socialis vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass man oftmals die Länder Afrikas zu bloßen » Rädern eines Mechanismus, zu Teilen einer gewaltigen Maschinerie « umfunktionieren will. » Das geschieht oft auch auf dem Gebiet der sozialen Kommunikationsmittel: Weil diese meistens von Zentren im Norden der Welt aus geleitet werden, berücksichtigen sie nicht immer in gebührender Weise die eigenen vorrangigen Anliegen und Probleme dieser Länder, noch achten sie deren kulturelle Eigenart. «<ref>Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in africa (14. September 1995), 52: AAS 88 (1996), 32–33; DERS., Enzyklika Sollicitudo rei socialis (30. Dezember 1987), 22: AAS 80 (1988), 539.</ref> In gleicher Weise haben die Bischöfe Asiens » die von außen auf die asiatischen Kulturen einwirkenden Einflüsse « hervorgehoben. » Neue Verhaltensformen kommen auf, die auf den übertriebenen Gebrauch von Kommunikationsmitteln (…) zurückzuführen sind (…) In direkter Folge sind die negativen Aspekte der Medien- und Unterhaltungsindustrie eine Gefahr für die traditionellen Werte. «<ref>DERS., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in asia (6. November 1999), 7: AAS 92 (2000), 458.</ref>

63. Der katholische Glaube vieler Völker steht heute vor der Herausforderung der Verbreitung neuer religiöser Bewegungen, von denen einige zum Fundamentalismus tendieren und andere eine Spiritualität ohne Gott anzubieten scheinen. Das ist einerseits das Ergebnis einer menschlichen Reaktion auf die materialistische, konsumorientierte und individualistische Gesellschaft und andererseits eine Ausnutzung der Notsituation der Bevölkerung, die an den Peripherien und in den verarmten Zonen lebt, die inmitten großer menschlicher Leiden überlebt und unmittelbare Lösungen für die eigenen Bedürfnisse sucht. Diese religiösen Bewegungen, die durch ihr subtiles Eindringen gekennzeichnet sind, füllen innerhalb des herrschenden Individualismus eine Leere aus, die der laizistische Rationalismus hinterlassen hat. Außerdem müssen wir zugeben, dass, wenn ein Teil unserer Getauften die eigene Zugehörigkeit zur Kirche nicht empfindet, das auch manchen Strukturen und einem wenig aufnahmebereiten Klima in einigen unserer Pfarreien und Gemeinden zuzuschreiben ist oder einem bürokratischen Verhalten, mit dem auf die einfachen oder auch komplexen Probleme des Lebens unserer Völker geantwortet wird. Vielerorts besteht eine Vorherrschaft des administrativen Aspekts vor dem seelsorglichen sowie eine Sakramentalisierung ohne andere Formen der Evangelisierung.

64. Der Säkularisierungsprozess neigt dazu, den Glauben und die Kirche auf den privaten, ganz persönlichen Bereich zu beschränken. Außerdem hat er mit der Leugnung jeglicher Transzendenz eine zunehmende ethische Deformation, eine Schwächung des Bewusstseins der persönlichen und sozialen Sünde und eine fortschreitende Zunahme des Relativismus verursacht, die Anlass geben zu einer allgemeinen Orientierungslosigkeit, besonders in der Phase des Heranwachsens und der Jugend, die gegenüber Veränderungen so anfällig ist. Während die Kirche auf der Existenz objektiver, für alle geltender moralischer Normen besteht, gibt es, wie die Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika zu Recht festgestellt haben, » solche, die diese Lehre als ungerecht bzw. als mit den menschlichen Grundrechten unvereinbar darstellen. Diese Argumentationen entspringen gewöhnlich aus einer Form von moralischem Relativismus, der sich – nicht ohne inneren Widerspruch – mit einem Vertrauen auf die absoluten Rechte des Einzelnen verbindet. In dieser Sichtweise nimmt man die Kirche wahr, als fördere sie ein besonderes Vorurteil und als greife sie in die individuelle Freiheit ein. «<ref> UNITED STATES CONFERENCE OF CATHOLIC BISHOPS, Ministry to Persons with a Homosexual Inclination: Guidelines for Pastoral Care. (2006), 17.</ref> Wir leben in einer Informationsgesellschaft, die uns wahllos mit Daten überhäuft, alle auf derselben Ebene, und uns schließlich in eine erschreckende Oberflächlichkeit führt, wenn es darum geht, die moralischen Fragen anzugehen. Folglich wird eine Erziehung notwendig, die ein kritisches Denken lehrt und einen Weg der Reifung in den Werten bietet.

65. Trotz der ganzen laizistischen Strömung, die die Gesellschaft überschwemmt, ist die Kirche in vielen Ländern – auch dort, wo das Christentum in der Minderheit ist – in der öffentlichen Meinung eine glaubwürdige Einrichtung, zuverlässig in Bezug auf den Bereich der Solidarität und der Sorge für die am meisten Bedürftigen. Bei vielen Gelegenheiten hat sie als Mittlerin gedient, um die Lösung von Problemen zu fördern, die den Frieden, die Eintracht, die Umwelt, den Schutz des Lebens, die Menschenrechte und die Zivilrechte usw. betreffen. Und wie groß ist der Beitrag der katholischen Schulen und Universitäten in der ganzen Welt! Es ist sehr positiv, dass das so ist. Doch wenn wir andere Fragen zur Sprache bringen, die weniger öffentliche Zustimmung hervorrufen, fällt es uns schwer zu zeigen, dass wir das aus Treue zu den gleichen Überzeugungen bezüglich der Würde der Person und des Gemeinwohls tun.

66. Die Familie macht eine tiefe kulturelle Krise durch wie alle Gemeinschaften und sozialen Bindungen. Im Fall der Familie wird die Brüchigkeit der Bindungen besonders ernst, denn es handelt sich um die grundlegende Zelle der Gesellschaft, um den Ort, wo man lernt, in der Verschiedenheit zusammenzuleben und anderen zu gehören, und wo die Eltern den Glauben an die Kinder weitergeben. Die Ehe wird tendenziell als eine bloße Form affektiver Befriedigung gesehen, die in beliebiger Weise gegründet und entsprechend der Sensibilität eines jeden verändert werden kann. Doch der unverzichtbare Beitrag der Ehe zur Gesellschaft geht über die Ebene der Emotivität und der zufälligen Bedürfnisse des Paares hinaus. Wie die französischen Bischöfe darlegen, geht sie nicht hervor » aus dem Gefühl der Liebe, das definitionsgemäß vergänglich ist, sondern aus der Tiefe der von den Brautleuten übernommen Verbindlichkeit, die zustimmen, eine umfassende Lebensgemeinschaft einzugehen. «<ref>CONFÉRENCE DES ÉVÊQUES DE FRANCE, Conseil Famille et Société, Elargir le mariage aux personnes de même sexe? Ouvrons le débat! (28. September 2012).</ref>

67. Der postmoderne und globalisierte Individualismus begünstigt einen Lebensstil, der die Entwicklung und die Stabilität der Bindungen zwischen den Menschen schwächt und die Natur der Familienbande zerstört. Das seelsorgliche Tun muss noch besser zeigen, dass die Beziehung zu unserem himmlischen Vater eine Communio fordert und fördert, die die zwischenmenschlichen Bindungen heilt, begünstigt und stärkt. Während in der Welt, besonders in einigen Ländern, erneut verschiedene Formen von Kriegen und Auseinandersetzungen aufkommen, beharren wir Christen auf dem Vorschlag, den anderen anzuerkennen, die Wunden zu heilen, Brücken zu bauen, Beziehungen zu knüpfen und einander zu helfen, so dass » einer des anderen Last trage « (Gal 6,2). Andererseits entstehen heute viele Formen von Verbänden für den Rechtsschutz und zur Erreichung edler Ziele. Auf diese Weise zeigt sich deutlich das Verlangen zahlreicher Bürger nach Mitbestimmung – Bürger, die Erbauer des sozialen und kulturellen Fortschritts sein wollen.

HERAUSFORDERUNGEN DER INKULTURATION DES GLAUBENS

68. Die christliche Basis einiger Völker – besonders in der westlichen Welt – ist eine lebendige Wirklichkeit. Hier finden wir, vor allem unter den am meisten Notleidenden, eine moralische Reserve, die Werte eines authentischen christlichen Humanismus bewahrt. Ein Blick des Glaubens auf die Wirklichkeit kann nicht umhin, das anzuerkennen, was der Heilige Geist sät. Es würde bedeuten, kein Vertrauen auf sein freies und großzügiges Handeln zu haben, wenn man meinte, es gebe keine echten christlichen Werte dort, wo ein Großteil der Bevölkerung die Taufe empfangen hat und seinen Glauben und seine brüderliche Solidarität in vielerlei Weise zum Ausdruck bringt. Hier muss man viel mehr als „Samen des Wortes“ erkennen, angesichts der Tatsache, dass es sich um einen authentischen katholischen Glauben handelt mit eigenen Modalitäten des Ausdrucks und der Zugehörigkeit zur Kirche. Es ist nicht gut, die entscheidende Bedeutung zu übersehen, welche eine vom Glauben gezeichnete Kultur hat, denn diese evangelisierte Kultur besitzt jenseits ihrer Grenzen viel mehr Möglichkeiten als eine einfache Summe von Gläubigen, die den Angriffen des heutigen Säkularismus ausgesetzt ist. Eine evangelisierte Volkskultur enthält Werte des Glaubens und der Solidarität, die die Entwicklung einer gerechteren und gläubigeren Gesellschaft auslösen können. Zudem besitzt sie eine besondere Weisheit, und man muss verstehen, diese mit einem Blick voller Dankbarkeit zu erkennen.

69. Es ist dringend notwendig, die Kulturen zu evangelisieren, um das Evangelium zu inkulturieren. In den Ländern katholischer Tradition wird es sich darum handeln, den bereits bestehenden Reichtum zu begleiten, zu pflegen und zu stärken, und in den Ländern anderer religiöser Traditionen oder tiefgreifender Säkularisierung wird es darum gehen, neue Prozesse der Evangelisierung der Kultur zu fördern, auch wenn sie sehr langfristige Planungen verlangen. Wir dürfen jedoch nicht übersehen, dass immer ein Aufruf zum Wachstum besteht. Jede Kultur und jede gesellschaftliche Gruppe bedarf der Läuterung und der Reifung. Im Fall von Volkskulturen katholischer Bevölkerungen können wir einige Schwächen erkennen, die noch vom Evangelium geheilt werden müssen: Chauvinismus, Alkoholismus, häusliche Gewalt, geringe Teilnahme an der Eucharistie, Schicksalsgläubigkeit oder Aberglaube, die auf Zauberei und Magie zurückgreifen lassen, und anderes. Doch gerade die Volksfrömmigkeit ist der beste Ausgangspunkt, um diese Schwächen zu heilen und von ihnen zu befreien.

70. Es stimmt auch, dass der Schwerpunkt manchmal mehr auf äußeren Formen von Traditionen einiger Gruppen oder auf hypothetischen Privatoffenbarungen liegt, die absolut gesetzt werden. Es gibt ein gewisses, aus Frömmigkeitsübungen bestehendes Christentum, dem eine individuelle und gefühlsbetonte Weise, den Glauben zu leben, zugrunde liegt, die in Wirklichkeit nicht einer echten „Volksfrömmigkeit“ entspricht. Manche fördern diese Ausdrucksformen, ohne sich um die soziale Förderung und die Bildung der Gläubigen zu kümmern, und in gewissen Fällen tun sie es, um wirtschaftliche Vorteile zu erlangen oder eine Macht über die anderen zu gewinnen. Wir dürfen auch nicht übersehen, dass in den letzten Jahrzehnten ein Bruch in der generationenlangen Weitergabe des christlichen Glaubens im katholischen Volk stattgefunden hat. Es ist unbestreitbar, dass viele sich enttäuscht fühlen und aufhören, sich mit der katholischen Tradition zu identifizieren; dass die Zahl der Eltern steigt, die ihre Kinder nicht taufen lassen und sie nicht beten lehren und dass eine gewisse Auswanderung in andere Glaubensgemeinschaften zu verzeichnen ist. Einige Ursachen dieses Bruches sind: der Mangel an Raum für den Dialog in der Familie, der Einfluss der Kommunikationsmittel, der relativistische Subjektivismus, der ungehemmte Konsumismus, der den Markt anregt, das Fehlen einer pastoralen Begleitung für die Ärmsten, der Mangel an herzlicher Aufnahme in unseren Einrichtungen und unsere Schwierigkeit, in einer multireligiösen Umgebung den übernatürlichen Zugang zum Glauben neu zu schaffen.

HERAUSFORDERUNGEN DER STADTKULTUREN

71. Das neue Jerusalem, die heilige Stadt (vgl. Offb 21,2-4) ist das Ziel, zu dem die gesamte Menschheit unterwegs ist. Es ist interessant, dass die Offenbarung uns sagt, dass die Erfüllung der Menschheit und der Geschichte sich in einer Stadt verwirklicht. Wir müssen die Stadt von einer kontemplativen Sicht her, das heißt mit einem Blick des Glaubens erkennen, der jenen Gott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihren Straßen und auf ihren Plätzen wohnt. Die Gegenwart Gottes begleitet die aufrichtige Suche, die Einzelne und Gruppen vollziehen, um Halt und Sinn für ihr Leben zu finden. Er lebt unter den Bürgern und fördert die Solidarität, die Brüderlichkeit und das Verlangen nach dem Guten, nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Gegenwart muss nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt werden. Gott verbirgt sich nicht vor denen, die ihn mit ehrlichem Herzen suchen, auch wenn sie das tastend, auf unsichere und weitschweifige Weise tun.

72. In der Stadt wird der religiöse Aspekt durch verschiedene Lebensstile und durch Gebräuche vermittelt, die mit einem Gefühl für die Zeit, das Territorium und die Beziehungen verbunden sind, das sich von dem Stil der Landbevölkerungen unterscheidet. Im Alltag kämpfen die Bürger oftmals ums Überleben, und in diesem Kampf verbirgt sich ein tiefes Empfinden für das Leben, das gewöhnlich auch ein tiefes religiöses Empfinden einschließt. Das müssen wir berücksichtigen, um einen Dialog zu erzielen wie den, welchen der Herr mit der Samariterin am Brunnen führte, wo sie ihren Durst zu stillen suchte (vgl. Joh 4,7-26).

73. Es entstehen fortwährend neue Kulturen in diesen riesigen menschlichen Geographien, wo der Christ gewöhnlich nicht mehr derjenige ist, der Sinn fördert oder stiftet, sondern derjenige, der von diesen Kulturen andere Sprachgebräuche, Symbole, Botschaften und Paradigmen empfängt, die neue Lebensorientierungen bieten, welche häufig im Gegensatz zum Evangelium Jesu stehen. Eine neue Kultur pulsiert in der Stadt und wird in ihr konzipiert. Die Synode hat festgestellt, dass heute die Verwandlungen dieser großen Gebiete und die Kultur, in der sie ihren Ausdruck finden, ein vorzüglicher Ort für die neue Evangelisierung sind.<ref>Vgl. Propositio 25.</ref> Das erfordert, neuartige Räume für Gebet und Gemeinschaft zu erfinden, die für die Stadtbevölkerungen anziehender und bedeutungsvoller sind. Aufgrund des Einflusses der Massenkommunikationsmittel sind die ländlichen Bereiche von diesen kulturellen Verwandlungen, die auch bedeutsame Veränderungen in ihrer Lebensweise bewirken, nicht ausgenommen.

74. Das macht eine Evangelisierung nötig, welche die neuen Formen, mit Gott, mit den anderen und mit der Umgebung in Beziehung zu treten, erleuchtet und die grundlegenden Werte wachruft. Es ist notwendig, dorthin zu gelangen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen, und mit dem Wort Jesu den innersten Kern der Seele der Städte zu erreichen. Man darf nicht vergessen, dass die Stadt ein multikultureller Bereich ist. In den großen Städten kann man ein „Bindegewebe“ beobachten, in dem Gruppen von Personen die gleichen Lebensträume und ähnliche Vorstellungswelten miteinander teilen und sich zu neuen menschlichen Sektoren, zu Kulturräumen und zu unsichtbaren Städten zusammenschließen. Unterschiedliche Kulturformen leben de facto zusammen, handeln aber häufig im Sinne der Trennung und wenden Gewalt an. Die Kirche ist berufen, sich in den Dienst eines schwierigen Dialogs zu stellen. Es gibt Bürger, die die angemessenen Mittel für die Entwicklung des persönlichen und familiären Lebens erhalten, andererseits gibt es aber sehr viele „Nicht-Bürger“, „Halbbürger“ oder „Stadtstreicher“. Die Stadt erzeugt eine Art ständiger Ambivalenz. Während sie nämlich ihren Bürgern unendlich viele Möglichkeiten bietet, erscheinen auch zahlreiche Schwierigkeiten für die volle Lebensentfaltung vieler. Dieser Widerspruch verursacht erschütterndes Leiden. In vielen Teilen der Welt sind die Städte Schauplatz von Massenprotesten, in denen Tausende von Bewohnern Freiheit, Beteiligung und Gerechtigkeit fordern sowie verschiedene Ansprüche geltend machen, die, wenn sie nicht auf ein angemessenes Verständnis stoßen, auch mit Gewalt nicht zum Schweigen gebracht werden können.

75. Wir dürfen nicht übersehen, dass sich in den Städten der Drogen- und Menschenhandel, der Missbrauch und die Ausbeutung Minderjähriger, die Preisgabe Alter und Kranker sowie verschiedene Formen von Korruption und Kriminalität leicht vermehren. Zugleich verwandelt sich das, was ein kostbarer Raum der Begegnung und der Solidarität sein könnte, häufig in einen Ort der Flucht und des gegenseitigen Misstrauens. Häuser und Quartiere werden mehr zur Absonderung und zum Schutz als zur Verbindung und zur Eingliederung gebaut. Die Verkündigung des Evangeliums wird eine Grundlage sein, um in diesen Zusammenhängen die Würde des menschlichen Lebens wiederherzustellen, denn Jesus möchte in den Städten Leben in Fülle verbreiten (vgl. Joh 10,10). Der einmalige und volle Sinn des menschlichen Lebens, den das Evangelium verkündet, ist das beste Heilmittel gegen die Übel der Stadt, auch wenn wir bedenken müssen, dass ein Evangelisierungsprogramm und ein einheitlicher, starrer Evangelisierungsstil für diese Wirklichkeit nicht angemessen sind. Doch das Menschliche bis zum Grunde zu leben und als ein Ferment des Zeugnisses ins Innerste der Herausforderungen einzudringen, in jeder beliebigen Kultur, in jeder beliebigen Stadt, lässt den Christen besser werden und befruchtet die Stadt.

II. VERSUCHUNGEN DER IN DER SEELSORGE TÄTIGEN

76. Ich bin unendlich dankbar für den Einsatz aller, die in der Kirche arbeiten. Ich möchte mich jetzt nicht dabei aufhalten, die Aktivitäten der verschiedenen in der Seelsorge Tätigen darzustellen, von den Bischöfen bis hin zum bescheidensten und am meisten verborgenen der kirchlichen Dienste. Stattdessen möchte ich gerne über die Herausforderungen nachdenken, denen sie alle sich im Kontext der augenblicklichen globalisierten Kultur stellen müssen. Doch zuallererst und der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass der Beitrag der Kirche in der heutigen Welt enorm ist. Unser Schmerz und unsere Scham wegen der Sünden einiger Glieder der Kirche und wegen unserer eigenen Sünden dürfen nicht vergessen lassen, wie viele Christen ihr Leben aus Liebe hingeben. Sie helfen vielen Menschen, sich in unsicheren Krankenhäusern behandeln zu lassen oder dort in Frieden zu sterben; in den ärmsten Gegenden der Erde begleiten sie Menschen, die Sklaven verschiedener Abhängigkeiten geworden sind; sie opfern sich auf in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen; sie kümmern sich um alte Menschen, die von allen verlassen sind; sie versuchen, in feindlicher Umgebung Werte zu vermitteln oder sie widmen sich auf viele andere Arten, die die grenzenlose Liebe zur Menschheit deutlich machen, die der Mensch gewordene Gott uns eingegeben hat. Ich danke für das schöne Beispiel, das viele Christen mir geben, die ihr Leben und ihre Zeit freudig hingeben. Dieses Zeugnis tut mir sehr gut und unterstützt mich in meinem persönlichen Streben, den Egoismus zu überwinden, um mich noch intensiver meiner Aufgabe widmen zu können.

77. Trotzdem sind wir als Kinder unserer Zeit alle irgendwie unter dem Einfluss der gegenwärtigen globalisierten Kultur, die, obwohl sie Werte und neue Möglichkeiten bietet, uns auch einschränken, beeinflussen und sogar krank machen kann. Ich gebe zu, dass wir Räume schaffen müssen, die geeignet sind, die in der Seelsorge Tätigen zu motivieren und zu heilen, » Orte, wo man den eigenen Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Christus erneuern kann, wo man die eigenen innersten Fragen und Alltagssorgen miteinander teilen kann, wo man sein Leben und seine Erfahrungen einer tiefgreifenden Überprüfung im Licht des Evangeliums unterziehen kann, mit dem Ziel, die eigenen individuellen und gesellschaftlichen Entscheidungen auf das Gute und das Schöne hin auszurichten «.<ref>AZIONE CATTOLICA ITALIANA, Messaggio della XIV Assemblea Nazionale alla Chiesa ed al Paese (8. Mai 2011).</ref> Zugleich möchte ich auf einige Versuchungen aufmerksam machen, die besonders heute die in der Seelsorge Tätigen befallen.

JA ZUR HERAUSFORDERUNG EINER MISSIONARISCHEN SPIRITUALITÄT

78. Heute kann man bei vielen in der Seelsorge Tätigen, einschließlich der gottgeweihten Personen, eine übertriebene Sorge um die persönlichen Räume der Selbständigkeit und der Entspannung feststellen, die dazu führt, die eigenen Aufgaben wie ein bloßes Anhängsel des Lebens zu erleben, als gehörten sie nicht zur eigenen Identität. Zugleich wird das geistliche Leben mit einigen religiösen Momenten verwechselt, die einen gewissen Trost spenden, aber nicht die Begegnung mit den anderen, den Einsatz in der Welt und die Leidenschaft für die Evangelisierung nähren. So kann man bei vielen in der Verkündigung Tätigen, obwohl sie beten, eine Betonung des Individualismus, eine Identitätskrise und einen Rückgang des Eifers feststellen. Das sind drei Übel, die sich gegenseitig fördern.

79. Die Medienkultur und manche intellektuelle Kreise vermitteln gelegentlich ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der Botschaft der Kirche und eine gewisse Ernüchterung. Daraufhin entwickeln viele in der Seelsorge Tätige, obwohl sie beten, eine Art Minderwertigkeitskomplex, der sie dazu führt, ihre christliche Identität und ihre Überzeugungen zu relativieren oder zu verbergen. Dann entsteht ein Teufelskreis, denn so sind sie nicht glücklich über das, was sie sind und was sie tun, identifizieren sich nicht mit dem Verkündigungsauftrag, und das schwächt ihren Einsatz. Schließlich ersticken sie die Missionsfreude in einer Art Besessenheit, so zu sein wie alle anderen und das zu haben, was alle anderen besitzen. Auf diese Weise wird die Aufgabe der Evangelisierung als Zwang empfunden, man widmet ihr wenig Mühe und eine sehr begrenzte Zeit.

80. Es entwickelt sich bei den in der Seelsorge Tätigen jenseits des geistlichen Stils oder der gedanklichen Linie, die sie haben mögen, ein Relativismus, der noch gefährlicher ist als der, welcher die Lehre betrifft. Es hat etwas mit den tiefsten und aufrichtigsten Entscheidungen zu tun, die eine Lebensform bestimmen. Dieser praktische Relativismus besteht darin, so zu handeln, als gäbe es Gott nicht, so zu entscheiden, als gäbe es die Armen nicht, so zu träumen, als gäbe es die anderen nicht, so zu arbeiten, als gäbe es die nicht, die die Verkündigung noch nicht empfangen haben. Es ist erwähnenswert, dass sogar, wer dem Anschein nach solide doktrinelle und spirituelle Überzeugungen hat, häufig in einen Lebensstil fällt, der dazu führt, sich an wirtschaftliche Sicherheiten oder an Räume der Macht und des menschlichen Ruhms zu klammern, die man sich auf jede beliebige Weise verschafft, anstatt das Leben für die anderen in der Mission hinzugeben. Lassen wir uns die missionarische Begeisterung nicht nehmen!

NEIN ZUR EGOISTISCHEN TRÄGHEIT

81. Wenn wir mehr missionarische Dynamik brauchen, die der Erde Salz und Licht bringt, fürchten viele Laien, jemand könne sie einladen, irgendeine apostolische Aufgabe zu erfüllen, und versuchen, jeder Verpflichtung auszuweichen, die ihnen ihre Freizeit nehmen könnte. Heute ist es zum Beispiel sehr schwierig geworden, qualifizierte Katechisten für die Pfarreien zu finden, die in ihrer Aufgabe über mehrere Jahre hin ausharren. Doch etwas Ähnliches geschieht bei den Priestern, die wie besessen um ihre persönliche Zeit besorgt sind. Das ist oft darauf zurückzuführen, dass sie das dringende Bedürfnis haben, ihre Freiräume zu bewahren, als sei ein Evangelisierungsauftrag ein gefährliches Gift anstatt eine freudige Antwort auf die Liebe Gottes, der uns zur Mission ruft und uns erfüllt und fruchtbar macht. Einige sträuben sich dagegen, die Freude an der Mission bis auf den Grund zu erfahren und bleiben in eine lähmende Trägheit eingehüllt.

82. Das Problem ist nicht immer das Übermaß an Aktivität, sondern es sind vor allem die schlecht gelebten Aktivitäten, ohne die entsprechenden Beweggründe, ohne eine Spiritualität, die die Tätigkeit prägt und wünschenswert macht. Daher kommt es, dass die Pflichten übermäßig ermüdend sind und manchmal krank machen. Es handelt sich nicht um eine friedvoll-heitere Anstrengung, sondern um eine angespannte, drückende, unbefriedigende und letztlich nicht akzeptierte Mühe. Diese pastorale Trägheit kann verschiedene Ursachen haben. Einige verfallen ihr, weil sie nicht realisierbaren Plänen nachgehen und sich nicht gerne dem widmen, was sie mit Gelassenheit tun könnten. Andere, weil sie die schwierige Entwicklung der Vorgänge nicht akzeptieren und wollen, dass alles vom Himmel fällt. Andere, weil sie sich an Projekte oder an Erfolgsträume klammern, die von ihrer Eitelkeit gehegt werden. Wieder andere, weil sie den wirklichen Kontakt zu den Menschen verloren haben, in einer Entpersönlichung der Seelsorge, die dazu führt, mehr auf die Organisation als auf die Menschen zu achten, so dass sie die „Marschroute“ mehr begeistert als die Wegstrecke selber. Andere fallen in die Trägheit, weil sie nicht warten können und den Rhythmus des Lebens beherrschen wollen. Das heutige Verlangen, unmittelbare Ergebnisse zu erzielen, bewirkt, dass die in der Seelsorge Tätigen das Empfinden irgendeines Widerspruchs, ein scheinbares Scheitern, eine Kritik, ein Kreuz nicht leicht ertragen.

83. So nimmt die größte Bedrohung Form an, der » graue Pragmatismus des kirchlichen Alltags, bei dem scheinbar alles mit rechten Dingen zugeht, in Wirklichkeit aber der Glaube verbraucht wird und ins Schäbige absinkt «<ref>Joseph Ratzinger, Die augenblickliche Situation des Glaubens und der Theologie. Vortrag während des Treffens zwischen der Glaubenskongregation und den Präsidenten der Glaubenskommissionen der Bischofskonferenzen Lateinamerikas, Guadalajara, Mexico, 1996. Veröffentlicht in: L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 26 (1996), Nr. 47 (22. November 1996), S. 9; vgl. V. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007),</ref>. Es entwickelt sich die Grabespsychologie, die die Christen allmählich in Mumien für das Museum verwandelt. Enttäuscht von der Wirklichkeit, von der Kirche oder von sich selbst, leben sie in der ständigen Versuchung, sich an eine hoffnungslose, süßliche, Traurigkeit zu klammern, die sich des Herzens bemächtigt wie » das kostbarste der Elixiere des Dämons «<ref>12. GEORGES BERNANOS, Journal d’un curé de campagne, Paris 1936, Éditions Plon 1974, S. 135.</ref>. Berufen, um Licht und Leben zu vermitteln, lassen sie sich schließlich von Dingen faszinieren, die nur Dunkelheit und innere Müdigkeit erzeugen und die apostolische Dynamik schwächen. Aus diesen Gründen erlaube ich mir, darauf zu beharren: Lassen wir uns die Freude der Evangelisierung nicht nehmen!

NEIN ZUM STERILEN PESSIMISMUS

84. Die Freude aus dem Evangelium kann nichts und niemand uns je nehmen (vgl. Joh 16,22). Die Übel unserer Welt – und die der Kirche – dürften niemals Entschuldigungen sein, um unseren Einsatz und unseren Eifer zu verringern. Betrachten wir sie als Herausforderungen, um zu wachsen. Außerdem ist der Blick des Glaubens fähig, das Licht zu erkennen, das der Heilige Geist immer inmitten der Dunkelheit verbreitet. Er vergisst nicht, dass » wo die Sünde mächtig wurde, die Gnade übergroß geworden ist « (Röm 5,20). Unser Glaube ist herausgefordert, den Wein zu erahnen, in den das Wasser verwandelt werden kann, und den Weizen zu entdecken, der inmitten des Unkrauts wächst. Fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil darf der größte Realismus nicht weniger Vertrauen auf den Geist, noch weniger Großherzigkeit bedeuten, auch wenn die Schwächen unserer Zeit uns schmerzen und wir weit entfernt sind von naiven Optimismen. In diesem Sinn können wir die Worte des seligen Johannes XXIII. an jenem denkwürdigen Tag des 11. Oktober 1962 noch einmal hören: Es » dringen bisweilen betrübliche Stimmen an Unser Ohr, die zwar von großem Eifer zeugen, aber weder genügend Sinn für die rechte Beurteilung der Dinge noch ein kluges Urteil walten lassen. Sie sehen in den modernen Zeiten nur Unrecht und Niedergang. (…) Doch Wir können diesen Unglückspropheten nicht zustimmen, wenn sie nur unheilvolle Ereignisse vorhersagen, so, als ob das Ende der Welt bevorstünde. In der gegenwärtigen Weltordnung führt uns die göttliche Vorsehung vielmehr zu einer neuen Ordnung der Beziehungen unter den Menschen. Sie vollendet so durch das Werk der Menschen selbst und weit über ihre Erwartungen hinaus in immer größerem Maß ihre Pläne, die höher sind als menschliche Gedanken und sich nicht berechnen lassen – und alles, auch die Meinungsverschiedenheiten unter den Menschen, dienen so dem größeren Wohl der Kirche. «<ref>Ansprache zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils (11. Oktober 1962), 4, 2–4: AAS 54 (1962), 789.</ref>

85. Eine der ernsthaftesten Versuchungen, die den Eifer und den Wagemut ersticken, ist das Gefühl der Niederlage, das uns in unzufriedene und ernüchterte Pessimisten mit düsterem Gesicht verwandelt. Niemand kann einen Kampf aufnehmen, wenn er im Voraus nicht voll auf den Sieg vertraut. Wer ohne Zuversicht beginnt, hat von vornherein die Schlacht zur Hälfte verloren und vergräbt die eigenen Talente. Auch wenn man sich schmerzlich der eigenen Schwäche bewusst ist, muss man vorangehen, ohne sich geschlagen zu geben, und an das denken, was der Herr dem heiligen Paulus sagte: » Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit « (2 Kor 12,9). Der christliche Sieg ist immer ein Kreuz, doch ein Kreuz, das zugleich ein Siegesbanner ist, das man mit einer kämpferischen Sanftmut gegen die Angriffe des Bösen trägt. Der böse Geist der Niederlage ist ein Bruder der Versuchung, den Weizen vorzeitig vom Unkraut zu trennen, und er ist das Produkt eines ängstlichen egozentrischen Misstrauens.

86. Es ist offenkundig, dass an einigen Orten eine geistliche „Wüstenbildung“ stattgefunden hat; sie ist das Ergebnis des Planes von Gesellschaften, die sich ohne Gott aufbauen wollen oder die ihre christlichen Wurzeln zerstören. Dort » wird die christliche Welt unfruchtbar und verbraucht wie ein völlig ausgelaugter Boden, der zu Sand geworden ist «<ref>John Henry Newmann, Letter of 26 January 1833, in: The Letters and Diaries of John Henry Newman, Bd. III, Oxford 1979, S. 204.</ref>. In anderen Ländern zwingt der gewaltsame Widerstand gegen das Christentum die Christen, ihren Glauben gleichsam verborgen zu leben in dem Land, das sie lieben. Das ist eine andere, sehr schmerzliche Form von Wüste. Auch die eigene Familie oder der eigene Arbeitsplatz können diese trockene Umgebung sein, in der man den Glauben bewahren und versuchen muss, ihn auszustrahlen. » Doch gerade von der Erfahrung der Wüste her, von dieser Leere her können wir erneut die Freude entdecken, die im Glauben liegt, seine lebensnotwendige Bedeutung für uns Menschen. In der Wüste entdeckt man wieder den Wert dessen, was zum Leben wesentlich ist; so gibt es in der heutigen Welt unzählige, oft implizit oder negativ zum Ausdruck gebrachte Zeichen des Durstes nach Gott, nach dem letzten Sinn des Lebens. Und in der Wüste braucht man vor allem glaubende Menschen, die mit ihrem eigenen Leben den Weg zum Land der Verheißung weisen und so die Hoffnung wach halten. «<ref>Papst Benedikt XVI., Homilie während der Eucharistiefeier zur Eröffnung des Jahrs des Glaubens (11. Oktober 2012): AAS 104 (2012), 881.</ref> In jedem Fall sind wir unter diesen Umständen berufen, wie große Amphoren zu sein, um den anderen zu trinken zu geben. Manchmal verwandelt sich das Amphoren-Dasein in ein schweres Kreuz, doch gerade am Kreuz hat der Herr, durchbohrt von der Lanze, sich uns als Quelle lebendigen Wassers übereignet. Lassen wir uns die Hoffnung nicht nehmen!

JA ZU DEN NEUEN, VON JESUS CHRISTUS GEBILDETEN BEZIEHUNGEN

87. Heute, da die Netze und die Mittel menschlicher Kommunikation unglaubliche Entwicklungen erreicht haben, spüren wir die Herausforderung, die „Mystik“ zu entdecken und weiterzugeben, die darin liegt, zusammen zu leben, uns unter die anderen zu mischen, einander zu begegnen, uns in den Armen zu halten, uns anzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaotischen Menge, die sich in eine wahre Erfahrung von Brüderlichkeit verwandeln kann, in eine solidarische Karawane, in eine heilige Wallfahrt. Auf diese Weise werden sich die größeren Möglichkeiten der Kommunikation als größere Möglichkeiten der Begegnung und der Solidarität zwischen allen erweisen. Wenn wir diesen Weg verfolgen könnten, wäre das etwas sehr Gutes, sehr Heilsames, sehr Befreiendes, eine große Quelle der Hoffnung! Aus sich selbst herausgehen, um sich mit den anderen zusammenzuschließen, tut gut. Sich in sich selbst zu verschließen bedeutet, das bittere Gift der Immanenz zu kosten, und in jeder egoistischen Wahl, die wir treffen, wird die Menschlichkeit den kürzeren ziehen.

88. Das christliche Ideal wird immer dazu auffordern, den Verdacht, das ständige Misstrauen, die Angst überschwemmt zu werden, die defensiven Verhaltensweisen, die die heutige Welt uns auferlegt, zu überwinden. Viele versuchen, vor den anderen in ein bequemes Privatleben oder in den engen Kreis der Vertrautesten zu fliehen, und verzichten auf den Realismus der sozialen Dimension des Evangeliums. Ebenso wie nämlich einige einen rein geistlichen Christus ohne Leib und ohne Kreuz wollen, werden zwischenmenschliche Beziehungen angestrebt, die nur durch hoch entwickelte Apparate vermittelt werden, durch Bildschirme und Systeme, die man auf Kommando ein- und ausschalten kann. Unterdessen lädt das Evangelium uns immer ein, das Risiko der Begegnung mit dem Angesicht des anderen einzugehen, mit seiner physischen Gegenwart, die uns anfragt, mit seinem Schmerz und seinen Bitten, mit seiner ansteckenden Freude in einem ständigen unmittelbar physischen Kontakt. Der echte Glaube an den Mensch gewordenen Sohn Gottes ist untrennbar von der Selbsthingabe, von der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, vom Dienst, von der Versöhnung mit dem Leib der anderen. Der Sohn Gottes hat uns in seiner Inkarnation zur Revolution der zärtlichen Liebe eingeladen.

89. Die Isolierung, die eine Version des Immanentismus ist, kann sich in einer falschen Autonomie ausdrücken, die Gott ausschließt und die doch auch im Religiösen eine Art spirituellen Konsumismus finden kann, der ihrem krankhaften Individualismus entgegenkommt. Die Rückkehr zum Sakralen und die spirituelle Suche, die unsere Zeit kennzeichnen, sind doppeldeutige Erscheinungen. Mehr als im Atheismus besteht heute für uns die Herausforderung darin, in angemessener Weise auf den Durst vieler Menschen nach Gott zu antworten, damit sie nicht versuchen, ihn mit irreführenden Antworten oder mit einem Jesus Christus ohne Leib und ohne Einsatz für den anderen zu stillen. Wenn sie in der Kirche nicht eine Spiritualität finden, die sie heilt, sie befreit, sie mit Leben und Frieden erfüllt und die sie zugleich zum solidarischen Miteinander und zur missionarischen Fruchtbarkeit ruft, werden sie schließlich der Täuschung von Angeboten erliegen, die weder die Menschlichkeit fördern, noch Gott die Ehre geben.

90. Die besonderen Formen der Volksfrömmigkeit sind inkarniert, denn sie sind aus der Inkarnation des christlichen Glaubens in eine Volkskultur hervorgegangen. Eben deshalb schließen sie eine persönliche Beziehung nicht etwa zu harmonisierenden Energien, sondern zu Gott, zu Jesus Christus, zu Maria oder zu einem Heiligen ein. Sie besitzen Leiblichkeit, haben Gesichter. Sie sind geeignet, Möglichkeiten der Beziehung zu fördern und nicht individualistische Flucht. In anderen Teilen unserer Gesellschaften steigt die Wertschätzung für Formen einer „Spiritualität des Wohlbefindens“ ohne Gemeinschaft, für eine „Theologie des Wohlstands“ ohne brüderlichen Einsatz oder für subjektive Erfahrungen ohne Gesicht, die sich auf eine immanentistische innere Suche beschränken.

91. Eine wichtige Herausforderung ist, zu zeigen, dass die Lösung niemals darin besteht, einer persönlichen und engagierten Beziehung zu Gott, die sich zugleich für die anderen einsetzt, auszuweichen. Das ist es, was heute geschieht, wenn die Gläubigen sich so verhalten, dass sie sich gleichsam verstecken und den anderen aus den Augen gehen, und wenn sie spitzfindig von einem Ort zum anderen oder von einer Aufgabe zur anderen flüchten, ohne tiefe und feste Bindungen zu schaffen: » Imaginatio locorum et mutatio multos fefellit «<ref>Thomas von Kempen, Die Nachfolge Christi, Liber Primus, IX, 5: „Die Einbildung, mit dem Wechsel des Ortes würde es besser, hat schon viele getäuscht“.</ref>. Es ist eine falsche Abhilfe, die das Herz und manchmal auch den Leib krank macht. Es ist nötig, zu der Einsicht zu verhelfen, dass der einzige Weg darin besteht zu lernen, den Mitmenschen in der rechten Haltung zu begegnen, indem man sie schätzt und als Weggefährten akzeptiert ohne innere Widerstände. Noch besser: Es geht darum zu lernen, Jesus im Gesicht der anderen, in ihrer Stimme, in ihren Bitten zu erkennen. Und auch zu lernen, in einer Umarmung mit dem gekreuzigten Jesus zu leiden, wenn wir ungerechte Aggressionen oder Undankbarkeiten hinnehmen, ohne jemals müde zu werden, die Brüderlichkeit zu wählen.<ref>Wertvoll ist das Zeugnis der heiligen Therese von Lisieux in Bezug auf ihre Beziehung zu jener Mitschwester, die ihr besonders unangenehm war, wobei eine innere Erfahrung eine entscheidende Wirkung hatte: „Eines Abends im Winter verrichtete ich wie gewöhnlich meinen kleinen Dienst, es war kalt, es war dunkel ... plötzlich hörte ich aus der Ferne den harmonischen Klang eines Musikinstrumentes, da stellte ich mir einen wohlerleuchteten Salon vor, glänzend in Goldschmuck, worin elegant gekleidete Mädchen Artigkeiten und weltliche Höflichkeiten austauschten; dann fiel mein Blick auf die arme Kranke, die ich stützte; statt einer Melodie vernahm ich von Zeit zu Zeit ihr klagendes Stöhnen [...] Ich vermag nicht in Worte zu fassen, was in meiner Seele vorging; was ich weiß, ist, dass der Herr sie mit den Strahlen der Wahrheit erleuchtete, die den trüben Glanz irdischer Feste derart übertreffen, dass ich mein Glück nicht zu fassen vermochte“: Manuscrit C, 29 vo–30 ro, in: Œvres complètes, Éditions du Cerf et Desclée De Brouwer, Paris 1992, S. 274–275; [deutsche Ausgabe: Selbstbiographie, Manuskript C, Johannes Verlag Einsiedeln 131996, S. 262].</ref>

92. Dort liegt die wahre Heilung, da die wirklich gesund und nicht krank machende Weise, mit anderen in Beziehung zu treten, eine mystische, kontemplative Brüderlichkeit ist, die die heilige Größe des Nächsten zu sehen weiß; die in jedem Menschen Gott zu entdecken weiß; die die Lästigkeiten des Zusammenlebens zu ertragen weiß, indem sie sich an die Liebe Gottes klammert; die das Herz für die göttliche Liebe zu öffnen versteht, um das Glück der anderen zu suchen, wie es ihr guter himmlischer Vater sucht. Gerade in dieser Zeit und auch dort, wo sie eine » kleine Herde « sind (Lk 12,32), sind die Jünger des Herrn berufen, als eine Gemeinschaft zu leben, die Salz der Erde und Licht der Welt ist (vgl. Mt 5,13-16). Sie sind berufen, auf immer neue Weise Zeugnis für eine evangelisierende Zugehörigkeit zu geben.<ref>Vgl. Propositio 8.</ref> Lassen wir uns die Gemeinschaft nicht nehmen!

NEIN ZUR SPIRITUELLEN WELTLICHKEIT

93. Die spirituelle Weltlichkeit, die sich hinter dem Anschein der Religiosität und sogar der Liebe zur Kirche verbirgt, besteht darin, anstatt die Ehre des Herrn die menschliche Ehre und das persönliche Wohlergehen zu suchen. Es ist das, was der Herr den Pharisäern vorwarf: »Wie könnt ihr zum Glauben kommen, wenn ihr eure Ehre voneinander empfangt, nicht aber die Ehre sucht, die von dem einen Gott kommt? « (Joh 5,44). Es handelt sich um eine subtile Art, » den eigenen Vorteil, nicht die Sache Jesu Christi « zu suchen (Phil 2,21). Sie nimmt viele Formen an, je nach dem Naturell des Menschen und der Lage, in die sie eindringt. Da sie an die Suche des Anscheins gebunden ist, geht sie nicht immer mit öffentlichen Sünden einher, und äußerlich erscheint alles korrekt. Doch wenn diese Mentalität auf die Kirche übergreifen würde, » wäre das unendlich viel verheerender als jede andere bloß moralische Weltlichkeit «.<ref>Henri de Lubac, Méditation sur l’Église, Paris 1953. Éditions Mon- taigne, Lyon 1968, S. 321.</ref>

94. Diese Weltlichkeit kann besonders aus zwei zutiefst miteinander verbundenen Quellen gespeist werden. Die eine ist die Faszination des Gnostizismus, eines im Subjektivismus eingeschlossenen Glaubens, bei dem einzig eine bestimmte Erfahrung oder eine Reihe von Argumentationen und Kenntnissen interessiert, von denen man meint, sie könnten Trost und Licht bringen, wo aber das Subjekt letztlich in der Immanenz seiner eigenen Vernunft oder seiner Gefühle eingeschlossen bleibt. Die andere ist der selbstbezogene und prometheische Neu-Pelagianismus derer, die sich letztlich einzig auf die eigenen Kräfte verlassen und sich den anderen überlegen fühlen, weil sie bestimmte Normen einhalten oder weil sie einem gewissen katholischen Stil der Vergangenheit unerschütterlich treu sind. Es ist eine vermeintliche doktrinelle oder disziplinarische Sicherheit, die Anlass gibt zu einem narzisstischen und autoritären Elitebewusstsein, wo man, anstatt die anderen zu evangelisieren, sie analysiert und bewertet und, anstatt den Zugang zur Gnade zu erleichtern, die Energien im Kontrollieren verbraucht. In beiden Fällen existiert weder für Jesus Christus noch für die Menschen ein wirkliches Interesse. Es sind Erscheinungen eines anthropozentrischen Immanentismus. Es ist nicht vorstellbar, dass aus diesen schmälernden Formen von Christentum eine echte Evangelisierungsdynamik hervorgehen könnte.

95. Diese bedrohliche Weltlichkeit zeigt sich in vielen Verhaltensweisen, die scheinbar einander entgegengesetzt sind, aber denselben Anspruch erheben, „den Raum der Kirche zu beherrschen“. Bei einigen ist eine ostentative Pflege der Liturgie, der Lehre und des Ansehens der Kirche festzustellen, doch ohne dass ihnen die wirkliche Einsenkung des Evangeliums in das Gottesvolk und die konkreten Erfordernisse der Geschichte Sorgen bereiten. Auf diese Weise verwandelt sich das Leben der Kirche in ein Museumsstück oder in ein Eigentum einiger weniger. Bei anderen verbirgt sich dieselbe spirituelle Weltlichkeit hinter dem Reiz, gesellschaftliche oder politische Errungenschaften vorweisen zu können, oder in einer Ruhmsucht, die mit dem Management praktischer Angelegenheiten verbunden ist, oder darin, sich durch die Dynamiken der Selbstachtung und der Selbstverwirklichung angezogen zu fühlen. Sie kann auch ihren Ausdruck in verschiedenen Weisen finden, sich selbst davon zu überzeugen, dass man in ein intensives Gesellschaftsleben eingespannt ist, angefüllt mit Reisen, Versammlungen, Abendessen und Empfängen. Oder sie entfaltet sich in einem Manager-Funktionalismus, der mit Statistiken, Planungen und Bewertungen überladen ist und wo der hauptsächliche Nutznießer nicht das Volk Gottes ist, sondern eher die Kirche als Organisation. In allen Fällen fehlt dieser Mentalität das Siegel des Mensch gewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus, sie schließt sich in Elitegruppen ein und macht sich nicht wirklich auf die Suche nach den Fernstehenden, noch nach den unermesslichen, nach Christus dürstenden Menschenmassen. Da ist kein Eifer mehr für das Evangelium, sondern der unechte Genuss einer egozentrischen Selbstgefälligkeit.

96. In diesem Kontext wird die Ruhmsucht derer gefördert, die sich damit zufrieden geben, eine gewisse Macht zu besitzen, und lieber Generäle von geschlagenen Heeren sein wollen, als einfache Soldaten einer Schwadron, die weiterkämpft. Wie oft erträumen wir peinlich genaue und gut entworfene apostolische Expansionsprojekte, typisch für besiegte Generäle! So verleugnen wir unsere Kirchengeschichte, die ruhmreich ist, insofern sie eine Geschichte der Opfer, der Hoffnung, des täglichen Ringens, des im Dienst aufgeriebenen Lebens, der Beständigkeit in mühevoller Arbeit ist, denn jede Arbeit geschieht „im Schweiß unseres Angesichts“. Stattdessen unterhalten wir uns eitel und sprechen über „das, was man tun müsste“ – die Sünde des „man müsste tun“ – wie spirituelle Lehrer und Experten der Seelsorge, die einen Weg weisen, ihn selber aber nicht gehen. Wir pflegen unsere grenzenlose Fantasie und verlieren den Kontakt zu der durchlittenen Wirklichkeit unseres gläubigen Volkes.

97. Wer in diese Weltlichkeit gefallen ist, schaut von oben herab und aus der Ferne, weist die Prophetie der Brüder ab, bringt den, der ihn in Frage stellt, in Misskredit, hebt ständig die Fehler der anderen hervor und ist besessen vom Anschein. Er hat den Bezugspunkt des Herzens verkrümmt auf den geschlossenen Horizont seiner Immanenz und seiner Interessen, mit der Konsequenz, dass er nicht aus seinen Sünden lernt, noch wirklich offen ist für Vergebung. Es ist eine schreckliche Korruption mit dem Anschein des Guten. Man muss sie vermeiden, indem man die Kirche in Bewegung setzt, dass sie aus sich herausgeht, in eine auf Jesus Christus ausgerichtete Mission, in den Einsatz für die Armen. Gott befreie uns von einer weltlichen Kirche unter spirituellen oder pastoralen Drapierungen! Diese erstickende Weltlichkeit erfährt Heilung, wenn man die reine Luft des Heiligen Geistes kostet, der uns davon befreit, um uns selbst zu kreisen, verborgen in einem religiösen Anschein über gottloser Leere. Lassen wir uns das Evangelium nicht nehmen!

NEIN ZUM KRIEG UNTER UNS

98. Wie viele Kriege innerhalb des Gottesvolkes und in den verschiedenen Gemeinschaften! Im Wohnviertel, am Arbeitsplatz – wie viele Kriege aus Neid und Eifersucht, auch unter Christen! Die spirituelle Weltlichkeit führt einige Christen dazu, im Krieg mit anderen Christen zu sein, die sich ihrem Streben nach Macht, Ansehen, Vergnügen oder wirtschaftlicher Sicherheit in den Weg stellen. Außerdem hören einige auf, sich von Herzen zur Kirche gehörig zu fühlen, um einen Geist der Streitbarkeit zu nähren. Mehr als zur gesamten Kirche mit ihrer reichen Vielfalt, gehören sie zu dieser oder jener Gruppe, die sich als etwas Anderes oder etwas Besonderes empfindet.

99. Die Welt wird von Kriegen und von Gewalt heimgesucht oder ist durch einen verbreiteten Individualismus verletzt, der die Menschen trennt und sie gegeneinander stellt, indem jeder dem eigenen Wohlstand nachjagt. In verschiedenen Ländern leben Konflikte und alte Spaltungen wieder auf, die man teilweise für überwunden hielt. Die Christen aller Gemeinschaften der Welt möchte ich besonders um ein Zeugnis brüderlichen Miteinanders bitten, das anziehend und erhellend wird. Damit alle bewundern können, wie ihr euch umeinander kümmert, wie ihr euch gegenseitig ermutigt und wie ihr einander begleitet: »Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt « (Joh 13,35). Das ist es, was Jesus mit intensivem Gebet vom Vater erbeten hat: »Alle sollen eins sein … in uns … damit die Welt glaubt « (Joh 17,21). Achten wir auf die Versuchung des Neids! Wir sind im selben Boot und steuern denselben Hafen an! Erbitten wir die Gnade, uns über die Früchte der anderen zu freuen, die allen gehören.

100. Für diejenigen, die durch alte Spaltungen verletzt sind, ist es schwierig zu akzeptieren, dass wir sie zur Vergebung und zur Versöhnung aufrufen, weil sie meinen, dass wir ihren Schmerz nicht beachten oder uns anmaßen, sie in den Verlust ihrer Erinnerung und ihrer Ideale zu führen. Wenn sie aber das Zeugnis von wirklich brüderlichen und versöhnten Gemeinschaften sehen, ist das immer ein Licht, das anzieht. Darum tut es mir so weh festzustellen, dass in einigen christlichen Gemeinschaften und sogar unter gottgeweihten Personen Platz ist für verschiedene Formen von Hass, Spaltung, Verleumdung, üble Nachrede, Rache, Eifersucht und den Wunsch, die eigenen Vorstellungen um jeden Preis durchzusetzen, bis hin zu Verfolgungen, die eine unversöhnliche Hexenjagd zu sein scheinen. Wen wollen wir mit diesem Verhalten evangelisieren?

101. Bitten wir den Herrn, dass er uns das Gesetz der Liebe verstehen lässt. Wie gut ist es, dieses Gesetz zu besitzen! Wie gut tut es uns, einander zu lieben, über alles hinweg! Ja, über alles hinweg! An jeden von uns ist die Mahnung des heiligen Paulus gerichtet: » Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute! « (Röm 12,21). Und weiter: » Lasst uns nicht müde werden, das Gute zu tun « (Gal 6,9). Alle haben wir Sympathien und Antipathien, und vielleicht sind wir gerade in diesem Moment zornig auf jemanden. Sagen wir wenigstens zum Herrn: „Herr, ich bin zornig auf diesen, auf jene. Ich bitte dich für ihn und für sie.“ Für den Menschen, über den wir ärgerlich sind, zu beten, ist ein schöner Schritt auf die Liebe zu, und es ist eine Tat der Evangelisierung. Tun wir es heute! Lassen wir uns nicht das Ideal der Bruderliebe nehmen!

WEITERE KIRCHLICHE HERAUSFORDERUNGEN

102. Die Laien sind schlicht die riesige Mehrheit des Gottesvolkes. In ihrem Dienst steht eine Minderheit: die geweihten Amtsträger. Das Bewusstsein der Identität und des Auftrags der Laien in der Kirche ist gewachsen. Wir verfügen über ein zahlenmäßig starkes, wenn auch nicht ausreichendes Laientum mit einem verwurzelten Gemeinschaftssinn und einer großen Treue zum Einsatz in der Nächstenliebe, der Katechese, der Feier des Glaubens. Doch die Bewusstwerdung der Verantwortung der Laien, die aus der Taufe und der Firmung hervorgeht, zeigt sich nicht überall in gleicher Weise. In einigen Fällen, weil sie nicht ausgebildet sind, um wichtige Verantwortungen zu übernehmen, in anderen Fällen, weil sie in ihren Teilkirchen aufgrund eines übertriebenen Klerikalismus, der sie nicht in die Entscheidungen einbezieht, keinen Raum gefunden haben, um sich ausdrücken und handeln zu können. Auch wenn eine größere Teilnahme vieler an den Laiendiensten zu beobachten ist, wirkt sich dieser Einsatz nicht im Eindringen christlicher Werte in die soziale, politische und wirtschaftliche Welt aus. Er beschränkt sich vielmals auf innerkirchliche Aufgaben ohne ein wirkliches Engagement für die Anwendung des Evangeliums zur Verwandlung der Gesellschaft. Die Bildung der Laien und die Evangelisierung der beruflichen und intellektuellen Klassen stellen eine bedeutende pastorale Herausforderung dar.

103. Die Kirche erkennt den unentbehrlichen Beitrag an, den die Frau in der Gesellschaft leistet, mit einem Feingefühl, einer Intuition und gewissen charakteristischen Fähigkeiten, die gewöhnlich typischer für die Frauen sind als für die Männer. Zum Beispiel die besondere weibliche Aufmerksamkeit gegenüber den anderen, die sich speziell, wenn auch nicht ausschließlich, in der Mutterschaft ausdrückt. Ich sehe mit Freude, wie viele Frauen pastorale Verantwortungen gemeinsam mit den Priestern ausüben, ihren Beitrag zur Begleitung von Einzelnen, von Familien oder Gruppen leisten und neue Anstöße zur theologischen Reflexion geben. Doch müssen die Räume für eine wirksamere weibliche Gegenwart in der Kirche noch erweitert werden. Denn » das weibliche Talent ist unentbehrlich in allen Ausdrucksformen des Gesellschaftslebens; aus diesem Grund muss die Gegenwart der Frauen auch im Bereich der Arbeit garantiert werden «<ref> Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, 295.</ref> und an den verschiedenen Stellen, wo die wichtigen Entscheidungen getroffen werden, in der Kirche ebenso wie in den sozialen Strukturen.

104. Die Beanspruchung der legitimen Rechte der Frauen aufgrund der festen Überzeugung, dass Männer und Frauen die gleiche Würde besitzen, stellt die Kirche vor tiefe Fragen, die sie herausfordern und die nicht oberflächlich umgangen werden können. Das den Männern vorbehaltene Priestertum als Zeichen Christi, des Bräutigams, der sich in der Eucharistie hingibt, ist eine Frage, die nicht zur Diskussion steht, kann aber Anlass zu besonderen Konflikten geben, wenn die sakramentale Vollmacht zu sehr mit der Macht verwechselt wird. Man darf nicht vergessen, dass wir uns, wenn wir von priesterlicher Vollmacht reden, » auf der Ebene der Funktion und nicht auf der Ebene der Würde und der Heiligkeit «<ref>Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 51: AAS 81 (1989), 493.</ref> befinden. Das Amtspriestertum ist eines der Mittel, das Jesus zum Dienst an seinem Volk einsetzt, doch die große Würde kommt von der Taufe, die allen zugänglich ist. Die Gleichgestaltung des Priesters mit Christus, dem Haupt – das heißt als Hauptquelle der Gnade – schließt nicht eine Erhebung ein, die ihn an die Spitze alles Übrigen setzt. In der Kirche begründen die Funktionen » keine Überlegenheit der einen über die anderen «.<ref>Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Inter insignores zur Frage der Zulassung der Frau zum Amtspriestertum (15. Oktober 1976), VI: AAS 69 (1977) 115. Zitiert in: Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 51, Anm. 190: AAS 81 (1989), 493. </ref> Tatsächlich ist eine Frau, Maria, bedeutender als die Bischöfe. Auch wenn die Funktion des Amtspriestertums sich als „hierarchisch“ versteht, muss man berücksichtigen, dass sie » ganz für die Heiligkeit der Glieder Christi bestimmt « ist.<ref>Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Mulieris dignitatem (15. August 1988), 27: AAS 80 (1988), 1718.</ref> Ihr Dreh- und Angelpunkt ist nicht ihre als Herrschaft verstandene Macht, sondern ihre Vollmacht, das Sakrament der Eucharistie zu spenden; darauf beruht ihre Autorität, die immer ein Dienst am Volk ist. Hier erscheint eine große Herausforderung für die Hirten und für die Theologen, die helfen könnten, besser zu erkennen, was das dort, wo in den verschiedenen Bereichen der Kirche wichtige Entscheidungen getroffen werden, in Bezug auf die mögliche Rolle der Frau mit sich bringt.

105. Die Jugendpastoral, wie wir sie gewohnheitsmäßig entwickelten, ist von der Welle der gesellschaftlichen Veränderungen getroffen worden. Die Jugendlichen finden in den üblichen Strukturen oft keine Antworten auf ihre Sorgen, Nöte, Probleme und Verletzungen. Uns Erwachsenen verlangt es etwas ab, ihnen geduldig zuzuhören, ihre Sorgen und ihre Forderungen zu verstehen und zu lernen, mit ihnen eine Sprache zu sprechen, die sie verstehen. Aus ebendiesem Grund bringen die Erziehungsvorschläge nicht die erhofften Ergebnisse. Die Vermehrung und das Wachsen von Verbänden und Bewegungen vornehmlich junger Menschen kann als ein Wirken des Heiligen Geistes interpretiert werden, der neue Wege öffnet, die mit ihren Erwartungen und ihrer Suche nach einer tiefen Spiritualität und nach dem Gefühl einer konkreteren Zugehörigkeit im Einklang stehen. Es ist jedoch notwendig, die Beteiligung dieser Gruppen innerhalb der Gesamtpastoral der Kirche zu festigen.<ref>Vgl. Propositio 51.</ref>

106. Auch wenn es nicht immer einfach ist, die Jugendlichen heranzuführen, sind doch in zwei Bereichen Fortschritte erzielt worden: in dem Bewusstsein, dass die gesamte Gemeinschaft sie evangelisiert und erzieht, und in der Dringlichkeit, dass sie mehr zur Geltung kommen. Man muss anerkennen, dass es im gegenwärtigen Kontext der Krise des Engagements und der gemeinschaftlichen Bindungen doch viele Jugendliche gibt, die angesichts der Leiden in der Welt ihre solidarische Hilfe leisten und verschiedene Formen von Aktivität und Volontariat ergreifen. Einige beteiligen sich am Leben der Gemeinde und rufen in ihren Diözesen oder an anderen Orten Dienstleistungsgruppen und verschiedene missionarische Initiativen ins Leben. Wie schön, wenn die Jugendlichen „Weggefährten des Glaubens“ sind, glücklich, Jesus auf jede Straße, auf jeden Platz, in jeden Winkel der Erde zu bringen!

107. Vielerorts mangelt es an Berufungen zum Priestertum und zum geweihten Leben. Das ist häufig auf das Fehlen eines ansteckenden apostolischen Eifers in den Gemeinden zurückzuführen, so dass diese Berufungen nicht begeistern und keine Anziehungskraft ausüben. Wo es Leben, Eifer und den Willen gibt, Christus zu den anderen zu bringen, entstehen echte Berufungen. Sogar in Pfarreien, wo die Priester nicht sehr engagiert und fröhlich sind, ist es das geschwisterliche und eifrige Gemeinschaftsleben, das den Wunsch erweckt, sich ganz Gott und der Evangelisierung zu weihen, vor allem, wenn diese lebendige Gemeinde inständig um Berufungen betet und den Mut besitzt, ihren Jugendlichen einen Weg besonderer Weihe vorzuschlagen. Andererseits sind wir uns heute trotz des Mangels an Berufungen deutlicher der Notwendigkeit einer besseren Auswahl der Priesteramtskandidaten bewusst. Man darf die Seminare nicht auf der Basis jeder beliebigen Art von Motivation füllen, erst recht nicht, wenn diese mit affektiver Unsicherheit oder mit der Suche nach Formen der Macht, der menschlichen Ehre oder des wirtschaftlichen Wohlstands verbunden ist.

108. Wie ich schon sagte, war es nicht meine Absicht, eine vollständige Analyse anzubieten, sondern ich lade die Gemeinschaften ein, diese Ausblicke, ausgehend vom Bewusstsein der Herausforderungen, die sie selbst und die ihnen Nahestehenden betreffen, zu vervollständigen und zu bereichern. Ich hoffe, dass sie bei diesem Tun berücksichtigen, dass es jedes Mal, wenn wir versuchen, in der jeweils gegenwärtigen Lage die Zeichen der Zeit zu erkennen, angebracht ist, die Jugendlichen und die Alten anzuhören. Beide sind die Hoffnung der Völker. Die Alten bringen das Gedächtnis und die Weisheit der Erfahrung ein, die dazu einlädt, nicht unsinnigerweise dieselben Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Die Jugendlichen rufen uns auf, die Hoffnung wieder zu erwecken und sie zu steigern, denn sie tragen die neuen Tendenzen in sich und öffnen uns für die Zukunft, so dass wir nicht in der Nostalgie von Strukturen und Gewohnheiten verhaftet bleiben, die in der heutigen Welt keine Überbringer von Leben mehr sind.

109. Die Herausforderungen existieren, um überwunden zu werden. Seien wir realistisch, doch ohne die Heiterkeit, den Wagemut und die hoffnungsvolle Hingabe zu verlieren! Lassen wir uns die missionarische Kraft nicht nehmen!

DRITTES KAPITEL: DIE VERKÜNDIGUNG DES EVANGELIUMS

110. Nachdem ich einigen Herausforderungen der gegenwärtigen Situation Beachtung geschenkt habe, möchte ich nun an die Aufgabe erinnern, die uns in jeder Epoche und an jedem Ort drängt; denn » es kann keine wahre Evangelisierung geben ohne eindeutige Verkündigung, dass Jesus der Herr ist «, und ohne » den Primat der Verkündigung Jesu Christi (…) wie auch immer die Evangelisierung geschehen mag«<ref>Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in asia (6. November 1999), 19: AAS 92 (2000), 478.</ref>. Johannes Paul II. hat die Sorgen der asiatischen Bischöfe aufgegriffen und bekräftigt: » Wenn die Kirche in Asien die ihr von der Vorsehung zugedachte Aufgabe erfüllen soll, dann muss die Evangelisierung als freudige, geduldige und fortgesetzte Verkündigung des Erlösungswerks des Todes und der Auferstehung Jesu Christi eure absolute Priorität sein.«<ref>Ebd., 2: AAS 92 (2000), 451.</ref> Das gilt für alle.

I. DAS GANZE VOLK GOTTES VERKÜNDET DAS EVANGELIUM

111. Die Evangelisierung ist Aufgabe der Kirche. Aber dieses Subjekt der Evangelisierung ist weit mehr als eine organische und hierarchische Institution, da es vor allem ein Volk auf dem Weg zu Gott ist. Gewiss handelt es sich um ein Geheimnis, das in der Heiligsten Dreifaltigkeit verwurzelt ist, dessen historisch konkrete Gestalt aber ein pilgerndes und evangelisierendes Volk ist, das immer jeden, wenn auch notwendigen institutionellen Ausdruck übersteigt. Ich schlage vor, dass wir ein wenig bei dieser Weise, die Kirche zu verstehen, verweilen, die ihr letztes Fundament in der freien und ungeschuldeten Initiative Gottes hat.

EIN VOLK FÜR ALLE

112. Das Heil, das Gott uns anbietet, ist ein Werk seiner Barmherzigkeit. Es gibt kein menschliches Tun, so gut es auch sein mag, das uns ein so großes Geschenk verdienen ließe. Aus reiner Gnade zieht Gott uns an, um uns mit sich zu vereinen.<ref>Vgl. Propositio 4. </ref> Er sendet seinen Geist in unsere Herzen, um uns zu seinen Kindern zu machen, um uns zu verwandeln und uns fähig zu machen, mit unserem Leben auf seine Liebe zu antworten. Die Kirche ist von Jesus Christus gesandt als das von Gott angebotene Sakrament des Heiles.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium über die Kirche, 1.</ref> Durch ihr evangelisierendes Tun arbeitet sie mit als Werkzeug der göttlichen Gnade, die unaufhörlich und jenseits jeder möglichen Kontrolle wirkt. Benedikt XVI. hat dies treffend zum Ausdruck gebracht, als er die Überlegungen der Synode eröffnete: »Daher ist es wichtig, immer zu wissen, dass das erste Wort, die wahre Initiative, das wahre Tun von Gott kommt, und nur indem wir uns in diese göttliche Initiative einfügen, nur indem wir diese göttliche Initiative erbitten, können auch wir – mit ihm und in ihm – zu Evangelisierern werden.«<ref>Meditation bei der ersten Generalkongregation der 13. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (8. Oktober 2012): AAS 104 (2012), 897.</ref> Das Prinzip des Primats der Gnade muss ein Leuchtfeuer sein, das unsere Überlegungen zur Evangelisierung ständig erhellt.

113. Dieses Heil, das Gott verwirklicht und das die Kirche freudig verkündet, gilt allen<ref>Vgl. Propositio 6; Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute, 22.</ref>, und Gott hat einen Weg geschaffen, um sich mit jedem einzelnen Menschen aus allen Zeiten zu vereinen. Er hat die Wahl getroffen, sie als Volk und nicht als isolierte Wesen zusammenzurufen.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium über die Kirche, 9.</ref> Niemand erlangt das Heil allein, das heißt weder als isoliertes Individuum, noch aus eigener Kraft. Gott zieht uns an, indem er den vielschichtigen Verlauf der zwischenmenschlichen Beziehungen berücksichtigt, den das Leben in einer menschlichen Gemeinschaft mit sich bringt. Dieses Volk, das Gott sich erwählt und zusammengerufen hat, ist die Kirche. Jesus sagt den Aposteln nicht, eine exklusive Gruppe, eine Elitetruppe zu bilden. Jesus sagt: »Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern« (Mt 28,19). Der heilige Paulus bekräftigt, dass es im Volk Gottes »nicht mehr Juden und Griechen (gibt) … denn ihr alle seid „einer“ in Christus Jesus« (Gal 3,28). Zu denen, die sich fern von Gott und von der Kirche fühlen, würde ich gerne sagen: Der Herr ruft auch dich, Teil seines Volkes zu sein, und er tut es mit großem Respekt und großer Liebe!

114. Kirche sein bedeutet Volk Gottes sein, in Übereinstimmung mit dem großen Plan der Liebe des Vaters. Das schließt ein, das Ferment Gottes inmitten der Menschheit zu sein. Es bedeutet, das Heil Gottes in dieser unserer Welt zu verkünden und es hineinzutragen in diese unsere Welt, die sich oft verliert, die es nötig hat, Antworten zu bekommen, die ermutigen, die Hoffnung geben, die auf dem Weg neue Kraft verleihen. Die Kirche muss der Ort der ungeschuldeten Barmherzigkeit sein, wo alle sich aufgenommen und geliebt fühlen können, wo sie Verzeihung erfahren und sich ermutigt fühlen können, gemäß dem guten Leben des Evangeliums zu leben.

EIN VOLK DER VIELEN GESICHTER

115. Dieses Volk Gottes nimmt in den Völkern der Erde Gestalt an, und jedes dieser Völker besitzt seine eigene Kultur. Der Begriff der Kultur ist ein wertvolles Instrument, um die verschiedenen Ausdrucksformen des christlichen Lebens zu verstehen, die es im Volk Gottes gibt. Es handelt sich um den Lebensstil einer bestimmten Gesellschaft, um die charakteristische Weise ihrer Glieder, miteinander, mit den anderen Geschöpfen und mit Gott in Beziehung zu treten. So verstanden, umfasst die Kultur die Gesamtheit des Lebens eines Volkes.<ref>Vgl. III. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Puebla (23. März 1979), 386–387.</ref> Jedes Volk entwickelt in seinem geschichtlichen Werdegang die eigene Kultur in legitimer Autonomie.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute, 36. </ref> Das ist darauf zurückzuführen, dass die menschliche Person »von ihrem Wesen selbst her des gesellschaftlichen Lebens durchaus bedarf«<ref>Ebd., 25.</ref> und immer auf die Gesellschaft bezogen ist, wo sie eine konkrete Weise lebt, mit der Wirklichkeit in Beziehung zu treten. Der Mensch ist immer kulturell beheimatet: »Natur und Kultur hängen engstens zusammen.«<ref>Ebd., 53.</ref> Die Gnade setzt die Kultur voraus, und die Gabe Gottes nimmt Gestalt an in der Kultur dessen, der sie empfängt.

116. In diesen zwei Jahrtausenden des Christentums haben unzählige Völker die Gnade des Glaubens empfangen, haben sie in ihrem täglichen Leben erblühen lassen und sie entsprechend ihrer eigenen kulturellen Beschaffenheit weitergegeben. Wenn eine Gemeinschaft die Verkündigung des Heils aufnimmt, befruchtet der Heilige Geist ihre Kultur mit der verwandelnden Kraft des Evangeliums. So verfügt das Christentum, wie wir in der Geschichte der Kirche sehen können, nicht über ein einziges kulturelles Modell, sondern »es bewahrt voll seine eigene Identität in totaler Treue zur Verkündigung des Evangeliums und zur Tradition der Kirche und trägt auch das Angesicht der vielen Kulturen und Völker, in die es hineingegeben und verwurzelt wird«<ref>Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte (6. Januar 2001), 40: AAS 93 (2001), 294–295. </ref>. In den verschiedenen Völkern, die die Gabe Gottes entsprechend ihrer eigenen Kultur erfahren, drückt die Kirche ihre authentische Katholizität aus und zeigt die »Schönheit dieses vielseitigen Gesichtes«<ref>Ebd., 40: AAS 93 (2001), 295.</ref>. In den christlichen Ausdrucksformen eines evangelisierten Volkes verschönert der Heilige Geist die Kirche, indem er ihr neue Aspekte der Offenbarung zeigt und ihr ein neues Gesicht schenkt. In der Inkulturation führt die Kirche »die Völker mit ihren Kulturen in die Gemeinschaft mit ihr ein«<ref>Papst Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris missio (7. Dezember 1990), 52: AAS 83 (1991), 300; vgl. Apostolisches Schreiben Catechesi tradendae (16. Oktober 1979), 53: AAS 71 (1979), 1321.</ref>, denn »jede Kultur bietet Werte und positive Formen, welche die Weise, das Evangelium zu verkünden, zu verstehen und zu leben, bereichern können«<ref>Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in oceania (22. November 2001), 16: AAS 94 (2002), 384.</ref>. Auf diese Weise wird die Kirche »zur sponsa ornata monilibus suis, „Braut, die ihr Geschmeide anlegt“ (vgl. Jes 61,10) «<ref>DERS., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in africa (14. September 1995), 61: AAS 88 (1996), 39.</ref>.

117. Wenn sie richtig verstanden wird, bedroht die kulturelle Verschiedenheit die Einheit der Kirche nicht. Der vom Vater und vom Sohn gesandte Heilige Geist ist es, der unsere Herzen verwandelt und uns fähig macht, in die vollkommene Gemeinschaft der Heiligsten Dreifaltigkeit einzutreten, wo alles zur Einheit findet. Er schafft die Gemeinschaft und die Harmonie des Gottesvolkes. Der Heilige Geist ist selbst die Harmonie, so wie er das Band der Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist.<ref>Vgl. Thomas von Aquin, S. Th. I, q. 39, a. 8 cons. 2: „Wenn man den Heiligen Geist ausschließt, der die Verbindung zwischen dem Vater und dem Sohn ist, kann man die Einigkeit beider nicht verstehen“; vgl. auch I, q. 37, a. 1, ad 3.</ref> Er ist derjenige, der einen vielfältigen und verschiedenartigen Reichtum der Gaben hervorruft und zugleich eine Einheit aufbaut, die niemals Einförmigkeit ist, sondern vielgestaltige Harmonie, die anzieht. Die Evangelisierung erkennt freudig diesen vielfältigen Reichtum, den der Heilige Geist in der Kirche erzeugt. Es würde der Logik der Inkarnation nicht gerecht, an ein monokulturelles und eintöniges Christentum zu denken. Obwohl es zutrifft, dass einige Kulturen eng mit der Verkündigung des Evangeliums und mit der Entwicklung des christlichen Denkens verbunden waren, identifiziert sich die offenbarte Botschaft mit keiner von ihnen und besitzt einen transkulturellen Inhalt. Darum kann man bei der Evangelisierung neuer Kulturen oder solcher, die die christliche Verkündigung noch nicht aufgenommen haben, darauf verzichten, zusammen mit dem Angebot des Evangeliums eine bestimmte Kulturform durchsetzen zu wollen, so schön und alt sie auch sein mag. Die Botschaft, die wir verkünden, weist immer irgendeine kulturelle Einkleidung vor, doch manchmal verfallen wir in der Kirche der selbstgefälligen Sakralisierung der eigenen Kultur, und damit können wir mehr Fanatismus als echten Missionseifer erkennen lassen.

118. Die Bischöfe Ozeaniens haben gefordert, dass die Kirche dort »ein Verständnis und eine Darstellung der Wahrheit Christi entwickelt, welche die Traditionen und Kulturen der Region einbezieht«. Sie haben alle Missionare ermahnt, »in Harmonie mit den einheimischen Christen zu wirken, um sicherzustellen, dass der Glaube und das Leben der Kirche sich in legitimen, jeder einzelnen Kultur angemessenen Formen ausdrücken«.<ref>Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in oceania (22. November 2001), 17: AAS 94 (2002), 385.</ref> Wir können nicht verlangen, dass alle Völker aller Kontinente in ihrem Ausdruck des christlichen Glaubens die Modalitäten nachahmen, die die europäischen Völker zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte angenommen haben, denn der Glaube kann nicht in die Grenzen des Verständnisses und der Ausdrucksweise einer besonderen Kultur eingeschlossen werden.<ref>Vgl. DERS., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in asia (6. November 1999), 20: AAS 92 (2000), 478–482.</ref> Es ist unbestreitbar, dass eine einzige Kultur das Erlösungsgeheimnis Christi nicht erschöpfend darstellt.

ALLE SIND WIR MISSIONARISCHE JÜNGER

119. In allen Getauften, vom ersten bis zum letzten, wirkt die heiligende Kraft des Geistes, die zur Evangelisierung drängt. Das Volk Gottes ist heilig in Entsprechung zu dieser Salbung, die es „in credendo“ unfehlbar macht. Das bedeutet, dass es, wenn es glaubt, sich nicht irrt, auch wenn es keine Worte findet, um seinen Glauben auszudrücken. Der Geist leitet es in der Wahrheit und führt es zum Heil.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium über die Kirche, 12.</ref> Als Teil seines Geheimnisses der Liebe zur Menschheit begabt Gott die Gesamtheit der Gläubigen mit einem Instinkt des Glaubens – dem sensus fidei –, der ihnen hilft, das zu unterscheiden, was wirklich von Gott kommt. Die Gegenwart des Geistes gewährt den Christen eine gewisse Wesensgleichheit mit den göttlichen Wirklichkeiten und eine Weisheit, die ihnen erlaubt, diese intuitiv zu erfassen, obwohl sie nicht über die geeigneten Mittel verfügen, sie genau auszudrücken.

120. Kraft der empfangenen Taufe ist jedes Mitglied des Gottesvolkes ein missionarischer Jünger geworden (vgl. Mt 28,19). Jeder Getaufte ist, unabhängig von seiner Funktion in der Kirche und dem Bildungsniveau seines Glaubens, aktiver Träger der Evangelisierung, und es wäre unangemessen, an einen Evangelisierungsplan zu denken, der von qualifizierten Mitarbeitern umgesetzt würde, wobei der Rest des gläubigen Volkes nur Empfänger ihres Handelns wäre. Die neue Evangelisierung muss ein neues Verständnis der tragenden Rolle eines jeden Getauften einschließen. Diese Überzeugung wird zu einem unmittelbaren Aufruf an jeden Christen, dass niemand von seinem Einsatz in der Evangelisierung ablasse; wenn einer nämlich wirklich die ihn rettende Liebe Gottes erfahren hat, braucht er nicht viel Vorbereitungszeit, um sich aufzumachen und sie zu verkündigen; er kann nicht darauf warten, dass ihm viele Lektionen erteilt oder lange Anweisungen gegeben werden. Jeder Christ ist in dem Maß Missionar, in dem er der Liebe Gottes in Jesus Christus begegnet ist; wir sagen nicht mehr, dass wir „Jünger“ und „Missionare“ sind, sondern immer, dass wir „missionarische Jünger“ sind. Wenn wir nicht überzeugt sind, schauen wir auf die ersten Jünger, die sich unmittelbar, nachdem sie den Blick Jesu kennen gelernt hatten, aufmachten, um ihn voll Freude zu verkünden: »Wir haben den Messias gefunden « (Joh 1,41). Kaum hatte die Samariterin ihr Gespräch mit Jesus beendet, wurde sie Missionarin, und viele Samariter kamen zum Glauben an Jesus »auf das Wort der Frau hin« (Joh 4,39). Nach seiner Begegnung mit Jesus Christus machte sich auch der heilige Paulus auf, »und sogleich verkündete er Jesus … und sagte: Er ist der Sohn Gottes. « (Apg 9,20). Und wir, worauf warten wir?

121. Gewiss sind wir alle gerufen, als Verkünder des Evangeliums zu wachsen. Zugleich bemühen wir uns um eine bessere Ausbildung, eine Vertiefung unserer Liebe und ein deutlicheres Zeugnis für das Evangelium. Daher müssen wir uns alle gefallen lassen, dass die anderen uns ständig evangelisieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir unterdessen von unserer Aufgabe zu evangelisieren absehen müssen, sondern wir sollen die Weise finden, die der Situation angemessen ist, in der wir uns befinden. In jedem Fall sind wir alle gerufen, den anderen ein klares Zeugnis der heilbringenden Liebe des Herrn zu geben, der uns jenseits unserer Unvollkommenheiten seine Nähe, sein Wort und seine Kraft schenkt und unserem Leben Sinn verleiht. Dein Herz weiß, dass das Leben ohne ihn nicht dasselbe ist. Was du entdeckt hast, was dir zu leben hilft und dir Hoffnung gibt, das sollst du den anderen mitteilen. Unsere Unvollkommenheit darf keine Entschuldigung sein; im Gegenteil, die Aufgabe ist ein ständiger Anreiz, sich nicht der Mittelmäßigkeit hinzugeben, sondern weiter zu wachsen. Das Glaubenszeugnis, das jeder Christ zu geben berufen ist, schließt ein, wie der heilige Paulus zu bekräftigen: »Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen … und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist « (Phil 3,12-13).

DIE EVANGELISIERENDE KRAFT DER VOLKSFRÖMMIGKEIT

122. In gleicher Weise können wir uns vorstellen, dass die verschiedenen Völker, in die das Evangelium inkulturiert worden ist, aktive kollektive Träger und Vermittler der Evangelisierung sind. Das ist tatsächlich so, weil jedes Volk der Schöpfer der eigenen Kultur und der Protagonist der eigenen Geschichte ist. Die Kultur ist etwas Dynamisches, das von einem Volk ständig neu erschaffen wird; und jede Generation gibt an die folgende eine Gesamtheit von auf die verschiedenen Lebenssituationen bezogenen Einstellungen weiter, die diese angesichts ihrer eigenen Herausforderungen überarbeiten muss. Der Mensch »ist zugleich Kind und Vater der Kultur, in der er eingebunden ist«.<ref>Papst Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998), 71: AAS 91 (1999), 60.</ref> Wenn in einem Volk das Evangelium inkulturiert worden ist, gibt es in seinem Prozess der Übermittlung der Kultur auch den Glauben auf immer neue Weise weiter; daher die Wichtigkeit der als Inkulturation verstandenen Evangelisierung. Jeder Teil des Gottesvolkes gibt, indem er die Gabe Gottes dem eigenen Geist entsprechend in sein Leben überträgt, Zeugnis für den empfangenen Glauben und bereichert ihn mit neuen, aussagekräftigen Ausdrucksformen. Man kann sagen: »Das Volk evangelisiert fortwährend sich selbst.«<ref>III. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Puebla (23. März 1979), 450; vgl. V. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 264. </ref> Hier ist die Volksfrömmigkeit von Bedeutung, die ein authentischer Ausdruck des spontanen missionarischen Handelns des Gottesvolkes ist. Es handelt sich um eine in fortwährender Entwicklung begriffene Wirklichkeit, in der der Heilige Geist der Protagonist ist.<ref>Vgl. Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in asia (6. November 1999), 21: AAS 92 (2000), 482–484.</ref>

123. In der Volksfrömmigkeit kann man die Weise erfassen, in der der empfangene Glaube in einer Kultur Gestalt angenommen hat und ständig weitergegeben wird. Während sie zeitweise mit Misstrauen betrachtet wurde, war sie in den Jahrzehnten nach dem Konzil Gegenstand einer Neubewertung. Paul VI. hat in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi einen entscheidenden Impuls in diesem Sinn gegeben. Dort erklärt er, dass in der Volksfrömmigkeit »ein Hunger nach Gott zum Ausdruck (kommt), wie ihn nur die Einfachen und Armen kennen«<ref>Nr. 48: AAS 68 (1976), 38.</ref>, und fährt fort: »Sie befähigt zur Großmut und zum Opfer, ja zum Heroismus, wenn es gilt, den Glauben zu bekunden«<ref>Ebd.</ref>. Näher an unseren Tagen hat Benedikt XVI. in Lateinamerika darauf hingewiesen, dass sie »ein kostbarer Schatz der katholischen Kirche« ist und dass in ihr »die Seele der lateinamerikanischen Völker zum Vorschein kommt«.<ref>Ansprache während der Eröffnungssitzung der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik (13. Mai 2007), 1: AAS 99 (2007), 446–447.</ref>

124. Im Dokument von Aparecida werden die Reichtümer beschrieben, die der Heilige Geist in der Volksfrömmigkeit mit seiner unentgeltlichen Initiative entfaltet. In jenem geliebten Kontinent, wo viele Christen ihren Glauben durch die Volksfrömmigkeit zum Ausdruck bringen, nennen die Bischöfe sie auch »Volksspiritualität« oder »Volksmystik«.<ref>V. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 262.</ref> Es handelt sich um eine wahre »in der Kultur der Einfachen verkörperte Spiritualität«<ref>Ebd., 263. </ref>. Sie ist nicht etwa ohne Inhalte, sondern sie entdeckt und drückt diese mehr auf symbolischem Wege als durch den Gebrauch des funktionellen Verstandes aus, und im Glaubensakt betont sie mehr das credere in Deum als das credere Deum<ref>Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II, q. 2, a. 2.</ref>. Es ist »eine legitime Weise, den Glauben zu leben, eine Weise, sich als Teil der Kirche zu fühlen und Missionar zu sein«<ref>V. GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHÖFE VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 264.</ref>; sie bringt die Gnade des Missionsgeistes, des Aus-sich-Herausgehens und des Pilgerseins mit sich: »Das gemeinsame Gehen zu den Wallfahrtsorten und die Teilnahme an anderen Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit, wobei man auch die Kinder mitnimmt oder andere Menschen dazu einlädt, ist in sich selbst ein Akt der Evangelisierung.«<ref>Ebd.</ref> Tun wir dieser missionarischen Kraft keinen Zwang an und maßen wir uns nicht an, sie zu kontrollieren!

125. Um diese Wirklichkeit zu verstehen, muss man sich ihr mit dem Blick des Guten Hirten nähern, der nicht darauf aus ist, zu urteilen, sondern zu lieben. Allein von der natürlichen Hinneigung her, die die Liebe schenkt, können wir das gottgefällige Leben würdigen, das in der Frömmigkeit der christlichen Völker, besonders bei den Armen, vorhanden ist. Ich denke an den festen Glauben jener Mütter am Krankenbett des Sohnes, die sich an einen Rosenkranz klammern, auch wenn sie die Sätze des Credo nicht zusammenbringen; oder an den enormen Gehalt an Hoffnung, der sich mit einer Kerze verbreitet, die in einer bescheidenen Wohnung angezündet wird, um Maria um Hilfe zu bitten; oder an jene von tiefer Liebe erfüllten Blicke auf den gekreuzigten Christus. Wer das heilige gläubige Volk Gottes liebt, kann diese Handlungen nicht einzig als eine natürliche Suche des Göttlichen ansehen. Sie sind der Ausdruck eines gottgefälligen Lebens, beseelt vom Wirken des Heiligen Geistes, der in unsere Herzen eingegossen ist (vgl. Röm 5,5).

126. Da die Volksfrömmigkeit Frucht des inkulturierten Evangeliums ist, ist in ihr eine aktiv evangelisierende Kraft eingeschlossen, die wir nicht unterschätzen dürfen; anderenfalls würden wir die Wirkung des Heiligen Geistes verkennen. Wir sind vielmehr aufgerufen, sie zu fördern und zu verstärken, um den Prozess der Inkulturation zu vertiefen, der niemals abgeschlossen ist. Die Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit haben vieles, das sie uns lehren können, und für den, der imstande ist, sie zu deuten, sind sie ein theologischer Ort. Diesem sollen wir Aufmerksamkeit schenken, besonders im Hinblick auf die neue Evangelisierung.

[Fortsetzung folgt]

Anmerkungen

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