Evangelium vitae (Wortlaut): Unterschied zwischen den Versionen

Aus kathPedia
Zur Navigation springenZur Suche springen
(korr)
K (+ Kat)
Zeile 915: Zeile 915:
  
 
[[Kategorie:Lehramtstexte (Wortlaut)]]
 
[[Kategorie:Lehramtstexte (Wortlaut)]]
 +
[[Kategorie:Lehramtstexte (Johannes Paul II.)]]

Version vom 29. April 2018, 16:45 Uhr

Enzyklika
Evangelium vitae

unseres Heiligen Vaters
Johannes Paul II.
an die Bischöfe, Priester und Diakone, die Ordensleute und Laien sowie an alle Menschen guten Willens
über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens
25. März 1995

(Offizieller lateinischer Text: AAS 87 [1995] 401-522)

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite.
Anmerkungen aus: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 120.
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Inhaltsverzeichnis

EINFÜHRUNG

1. Das Evangelium vom Leben liegt der Botschaft Jesu am Herzen. Von der Kirche jeden Tag liebevoll aufgenommen soll es mit beherzter Treue als Frohe Botschaft allen Menschen jeden Zeitalters und jeder Kultur verkündet werden.

Am Beginn des Heils steht die Geburt eines Kindes, die als frohe Nachricht verkündet wird: »Ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr« (Lk 2, 10-11). Gewiss ist es die Geburt des Erlösers, die diese »große Freude« ausstrahlt; aber zu Weihnachten wird auch der volle Sinn jeder menschlichen Geburt offenbar, und die messianische Freude erscheint so als Fundament und Erfüllung der Freude über jedes Kind, das geboren wird (vgl. Joh 16, 21).

Den zentralen Kern seines Erlösungsauftrags stellt Jesus mit den Worten vor: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10, 10). Tatsächlich bezieht Er sich auf jenes »neue« und »ewige« Leben, das in der Gemeinschaft mit dem Vater besteht, zu der jeder Mensch im Sohn durch das Wirken des heiligmachenden Geistes unentgeltlich gerufen ist. Doch eben in diesem »Leben« gewinnen sämtliche Aspekte und Momente des Lebens des Menschen ihre volle Bedeutung.

Der unvergleichliche Wert der menschlichen Person

2. Der Mensch ist zu einer Lebensfülle berufen, die weit über die Dimensionen seiner irdischen Existenz hinausgeht, da sie in der Teilhabe am Leben Gottes selber besteht. Die Erhabenheit dieser übernatürlichen Berufung enthüllt die Größe und Kostbarkeit des menschlichen Lebens auch in seinem zeitlich-irdischen Stadium. Denn das Leben in der Zeit ist Grundvoraussetzung, Einstiegsmoment und integrierender Bestandteil des gesamten einheitlichen Lebensprozesses des menschlichen Seins. Eines Prozesses, der unerwarteter- und unverdienterweise von der Verheißung erleuchtet und vom Geschenk des göttlichen Lebens erneuert wird, das in der Ewigkeit zu seiner vollen Erfüllung gelangen wird (vgl. 1 Joh 3, 1-2). Zugleich unterstreicht diese übernatürliche Berufung die Relativität des irdischen Lebens von Mann und Frau. In Wahrheit ist es nicht »letzte«, sondern »vorletzte« Wirklichkeit; es ist also heilige Wirklichkeit, die uns anvertraut wird, damit wir sie mit Verantwortungsgefühl hüten und in der Liebe und Selbsthingabe an Gott sowie an die Schwestern und Brüder zur Vollendung bringen.

Die Kirche weiß, dass dieses Evangelium vom Leben, das ihr von ihrem Herrn anvertraut wurde,<ref>Tatsächlich findet sich der Ausdruck „Evangelium vom Leben“ als solcher nicht in der Heiligen Schrift. Er entspricht jedoch einem wesentlichen Aspekt der biblischen Botschaft.</ref> im Herzen jedes gläubigen, aber auch nicht gläubigen Menschen tiefen und überzeugenden Widerhall findet, weil es seinen Erwartungen, während es unendlich über diese hinausgeht, überraschenderweise entspricht. Selbst in Schwierigkeiten und Unsicherheiten vermag jeder Mensch, der in ehrlicher Weise für die Wahrheit und das Gute offen ist, im Licht der Vernunft und nicht ohne den geheimnisvollen Einfluß der Gnade im ins Herz geschriebenen Naturgesetz (vgl. Röm 2, 14-15) den heiligen Wert des menschlichen Lebens vom ersten Augenblick bis zu seinem Ende zu erkennen und das Recht jedes Menschen zu bejahen, dass dieses sein wichtigstes Gut in höchstem Mabe geachtet werde. Auf der Anerkennung dieses Rechtes beruht das menschliche Zusammenleben und das politische Gemeinwesen.

Besonders verteidigen und fördern müssen dieses Recht die Christgläubigen im Bewusstsein der wunderbaren Wahrheit, an die das II. Vatikanische Konzil erinnert: »Der Sohn Gottes hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt«.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 22. </ref> Denn in diesem Heilsereignis offenbart sich der Menschheit nicht nur die unendliche Liebe Gottes, der »die Welt so sehr geliebt (hat), dass er seinen einzigen Sohn hingab« (Joh 3, 16), sondern auch der unvergleichliche Wert jeder menschlichen Person.

Und während die Kirche beharrlich das Geheimnis der Erlösung ergründet, erfasst sie mit immer neuem Staunen <ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), Nr. 10: AAS 71 (1979), 275. </ref> diesen Wert und fühlt sich aufgerufen, dieses »Evangelium«, Quelle unbesiegbarer Hoffnung und wahrer Freude für jede Epoche der Geschichte, den Menschen aller Zeiten zu verkünden. Das Evangelium von der Liebe Gottes zum Menschen, das Evangelium von der Würde der Person und das Evangelium vom Leben sind ein einziges, unteilbares Evangelium.

Der Mensch, der lebendige Mensch stellt den ersten und grundlegenden Weg der Kirche dar.<ref>Vgl. ebd., Nr. 14: a. a. O., 285. </ref>

Die neuen Bedrohungen des menschlichen Lebens

3. Jeder Mensch ist auf Grund des Geheimnisses vom fleischgewordenen Wort Gottes (vgl. Joh 1, 14) der mütterlichen Sorge der Kirche anvertraut. Darum muss jede Bedrohung der Würde und des Lebens des Menschen eine Reaktion im Herzen der Kirche auslösen, sie muss sie im Zentrum ihres Glaubens an die erlösende Menschwerdung des Gottessohnes treffen, sie muss sie miteinbeziehen in ihren Auftrag, in der ganzen Welt und allen Geschöpfen das Evangelium vom Leben zu verkünden (vgl. Mk 16, 15).

Heute erweist sich diese Verkündigung als besonders dringend angesichts der erschütternden Vermehrung und Verschärfung der Bedrohungen des Lebens von Personen und Völkern, vor allem dann, wenn es schwach und wehrlos ist. Zu den alten schmerzlichen Plagen von Elend, Hunger, endemischen Krankheiten, Gewalt und Kriegen gesellen sich andere unbekannter Art und von beunruhigenden Ausmaßen.

Schon das Zweite Vatikanische Konzil beklagte an einer Stelle, die von geradezu dramatischer Aktualität ist, nachdrücklich vielfältige Verbrechen und Angriffe gegen das menschliche Leben. Wenn ich mir nun im Abstand von dreißig Jahren die Worte der Konzilsversammlung zu eigen mache, erhebe ich im Namen der ganzen Kirche und in der Gewissheit, damit dem echten Empfinden jedes reinen Gewissens Ausdruck zu verleihen, noch einmal und mit gleichem Nachdruck klagend meine Stimme: »Was ferner zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 27. </ref>

4. Weit davon entfernt, sich einschränken zu lassen, ist dieses beunruhigende Panorama statt dessen leider in Ausdehnung begriffen: mit den neuen, vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt eröffneten Perspektiven entstehen neue Formen von Anschlägen auf die Würde des Menschen, während sich eine neue kulturelle Situation abzeichnet und verfestigt, die den Verbrechen gegen das Leben einen bisher unbekannten und womöglich noch widerwärtigeren Aspekt verleiht und neue ernste Sorgen auslöst: breite Schichten der öffentlichen Meinung rechtfertigen manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen Freiheit und beanspruchen unter diesem Vorwand nicht nur Straffreiheit für derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des Staates, sie in absoluter Freiheit und unter kostenloser Beteiligung des staatlichen Gesundheitswesens durchzuführen.

Das alles bewirkt einen tiefgreifenden Wandel in der Betrachtungsweise des Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Umstand, dass die Gesetzgebung vieler Länder sogar in Abweichung von den Grundprinzipien ihrer Verfassungen zugestimmt hat, solche gegen das Leben gerichtete Praktiken nicht zu bestrafen oder ihnen gar volle Rechtmäßigkeit zuzuerkennen, ist zugleich besorgniserregendes Symptom und keineswegs nebensächliche Ursache für einen schweren moralischen Verfall: Entscheidungen, die einst einstimmig als verbrecherisch angesehen und vom allgemeinen sittlichen Empfinden abgelehnt wurden, werden nach und nach gesellschaftlich als achtbar betrachtet. Selbst die Medizin, die auf die Verteidigung und Pflege des menschlichen Lebens ausgerichtet ist, verwendet sich in einigen ihrer Bereiche immer eingehender für die Durchführung dieser Handlungen gegen die Person und entstellt auf diese Weise ihr Gesicht, widerspricht sich selbst und verletzt die Würde all derer, die sie ausüben. In einem solchen kulturellen und gesetzlichen Kontext sehen sich auch die schwerwiegenden bevölkerungsstatistischen, sozialen oder familiären Probleme, die auf zahlreichen Völkern der Welt lasten und eine verantwortungsvolle und rührige Aufmerksamkeit seitens der nationalen und internationalen Gemeinschaften erfordern, falschen und illusorischen Lösungsversuchen ausgesetzt, die zur Wahrheit und zum Wohl der Menschen und der Nationen im Widerspruch stehen.

Das Ergebnis, zu dem man gelangt, ist dramatisch: so schwerwiegend und beunruhigend das Phänomen der Beseitigung so vieler menschlicher Leben vor der Geburt oder auf dem Weg zum Tod auch sein mag, so ist die Tatsache nicht weniger schwerwiegend und beunruhigend, dass selbst das Gewissen, als wäre es von so weitreichenden Konditionierungen verfinstert, immer träger darin wird, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse wahrzunehmen im Hinblick auf den fundamentalen Wert des menschlichen Lebens.

In Gemeinschaft mit allen Bischöfen der Welt

5. Dem Problem der Bedrohungen des menschlichen Lebens in unserer Zeit war das außerordentliche Konsistorium der Kardinäle gewidmet, das vom 4. bis 7. April 1991 in Rom stattgefunden hat. Nach einer umfassenden und gründlichen Erörterung des Problems und der Herausforderungen, die sich der ganzen Menschheitsfamilie und im besonderen der christlichen Gemeinschaft stellen, haben mich die Kardinäle einstimmig ersucht, den Wert des menschlichen Lebens und seine Unantastbarkeit unter Bezugnahme auf die gegenwärtigen Umstände und die Angriffe, von denen es heute bedroht wird, mit der Autorität des Nachfolgers Petri zu bekräftigen.

Nach Annahme dieses Vorschlags habe ich zu Pfingsten 1991 ein persönliches Schreiben an jeden Mitbruder gerichtet mit der Bitte, er möge mir im Geiste der bischöflichen Kollegialität im Hinblick auf die Erstellung eines eigenen Dokuments seine Mitarbeit zukommen lassen.<ref>Vgl. Brief an alle Brüder im Bischofsamt über „das Evangelium vom Leben“ (19. Mai 1991): Insegnamenti XIV/1 (1991), 1293-1296. </ref> Ich bin allen Bischö- fen, die geantwortet haben und mir wertvolle Informationen, Ratschläge und Vorschläge zugehen lieben, zutiefst dankbar. Sie haben so auch ihre einmütige und überzeugte Teilnahme am Lehr- und Pastoralauftrag der Kirche in bezug auf das Evangelium vom Leben unter Beweis gestellt.

In demselben Brief habe ich, wenige Tage vor der Hundertjahrfeier der Veröffentlichung der Enzyklika Rerum novarum, die Aufmerksamkeit aller auf diese einzigartige Analogie gelenkt: »Wie es vor einem Jahrhundert die Arbeiterklasse war, die, in ihren fundamentalsten Rechten unterdrückt, von der Kirche mit großem Mut in Schutz genommen wurde, indem diese die heiligen Rechte der Person des Arbeiters herausstellte, so weiß sie sich auch jetzt, wo eine andere Kategorie von Personen in ihren grundlegenden Lebensrechten unterdrückt wird, verpflichtet, mit unvermindertem Mut den Stimmlosen Stimme zu sein. Für immer hat sie sich den Ruf des Evangeliums nach dem Schutz der Armen zu eigen gemacht, deren Menschenrechte bedroht, missachtet und verletzt werden«.<ref>Ebd., a. a. O., 1294. </ref>

Das fundamentale Recht auf Leben wird heute bei einer großen Zahl schwacher und wehrloser Menschen, wie es insbesondere die ungeborenen Kinder sind, mit Füßen getreten. Wenn die Kirche am Ende des vorigen Jahrhunderts angesichts der damals vorherrschenden Ungerechtigkeiten nicht schweigen durfte, so kann sie heute noch weniger schweigen, wo sich in vielen Teilen der Welt zu den leider noch immer nicht überwundenen sozialen Ungerechtigkeiten der Vergangenheit noch schwerwiegendere Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen gesellen, die möglicherweise mit Elementen des Fortschritts im Hinblick auf die Gestaltung einer neuen Weltordnung verwechselt werden.

Die vorliegende Enzyklika, Frucht der Zusammenarbeit des Episkopates jedes Landes der Welt, will also eine klare und feste Bekräftigung des Wertes des menschlichen Lebens und seiner Unantastbarkeit und zugleich ein leidenschaftlicher Appell im Namen Gottes an alle und jeden einzelnen sein: achte, verteidige, liebe das Leben, jedes menschliche Leben und diene ihm! Nur auf diesem Weg wirst du Gerechtigkeit, Entwicklung, echte Freiheit, Frieden und Glück finden!

Mögen diese Worte alle Söhne und Töchter der Kirche erreichen! Mögen sie alle Menschen guten Willens erreichen, die um das Wohl jedes Mannes und jeder Frau und um das Schicksal der ganzen Gesellschaft besorgt sind!

6. In tiefer Verbundenheit mit jeder Schwester und jedem Bruder im Glauben und von aufrichtiger Freundschaft für alle beseelt, möchte ich das Evangelium vom Leben neu überdenken und verkünden, als Glanz der Wahrheit, das die Gewissen erleuchtet, als helles Licht, das den verfinsterten Blick erhellt, als unerschöpfliche Quelle der Beständigkeit und des Mutes, um den immer neuen Herausforderungen entgegenzutreten, denen wir auf unserem Weg begegnen.

Und während ich an die im Verlauf des Jahres der Familie gesammelte reiche Erfahrung denke, blicke ich, gleichsam als gedankliche Ergänzung des Briefes, den ich »an jede konkrete Familie jeder Region der Erde«<ref>Brief an die Familien Gratissimam sane (2. Februar 1994), Nr. 4: AAS 86 (1994), 871. </ref> gerichtet hatte, mit neuem Vertrauen auf alle Hausgemeinschaften und wünsche mir, dass auf allen Ebenen der Einsatz aller für die Unterstützung der Familie wieder auflebe und sich verstärke, damit diese auch heute — trotz zahlreicher Schwierigkeiten und schwerwiegender Bedrohungen — dem Plan Gottes entsprechend immer als »Heiligtum des Lebens«<ref> Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), Nr. 39: AAS 83 (1991), 842.</ref> erhalten bleibe.

Alle Mitglieder der Kirche, des Volkes des Lebens und für das Leben, lade ich ganz dringend ein, miteinander dieser unserer Welt neue Zeichen der Hoffnung zu geben, indem wir bewirken, dass Gerechtigkeit und Solidarität wachsen und sich durch den Aufbau einer echten Zivilisation der Wahrheit und der Liebe eine neue Kultur des menschlichen Lebens durchsetzt.

I. KAPITEL - DAS BLUT DEINES BRUDERS SCHREIT ZU MIR VOM ACKERBODEN - DIE GEGENWÄRTIGEN BEDROHUNGEN DES MENSCHLICHEN LEBENS

»Kain griff seinen Bruder Abel an und erschlug ihn« (Gen 4, 8): an der Wurzel der Gewalt gegen das Leben

7. »Denn Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen... Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit geschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht. Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören« (Weish 1, 13-14; 2, 23-24).

Im Widerspruch zum Evangelium vom Leben, das am Anfang mit der Erschaffung des Menschen nach dem Ebenbild Gottes zu einem vollen und vollkommenen Leben (vgl. Gen 2, 7; Weish 9, 2-3) erschallte, steht die qualvolle Erfahrung des Todes, der in die Welt kommt und auf das ganze Dasein des Menschen den Schatten des Un-Sinnes wirft. Der Tod kommt durch den Neid des Teufels (vgl. Gen 3, 1.4-5) und die Sünde der Stamm- eltern (vgl. Gen 2, 17; 3, 17-19) in die Welt. Und er kommt gewaltsam mit der Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain: »Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn« (Gen 4, 8).

Dieser erste Mord wird in einer beispielhaften Episode des Buches Genesis mit einzigartiger Beredtheit geschildert: eine Episode, die jeden Tag pausenlos und in bedrückender Wiederholung neu ins Buch der Geschichte der Völker geschrieben wird.

Wir wollen miteinander diesen Passus aus der Bibel wieder lesen, der trotz seines archaischen Charakters und seiner äußersten Schlichtheit höchst lehrreich erscheint.

»Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer. Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht.

Da überfiel es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: 'Warum überläuft es dich heiß, und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn!?

Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn.

Da sprach der Herr zu Kain: 'Wo ist dein Bruder Abel?? Er entgegnete: 'Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?? Der Herr sprach: 'Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein.?

Kain antwortete dem Herrn: 'Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte. Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen.?

Der Herr aber sprach zu ihm: 'Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen.? Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde. Dann ging Kain vom Herrn weg und ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden« (Gen 4, 2-16).

8. Kain »überlief es ganz heiß« und sein Blick »senkte sich», weil »der Herr auf Abel und sein Opfer schaute« (Gen 4, 4). Der biblische Text enthüllt zwar nicht, aus welchem Grund Gott das Opfer Abels jenem Kains vorzieht; er weist jedoch mit aller Klarheit darauf hin, dass Gott trotz der Bevorzugung von Abels Gabe den Dialog mit Kain nicht abbricht. Er ermahnt ihn, indem er ihn an seine Freiheit gegenüber dem Bösen erinnert: der Mensch ist keineswegs für das Böse vorherbestimmt. Sicherlich wird er, wie schon Adam, von der verderblichen Macht der Sünde in Versuchung geführt, die, einer wilden Bestie gleich, an der Pforte seines Herzens lauert und darauf wartet, über die Beute herzufallen. Aber Kain bleibt der Sünde gegenüber frei. Er kann und er soll Herr über sie sein: »Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn!« (Gen 4, 7).

Eifersucht und Zorn gewinnen Oberhand über die Mahnung des Herrn, und so greift Kain seinen eigenen Bruder an und erschlägt ihn. Im Katechismus der katholischen Kirche lesen wir: »Im Bericht über die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain offenbart die Schrift, dass im Menschen schon von Anfang seiner Geschichte an Zorn und Eifersucht als Folgen der Erbsünde wirksam sind. Der Mensch ist zum Feind des Mitmenschen geworden«.<ref>Nr. 2259. </ref>

Der Bruder tötet den Bruder. Wie beim ersten Brudermord wird bei jedem Mord die »geistige« Verwandtschaft geschändet, die die Menschen zu einer einzigen großen Familie vereinigt,<ref>Vgl. HL. Ambrosius, De Noe, 26, 94-96: CSEL 32, 480-481. </ref> da sie alle an demselben grundlegenden Gut teilhaben: der gleichen Personwürde. Nicht selten wird auch die Verwandtschaft »des Fleisches und Blutes« geschändet, wenn zum Beispiel die Bedrohungen des Lebens im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ausbrechen, wie es bei der Abtreibung geschieht, oder wenn im weitesten Familien- und Verwandtenkreis die Euthanasie befürwortet oder dazu angestiftet wird.

Am Anfang jeder Gewalt gegen den Nächsten steht ein Nachgeben gegenüber der »Logik« des Bösen, das heißt desjenigen, der »von Anfang an ein Mörder war« (Joh 8, 44), wie uns der Apostel Johannes in Erinnerung ruft: »Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt: Wir sollen einander lieben und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug« (1 Joh 3, 11-12). Die Ermordung des Bruders ist also von Beginn der Geschichte an das traurige Zeugnis dafür, wie das Böse mit beeindruckender Geschwindigkeit voranschreitet: zum Aufbegehren des Menschen gegen Gott im irdischen Paradies gesellt sich der tödliche Kampf des Menschen gegen den Menschen.

Nach dem Verbrechen greift Gott ein, um den Ermordeten zu rächen. Gott gegenüber, der sich nach dem Schicksal Abels erkundigt, weicht Kain in Überheblichkeit der Frage aus, statt sich verlegen zu zeigen und um Verzeihung zu bitten: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Gen 4, 9). »Ich weiß es nicht«: mit der Lüge versucht Kain das Verbrechen zu verdecken. So ist es oft geschehen und geschieht es, wenn Ideologien verschiedenster Art dazu dienen, um die schrecklichsten Verbrechen gegen die Person zu rechtfertigen und zu bemänteln. »Bin ich der Hüter meines Bruders?«: Kain will nicht an den Bruder denken und lehnt es ab, jene Verantwortung, die jeder Mensch gegenüber dem anderen hat, zu leben. Das lässt uns unwillkürlich an heutige Bestrebungen denken, die den Menschen seiner Verantwortung gegenüber seinem Mitmenschen entheben wollen; Anzeichen dafür sind unter anderem das Nachlassen der Solidarität gegenüber den schwächsten Gliedern der Gesellschaft, wie den Alten, den Kranken, den Einwanderern, den Kindern gegenüber, und die häufig zu bemerkende Gleichgültigkeit in den Beziehungen der Völker untereinander, selbst dann, wenn fundamentale Werte wie das Überleben, die Freiheit und der Friede auf dem Spiel stehen.

9. Doch Gott kann das Verbrechen nicht ungestraft lassen: vom Ackerboden, auf dem es vergossen wurde, verlangt das Blut des Erschlagenen, dass Er Gerechtigkeit widerfahren lasse (vgl. Gen 37, 26; Jes 26, 21; Ez 24, 7f). Aus diesem Text hat die Kirche die Bezeichnung »himmelschreiende Sünden« abgeleitet und in diese vor allem den beabsichtigten Mord einbezogen.<ref>Vgl. Katechismus der katholischen Kirche Nr. 1867 und 2268. </ref> Für die Juden ist, wie für viele Völker der Antike, das Blut der Sitz des Lebens, ja »das Blut ist Lebenskraft« (Dtn 12, 23), und das Leben, besonders das menschliche Leben, gehört allein Gott: wer daher nach dem Leben des Menschen trachtet, trachtet Gott selbst nach dem Leben.

Kain ist von Gott und ebenso vom Ackerboden, der ihm seinen Ertrag verweigert, verflucht (vgl. Gen 4, 11-12). Und er wird bestraft: er soll in der Steppe und in der Wüste wohnen. Die mörderische Gewalttätigkeit verändert das Lebensmilieu des Menschen tiefgreifend. Aus dem »Garten von Eden« (Gen 2, 15), einem Ort des Überflusses, der unbeschwerten zwischenmenschlichen Beziehungen und der Freundschaft mit Gott, wird die Erde zum »Land Nod« (Gen 4, 16), Ort des »Elends», der Einsamkeit und der Gottferne. Kain wird »rastlos und ruhelos auf der Erde« sein (Gen 4, 14): Unsicherheit und Unbeständigkeit werden ihn immer begleiten.

Gott jedoch, der stets Barmherzige, auch wenn Er straft, »machte dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde« (Gen 4, 15): Er versieht ihn also mit einem Zeichen, das nicht den Zweck hat, ihn zur Verabscheuung durch die anderen Menschen zu verdammen, sondern ihn vor allen zu schützen und zu verteidigen, die ihn töten wollen, und wäre es auch, um den Tod Abels zu rächen. Nicht einmal der Mörder verliert seine Personwürde, und Gott selber leistet dafür Gewähr. Tatsächlich offenbart sich hier das paradoxe Geheimnis von der barmherzigen Gerechtigkeit Gottes, wie der hl. Ambrosius schreibt: »Nachdem in dem Augenblick, als sich die Sünde eingeschlichen hatte, ein Brudermord, also das größte Verbrechen, begangen worden war, musste sofort das Gesetz von der göttlichen Barmherzigkeit erweitert werden; damit es nicht geschähe, dass die Menschen, obwohl die Strafe den Schuldigen unmittelbar getroffen hatte, beim Bestrafen weder Toleranz noch Milde walten lassen, sondern die Schuldigen unverzüglich der Strafe ausliefern würden. (...) Gott verstieß Kain von seinem Angesicht und verbannte den von seinen Eltern Abtrünnigen an einen anderen Wohnort, weil er von der menschlichen Zahmheit zur tierischen Wildheit übergegangen war. Doch Gott wollte den Mörder nicht durch einen Mord bestrafen, da Er mehr die Reue des Sünders will als seinen Tod«.<ref>De Cain et Abel, II, 10, 38: CSEL 32, 408. </ref>

»Was hast du getan?« (Gen 4, 10): die Verfinsterung des Wertes des Lebens

10. Der Herr sprach zu Kain: »Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden!« (Gen 4, 10). Das von den Menschen vergossene Blut hört nicht auf zu schreien, von Generation zu Generation nimmt dieses Schreien andere und immer neue Töne und Akzente an.

Die Frage des Herrn »Was hast du getan?«, der Kain nicht entgehen kann, ist auch an den heutigen Menschen gerichtet, damit er sich den Umfang und die Schwere der Angriffe auf das Leben bewusst mache, von denen die Geschichte der Menschheit weiterhin gekennzeichnet ist; damit er auf die Suche nach den vielfältigen Ursachen gehe, die diese Bedrohungen hervorrufen und fördern; damit er mit größtem Ernst über die Folgen nachdenke, die sich aus diesen Anschlägen für die Existenz der Menschen und der Völker ergeben.

Manche Bedrohungen stammen aus der Natur selbst, werden aber durch die schuldhafte Unbekümmertheit und Nachlässigkeit der Menschen, die nicht selten Abhilfe schaffen könnten, verschlimmert; andere hingegen sind das Ergebnis von Gewaltsituationen, Haß und gegensätzlichen Interessen, die die Menschen veranlassen, mit Mord, Krieg, Blutbädern und Völkermord über andere Menschen herzufallen.

Und wie sollte man nicht an die Gewalt denken, die dem Leben von Millionen von Menschen, besonders Kindern, zugefügt wird, die wegen der ungerechten Verteilung der Reichtümer unter den Völkern und sozialen Klassen zu Elend, Unterernährung und Hunger gezwungen sind? Oder an die Gewalt, die, noch ehe Kriege ausbrechen, einem skandalösen Waffenhandel anhaftet, der einer Spirale von zahllosen bewaffneten Konflikten, die die Welt in Blut tauchen, Vorschuß leistet? Oder an die Todessaat, die durch die unbedachte Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, durch die kriminelle Verbreitung der Drogen und dadurch zustande kommt, dass Muster für die Sexualität Unterstützung finden, die nicht nur in moralischer Hinsicht unannehmbar, sondern auch Vorboten schwerwiegender Gefahren für das Leben sind? Es ist gar nicht möglich, die umfangreiche Skala der Bedrohungen des menschlichen Lebens vollständig aufzuzählen, so zahlreich sind die offen zutage tretenden oder heimtückischen Formen, die sie in unserer Zeit annehmen!

11. Unsere Aufmerksamkeit will sich aber im besonderen auf eine andere Art von Angriffen konzentrieren, die das werdende und das zu Ende gehende Leben betreffen, Angriffe, die im Vergleich zur Vergangenheit neue Merkmale aufweisen und ungewöhnlich ernste Probleme aufwerfen: deshalb, weil die Tendenz besteht, dass sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit den »Verbrechenscharakter« verlieren und paradoxerweise »Rechtscharakter« annehmen, so dass eine regelrechte gesetzliche Anerkennung durch den Staat und die darauf folgende Durchführung mittels des kostenlosen Eingriffs durch das im Gesundheitswesen tätige Personal verlangt wird. Diese Angriffe treffen das menschliche Leben in äußerst bedenklichen Situationen, wo es völlig wehrlos ist. Noch schwerwiegender ist die Tatsache, dass sie großenteils gerade in der und durch die Familie ausgetragen werden, die doch grundlegend dazu berufen ist, »Heiligtum des Lebens« zu sein.

Wie hat es zu einer solchen Situation kommen können? Dabei müssen vielfältige Faktoren in Betracht gezogen werden. Im Hintergrund steht eine tiefe Kulturkrise, die Skepsis selbst an den Fundamenten des Wissens und der Ethik hervorruft und es immer schwieriger macht, den Sinn des Menschen, seiner Rechte und seiner Pflichten klar zu erfassen. Dazu kommen die verschiedensten existentiellen und Beziehungsschwierigkeiten, die noch verschärft werden durch die Wirklichkeit einer komplexen Gesellschaft, in der die Personen, die Ehepaare, die Familien oft mit ihren Problemen allein bleiben. Es fehlt nicht an Situationen von besonderer Armut, Bedrängnis oder Verbitterung, in denen der Kampf um das Überleben, der Schmerz bis an die Grenzen der Erträglichkeit, die besonders von Frauen erlittenen Gewaltakte den Entscheidungen zur Verteidigung und Förderung des Lebens bisweilen geradezu Heroismus abverlangen.

Das alles erklärt wenigstens zum Teil, dass der Wert des Lebens heute eine Art »Verfinsterung« erleiden kann, mag auch das Gewissen nicht aufhören, ihn als heiligen und unantastbaren Wert anzuführen, wie die Tatsache beweist, dass man geneigt ist, manche Verbrechen gegen das werdende oder zu Ende gehende Leben mit medizinischen Formulierungen zu bemänteln, die den Blick von der Tatsache ablenken, dass das Existenzrecht einer konkreten menschlichen Person auf dem Spiel steht.

12. Mögen auch viele und ernste Aspekte der heutigen sozialen Problematik das Klima verbreiteter moralischer Unsicherheit irgendwie erklären und manchmal bei den einzelnen die subjektive Verantwortung schwächen, so trifft es tatsächlich nicht weniger zu, dass wir einer viel weiter reichenden Wirklichkeit gegenüberstehen, die man als wahre und ausgesprochene Struktur der Sünde betrachten kann, gekennzeichnet von der Durchsetzung einer Anti-Solidaritätskultur, die sich in vielen Fällen als wahre »Kultur des Todes« herausstellt. Sie wird aktiv gefördert von starken kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strö- mungen, die eine leistungsorientierte Auffassung der Gesellschaft vertreten.

Wenn man die Dinge von diesem Gesichtspunkt her betrachtet, kann man in gewisser Hinsicht von einem Krieg der Mächtigen gegen die Schwachen sprechen: das Leben, das mehr Annahme, Liebe und Fürsorge verlangen würde, wird für nutzlos gehalten oder als eine unerträgliche Last betrachtet und daher auf vielerlei Weise abgelehnt. Wer durch seine Krankheit, durch seine Behinderung oder, noch viel einfacher, durch sein bloßes Dasein den Wohlstand oder die Lebensgewohnheiten derer in Frage stellt, die günstiger dastehen, wird zunehmend als Feind angesehen, gegen den man sich verteidigen bzw. den man ausschalten muss. Auf diese Weise wird eine Art »Verschwörung gegen das Leben« entfesselt. Sie involviert nicht nur die einzelnen Personen in ihren individuellen, familiären oder Gruppenbeziehungen, sondern geht darüber hinaus, um schließlich auf Weltebene den Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten zu schaden und sie durcheinanderzubringen.

13. Um die Verbreitung der Abtreibung zu erleichtern, wurden und werden weiterhin ungeheuere Summen investiert, die für die Abstimmung pharmazeutischer Präparate bestimmt sind, die die Tötung des Fötus im Mutterleib ermöglichen, ohne die Hilfe eines Arztes in Anspruch nehmen zu müssen. Die diesbezügliche wissenschaftliche Forschung scheint fast ausschließlich darum bemüht zu sein, zu immer einfacheren und wirksameren Produkten gegen das Leben zu gelangen, die zugleich die Abtreibung jeder Form sozialer Kontrolle und Verantwortung entziehen sollen.

Es wird häufig behauptet, die sichere und allen zugänglich gemachte Empfängnisverhütung sei das wirksamste Mittel gegen die Abtreibung. Sodann wird die katholische Kirche beschuldigt, de facto der Abtreibung Vorschuss zu leisten, weil sie weiter hartnäckig die moralische Unerlaubtheit der Empfängnisverhütung lehrt. Bei genauerer Betrachtung erweist sich der Einwand tatsächlich als trügerisch. Denn es mag sein, dass viele auch in der Absicht zu Verhütungsmitteln greifen, um in der Folge die Versuchung der Abtreibung zu vermeiden. Doch die der »Verhütungsmentalität« — die sehr wohl von der verantwortlichen, in Achtung vor der vollen Wahrheit des ehelichen Aktes ausgeübten Elternschaft zu unterscheiden ist — innewohnenden Pseudowerte verstärken nur noch diese Versuchung angesichts der möglichen Empfängnis eines unerwünschten Lebens. In der Tat hat sich die Abtreibungskultur gerade in Kreisen besonders entwickelt, die die Lehre der Kirche über die Empfängnisverhütung ablehnen. Sicherlich sind vom moralischen Gesichtspunkt her Empfängnisverhütung und Abtreibung ihrer Art nach verschiedene Übel: die eine widerspricht der vollständigen Wahrheit des Geschlechtsaktes als Ausdruck der ehelichen Liebe, die andere zerstört das Leben eines Menschen; die erste widersetzt sich der Tugend der ehelichen Keuschheit, die zweite widersetzt sich der Tugend der Gerechtigkeit und verletzt direkt das göttliche Gebot »du sollst nicht töten«.

Aber trotz dieses Unterschieds in ihrer Natur und moralischen Bedeutung stehen sie, als Früchte ein und derselben Pflanze, sehr oft in enger Beziehung zueinander. Sicherlich gibt es Fälle, in denen jemand unter dem Druck mannigfacher existentieller Schwierigkeiten zu Empfängnisverhütung und selbst zur Abtreibung schreitet; selbst solche Schwierigkeiten können jedoch niemals von der Bemühung entbinden, das Gesetz Gottes voll und ganz zu befolgen. Aber in sehr vielen anderen Fällen haben solche Praktiken ihre Wurzeln in einer Mentalität, die von Hedonismus und Ablehnung jeder Verantwortlichkeit gegenüber der Sexualität bestimmt wird, und unterstellen einen egoistischen Freiheitsbegriff, der in der Zeugung ein Hindernis für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sieht. Das Leben, das aus der sexuellen Begegnung hervorgehen könnte, wird so zum Feind, das absolut vermieden werden muss, und die Abtreibung zur einzig möglichen Antwort und Lösung bei einer misslungenen Empfängnisverhütung.

Leider tritt der enge Zusammenhang, der mentalitätsmäßig zwischen der Praxis der Empfängnisverhütung und jener der Abtreibung besteht, immer mehr zutage; das beweisen auf alarmierende Weise auch die Anwendung chemischer Präparate, das Anbringen mechanischer Empfängnishemmer in der Gebärmutter und der Einsatz von Impfstoffen, die ebenso leicht wie Verhütungsmittel verbreitet werden und in Wirklichkeit als Abtreibungsmittel im allerersten Entwicklungsstadium des neuen menschlichen Lebens wirken.

14. Auch die verschiedenen Techniken künstlicher Fortpflanzung, die sich anscheinend in den Dienst am Leben stellen und die auch nicht selten mit dieser Absicht gehandhabt werden, öffnen in Wirklichkeit neuen Anschlägen gegen das Leben Tür und Tor. Unabhängig von der Tatsache, dass sie vom moralischen Standpunkt aus unannehmbar sind, da sie die Zeugung von dem gesamtmenschlichen Zusammenhang des ehelichen Aktes trennen,<ref>Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung Donum vitae: AAS 80 (1988), 70-102. </ref> verzeichnen diese Techniken hohe Prozentsätze an Misserfolgen: das betrifft nicht so sehr die Befruchtung als die nachfolgende Entwicklung des Embryos, der der Gefahr ausgesetzt ist, meist innerhalb kürzester Zeit zu sterben. Zudem werden mitunter Embryonen in größerer Zahl erzeugt, als für die Einpflanzung in den Schoß der Frau notwendig sind, und diese so genannten »überzähligen Embryonen« werden dann umgebracht oder für Forschungszwecke verwendet, die unter dem Vorwand des wissenschaftlichen oder medizinischen Fortschritts in Wirklichkeit das menschliche Leben zum bloßen »biologischen Material« degradieren, über das man frei verfügen könne.

Die vorgeburtlichen Diagnosen, gegen die es keine moralischen Bedenken gibt, sofern sie vorgenommen werden, um eventuell notwendige Behandlungen an dem noch ungeborenen Kind fest- zustellen, werden allzu oft zum Anlass, die Abtreibung anzuraten oder vorzunehmen. Die angebliche Rechtmäßigkeit der eugenischen Abtreibung entsteht in der öffentlichen Meinung aus einer Mentalität — sie wird zu Unrecht für kohärent mit den Ansprüchen der »Behandelbarkeit mit Aussicht auf Heilung« gehalten —, die das Leben nur unter bestimmten Bedingungen annimmt und Begrenztheit, Behinderung und Krankheit ablehnt.

Infolge eben dieser Logik ist man soweit gegangen, Kindern, die mit schweren Schäden oder Krankheiten geboren wurden, die elementarsten üblichen Behandlungen und sogar die Ernährung zu verweigern. Noch bestürzender wird das moderne Szenarium darüber hinaus durch da und dort auftauchende Vorschläge, auf derselben Linie wie das Recht auf Abtreibung sogar die Kindestötung für rechtmäßig zu erklären: damit würde man in ein Stadium der Barbarei zurückfallen, das man für immer überwunden zu haben hoffte.

15. Nicht minder schwerwiegende Bedrohungen kommen auch auf die unheilbar Kranken und auf die Sterbenden in einem Sozial- und Kulturgefüge zu, das bei einer sich immer schwieriger gestaltenden Auseinandersetzung mit dem Leiden und seinem Ertragen die Versuchung verstärkt, das Problem des Leidens dadurch zu lösen, dass man es an der Wurzel ausreibt und den Tod in dem Augenblick vorwegnimmt, den man selbst für den geeignetsten hält.

In diese Entscheidung fließen oft verschiedene Elemente ein, die leider diesem schrecklichen Ausgang zustreben. Entscheidend mag beim Kranken Angstgefühl sowie das Gespür von Verbitterung, ja Verzweiflung sein, hervorgerufen durch die Erfahrung eines intensiven und langen Schmerzes. Dies stellt das manchmal ohnehin schon ins Wanken geratene Gleichgewicht des persönlichen und familiären Lebens auf eine harte Probe, so dass der Kranke einerseits trotz der immer wirksamer werdenden Mittel medizinischer und sozialer Assistenz Gefahr läuft, sich von der eigenen Gebrechlichkeit erdrückt zu fühlen; andererseits kann bei denen, die ihm liebevoll verbunden sind, ein Gefühl verständlichen, wenn auch mißverstandenen Mitleids wirksam sein. Dies alles wird von einem kulturellen Umfeld verschlimmert, das im Leid keinerlei Bedeutung oder Wert sieht; im Gegenteil, es betrachtet das Leid als das Übel schlechthin, das es um jeden Preis auszumerzen gilt; diese Haltung tritt vor allem dann ein, wenn man keine religiöse Einstellung hat, die helfen kann, das Geheimnis des Schmerzes positiv zu deuten.

Aber es wird nicht versäumt, dem kulturellen Gesamthorizont auch eine Art Prometheushaltung des Menschen einzuprägen, der sich derart der Illusion hingibt, Herr über Leben und Tod werden zu können, dass er über sie entscheidet, während er in Wirklichkeit von einem Tod überwunden und erdrückt wird, der sich jeder Sinnperspektive und jeder Hoffnung unrettbar verschließt. Einem tragischen Ausdruck von alledem begegnen wir in der Verbreitung der maskiert und schleichend oder offen durchgeführten und sogar legalisierten Euthanasie. Sie wird mit einem angeblichen Mitleid angesichts des Schmerzes des Patienten und darüber hinaus mit einem utilitaristischen Argument gerechtfertigt, nämlich um unproduktive Ausgaben zu vermeiden, die für die Gesellschaft zu belastend seien. So schlägt man die Beseitigung der missgestalteten Neugeborenen, der geistig und körperlich Schwerstbehinderten, der Leistungsunfähigen, der Alten, vor allem wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen können, und der Kranken vor, deren Leben zu Ende geht. Und auch angesichts anderer, heimlicherer, aber nicht minder schwerwiegender und realer Formen von Euthanasie dürfen wir nicht schweigen. Sie könnten sich zum Beispiel dann ereignen, wenn man, um mehr Organe für Transplantationen zur Verfügung zu haben, die Entnahme dieser Organe vornimmt, ohne die objektiven und angemessenen Kriterien für die Feststellung des Todes des Spenders zu respektieren.

16. Ein weiteres aktuelles Phänomen, mit dem häufig Bedrohungen und Angriffe gegen das Leben einhergehen, ist das Bevölkerungswachstum. Es stellt sich in den verschiedenen Teilen der Welt in unterschiedlicher Weise dar: in den reichen und entwickelten Ländern verzeichnet man einen besorgniserregenden Geburtenrückgang oder -einbruch; die armen Länder dagegen weisen im allgemeinen eine hohe Wachstumsrate der Bevölkerung auf, die auf dem Hintergrund geringer wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung oder gar schwerwiegender Unterentwicklung kaum tragbar ist. Angesichts der Überbevölkerung der armen Länder fehlt es auf internationaler Ebene an weltweiten Maßnahmen — eine ernsthafte Familien- und Sozialpolitik, Programme kultureller Entwicklung und einer gerechten Produktion und Verteilung der Ressourcen —, während weiter eine geburtenfeindliche Politik betrieben wird.

Empfängnisverhütung, Sterilisation und Abtreibung müssen gewiss zu den Ursachen gezählt werden, die zum Zustand des starken Geburtenrückganges beitragen und ihn wesentlich bestimmen. Die Versuchung, dieselben Methoden und Angriffe gegen das Leben auch in Situationen von »Bevölkerungsexplosion« anzuwenden, mag auf der Hand liegen.

Der alte Pharao, der die Anwesenheit der Söhne Israels und ihre Vermehrung als Alptraum empfand, setzte sie jeder nur möglichen Unterdrückung aus und befahl, jedes männliche Neugeborene der jüdischen Frauen zu töten (vgl. Ex 1, 7-22). Genauso verhalten sich heutzutage viele Mächtige der Erde. Sie empfinden die derzeitige Bevölkerungsentwicklung als Alptraum und befürchten, dass die kinderreicheren und ärmeren Völker eine Bedrohung für den Wohlstand und die Sicherheit ihrer Länder darstellen. Statt diese schwerwiegenden Probleme aufzugreifen und sie unter Achtung der Würde der einzelnen und der Familien und des unantastbaren Rechtes jedes Menschen auf Leben zu lösen, fördern sie daher lieber eine massive Geburtenplanung und setzen sie mit jeglichem Mittel durch. Selbst die Wirtschaftshilfen, die zu leisten sie bereit wären, werden ungerechterweise von der Annahme einer geburtenfeindlichen Politik abhängig gemacht.

17. Die heutige Menschheit bietet uns ein wahrhaft alarmierendes Schauspiel, wenn wir nicht nur an die verschiedenen Bereiche denken, in denen die Angriffe auf das Leben ausbrechen, sondern auch an ihr einzigartiges Zahlenverhältnis sowie an die mannigfache und machtvolle Unterstützung, die ihnen durch das weitgehende Einverständnis der Gesellschaft, durch die häufige gesetzliche Anerkennung, durch die Einbeziehung eines Teils des im Gesundheitswesen tätigen Personals zuteil wird.

Wie ich anlässlich des VIII. Weltjugendtreffens in Denver mit allem Nachdruck sagen musste, »nehmen die Bedrohungen des Lebens im Laufe der Zeit nicht ab. Im Gegenteil, sie nehmen immer größere Ausmaße an. Es handelt sich nicht nur um Bedrohungen des Lebens von außen, von den Kräften der Natur her oder von weiteren 'Kains?, die die 'Abels? töten«; nein, es handelt sich um wissenschaftlich und systematisch geplante Bedrohungen. Das 20. Jahrhundert wird als eine Epoche massiver Angriffe auf das Leben, als endlose Serie von Kriegen und andauernde Vernichtung unschuldiger Menschenleben gelten. Die falschen Propheten und Lehrer erfreuen sich des größtmöglichen Erfolges.<ref>Ansprache während der Gebetswache zum VIII. Weltjugendtag (14. August 1993), II, 3: AAS 86 (1994), 419. </ref> Jenseits der Absichten, die unterschiedlicher Art sein und möglicherweise sogar im Namen der Solidarität überzeugende Formen annehmen können, stehen wir tatsächlich einer objektiven »Verschwörung gegen das Leben« gegenüber, die auch internationale Institutionen einschließt, die mit großem Engagement regelrechte Kampagnen für die Verbreitung der Empfängnisverhütung, der Sterilisation und der Abtreibung anregen und planen. Schließlich lässt sich nicht leugnen, dass sich die Massenmedien häufig zu Komplizen dieser Verschwörung machen, indem sie jener Kultur, die die Anwendung der Empfängnisverhütung, der Sterilisation, der Abtreibung und selbst der Euthanasie als Zeichen des Fortschritts und als Errungenschaft der Freiheit hinstellt, in der öffentlichen Meinung Ansehen verschaffen, während sie Positionen, die bedingungslos für das Leben eintreten, als freiheits- und entwicklungsfeindlich beschreibt.

»Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Gen 4, 9): eine entartete Vorstellung von Freiheit

18. Das beschriebene Panorama macht erforderlich, dass es nicht nur in den Todeserscheinungen erkannt wird, die es kennzeichnen, sondern auch in den vielfältigen Ursachen, die es bestimmen. Die Frage des Herrn »Was hast du getan?« (Gen 4, 10) scheint gleichsam eine Aufforderung an Kain zu sein, den materiellen Charakter seiner Mordtat hinter sich zu lassen und ihre ganze Schwere in den ihr zugrunde liegenden Motivationen und in den aus ihr erwachsenden Folgen zu erfassen.

Die Entscheidungen gegen das Leben entstehen bisweilen aus schwierigen oder geradezu dramatischen Situationen tiefen Leides, der Einsamkeit, des völligen Fehlens wirtschaftlicher Perspektiven, der Depression und Zukunftsangst. Solche Umstände können die subjektive Verantwortlichkeit und die daraus folgende Schuld derer vermindern, die diese in sich verbrecherischen Entscheidungen treffen. Trotzdem geht das Problem heute weit über die, wenn auch gebotene Anerkennung dieser persönlichen Situationen hinaus. Es stellt sich auch auf kultureller, sozialer und politischer Ebene, wo es sein subversivstes und verwirrendstes Gesicht in der immer weiter um sich greifenden Tendenz zeigt, die erwähnten Verbrechen gegen das Leben als legitime Äußerungen der individuellen Freiheit auszulegen, die als wahre und eigene Rechte anerkannt und geschützt werden müssen.

Auf diese Weise gelangt ein langer historischer Prozess an einen Wendepunkt mit tragischen Folgen, ein Prozess, der nach Entdeckung der Idee der »Menschenrechte« — als Rechte, die zu jeder Person gehören und jeder Verfassung und Gesetzgebung der Staaten vorausgehen — heute in einen überraschenden Widerspruch gerät: gerade in einer Zeit, in der man feierlich die unverletzlichen Rechte der Person verkündet und öffentlich den Wert des Lebens geltend macht, wird dasselbe Recht auf Leben, besonders in den sinnbildhaftesten Augenblicken des Daseins, wie es Geburt und Tod sind, praktisch verweigert und unterdrückt.

Auf der einen Seite sprechen die verschiedenen Menschenrechtserklärungen und die vielfältigen Initiativen, die von ihnen inspiriert werden, von der Durchsetzung einer moralischen Sensibilität auf Weltebene, die sorgfältiger darauf achtet, den Wert und die Würde jedes Menschen als solchen anzuerkennen, ohne jede Unterscheidung von Rasse, Nationalität, Religion, politischer Meinung und sozialem Stand.

Auf der anderen Seite setzt man diesen edlen Proklamationen leider in den Taten ihre tragische Verneinung entgegen. Diese ist noch bestürzender, ja skandalöser, weil sie sich in einer Gesellschaft abspielt, die die Durchsetzung und den Schutz der Menschenrechte zu ihrem Hauptziel und zugleich zu ihrem Ruhmesblatt macht. Wie lassen sich diese wiederholten Grundsatzbeteuerungen mit der ständigen Vermehrung und verbreiteten Legalisierung der Angriffe auf das menschliche Leben in Einklang bringen? Wie lassen sich diese Erklärungen in Einklang bringen mit der Ablehnung des Schwächsten, des Bedürftigsten, des Alten, des soeben im Mutterschoß Empfangenen? Diese Angriffe gehen in die genau entgegengesetzte Richtung wie die Achtung vor dem Leben und stellen eine frontale Bedrohung der gesamten Kultur der Menschenrechte dar. Eine Bedrohung, die letzten Endes imstande ist, selbst die Bedeutung des demokratischen Zusammenlebens aufs Spiel zu setzen: unsere Städte laufen Gefahr, aus einer Gesellschaft von »zusammenlebenden Menschen« zu einer Gesellschaft von Ausgeschlossenen, an den Rand Gedrängten, Beseitigten und Unterdrückten zu werden. Muss man, wenn sich der Blick dann auf einen Welthorizont ausweitet, nicht daran denken, dass selbst die Beteuerung der Rechte der Personen und der Völker, wie sie bei ranghohen internationalen Zusammenkünften erfolgt, zu fruchtloser rhetorischer Übung wird, wenn nicht der Egoismus der reichen Länder, die den armen Ländern den Zugang zur Entwicklung verschließen oder ihn an die Bedingung absurder Fortpflanzungsverbote knüpfen und so die Entwicklung gegen den Menschen richten, die Maske fallen lässt? Muss man vielleicht nicht selbst die Wirtschaftsmodelle in Frage stellen, die von den Staaten häufig auch für Druckmaßnahmen und Konditionierungen auf internationaler Ebene angewandt werden und die Unrechts– und Gewaltsituationen verursachen und fördern, in denen das menschliche Leben ganzer Völker erniedrigt und mit Füßen getreten wird?

19. Wo liegen die Wurzeln eines derart paradoxen Widerspruchs?

Wir können sie in kulturellen und moralischen Gesamtbewertungen feststellen, angefangen bei jener Mentalität, die unterVerschärfung und sogar Entstellung des Subjektivitätsbegriffs nur den als Inhaber von Rechten anerkennt, der mit voller oder zumindest mit ersten Anzeichen von Autonomie auftritt und den Zustand totaler Abhängigkeit von den anderen hinter sich lässt. Aber wie lässt sich dieser Ansatz mit der Verherrlichung des Menschen als »unverfügbares« Wesen in Einklang bringen? Die Theorie der Menschenrechte beruht gerade auf der Erwägung der Tatsache, dass der Mensch zum Unterschied von den Tieren und den Sachen nicht der Herrschaft von irgend jemandem unterworfen werden kann. Es muss auch auf jene Logik hingewiesen werden, die dazu neigt, die Personwürde mit der Fähigkeit zu verbaler, ausdrücklicher, auf alle Fälle erprobbarer Kommunikation gleichzusetzen. Es ist klar, dass unter solchen Voraussetzungen in der Welt kein Raum für den ist, der, wie das ungeborene Kind oder der Sterbende, ein von seiner physischen Konstitution her schwaches Wesen ist, auf Gedeih und Verderb anderen Menschen ausgeliefert und radikal von ihnen abhängig ist und mit dem Kommunikation nur durch die stumme Sprache einer tiefen Symbiose liebender Zuneigung möglich ist. Damit wird die Stärke zum Entscheidungs– und Handlungskriterium in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im sozialen Zusammenleben. Doch das ist das genaue Gegenteil von dem, was den Rechtsstaat historisch als Gemeinschaft bestätigt hat, in der an die Stelle des »Rechts der Stärke« die »Stärke des Rechts« tritt.

Auf einer anderen Ebene liegen die Wurzeln des Widerspruchs zwischen der feierlichen Bestätigung der Menschenrechte und ihrer tragischen Verweigerung in der Praxis in einer Auffassung von Freiheit, die das einzelne Individuum zum Absoluten erhebt und es nicht zur Solidarität, zur vollen Annahme des anderen und zum Dienst an ihm veranlasst. Wenn es wahr ist, dass sich die Auslöschung des ungeborenen oder zu Ende gehenden Lebens mitunter auch den Anstrich eines mißverstandenen Gefühls von Altruismus und menschlichen Erbarmens gibt, so kann man nicht bestreiten, dass eine solche Kultur des Todes in ihrer Gesamtheit eine ganz individualistische Freiheitsauffassung enthüllt, die schließlich die Freiheit der »Stärkeren« gegen die zum Unterliegen bestimmten Schwachen ist.

Genau in diesem Sinn kann man die Antwort Kains auf die Frage des Herrn »Wo ist dein Bruder Abel?« auslegen: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Joh 4, 9). Jawohl, jeder Mensch ist »Hüter seines Bruders», weil Gott den Menschen dem Menschen anvertraut. Und im Hinblick auf dieses Anvertrauen schenkt Gott auch jedem Menschen die Freiheit, die eine wesentliche Beziehungsdimension besitzt. Sie ist ein großes Geschenk des Schöpfers, so sie in den Dienst der Person und ihrer Verwirklichung durch die Selbsthingabe und die Annahme des anderen gestellt wird; wenn die Freiheit jedoch in individualistischer Weise verabsolutiert wird, wird sie ihres ursprünglichen Inhalts entleert und steht im Widerspruch zu ihrer Berufung und Würde.

Noch einen tiefgehenderen Aspekt gilt es zu unterstreichen: die Freiheit verleugnet sich selber, zerstört sich selber und macht sich zur Vernichtung des anderen bereit, wenn sie ihre grundlegende Verbindung mit der Wahrheit nicht anerkennt und nicht mehr respektiert. Jedesmal, wenn die Freiheit sich von jeder Tradition und Autorität befreien will und sich den wesentlichen Klarheiten einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit als dem Fundament für das persönliche und soziale Leben verschließt, hört der Mensch auf, als einzigen und unanfechtbaren Anhaltspunkt für seine Entscheidungen nicht mehr die Wahrheit über Gut und Böse anzunehmen, sondern nur noch seine subjektive und wandelbare Meinung oder gar sein egoistisches Interesse und seine Laune.

20. In dieser Auffassung von Freiheit wird das soziale Zusammenleben tiefgreifend entstellt. Wenn die Förderung des eigenen Ich als absolute Autonomie verstanden wird, gelangt man unvermeidlich zur Verneinung des anderen, der als Feind empfunden wird, gegen den man sich verteidigen muss. Auf diese Weise wird die Gesellschaft zu einer Gesamtheit von nebeneinanderstehenden Individuen, die aber keine gegenseitigen Beziehungen haben: ein jeder will sich unabhängig vom anderen behaupten, ja seinen eigenen Interessen Vorteil verschaffen. Angesichts gleichartiger Interessen des anderen muss man jedoch nachgeben und eine Art Kompromiss suchen, wenn man in der Gesellschaft jedem die größtmögliche Freiheit garantieren will. So schwindet jeder Bezug zu gemeinsamen Werten und zu einer für alle geltenden absoluten Wahrheit: das gesellschaftliche Leben läuft Gefahr, in einen vollkommenen Relativismus abzudriften. Da lässt sich alles vereinbaren, über alles verhandeln: auch über das erste Grundrecht, das Recht auf Leben.

Das geschieht denn auch in der Tat im eigentlich politisch-staatlichen Bereich: das ursprüngliche, unveräußerliche Recht auf Leben wird auf Grund einer Parlamentsabstimmung oder des Willens eines — sei es auch mehrheitlichen — Teiles der Bevölkerung in Frage gestellt oder verneint. Es ist das unheilvolle Ergebnis eines unangefochten herrschenden Relativismus: das »Recht« hört auf Recht zu sein, weil es sich nicht mehr fest auf die unantastbare Würde der Person gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen wird. Auf diese Weise beschreitet die Demokratie ungeachtet ihrer Regeln den Weg eines substantiellen Totalitarismus. Der Staat ist nicht mehr das »gemeinsame Haus«, in dem alle nach den Prinzipien wesentlicher Gleichheit leben können, sondern er verwandelt sich in einen tyrannischen Staat, der sich anmaßt, im Namen einer allgemeinen Nützlichkeit — die in Wirklichkeit nichts anderes als das Interesse einiger weniger ist — über das Leben der Schwächsten und Schutzlosesten, vom ungeborenen Kind bis zum alten Menschen, verfügen zu können.

Alles geschieht scheinbar ganz auf dem Boden der Legalität, zumindest wenn über die Gesetze zur Freigabe der Abtreibung und der Euthanasie nach den so genannten demokratischen Regeln abgestimmt wird. In Wahrheit stehen wir lediglich einem tragischen Schein von Legalität gegenüber, und das demokratische Ideal, das es tatsächlich ist, wenn es denn die Würde jeder menschlichen Person anerkennt und schützt, wird in seinen Grundlagen selbst verraten: »Wie kann man noch von Würde jeder menschlichen Person reden, wenn die Tötung des schwächsten und unschuldigsten Menschen zugelassen wird? Im Namen welcher Gerechtigkeit begeht man unter den Menschen die ungerechteste aller Diskriminierungen, indem man einige von ihnen für würdig erklärt verteidigt zu werden, während anderen diese Würde abgesprochen wird?«.<ref>Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer am Studienkongress über „Das Recht auf Leben und Europa“ (18. Dezember 1987): Insegnamenti X/3 (1987), 1446-1447. </ref> Wenn diese Zustände eintreten, sind bereits jene Dynamismen ausgelöst, die zum Zerfall eines echten menschlichen Zusammenlebens und zur Zersetzung der staatlichen Realität führen.

Das Recht auf Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie zu fordern und es gesetzlich anzuerkennen heißt der menschlichen Freiheit eine perverse, abscheuliche Bedeutung zuzuschreiben: nämlich die einer absoluten Macht über die anderen und gegen die anderen. Aber das ist der Tod der wahren Freiheit: »Amen, amen, das sage ich euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde« (Joh 8, 34).

»Ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen« (Gen 4, 14): die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen

21. Auf der Suche nach den tiefsten Wurzeln des Kampfes zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes« dürfen wir nicht bei der oben erwähnten perversen Freiheitsvorstellung stehen bleiben. Wir müssen zum Herzen des Dramas vorstoßen, das der heutige Mensch erlebt: die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen, wie sie für das vom Säkularismus beherrschte soziale und kulturelle Umfeld typisch ist, der mit seinen durchdringenden Fangarmen bisweilen sogar christliche Gemeinschaften auf die Probe stellt. Wer sich von dieser Atmosphäre anstecken lässt, gerät leicht in den Strudel eines furchtbaren Teufelskreises: wenn man den Sinn für Gott verliert, verliert man bald auch den Sinn für den Menschen, für seine Würde und für sein Leben; die systematische Verletzung des Moralgesetzes, besonders was die Achtung vor dem menschlichen Leben und seiner Würde betrifft, erzeugt ihrerseits eine Art fortschreitender Verdunkelung der Fähigkeit, die lebenspendende und rettende Gegenwart Gottes wahrzunehmen.

Und wieder können wir dem Bericht von der Ermordung Abels durch seinen Bruder folgen. Nach dem von Gott über ihn verhängten Fluch wendet sich Kain mit den Worten an den Herrn: »Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte! Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen« (Gen 4, 13-14). Kain glaubt, dass seine Sünde beim Herrn keine Vergebung erfahren kann und dass es sein unvermeidliches Schicksal sein wird, »sich vor seinem Angesicht verbergen« zu müssen. Wenn es Kain fertigbringt zu bekennen, dass seine Schuld »zu groß« ist, dann deshalb, weil er weiß, dass er Gott und seinem gerechten Rich- terspruch gegenübersteht. Tatsächlich vermag der Mensch nur vor dem Herrn seine Sünde zu erkennen und ihre ganze Schwere zu erfassen. Das ist die Erfahrung Davids, der, nachdem er »gegen den Herrn gesündigt hat«, auf die Vorwürfe des Propheten Natan (vgl. 2 Sam 11-12) ausruft: »Ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen. Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir mißfällt« (Ps 51 1, 5-6).

22. Darum wird, wenn der Sinn für Gott schwindet, auch der Sinn für den Menschen bedroht und verdorben, wie das Zweite Vatikanische Konzil lapidar feststellt: »Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts... Überdies wird das Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes unverständlich«.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 36. </ref> Der Mensch vermag sich nicht mehr als »in geheimnisvoller Weise anders« als die verschiedenen irdischen Lebewesen wahrzunehmen; er sieht sich als eines der vielen Lebewesen, als einen Organismus, der bestenfalls eine sehr hohe Vollkommenheitsstufe erreicht hat. In den engen Horizont seiner Körperlichkeit eingeschlossen, wird er gewissermaßen zu »einer Sache« und beachtet nicht mehr den »trans- zendenten« Charakter seines »Existierens als Mensch«. Er sieht das Leben nicht mehr als ein großartiges Geschenk Gottes an, als eine »heilige« Wirklichkeit, die seiner Verantwortung und damit seiner liebevollen Obhut, seiner »Verehrung« anvertraut ist. Es wird einfach zu »einer Sache«, die er als sein ausschließliches, total beherrschbares und manipulierbares Eigentum beansprucht.

Er ist daher nicht mehr in der Lage, sich angesichts des Lebens, das geboren wird, und des Lebens, das stirbt, nach dem wahren Sinn seines Daseins fragen zu lassen, indem er diese entscheidenden Augenblicke des eigenen »Seins« in echter Freiheit annimmt. Er kümmert sich nur um das »Machen« und bemüht sich unter Zuhilfenahme jeder Art von Technologie um die Planung, Kontrolle und Beherrschung von Geburt und Tod. Aus ursprünglichen Erfahrungen, die »gelebt« werden sollen, werden Geburt und Tod zu Dingen, die man sich einfach zu »besitzen« oder »abzulehnen« anmaßt.

Wenn im übrigen einmal der Bezug zu Gott ausgeschlossen ist, überrascht es nicht, dass der Sinn aller Dinge tief entstellt zum Vorschein kommt, und die Natur selbst, nicht mehr »mater«, zu einem »Material« entwürdigt wird, das allen Manipulationen offensteht. Zu diesem Punkt scheint eine gewisse in der modernen Kultur vorherrschende technisch-wissenschaftliche Rationalität zu führen, die selbst die Vorstellung einer Wahrheit vom Schöpfer, der anzuerkennen ist, oder eines Planes Gottes vom Leben, das zu achten ist, leugnet. Und dies gilt genauso, wenn die Angst vor den Ergebnissen dieser »Freiheit ohne Gesetz« manche zur entgegengesetzten Vorstellung von einem »Gesetz ohne Freiheit« verleitet, wie es z.B. in den Ideologien der Fall ist, die die Rechtmäßigkeit eines jeden Eingriffes in die Natur gleichsam im Namen ihrer »Vergöttlichung« bestreiten; eine Vorstellung, die wiederum die Abhängigkeit vom Plan des Schöpfers missachtet.

Wenn der Mensch wirklich lebt, »als ob es Gott nicht gäbe«, so kommt ihm nicht nur der Sinn für das Geheimnis Gottes, sondern auch für das Geheimnis der Welt und seines eigenen Seins abhanden.

23. Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen führt unvermeidlich zum praktischen Materialismus, in dem der Individualismus, der Utilitarismus und der Hedonismus gedeihen. Auch hier offenbart sich die ewige Gültigkeit dessen, was der Apostel schreibt: »Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem verworfenen Denken aus, so dass sie tun, was sich nicht gehört« (Röm 1, 28). Auf diese Weise werden die Werte des Seins durch jene des Habens ersetzt. Das einzige Ziel, auf das es ankommt, ist die Erlangung des eigenen materiellen Wohlergehens. Die so genannte »Lebensqualität« wird vorwiegend oder ausschließlich als wirtschaftliche Leistung, hemmungsloser Konsumismus, Schönheit und Genuss des physischen Lebens ausgelegt, wobei die tiefer reichenden — beziehungsmäßigen, geistigen und religiösen — Dimensionen des Daseins in Vergessenheit geraten.

In einem solchen Gesamtrahmen wird das Leiden, eine unvermeidbare Belastung der menschlichen Existenz, aber auch ein Faktor möglichen personalen Wachstums, »beanstandet», als unnütz zurückgewiesen, ja als immer und auf jeden Fall zu vermeidendes Übel bekämpft. Kann man es nicht überwinden und schwindet die Aussicht wenigstens auf künftiges Wohlergehen, dann scheint das Leben jede Bedeutung verloren zu haben, und im Menschen wächst die Versuchung, das Recht zu seiner Beseitigung geltend zu machen.

Im selben kulturellen Umfeld wird der Körper nicht mehr als für die Person typische Wirklichkeit, nämlich als Zeichen und Ort der Beziehung zu den anderen, zu Gott und zur Welt, wahrgenommen. Er ist auf einen rein materiellen Charakter verkürzt: er ist nur ein Komplex von Organen, Funktionen und Kräften, die nach reinen Kriterien von Genuss und Leistung zu gebrauchen sind. Infolgedessen wird auch die Sexualität entpersönlicht und instrumentalisiert: aus Zeichen, Ort und Sprache der Liebe, das heißt der Selbsthingabe und der Annahme des anderen, wie sie dem ganzen Reichtum der Person entspricht, wird sie immer mehr zu einer Gelegenheit und einem Werkzeug der Bestätigung des eigenen Ich und der egoistischen Befriedigung der eigenen Begierden und Instinkte. So wird der ursprüngliche Inhalt der menschlichen Sexualität entstellt und verfälscht, und die zwei Bedeutungen, die das Wesen des ehelichen Aktes ausmachen, nämlich Vereinigung und Zeugung, werden künstlich getrennt: auf diese Weise wird die Vereinigung verraten, und die Fruchtbarkeit wird der Willkür des Mannes und der Frau unterworfen. Da wird die Zeugung zum »Feind«, die es bei der Ausübung der Sexualität zu vermeiden gilt: wenn man sie zulässt, dann nur deshalb, weil sie den eigenen Wunsch oder geradezu den eigenen Willen zum Ausdruck bringt, »um jeden Preis« ein Kind zu haben, jedoch nicht, weil sie totale Annahme des anderen und damit Offenheit für die Lebensfülle besagt, deren Träger das Kind ist.

In der bisher beschriebenen materialistischen Sicht erfahren die zwischenmenschlichen Beziehungen eine schwerwiegende Verarmung. Die Ersten, die unter den Schäden dieser Verarmung zu leiden haben, sind die Frau, das Kind, der kranke oder leidende und der alte Mensch. An die Stelle des eigentlichen Kriteriums der Personwürde — nämlich das der Achtung, der Unentgeltlichkeit und des Dienstes — tritt das Kriterium der Leistungsfähigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Nützlichkeit: der andere wird nicht für das anerkannt und geschätzt, was er »ist«, sondern für das, was er »hat, tut und leistet«. Das ist die Herrschaft des Stärkeren über den Schwächeren.

24. Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und für den Menschen mit allen ihren mannigfachen, verhängnisvollen Auswirkungen auf das Leben vollzieht sich im Innern des sittlichen Gewissens. Dabei geht es zunächst um das Gewissen jedes einzelnen Menschen, der in seiner Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit allein mit Gott ist.<ref> Vgl. ebd., Nr. 16. </ref> Doch es geht in gewissem Sinne auch um das »sittliche Gewissen« der Gesellschaft: sie ist irgendwie verantwortlich, nicht nur weil sie gegen das Leben gerichtete Haltungen duldet oder unterstützt, sondern auch weil sie durch die Schaffung und Festigung regelrechter »Sündenstrukturen« gegen das Leben die »Kultur des Todes« fördert. Das sittliche Gewissen sowohl des einzelnen wie der Gesellschaft ist heute auch wegen des aufdringlichen Einflusses vieler sozialer Kommunikationsmittel einer sehr ernsten und tödlichen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr der Verwirrung zwischen Gut und Böse in bezug auf das fundamentale Recht auf Leben. Ein Großteil der heutigen Gesellschaft zeigt sich ähnlich jener Menschheit, die Paulus im Römerbrief beschreibt. Sie besteht aus »Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten« (1, 18): nachdem sie von Gott abgefallen sind und glaubten, das irdische Gemeinwesen ohne Ihn aufbauen zu können, »verfielen sie in ihrem Denken der Nichtigkeit, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert« (1, 21); »sie behaupteten weise zu sein, und wurden zu Toren« (1, 22); sie wurden zu Urhebern todesträchtiger Werke und »tun sie nicht nur selber, sondern stimmen bereitwillig auch denen zu, die so handeln« (1, 32). Wenn das Gewissen, dieses leuchtende Auge der Seele (vgl. Mt 6, 22-23), »das Gute böse und das Böse gut« nennt (Jes 5, 20), dann ist es auf dem Weg besorgniserregender Entartung und finsterster moralischer Blindheit.

Doch sämtlichen Konditionierungen und Anstrengungen, das Schweigen durchzusetzen, gelingt es nicht, die Stimme des Herrn zu ersticken, die sich im Gewissen jedes Menschen vernehmen lässt: von diesem inneren Heiligtum des Gewissens kann immer wieder ein neuer Weg der Liebe, der Annahme und des Dienstes für das menschliche Leben seinen Ausgang nehmen.

»Ihr seid hingetreten zum Blut der Besprengung« (vgl. Hebr 12, 22. 24): Zeichen der Hoffnung und Einladung zum Engagement

25. »Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden!« (Gen 4, 10). Nicht nur das Blut Abels, des ersten unschuldig getöteten Menschen, schreit zu Gott, Quelle und Verteidiger des Lebens. Auch das Blut jedes anderen ermordeten Menschen nach Abel schreit zum Herrn. In absolut einmaliger Weise schreit zu Gott das Blut Christi, dessen prophetische Gestalt Abel in seiner Unschuld ist, wie der Verfasser des Hebräerbriefes ausführt: »Ihr seid vielmehr zum Berg Zion hingetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes..., zum Mittler eines neuen Bundes, Jesus, und zum Blut der Besprengung, das mächtiger ruft als das Blut Abels« (12, 22. 24).

Es ist das Blut der Besprengung. Symbol und Vorauszeichen dafür war das Blut der Opfer des Alten Bundes gewesen, durch die Gott seinen Willen kundtat, den Menschen sein Leben durch ihre Reinigung und Heiligung mitzuteilen (vgl. Ex 24, 8; Lev 17, 11). Das alles erfüllt und bewahrheitet sich nun in Christus: sein Blut ist das Blut der Besprengung, das erlöst, reinigt und rettet; das Blut des Mittlers des Neuen Bundes, »das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden« (Mt 26, 28). Dieses Blut, das am Kreuz aus der durchbohrten Seite Christi fließt (vgl. Joh 19, 34), »ruft mächtiger« als das Blut Abels; es bringt in der Tat eine tiefere »Gerechtigkeit« zum Ausdruck und verlangt sie, doch vor allem erfleht es

Barmherzigkeit,<ref>Vgl. HL. Gregor der Große, Moralia in Job, 13, 23: CCL 143 A, 683. </ref><ref>Vgl. HL. Gregor der Große, Moralia in Job, 13, 23: CCL 143 A, 683. </ref> es tritt beim Vater für die Brüder ein (vgl.Hebr 7, 25), es ist Quelle vollkommener Erlösung und Geschenk neuen Lebens.

Während das Blut Christi die Größe der Liebe des Vaters enthüllt, macht es offenbar, wie kostbar der Mensch in den Augen Gottes ist und welch unschätzbaren Wert sein Leben besitzt. Daran erinnert uns der Apostel Petrus: »Ihr wißt, dass ihr aus eurer sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht um Silber oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel« (1 Petr 1, 18-19). Beim Betrachten des kostbaren Blutes Christi, Zeichen seiner Hingabe aus Liebe (vgl. Joh 13, 1), lernt der Gläubige die gleichsam göttliche Würde jedes Menschen kennen und schätzen und kann mit immer neuem und dankbarem Staunen ausrufen: »Welchen Wert muss der Mensch in den Augen des Schöpfers haben, wenn "er verdient hat, einen solchen und so großen Erlöser zu haben" (Exultet der Osternacht), wenn "Gott seinen Sohn hingegeben hat", damit er, der Mensch, "nicht verlorengeht, sondern das ewige Leben hat" (vgl. Joh 3, 16)!«.<ref>Johannes Paul II.,Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), Nr. 10: AAS 71 (1979), 274. </ref>

Zudem offenbart das Blut Christi dem Menschen, dass seine Größe und damit seine Berufung in der aufrichtigen Selbsthingabe besteht. Da es als Geschenk des Lebens vergossen wird, ist das Blut Christi nicht mehr Zeichen des Todes, der endgültigen Trennung von den Brüdern, sondern Werkzeug einer Verbundenheit, die für alle Fülle des Lebens bedeutet. Wer im Sakrament der Eucharistie dieses Blut trinkt und in Jesus bleibt (vgl. Joh 6, 56), wird mithineingenommen in seinen Dynamismus der Liebe und der Hingabe des Lebens, um die ursprüngliche Berufung zur Liebe zu erfüllen, die zu jedem Menschen gehört (vgl. Gen 1, 27; 2, 18-24).

Noch immer ist es das Blut Christi, aus dem alle Menschen die Kraft schöpfen, um sich für das Leben einzusetzen. Dieses Blut ist der stärkste Grund der Hoffnung, ja das Fundament der absoluten Gewissheit, dass nach Gottes Plan das Leben siegen wird. »Der Tod wird nicht mehr sein«, ruft die laute Stimme, die vom Thron Gottes im himmlischen Jerusalem erschallt (Offb 21, 4). Und der hl. Paulus versichert uns, dass der zeitliche Sieg über die Sünde Zeichen und Vorwegnahme des endgültigen Sieges über den Tod ist, wenn »sich das Wort der Schrift erfüllen wird: Ver- schlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?« (1 Kor 15, 54-55).

26. In der Tat fehlt es nicht an Vorzeichen dieses Sieges in unseren Gesellschaften und Kulturen, obwohl sie so stark von der »Kultur des Todes« gezeichnet sind. Man würde daher ein einseitiges Bild entwerfen, das zu fruchtloser Entmutigung verleiten könnte, wenn man zu der Brandmarkung der Bedrohungen des Lebens nicht die Darstellung der positiven Zeichen hinzufügte, die in der gegenwärtigen Situation der Menschheit wirksam sind.

Leider fällt es diesen positiven Zeichen oft schwer, sich darzustellen und erkannt zu werden, vielleicht auch deshalb, weil sie in den Massenmedien keine entsprechende Aufmerksamkeit finden. Aber wie viele Initiativen zur Hilfe und Unterstützung für die schwächsten und schutzlosesten Menschen sind in der christlichen Gemeinschaft und in der bürgerlichen Gesellschaft auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene von einzelnen, von Gruppen, Bewegungen und verschiedenartigen Organisationen ergriffen worden und werden weiterhin in die Wege geleitet!

Noch immer gibt es zahlreiche Eheleute, die mit tiefer Verantwortung die Kinder als »die kostbarste Gabe der Ehe«<ref>II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 50. </ref> annehmen. Und es fehlt auch nicht an Familien, die über ihren täglichen Dienst am Leben hinaus die Offenheit besitzen, sich verlassener Kleinkinder, in Notlagen befindlicher Kinder und Jugendlicher, behinderter Personen und allein gebliebener alter Menschen anzunehmen. Nicht wenige Zentren für Lebenshilfe oder ähnliche Einrichtungen werden von Personen und Gruppen gefördert, die mit bewundernswerter Hingabe und Aufopferung Müttern in schwieriger Lage, die versucht sind, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, moralische und materielle Hilfe anbieten. Auch entstehen und verbreiten sich engagierte Freiwilligengruppen, die Menschen Gastfreundschaft gewähren, die keine Familie haben, die sich in einer besonders mißlichen Lage befinden oder eines erzieherischen Milieus bedürfen, das ihnen hilft, zerstörerische Gewohnheiten zu überwinden und den Sinn des Lebens zurückzugewinnen.

Die von den Forschern und Fachleuten des Berufs mit großem Einsatz geförderte Medizin setzt ihre Anstrengungen fort, immer wirksamere Mittel für die Heilung und Pflege in Krankheiten zu finden: für das entstehende Leben, für leidende Menschen und für die Kranken in akutem Zustand oder in der Endphase werden heute Ergebnisse erzielt, die einst ganz unvorstellbar waren und vielversprechende Perspektiven eröffnen. Verschiedene Einrichtungen und Organisationen setzen sich in Bewegung, um auch den am schwersten von Elend und von endemischen Krankheiten betroffenen Ländern die Vorzüge der neuesten Medizin zu bringen. So werden auch nationale und internationale Ärztevereinigungen tätig, um den von Naturkatastrophen, Seuchen oder Kriegen heimgesuchten Bevölkerungen rechtzeitig Hilfe zu leisten. Warum sollte man nicht, auch wenn eine tatsächliche internationale Gerechtigkeit bei der Verteilung der medizinischen Ressourcen von ihrer vollen Verwirklichung noch weit entfernt ist, in den bisher durchgeführten Schritten das Zeichen einer wachsenden Solidarität unter den Völkern, einer wertvollen menschlichen und moralischen Sensibilität und einer größeren Achtung vor dem Leben erkennen?

27. Angesichts von Gesetzgebungen zur Freigabe der Abtreibung und da und dort erfolgreichen Versuchen, die Euthanasie zu legalisieren, sind in der ganzen Welt Bewegungen und Initiativen zur sozialen Sensibilisierung für das Leben entstanden. Wenn solche Bewegungen in Übereinstimmung mit ihrer glaubwürdigen Inspiration mit entschiedener Standhaftigkeit, aber ohne Anwendung von Gewalt handeln, fördern sie damit eine breitere Bewußtmachung des Wertes des Lebens. Außerdem regen sie einen entschiedeneren Einsatz zu seiner Verteidigung an und setzen ihn in die Praxis um.

Muss man nicht auch an alle jene täglichen Gesten von Annahme, Opfer, selbstloser Sorge erinnern, die eine unübersehbare Anzahl von Personen voll Liebe in den Familien, in den Krankenhäusern, in den Waisenhäusern, in den Altersheimen und in anderen Zentren oder Gemeinschaften zum Schutz des Lebens vollbringt? Die Kirche, die sich vom Beispiel Jesu vom »barmherzigen Samariter« (vgl. Lk 10, 29-37) leiten lässt und von seiner Kraft gestärkt wird, ist an diesen Fronten der Nächstenliebe immer in vorderster Linie gestanden: viele ihrer Töchter und Söhne, besonders Ordensleute, weihten und weihen auch heute noch in alten und immer neuen Formen ihr Leben Gott, indem sie es aus Liebe zum schwächsten und bedürftigsten Nächsten hingeben.

Diese Gesten bauen von innen her jene »Zivilisation der Liebe und des Lebens« auf, ohne die die Existenz der Menschen und der Gesellschaft ihre im wahrsten Sinne menschliche Bedeutung verliert. Auch wenn sie von niemandem bemerkt und den meisten verborgen bleiben würden, versichert der Glaube, dass der Vater, »der auch das Verborgene sieht« (Mt 6, 4), sie nicht nur dereinst belohnen wird, sondern sie schon jetzt mit bleibenden Früchten für alle ausstattet.

Zu den Hoffnungszeichen muss auch eine in breiten Schichten der öffentlichen Meinung zunehmende neue Sensibilität gezählt werden, die immer mehr gegen den Krieg als Instrument zur Lösung von Konflikten zwischen den Völkern gerichtet ist und nach wirksamen, aber »gewaltlosen« Mitteln sucht, um den bewaffneten Angreifer zu blockieren. In dasselbe Blickfeld gehört auch die immer weiter verbreitete Abneigung der öffentlichen Meinung gegen die Todesstrafe selbst als Mittel sozialer »Notwehr«, in Anbetracht der Möglichkeiten, über die eine moderne Gesellschaft verfügt, um das Verbrechen wirksam mit Methoden zu unterdrücken, die zwar den, der es begangen hat, unschädlich machen, ihm aber nicht endgültig die Möglichkeit nehmen, wieder zu Ehren zu kommen.

Wohlwollend zu begrüben ist auch die erhöhte Aufmerksamkeit für die Qualität des Lebens und die Umwelt, die vor allem in den hochentwickelten Gesellschaften festzustellen ist, in denen sich die Erwartungen der Menschen nicht mehr so sehr auf die Probleme des Überlebens, als vielmehr auf die Suche nach einer globalen Verbesserung der Lebensbedingungen konzentrieren. Besonders bedeutsam ist das Erwachen bzw. Wiederaufleben einer ethischen Reflexion über das Leben: durch das Aufkommen der Bioethik und ihre immer mehr intensivierte Entwicklung und Ausweitung werden — unter Gläubigen und Nichtgläubigen wie auch zwischen den Gläubigen verschiedener Religionen — die Reflexion und der Dialog über grundlegende ethische Probleme gefördert, die das Leben des Menschen betreffen.

28. Dieser Horizont von Licht und Schatten muss uns allen voll bewusst machen, dass wir einer ungeheuren und dramatischen Auseinandersetzung zwischen Bösem und Gutem, Tod und Leben, der »Kultur des Todes« und der »Kultur des Lebens« gegenüberstehen. Wir stehen diesem Konflikt nicht nur »gegenüber«, sondern befinden uns notgedrungen »mitten drin«: wir sind alle durch die unausweichliche Verantwortlichkeit in die bedingungslose Entscheidung für das Leben involviert und daran beteiligt.

Auch an uns ergeht klar und nachdrücklich die Einladung des Mose: »Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor...; Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen« (Dtn 30, 15. 19). Es ist eine Einladung, die wohl auch für uns gilt, die wir uns jeden Tag zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes« entscheiden müssen. Doch der Appell des Buches Deuteronomium ist noch tiefgründiger, weil er uns zu einer im eigentlichen Sinn religiösen und moralischen Entscheidung anhält. Es geht darum, dem eigenen Dasein eine grundsätzliche Orientierung zu geben und in Treue und Übereinstimmung mit dem Gesetz des Herrn zu leben: »... die Gebote des Herrn deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, ... indem du den Herrn deinen Gott liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest ... Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, höre auf seine Stimme, und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben. Er ist die Länge deines Lebens« (30, 16. 19-20).

Die Fülle ihrer religiösen und moralischen Bedeutung erreicht die bedingungslose Entscheidung für das Leben dann, wenn sie aus dem Glauben an Christus erwächst, von ihm geformt und gefördert wird. Bei einer positiven Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen Tod und Leben, in dem wir stecken, hilft uns nichts so sehr wie der Glaube an den Sohn Gottes, der Mensch geworden und zu den Menschen gekommen ist, »damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10, 10): es ist der Glaube an den Auferstandenen, der den Tod besiegt hat; es ist der Glaube an das Blut Christi, »das mächtiger ruft als das Blut Abels« (Hebr 12, 24).

Durch das Licht und die Kraft dieses Glaubens wird sich die Kirche angesichts der Herausforderungen der gegenwärtigen Situation stärker der ihr vom Herrn aufgetragenen Gnade und Verantwortung bewusst, das Evangelium vom Leben zu verkünden, zu feiern und ihm zu dienen.

II. KAPITEL - ICH BIN GEKOMMEN, DAMIT SIE DAS LEBEN HABEN - DIE CHRISTLICHE BOTSCHAFT ÜBER DAS LEBEN

»Das Leben wurde offenbart, wir haben es gesehen« (1 Joh 1, 2): der Blick ist auf Christus, »das Wort des Lebens« gerichtet

29. Angesichts der unzähligen ernsten Bedrohungen des Lebens in der modernen Welt könnte man von einem Gefühl unüberwindlicher Ohnmacht übermannt werden: das Gute wird nie die Kraft haben können, das Böse zu überwinden!

Das ist der Augenblick, in dem das Volk Gottes und in ihm jeder Gläubige aufgerufen ist, demütig und mutig seinen Glauben an Jesus Christus, »das Wort des Lebens« (1 Joh 1, 1), zu bekennen. Das Evangelium vom Leben ist nicht bloß eine, wenn auch originelle und tiefgründige Reflexion über das menschliche Leben; und es ist auch nicht nur ein Gebot, dazu bestimmt, das Gewissen zu sensibilisieren und gewichtige Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken; und noch weniger ist es eine illusorische Verheißung einer besseren Zukunft. Das Evangelium vom Leben ist eine konkrete und personale Wirklichkeit, weil es in der Verkündigung der Person Jesu selber besteht. Dem Apostel Thomas und in ihm jedem Menschen zeigt sich Jesus mit den Worten: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« (Joh 14, 6). Mit derselben Identität weist er sich Marta, der Schwester des Lazarus gegenüber aus: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Joh 11, 25-26). Jesus ist der Sohn, der von Ewigkeit her vom Vater das Leben empfängt (vgl. Joh 5, 26) und zu den Menschen gekommen ist, um sie an diesem Geschenk teilhaben zu lassen: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10, 10).

Vom Wort, von der Tat, und selbst von der Person Jesu wird also dem Menschen die Möglichkeit gegeben, die ganze Wahrheit über den Wert des menschlichen Lebens zu »erkennen«; aus jener »Quelle« erwächst ihm insbesondere die Fähigkeit, vollkommen diese Wahrheit »zu tun« (vgl. Joh 3, 21), das heißt, die Verantwortung zur Liebe des menschlichen Lebens und zum Dienst an ihm, zu seiner Verteidigung und Förderung voll anzunehmen und zu verwirklichen. Denn in Christus wird jenes bereits in der Offenbarung des Alten Testamentes dargebotene und jedem Mann und jeder Frau sogar irgendwie ins Herz geschriebe Evangelium vom Leben endgültig verkündet und in seiner Fülle verschenkt; es erfüllt jedes sittliche Bewusstsein »von Anfang an», das heißt von der Erschaffung an, so dass es trotz der negativen Beeinflussungen durch die Sünde in seinen wesentlichen Zügen auch von der menschlichen Vernunft erkannt werden kann. Christus ist es, wie das II. Vatikansche Konzil schreibt, »der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt und durch göttliches Zeugnis bekräftigt, dass Gott mit uns ist, um uns aus der Finsternis von Sünde und Tod zu befreien und zu ewigem Leben zu erwecken«.<ref> Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum, Nr. 4. </ref>

30. Während wir den Blick auf den Herrn Jesus gerichtet haben, wollen wir also von ihm wieder »die Worte Gottes« (Joh 3, 34) hören und neu nachdenken über das Evangelium vom Leben. Den tieferen und ursprünglichen Sinn dieser Meditation über die geoffenbarte Botschaft vom menschlichen Leben hat der Apostel Johannes erfasst, als er in seinem ersten Brief einleitend schrieb: »Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens. Denn das Wort wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt« (1, 1-3).

In Jesus, dem »Wort des Lebens«, wird also das göttliche und ewige Leben verkündet und mitgeteilt. Durch diese Verkündigung und dieses Geschenk gewinnt das physische und geistige Leben des Menschen auch in seiner irdischen Phase vollen Wert und Bedeutung: das göttliche und ewige Leben ist in der Tat das Ziel, auf das hin der in dieser Welt lebende Mensch ausgerichtet und zu dem er berufen ist. Das Evangelium vom Leben schließt somit alles ein, was die menschliche Erfahrung und die Vernunft über den Wert des menschlichen Lebens sagen, nimmt es an, erhöht es und bringt es zur Vollendung.

»Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden« (Ex 15, 2): das Leben ist immer ein Gut

31. Die evangelische Fülle der Botschaft über das Leben ist in Wirklichkeit schon im Alten Testament vorbereitet. Vor allem im Geschehen des Exodus, dem Kern der Glaubenserfahrung des Alten Testamentes, entdeckt Israel, wie kostbar sein Leben in Gottes Augen ist. Als es schon der Ausrottung preisgegeben zu sein scheint, weil alle seine männlichen Neugeborenen vom Tod bedroht sind (vgl. Ex 1, 15-22), offenbart sich ihm der Herr als Retter, der den Hoffnungslosen eine Zukunft sicherzustellen vermag. So wird in Israel ein klares Bewusstsein geboren: sein Leben ist nicht einem Pharao ausgeliefert, der sich seiner mit despotischer Willkür bedienen kann; es ist vielmehr das Objekt einer zärtlichen und starken Liebe Gottes.

Die Befreiung aus der Knechtschaft ist das Geschenk einer Identität, die Anerkennung einer unauslöschlichen Würde und der Beginn einer neuen Geschichte, in der die Entdeckung Gottes und Selbstentdeckung miteinander einhergehen. Das Erlebnis des Exodus ist eine exemplarische Gründungserfahrung. Israel lernt dabei, dass es sich jedesmal, wenn es in seiner Existenz bedroht ist, nur mit neuem Vertrauen an Gott zu wenden braucht, um bei Ihm wirksame Hilfe zu finden: »Ich habe dich geschaffen, du bist mein Knecht; Israel, ich vergesse dich nicht« (Jes 44, 21).

Während Israel so den Wert seiner Existenz als Volk erkennt, macht es auch Fortschritte in der Wahrnehmung des Sinnes und Wertes des Lebens als solchen. Eine Reflexion, die, ausgehend von der täglichen Erfahrung der Ungewissheit des Lebens und von der Kenntnis der es gefährdenden Bedrohungen, besonders in den Weisheitsbüchern entfaltet wird. Der Glaube wird angesichts der Gegensätzlichkeiten des Daseins herausgefordert, eine Antwort anzubieten.

Vor allem das Problem des Schmerzes setzt dem Glauben zu und stellt ihn auf die Probe. Soll man etwa in der Meditation des Buches Ijob nicht das universale Stöhnen des Menschen vernehmen? Der vom Leid geschlagene Unschuldige ist verständlicherweise geneigt sich zu fragen: »Warum schenkt er dem Elenden Licht und Leben denen, die verbittert sind? Sie warten auf den Tod, der nicht kommt, sie suchen ihn mehr als verborgene Schätze« (3, 20-21). Aber auch in der tiefsten Finsternis veranlasst der Glaube zur vertrauensvollen und anbetenden Erkenntnis des »Geheimnisses»: »Ich habe erkannt, dass du alles vermagst; kein Vorhaben ist dir verwehrt« (Ijob 42, 2).

Nach und nach macht die Offenbarung mit immer größerer Klarheit den Keim unsterblichen Lebens begreiflich, der vom Schöpfer ins Herz der Menschen gelegt wurde: »Gott hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan. Überdies hat er die Ewigkeit in alles hineingelegt« (Koh 3, 11). Dieser Keim von Ganzheit und Fülle wartet darauf, sich in der Liebe zu offenbaren und sich durch die unentgeltliche Hingabe Gottes in der Teilhabe an seinem ewigen Leben zu verwirklichen.

»Der Name Jesu hat diesen Mann zu Kräften gebracht« (Apg 3, 16): in der Ungewissheit des menschlichen Daseins bringt Jesus den Sinn des Lebens zur Vollendung

32. Die Erfahrung des Bundesvolkes erneuert sich in der Erfahrung aller »Armen», die Jesus von Nazareth begegnen. Wie schon Gott, der »Freund des Lebens« (Weish 11, 26), Israel inmitten der Gefahren beruhigt hatte, so verkündet nun der Gottessohn allen, die sich in ihrer Existenz bedroht und behindert fühlen, dass auch ihr Leben ein Gut ist, dem die Liebe des Vaters Sinn und Wert verleiht.

»Blinde sehen wieder, Lahme gehen, und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet« (Lk 7, 22). Mit diesen Worten des Propheten Jesaja (35, 5-6; 61, 1) legt Jesus die Bedeutung seiner Sendung dar: so vernehmen alle, die unter einer irgendwie von Behinderung gekennzeichneten Existenz leiden, von ihm die frohe Kunde von der Anteilnahme Gottes ihnen gegenüber und finden bestätigt, dass auch ihr Leben eine in den Händen des Vaters eifersüchtig gehütete Gabe ist (vgl. Mt 6, 25-34).

Es sind besonders die »Armen», an die sich die Verkündigung und das Wirken Jesu richtet. Die Massen von Kranken und Ausgegrenzten, die ihm folgen und ihn suchen (vgl. Mt 4, 23-25), finden in seinem Wort und in seinen Taten offenbart, welch großen Wert ihr Leben besitzt und wie begründet ihre Heilserwartungen sind.

Nicht anders geschieht es in der Sendung der Kirche seit ihren Anfängen. Sie, die Jesus als den verkündet, der »umherzog, Gutes tat und alle heilte, die in der Gewalt des Teufels waren; denn Gott war mit ihm« (Apg 10, 38), weiß sich als Trägerin einer Heilsbotschaft, die in ihrer ganzen Neuartigkeit gerade in den von Elend und Armut geprägten Lebenssituationen des Menschen zu vernehmen ist. So macht es Petrus bei der Heilung des Gelähmten, der jeden Tag an die »Schöne Pforte« des Tempels von Jerusalem gesetzt wurde, wo er um Almosen betteln sollte: »Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher!« (Apg 3, 6). Im Glauben an Jesus, den »Urheber des Lebens« (Apg 3, 15), gewinnt das verlassen und bedauernswert daniederliegende Leben wieder Selbstbewusstsein und volle Würde.

Das Wort und die Taten Jesu und seiner Kirche gelten nicht nur dem, der von Krankheit, von Leiden oder von den verschiedenen Formen sozialer Ausgrenzung betroffen ist. Tiefgehender berühren sie den eigentlichen Sinn des Lebens jedes Menschen in seinen moralischen und geistlichen Dimensionen. Nur wer erkennt, dass sein Leben von der Krankheit der Sünde gezeichnet ist, kann in der Begegnung mit dem Retter Jesus die Wahrheit und Glaubwürdigkeit der eigenen Existenz entsprechend dessen eigenen Worten wiederfinden: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zur Umkehr zu rufen, nicht die Gerechten« (Lk 5, 31-32).

Wer hingegen wie der reiche Landwirt im Gleichnis des Evangeliums meint, er könne sein Leben durch den Besitz allein der materiellen Güter sichern, täuscht sich in Wirklichkeit: das Leben entgleitet ihm, und er wird es sehr bald verlieren, ohne dazu gekommen zu sein, seine wahre Bedeutung zu erfassen: »Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?« (Lk 12, 20).

33. Im Leben Jesu selbst begegnet man von Anfang bis Ende dieser einzigartigen »Dialektik« zwischen der Erfahrung der Gefährdung des menschlichen Lebens und der Geltendmachung seines Wertes. Denn gefährdet ist das Leben Jesu von seiner Geburt an. Gewiss findet er Aufnahme von seiten der Gerechten, die sich dem bereiten und freudigen »Ja« Marias anschließen (vgl. Lk 1, 38). Aber da ist auch sofort die Ablehnung durch eine Welt, die feindselig auftritt und das Kind »zu töten« trachtet (Mt 2, 13) oder sich gegenüber der Erfüllung des Geheimnisses dieses Lebens, das in die Welt eintritt, gleichgültig und achtlos verhält: »in der Herberge war kein Platz für sie« (Lk 2, 7). Gerade aus dem Gegensatz zwischen den Bedrohungen und Unsicherheiten einerseits und der Mächtigkeit des Gottesgeschenkes andererseits leuchtet mit um so größerer Kraft die Herrlichkeit, die vom Haus in Nazareth und von der Krippe in Betlehem ausstrahlt: dieses hier geborene Leben bedeutet Heil für die ganze Menschheit (vgl. Lk 2, 11).

Widersprüche und Gefahren des Lebens werden von Jesus voll angenommen: »Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen« (2 Kor 8, 9). Die Armut, von der Paulus spricht, besteht nicht nur darin, dass sich Jesus der göttlichen Vorrechte entäußert, sondern auch die niedrigsten und unsichersten Bedingungen menschlichen Lebens teilt (vgl. Phil 2, 6-7). Jesus lebt diese Armut sein ganzes Leben hindurch bis zu dessen Höhepunkt am Kreuz: »er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen« (Phil 2, 8-9). Gerade in seinem Tod macht Jesus die ganze Größe und den Wert des Lebens offenbar, weil sein Sichhingeben am Kreuz zur Quelle neuen Lebens für alle Menschen wird (vgl. Joh 12, 32). Auf diesem Pilger- weg durch die Widersprüche des Lebens und selbst bei dessen Verlust lässt sich Jesus von der Gewissheit leiten, dass es in den Händen des Vaters liegt. Darum kann er am Kreuz zu ihm sagen: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist« (Lk 23, 46), das heißt mein Leben. Der Wert des menschlichen Lebens ist in der Tat groß, wenn der Sohn Gottes es angenommen und zu dem Ort gemacht hat, an dem sich das Heil für die ganze Menschheit verwirklicht!

»Sie sind dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben« (vgl. Röm 8, 29): die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf dem Antlitz des Menschen

34. Das Leben ist immer ein Gut. Das ist eine intuitive Ahnung oder sogar eine Erfahrungstatsache, deren tiefen Grund zu erfassen der Mensch berufen ist.

Warum ist das Leben ein Gut? Die Frage durchzieht die ganze Bibel und findet bereits auf ihren ersten Seiten eine wirkungsvolle und wunderbare Antwort. Das Leben, das Gott dem Menschen schenkt, ist anders und eigenständig gegenüber dem eines jeden anderen Lebewesens, weil der Mensch, auch wenn er mit dem Staub der Erde verwandt ist (vgl. Gen 2, 7; 3, 19; Ijob 34, 15; Ps 103 1, 14; 104 2, 29), in der Welt Offenbarung Gottes, Zeichen seiner Gegenwart, Spur seiner Herrlichkeit ist (vgl. Gen 1, 26-27; Ps 8, 6). Das wollte auch der hl. Irenäus von Lyon mit seiner berühmten Definition unterstreichen: »Der lebendige Mensch ist die Herrlichkeit Gottes«.<ref>„Gloria Dei vivens homo“: Gegen die Häresien, IV, 20,7: SCh 100/2, 648-649. </ref> Dem Menschen wird eine erhabene Würde geschenkt, die ihre Wurzeln in den innigen Banden hat, die ihn mit seinem Schöpfer verbinden: im Menschen erstrahlt ein Widerschein der Wirklichkeit Gottes selbst.

Das führt das erste Buch der Genesis im ersten Schöpfungsbericht aus, indem es den Menschen als Höhepunkt des Schöpfungswerkes Gottes, als seine Krönung, an das Ende eines Prozesses stellt, der vom unterschiedslosen Chaos zum vollkommensten Geschöpf führt. Alles in der Schöpfung ist auf den Menschen hingeordnet und alles ist ihm untergeordnet: »Bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht... über alle Tiere, die sich auf dem Land regen« (1, 28), gebietet Gott dem Mann und der Frau. Eine ähnliche Botschaft stammt auch aus dem zweiten Schöpfungsbericht: »Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte« (Gen 2, 15). So wird die Vorrangstellung des Menschen über die Dinge bekräftigt: sie sind auf ihn hin ausgerichtet und seiner Verantwortung anvertraut, während er selbst unter keinen Umständen an seinesgleichen versklavt werden und gleichsam auf die Ebene einer Sache herabgestuft werden kann.

In der biblischen Erzählung wird die Unterscheidung des Menschen von den anderen Geschöpfen vor allem dadurch herausgestellt, dass nur seine Erschaffung als Frucht eines besonderen Entschlusses Gottes dargestellt wird, als Ergebnis einer Entscheidung, die in der Herstellung einer eigenen und besonderen Verbindung mit dem Schöpfer besteht: »Laß uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich« (Gen 1, 26). Das Leben, das Gott dem Menschen anbietet, ist ein Geschenk, durch das Gott sein Geschöpf an etwas von sich selbst teilhaben lässt.

Israel wird noch lange Fragen nach dem Sinn dieser eigenen und besonderen Bindung des Menschen an Gott stellen. Auch das Buch Jesus Sirach räumt ein, dass Gott die Menschen bei ihrer Erschaffung »ihm selbst ähnlich mit Kraft bekleidet und nach seinem Abbild erschaffen hat« (17, 3). Darauf führt der Verfasser nicht nur ihre Beherrschung der Welt zurück, sondern auch die wesentlichsten geistigen Fähigkeiten des Menschen, wie Vernunft, Erkenntnis von Gut und Böse, den freien Willen: »Mit kluger Einsicht erfüllte er sie und lehrte sie, Gutes und Böses zu erkennen« (Sir 17, 7). Die Fähigkeit, Wahrheit und Freiheit zu erlangen, sind Vorrechte des Menschen, geschaffen nach dem Abbild seines Schöpfers, des wahren und gerechten Gottes (vgl. Dtn 32, 4). Unter allen sichtbaren Kreaturen ist nur der Mensch »fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben«.<ref>II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 12. </ref> Das Leben, das Gott dem Menschen schenkt, ist weit mehr als ein zeitlich-irdisches Dasein. Es ist ein Streben nach einer Lebensfülle; es ist Keim einer Existenz, die über die Grenzen der Zeit hinausgeht: »Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht« (Weish 2, 23).

35. Auch der jahwistische Schöpfungsbericht bringt dieselbe Überzeugung zum Ausdruck. Die ältere Erzählung spricht nämlich von einem göttlichen Hauch, der in den Menschen geblasen wird, damit er ins Leben trete: »Gott, der Herr, formte den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen« (Gen 2, 7).

Der göttliche Ursprung dieses Lebensgeistes erklärt das ständige Unbefriedigtsein, das den Menschen in seinen Erdentagen begleitet. Da er von Gott geschaffen wurde und eine unauslöschliche Spur Gottes in sich trägt, trachtet der Mensch natürlich nach ihm. Jeder Mensch muss, wenn er die tiefe Sehnsucht seines Herzens vernimmt, sich das Wort der vom hl. Augustinus ausgesprochenen Wahrheit zu eigen machen: »Du, o Herr, hast uns für Dich geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir«.<ref>Confessiones, I, 1: CCL 27, 1. </ref>

Äußerst vielsagend ist das Unbefriedigtsein, von dem das Leben des Menschen im Garten Eden geplagt wird, solange sein einziger Bezug die natürliche Welt der Pflanzen und Tiere ist (vgl. Gen 2, 20). Erst das Auftreten der Frau, das heißt eines Wesens, das Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein ist (vgl. Gen 2, 23) und in dem ebenfalls der Geist des Schöpfergottes lebt, vermag sein Verlangen nach interpersonalem Dialog, der für die menschliche Existenz so wichtig ist, zu befriedigen. Im anderen, Mann oder Frau, spiegelt sich Gott selbst, endgültiger und befriedigender Anlegepunkt jedes Menschen.

»Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?«, fragt der Psalmist (Ps 8, 5). Angesichts der Unermeßlichkeit des Universums ist er klein und unbedeutend; aber gerade dieser Gegensatz lässt seine Größe sichtbar werden: »Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott (man könnte auch übersetzen: als die Engel), hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt« (Ps 8, 6). Die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf dem Antlitz des Menschen. In ihm findet der Schöpfer seine Ruhe, wie der hl. Ambrosius voll Erstaunen und Ergriffenheit kommentiert: »Der sechste Tag ist zu Ende und die Schöpfung der Welt wird mit der Gestaltung des Hauptwerkes abgeschlossen, des Menschen, der die Herrschaft über alle Lebewesen ausübt und gleichsam der Gipfel des Universums und die höchste Schönheit jedes geschaffenen Wesens ist. Wir müssten wahrhaftig in verehrungsvollem Schweigen verharren, da sich der Herr von jedem Werk der Welt ausruhte. Er ruhte sich dann im Innern des Menschen aus, er ruhte sich aus in seinem Verstand und seinem Denken; denn er hatte den Menschen erschaffen, ihn mit Vernunft ausgestattet und ihn befähigt, ihn nachzuahmen, seinen Tugenden nachzueifern, nach den himmlischen Gnaden zu dürsten. In diesen seinen Gaben ruht Gott, der gesagt hat: 'Was wäre das für ein Ort, an dem ich ausruhen könnte?... Ich blicke auf den Armen und Zerknirschten und auf den, der zittert vor meinem Wort? (Jes 66, 1-2). Ich danke dem Herrn, unserem Gott, dass er ein so wunderbares Werk geschaffen hat, in dem er den Ort zum Ausruhen finden kann«.<ref> Hexaemeron, VI, 75-76: CSEL 32, 260-261. </ref>

36. Leider wird Gottes herrlicher Plan durch den Einbruch der Sünde in die Geschichte getrübt. Mit der Sünde lehnt sich der Mensch gegen den Schöpfer auf, bis er am Ende die Geschöpfe vergöttert: »Sie beteten das Geschöpf an und verehrten es anstelle des Schöpfers« (Röm 1, 25). Auf diese Weise entstellt der Mensch nicht nur in sich selbst das Bild Gottes, sondern ist versucht, es auch in den anderen dadurch zu beleidigen, dass er die Beziehungen der Gemeinschaft durch Verhaltensweisen wie Mißtrauen, Gleichgültigkeit, Feindschaft bis hin zum mörderischen Haß ersetzt. Wenn man nicht Gott als Gott anerkennt, verrät man die tiefe Bedeutung des Menschen und beeinträchtigt die Gemeinschaft der Menschen untereinander.

Mit der Menschwerdung des Gottessohnes erstrahlt im Leben des Menschen wieder das Bild Gottes und offenbart sich in seiner ganzen Fülle: »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kol 1, 15), »der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens« (Hebr 1, 3), lebt das vollkommene Ebenbild des Vaters.

Der dem ersten Adam übertragene Lebensplan findet schließlich in Christus seine Vollendung. Während der Ungehorsam Adams Gottes Plan bezüglich des Lebens des Menschen zerstört und entstellt und den Tod in die Welt bringt, ist der erlösende Gehorsam Christi Quelle der Gnade, die sich über die Menschen ergießt, indem sie für alle die Tore zum Reich des Leßens aufreißt (vgl. Röm 5, 12-21). Der Apostel Paulus sagt: »Adam, der Erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der Letzte Adam wurde lebendigmachender Geist« (1 Kor 15, 45).

Allen, die sich zustimmend in die Nachfolge Christi stellen, wird die Fülle des Lebens geschenkt: in ihnen wird das göttliche Bild wiederhergestellt, erneuert und zur Vollendung geführt. Das ist der Plan Gottes mit den Menschen: dass sie »an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilhaben« (Röm 8, 29). Nur so, im Glanz dieses Bildes, kann der Mensch von der Knechtschaft des Götzendienstes befreit werden, die zerbrochene Brüderlichkeit wiederherstellen und seine Identität wiederfinden.

»Jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Joh 11, 26): das Geschenk des ewigen Lebens

37. Das Leben, das der Sohn Gottes den Menschen geschenkt hat, beschränkt sich nicht bloß auf das zeitlich-irdische Dasein. Das Leben, das von Ewigkeit her »in ihm« und »das Licht der Menschen« ist (Joh 1, 4), beruht darauf, dass es aus Gott geboren ist und an der Fülle seiner Liebe teilhat: »Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind« (Joh 1, 12-13).

Manchmal nennt Jesus dieses Leben, das zu schenken er gekommen ist, einfach: »das Leben»; und stellt die Geburt aus Gott als eine notwendige Bedingung dar, um das Ziel erreichen zu können, für das Gott den Menschen erschaffen hat: »Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen« (Joh 3, 3). Das Geschenk dieses Lebens bildet den eigentlichen Zweck der Sendung Jesu: er ist der, der »vom Himmel herabkommt und der Welt das Leben gibt« (Joh 6, 33), so dass er mit voller Wahrheit sagen kann: »Wer mir nachfolgt, ... wird das Licht des Lebens haben« (Joh 8, 12).

An anderen Stellen spricht Jesus vom »ewigen Leben», wobei das Adjektiv nicht nur auf eine überirdische Perspektive verweist. »Ewig« ist das Leben, das Jesus verheißt und schenkt, weil es Fülle der Teilhabe am Leben des »Ewigen« ist. Jeder, der an Jesus glaubt und in Gemeinschaft mit ihm tritt, hat das ewige Leben (vgl. Joh 3, 15; 6, 40), weil er von ihm die einzigen Worte hört, die seinem Dasein Lebensfülle offenbaren und einflößen; es sind die »Worte des ewigen Lebens», die Petrus in seinem Glaubensbekenntnis anerkennt: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes« (Joh 6, 68-69). Worin dann das ewige Leben besteht, erklärt Jesus selbst, wenn er sich im Hohenpriesterlichen Gebet an den Vater wendet: »Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast« (Joh 17, 3).

Gott und seinen Sohn erkennen heißt, das Geheimnis der Liebesgemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes im eigenen Leben anzunehmen, das sich schon jetzt in der Teilhabe am göttlichen Leben dem ewigen Leben öffnet.

38. Das ewige Leben ist also das Leben Gottes selbst und zugleich das Leben der Kinder Gottes. Immer neues Staunen und grenzenlose Dankbarkeit müssen den Gläubigen angesichts dieser unerwarteten und unaussprechlichen Wahrheit erfassen, die uns von Gott in Christus zuteil wird. Der Gläubige macht sich die Worte des Apostels Johannes zu eigen: »Wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es... Liebe Brüder, jetzt sind wir Kinder Gottes. Aber was wir sein werden, ist noch nicht offenbar geworden. Wir wissen, dass wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (1 Joh 3, 1-2).

So erreicht die christliche Wahrheit über das Leben ihren Höhepunkt. Die Würde dieses Lebens hängt nicht nur von seinem Ursprung, von seiner Herkunft von Gott ab, sondern auch von seinem Endziel, von seiner Bestimmung als Gemeinschaft mit Gott im Erkennen und in der Liebe zu ihm. Im Lichte dieser Wahrheit präzisiert und vervollständigt der hl. Irenäus seine Lobpreisung des Menschen: »Herrlichkeit Gottes« ist »der lebendige Mensch», aber »das Leben des Menschen besteht in der Schau Gottes«.<ref> „Vita autem hominis visio Dei“: Gegen die Häresien, IV, 20,7: SCh 100/2, 648-649. </ref>

Daraus erwachsen unmittelbare Konsequenzen für das menschliche Leben in seiner irdischen Situation, in dem allerdings bereits das ewige Leben keimt und heranwächst. Wenn der Mensch instinktiv das Leben liebt, weil es ein Gut ist, so findet diese Liebe weitere Motivierung und Kraft, neue Fülle und Tiefe in den göttlichen Dimensionen dieses Gutes. So gesehen beschränkt sich die Liebe, die jeder Mensch zum Leben hat, nicht auf die einfache Suche eines Raumes der Selbstäußerung und der Beziehung zu den anderen, sondern sie entwickelt sich aus dem freudigen Bewusstsein, die eigene Existenz zu dem »Ort« der Offenbarwerdung Gottes sowie der Begegnung und der Gemeinschaft mit ihm machen zu können. Das Leben, das Jesus uns schenkt, entwertet nicht unser zeitliches Dasein, sondern nimmt es an und führt es seiner letzten Bestimmung zu: »Ich bin die Auferstehung und das Leben...; jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Joh 11, 25. 26).

»Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder« (Gen 9, 5): Achtung und Liebe für das Leben aller

39. Das Leben des Menschen kommt aus Gott, es ist sein Geschenk, sein Abbild und Ebenbild, Teilhabe an seinem Lebensatem. Daher ist Gott der einzige Herr über dieses Leben: der Mensch kann nicht darüber verfügen. Gott selbst bekräftigt dies gegenüber Noach nach der Sintflut: »Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder« (Gen 9, 5). Und der biblische Text ist darauf bedacht zu unterstreichen, dass die Heiligkeit des Lebens in Gott und in seinem Schöpfungswerk begründet ist: »Denn als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht« (Gen 9, 6).

Leben und Tod des Menschen liegen also in den Händen Gottes, in seiner Macht: »In seiner Hand ruht die Seele allen Lebens und jeden Menschenleibes Geist«, ruft Ijob aus (12, 10). »Der Herr macht tot und lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf« (1 Sam 2, 6). Er allein kann sagen: »Ich bin es, der tötet und der lebendig macht« (Dtn 32, 39).

Aber diese Macht übt Gott nicht als bedrohliche Willkür aus, sondern als liebevolle Umsicht und Sorge gegenüber seinen Geschöpfen. Wenn es wahr ist, dass das Leben des Menschen in Gottes Händen ruht, so ist es ebenso wahr, dass es liebevolle Hände sind wie die einer Mutter, die ihr Kind annimmt, nährt und sich um es sorgt: »Ich lieb meine Seele ruhig werden und still; wie ein kleines Kind bei der Mutter ist meine Seele still in dir« (Ps 131 1, 2; vgl. Jes 49, 15; 66, 12-13; Hos 11, 4). So sieht Israel im Geschehen der Völker und im Schicksal der einzelnen nicht das Ergebnis einer bloßen Zufälligkeit oder eines blinden Schicksals, sondern das Ergebnis eines Planes der Liebe, in den Gott sämtliche Lebensmöglichkeiten aufnimmt und den aus der Sünde entstehenden Kräften des Todes entgegenstellt: »Denn Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen« (Weish 1, 13-14).

40. Aus der Heiligkeit des Lebens erwächst seine Unantastbarkeit, die von Anfang an dem Herzen des Menschen, seinem Gewissen, eingeschrieben ist. Die Frage »Was hast du getan?« (Gen 4, 10), mit der sich Gott an Kain wendet, nachdem dieser seinen Bruder Abel getötet hat, gibt die Erfahrung jedes Menschen wieder: in der Tiefe seines Gewissens wird er immer an die Unantastbarkeit des Lebens — seines Lebens und jenes der anderen — erinnert, als Realität, die nicht ihm gehört, weil sie Eigentum und Geschenk Gottes, des Schöpfers und Vaters, ist.

Das auf die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens bezügliche Gebot steht im Zentrum der »zehn Worte« im Bund vom Sinai (vgl.Ex 34, 28). Es verbietet zuallererst den Mord: »Du sollst nicht morden« (Ex 20, 13); »Wer unschuldig und im Recht ist, den bring nicht um sein Leben« (Ex 23, 7); aber es verbietet auch — wie in der weiteren Gesetzgebung Israels genau bestimmt wird — jede dem anderen zugefügte Verletzung (vgl. Ex 21, 12-27). Sicher muss man zugeben, dass im Alten Testament diese Sensibilität für den Wert des Lebens, selbst wenn sie bereits so hervorgehoben wird, noch nicht den Scharfsinn der Bergpredigt erreicht, wie aus manchen Aspekten der damals geltenden Gesetzgebung hervorgeht, die schwere Körperstrafen und sogar die Todesstrafe vorsah. Aber die Gesamtbotschaft, die das Neue Testa- ment zur Vervollkommnung bringen wird, ist ein mächtiger Appell zur Achtung der Unantastbarkeit des physischen Lebens und der persönlichen Integrität und erreicht ihren Höhepunkt in dem positiven Gebot, das dazu verpflichtet, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Lev 19, 18).

41. Das Gebot »du sollst nicht töten», das in jenem positiven Gebot von der Nächstenliebe eingeschlossen und vertieft ist, wirdvom Herrn Jesus in seiner ganzen Gültigkeit bekräftigt. Dem reichen Jüngling, der ihn fragt: »Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?», antwortet er: »Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote!« (Mt 19, 16.17). Und als erstes nennt er das Gebot »du sollst nicht töten« (Mt 19, 18). In der Bergpredigt verlangt Jesus von den Jüngern auch im Bereich der Achtung vor dem Leben eine höhere Gerechtigkeit als die der Schriftgelehrten und Pharisäer: »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein« (Mt 5, 21-22).

Durch sein Wort und sein Tun verdeutlicht Jesus die positiven Forderungen des Gebots von der Unantastbarkeit des Lebens noch weiter. Sie waren bereits im Alten Testament vorhanden, wo es der Gesetzgebung darum ging, Daseinsbeziehungen schwachen und bedrohten Lebens zu gewährleisten und es zu schützen: den Fremden, die Witwe, den Waisen, den Kranken, überhaupt den Armen, ja selbst das Leben vor der Geburt (vgl. Ex 21, 22; 22, 20-26). Mit Jesus erlangen diese positiven Forderungen neue Kraft und neuen Schwung und werden in ihrer ganzen Weite und Tiefe offenbar: sie reichen von der Sorge um das Leben des Bruders (des Familienangehörigen, des Angehörigen desselben Volkes, des Ausländers, der im Land Israel wohnt) zur Sorge um den Fremden bis hin zur Liebe des Feindes.

Der Fremde ist nicht länger ein Fremder für den, der für einen anderen Menschen in Not zum Nächsten werden muss, bis zu dem Punkt, dass er die Verantwortung für sein Leben übernimmt, wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter sehr anschaulich und einprägsam schildert (vgl. Lk 10, 25-37). Auch der Feind ist für den kein Feind mehr, der ihn zu lieben (vgl. Mt 5, 38-48; Lk 6, 27-35) und dem er »Gutes zu tun« verpflichtet ist (vgl. Lk 6, 27. 33. 35), indem er auf die Nöte seines Lebens rasch und in der Gesinnung der Unentgeltlichkeit eingeht (vgl. Lk 6, 34-35). Höhepunkt dieser Liebe ist das Gebet für den Feind, durch das man sich mit der sorgenden Liebe Gottes in Einklang bringt: »Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5, 44-45; vgl. Lk 6, 28. 35).

Gottes Gebot zum Schutz des Lebens des Menschen hat also seinen tiefsten Aspekt in der Forderung von Achtung und Liebe gegenüber jedem Menschen und seinem Leben. Mit dieser Lehre wendet sich der Apostel Paulus an die Christen von Rom, indem er dem Wort Jesu (vgl. Mt 19, 17-18) beistimmt: »Denn die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren!, und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes« (Röm 13, 9-10).

»Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch« (Gen 1, 28): die Verantwortung des Menschen gegenüber dem Leben

42. Das Leben zu verteidigen und zu fördern, in Ehren zu halten und zu lieben ist eine Aufgabe, die Gott jedem Menschen aufträgt, wenn er ihn als sein pulsierendes Abbild zur Teilhabe an seiner Herrschaft über die Welt beruft: »Gott segnete sie und sprach: "Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen"« (Gen 1, 28).

Der biblische Text legt die Weite und Tiefe der Herrschaft an den Tag, die Gott dem Menschen schenkt. Es geht zunächst um die Herrschaft über die Erde und über alle Tiere, wie das Buch der Weisheit erwähnt: »Gott der Väter und Herr des Erbarmens... den Menschen hast du durch deine Weisheit erschaffen, damit er über deine Geschöpfe herrscht. Er soll die Welt in Heiligkeit und Gerechtigkeit leiten« (9, 1. 2-3). Auch der Psalmist preist die Herrschaft des Menschen als Zeichen der vom Schöpfer empfangenen Herrlichkeit und Ehre: »Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt: All die Schafe, Ziegen und Rinder und auch die wilden Tiere, die Vögel des Himmels und die Fische im Meer, alles, was auf den Pfaden der Meere dahinzieht« (Ps 8. 7-9).

Der Mensch, der berufen wurde, den Garten der Welt zu bebauen und zu hüten (vgl. Gen 2, 15), hat eine besondere Verantwortung für die Lebensumwelt, das heißt für die Schöpfung, die Gott in den Dienst seiner personalen Würde, seines Lebens gestellt hat: Verantwortung nicht nur in bezug auf die gegenwärtige Menschheit, sondern auch auf die künftigen Generationen. Die ökologische Frage — von der Bewahrung des natürlichen Lebensraumes der verschiedenen Tierarten und der vielfältigen Lebensformen bis zur »Humanökologie« im eigentlichen Sinne des Wortes<ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), Nr. 38: AAS 83 (1991), 840-841. </ref> — findet in dem Bibeltext eine einleuchtende und wirksame ethische Anleitung für eine Lösung, die das große Gut des Lebens, jeden Lebens, achtet. In Wirklichkeit ist »die vom Schöpfer dem Menschen anvertraute Herrschaft keine absolute Macht noch kann man von der Freiheit sprechen, sie zu 'gebrauchen oder missbrauchen' oder über die Dinge zu verfügen, wie es beliebt. Die Beschränkung, die der Schöpfer selber von Anfang an auferlegt hat, ist symbolisch in dem Verbot enthalten, 'von der Frucht des Baumes zu essen' (vgl. Gen 2, 16-17); sie zeigt mit genügender Klarheit, dass wir im Hinblick auf die sichtbare Natur nicht nur biologischen, sondern auch moralischen Gesetzen unterworfen sind, die man nicht ungestraft übertreten darf«.<ref>Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis (30. Dezember 1987), Nr. 34: AAS 80 (1988), 560. </ref>

43. Eine gewisse Teilhabe des Menschen an der Herrschaft Gottes offenbart sich auch in der besonderen Verantwortung, die ihm gegenüber dem eigentlich menschlichen Leben anvertraut wird. Eine Verantwortung, die ihren Höhepunkt in der Weitergabe des Lebens durch die Zeugung seitens des Mannes und der Frau in der Ehe erreicht, wie das II. Vatikanische Konzil ausführt: »Derselbe Gott, der gesagt hat: 'Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei' (Gen 2, 18), und der 'den Menschen von Anfang an als Mann und Frau schuf' (Mt 19, 4), wollte ihm eine besondere Teilnahme an seinem schöpferischen Wirken verleihen, segnete darum Mann und Frau und sprach: 'Wachset und vermehrt euch' (Gen 1, 28)«.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 50.</ref>

Wenn das Konzil von »einer besonderen Teilnahme« von Mann und Frau am »schöpferischen Wirken« Gottes spricht, will es hervorheben, dass die Zeugung des Kindes ein zutiefst menschliches und in hohem Maße religiöses Ereignis ist, weil sie die Ehegatten, die »ein Fleisch« werden (Gen 2, 24), und zugleich Gott selber hineinzieht, der gegenwärtig ist. Wenn, wie ich in meinem Brief an die Familien geschrieben habe, »aus der ehelichen Vereinigung der beiden ein neuer Mensch entsteht, so bringt er ein besonderes Abbild Gottes, eine besondere Ähnlichkeit mit Gott selber in die Welt: in die Biologie der Zeugung ist die Genealogie der Person eingeschrieben. Wenn wir sagen, die Ehegatten seien als Eltern bei der Empfängnis und Zeugung eines neuen Menschen Mitarbeiter des Schöpfergottes, beziehen wir uns nicht einfach auf die Gesetze der Biologie; wir wollen vielmehr hervorheben, dass in der menschlichen Elternschaft Gott selber in einer anderen Weise gegenwärtig ist als bei jeder anderen Zeugung »auf Erden«. Denn nur von Gott kann jenes »Abbild und jene Ähnlichkeit« stammen, die dem Menschen wesenseigen ist, wie es bei der Schöpfung geschehen ist. Die Zeugung ist die Fortführung der Schöpfung«.<ref>Brief an die Familien Gratissimam sane (2. Februar 1994), Nr. 9: AAS 86 (1994), 878; vgl. Pius XII., Enzyklika Humani generis (12. August 1950): AAS 42 (1950), 574.</ref>

Das lehrt in direkter und beredter Sprache der Bibeltext, wenn er vom Freudenschrei der ersten Frau, der »Mutter aller Lebendigen« (Gen 3, 20), berichtet. Eva, die sich des Eingreifens Gottes bewusst ist, ruft aus: »Ich habe einen Mann vom Herrn erworben« (Gen 4, 1). Durch die Weitergabe des Lebens von den Eltern an das Kind wird also bei der Zeugung dank der Erschaffung der unsterblichen Seele<ref>„Animas enim a Deo immediate creari catholica fides nos retinere iubet“: Pius XII., Enzyklika Humani generis (12. August 1950): AAS 42 (1950), 575.</ref> das Abbild und Gleichnis Gottes selbst übertragen. In diesem Sinne heißt es zu Beginn der »Liste der Geschlechterfolge nach Adam«: »Am Tag, da Gott den Menschen erschuf, machte er ihn Gott ähnlich. Als Mann und Frau erschuf er sie, er segnete sie und nannte sie Mensch an dem Tag, da sie erschaffen wurden. Adam war hundertdreißig Jahre alt, da zeugte er einen Sohn, der ihm ähnlich war, wie sein Abbild, und nannte ihn Set« (Gen 5, 1-3). Auf dieser ihrer Rolle von Mitarbeitern Gottes, der sein Bild auf das neue Geschöpf überträgt, beruht gerade die Größe der Eheleute, die bereit sind »zur Mitwirkung mit der Liebe des Schöpfers und Erlösers, der durch sie seine eigene Familie immer mehr vergrößert und bereichert«.<ref>II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 50; vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981), Nr. 28: AAS 74 (1982), 114.</ref> In diesem Licht pries Bischof Amphilochios die »heilige, erwählte und über alle irdischen Gaben erhabene Ehe« als »Erzeuger der Menschheit, Urheber von Ebenbildern Gottes«.<ref>Predigten, II, 1: CCSG 3, 39. </ref>

So werden Mann und Frau nach Vereinigung in der Ehe zu Teilhabern am göttlichen Werk: durch den Zeugungsakt wird Gottes Geschenk angenommen, und ein neues Leben öffnet sich der Zukunft.

Aber über den spezifischen Auftrag der Eltern hinaus betrifft die Aufgabe, das Leben anzunehmen und ihm zu dienen, alle und muss sich vor allem gegenüber dem im Zustand größter Schwachheit befindlichen Leben erweisen. Christus selber erinnert uns daran, wenn er verlangt, dass man ihn liebt und ihm in den von jeder Art von Leid heimgesuchten Brüdern dient: Hungernden, Dürstenden, Fremden, Nackten, Kranken, Gefangenen... Was einem jeden von ihnen getan wird, wird Christus selbst getan (vgl. Mt 25, 31-46).

»Du hast mein Inneres geschaffen« (Ps 139 2, 13): die Würde des ungeborenen Kindes

44. Das menschliche Leben befindet sich in einer Situation großer Gefährdung, wenn es in die Welt eintritt und wenn es das irdische Dasein verlässt, um in den Hafen der Ewigkeit einzugehen. Die Aufforderungen zu Sorge und Achtung vor allem gegenüber dem von Krankheit und Alter gefährdeten Sein sind im Wort Gottes sehr wohl vorhanden. Wenn es an direkten und ausdrücklichen Aufforderungen zum Schutz des menschlichen Lebens in seinen Anfängen, insbesondere des noch ungeborenen wie auch des zu Ende gehenden Lebens fehlt, so lässt sich das leicht daraus erklären, dass schon allein die Möglichkeit, das Leben in diesen Situationen zu verletzen, anzugreifen oder gar zu leugnen, der religiösen und kulturellen Sicht des Gottesvolkes fremd ist.

Im Alten Testament wird die Unfruchtbarkeit als ein Fluch gefürchtet, während die zahlreiche Nachkommenschaft als ein Segen empfunden wird: »Kinder sind eine Gabe des Herrn, die Frucht des Leibes ist sein Geschenk« (Ps 127 3, 3; vgl. Ps 128 4, 3-4). Eine Rolle spielt bei dieser Überzeugung auch das Bewusstsein Israels, das Volk des Bundes und berufen zu sein, sich gemäß der an Abraham ergangenen Verheissung zu vermehren: »Sieh doch zum Himmel hinauf, und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst... So zahlreich werden deine Nachkommen sein« (Gen 15, 5). Wirksam ist aber vor allem die Gewissheit, dass das von den Eltern weitergegebene Leben seinen Ursprung in Gott hat, wie die vielen Bibelstellen bezeugen, die voll Achtung und Liebe von der Empfängnis, von der Formung des Lebens im Mutterleib, von der Geburt und von der engen Verbindung sprechen, die zwischen dem Anfang des Seins und dem Tun Gottes, des Schöpfers, besteht.

»Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt« (Jer 1, 5): die Existenz jedes einzelnen Menschen ist von ihren Anfängen an im Plan Gottes vorgegeben. Ijob in seinem tiefen Schmerz hält inne, um eine Betrachtung anzustellen über das Wirken Gottes bei der wunderbaren Formung seines Leibes im Schoß der Mutter; daraus schließt er den Grund der Zuversicht und äußert die Gewissheit, dass es einen göttlichen Plan für sein Leben gebe: »Deine Hände haben mich gebildet, mich gemacht; dann hast du dich umgedreht und mich vernichtet. Denk daran, dass du wie Ton mich geschaffen hast. Zum Staub willst du mich zurückkehren lassen. Hast du mich nicht ausgegossen wie Milch, wie Käse mich gerinnen lassen? Mit Haut und Fleisch hast du mich umkleidet, mit Knochen und Sehnen mich durchflochten. Leben und Huld hast du mir verliehen, deine Obhut schützte meinen Geist« (10, 8-12). Hinweise anbetenden Staunens über Gottes Eingreifen bei der Bildung des Lebens im Mutterleib finden sich auch in den Psalmen.<ref>Siehe zum Beispiel die Psalmen 22 [21],10-11; 71 [70],6; 139 [138],13-14. </ref>

Wie sollte man annehmen, dass auch nur ein Augenblick dieses wundervollen Prozesses des Hervorquellens des Lebens dem weisen und liebevollen Wirken des Schöpfers entzogen sein und der Willkür des Menschen überlassen bleiben könnte? Die Mutter der sieben Brüder ist jedenfalls nicht dieser Meinung: sie bekennt ihren Glauben an Gott, Anfang und Gewähr des Lebens von seiner Empfängnis an und zugleich Grund der Hoffnung auf das neue Leben über den Tod hinaus: »Ich weiß nicht, wie ihr in meinem Leib entstanden seid, noch habe ich euch Atem und Leben geschenkt; auch habe ich keinen von euch aus den Grundstoffen zusammengefügt. Nein, der Schöpfer der Welt hat den werdenden Menschen geformt, als er entstand; er kennt die Entstehung aller Dinge. Er gibt euch gnädig Atem und Leben wieder, weil ihr jetzt um seiner Gesetze willen nicht auf euch achtet« (2 Makk 7, 22-23).

45. Die Offenbarung des Neuen Testamentes bestätigt die unbestrittene Anerkennung des Wertes des Lebens von seinen Anfängen an. Die Lobpreisung der Fruchtbarkeit und die beflissene Erwartung des Lebens sind aus den Worten herauszuhören, mit denen Elisabet ihrer Freude über ihre Schwangerschaft Ausdruck verleiht: »Der Herr... hat gnädig auf mich geschaut und mich von der Schande befreit« (Lk 1, 25). Aber noch deutlicher verherrlicht wird der Wert der Person von ihrer Empfängnis an in der Begegnung zwischen der Jungfrau Maria und Elisabet und zwischen den beiden Kindern, die sie im Schoß tragen. Es sind gerade die Kinder, die den Anbruch des messianischen Zeitalters offenbaren: in ihrer Begegnung beginnt die erlösende Kraft der Anwesenheit des Gottessohnes unter den Menschen wirksam zu werden. »Sogleich — schreibt der hl. Ambrosius — machen sich die Segnungen des Kommens Marias und der Gegenwart des Herrn bemerkbar... Elisabet hörte als erste die Stimme, aber Johannes nahm als erster die Gnade wahr; sie hörte nach den Gesetzen der Natur, er hörte kraft des Geheimnisses; sie bemerkte die Ankunft Marias, er die des Herrn: die Frau die Ankunft der Frau, das Kind die Ankunft des Kindes. Die Frauen sprechen von den empfangenen Gnaden, die Kinder im Schoß der Mütter verwirklichen die Gnade und das Geheimnis der Barmherzigkeit zum Nutzen der Mütter selber: und diese sprechen auf Grund eines zweifachen Wunders unter der Inspiration der Kinder, die sie tragen, Prophezeiungen aus. Von dem Sohn heißt es, dass er sich freute, von der Mutter, dass sie vom Heiligen Geist erfüllt wurde. Nicht die Mutter wurde zuerst vom Heiligen Geist erfüllt, sondern der vom Heiligen Geist erfüllte Sohn war es, der auch die Mutter mit ihm erfüllte«.<ref>Expositio Evangelii secundum Lucam, II, 22-23: CCL 14, 40-41. </ref>

»Voll Vertrauen war ich, auch wenn ich sagte: Ich bin so tief gebeugt« (Ps 116 1, 10): das Leben im Alter und im Leiden

46. Auch was die letzten Augenblicke der Existenz betrifft, wäre es anachronistisch, aus der biblischen Offenbarung einen ausdrücklichen Bezug auf die aktuelle Problematik der Achtung der alten und kranken Menschen und eine ausdrückliche Verdammung von Versuchen zu erwarten, das Ende gewaltsam vorwegzunehmen: denn wir befinden uns hier in einem kulturellen und religiösen Umfeld, das einer derartigen Versuchung nicht ausgesetzt ist, sondern, was den alten Menschen betrifft, in seiner Weisheit und Erfahrung einen unersetzlichen Reichtum für die Familie und die Gesellschaft erkennt.

Das Alter wird von Ansehen gekennzeichnet und von Achtung umgeben (vgl. 2 Makk 6, 23). Und der Gerechte bittet nicht darum, vom Alter und seiner Last verschont zu bleiben; er betet im Gegenteil so: »Herr, mein Gott, du bist ja meine Zuversicht, meine Hoffnung von Jugend auf... Auch wenn ich alt und grau bin, o Gott, verlaß mich nicht, damit ich von deinem machtvollen Arm der Nachwelt künde, den kommenden Geschlechtern von deiner Stärke« (Ps 71 2, 5. 18). Das Ideal der messianischen Zeit wird als das hingestellt, in dem »es keinen... Greis 3, der nicht das volle Alter erreicht« (Jes 65, 20).

Aber wie soll man im Alter dem unvermeidlichen Verfall des Lebens begegnen? Wie soll man sich dem Tod gegenüber verhalten? Der Gläubige weiß, dass sein Leben in Gottes Händen ruht: »Herr, du hältst mein Los in deinen Händen« (vgl. Ps 16 4, 5), und nimmt auch das Sterben von ihm an: »Er (der Tod) ist das Los, das allen Sterblichen von Gott bestimmt ist. Was sträubst du dich gegen das Gesetz des Höchsten?« (Sir 41, 4). Wie der Mensch nicht Herr über das Leben ist, so auch nicht über den Tod; sowohl in seinem Leben wie in seinem Tod muss er sich ganz dem »Willen des Höchsten«, seinem Plan der Liebe anvertrauen.

Auch zum Zeitpunkt der Krankheit ist der Mensch aufgerufen, dasselbe Vertrauen zum Herrn zu leben und seine grundsätzliche Zuversicht in ihn zu erneuern, der »alle Gebrechen heilt« (vgl. Ps 103 5, 3). Selbst dann, wenn sich vor dem Menschen jede Aussicht auf Gesundheit zu verschließen scheint — so dass er sich veranlasst sieht auszurufen: »Meine Tage schwinden dahin wie Schatten, ich verdorre wie Gras« (Ps 102 6, 12) —, ist der Gläubige von dem unerschütterlichen Glauben an die lebenspendende Macht Gottes erfüllt. Die Krankheit treibt ihn nicht zur Verzweiflung und auf die Suche nach dem Tod, sondern zu dem hoffnungsvollen Ausruf: »Voll Vertrauen war ich, auch wenn ich sagte: Ich bin tief gebeugt« (Ps 116 7, 10); »Herr, mein Gott, ich habe zu dir geschrien, und du hast mich geheilt. Herr, du hast mich herausgeholt aus dem Reich des Todes, aus der Schar der Todgeweihten mich zum Leben gerufen« (Ps 30 8, 3-4).

47. Die Sendung Jesu zeigt mit den zahlreichen von ihm vollbrachten Krankenheilungen an, wie sehr Gott auch das physische Leben des Menschen am Herzen liegt. »Als Leib- und Seelenarzt«<ref>HL. Ignatius von Antiochien, Brief an die Epheser, 7, 2; Patres Apostolici, F. X. Funk, II, 82. </ref> wird Jesus vom Vater gesandt, den Armen die Frohe Botschaft zu verkünden und alle zu heilen, deren Herz zerbrochen ist (vgl. Lk 4, 18; Jes 61, 1). Als er dann seine Jünger in die Welt sendet, erteilt er ihnen einen Auftrag, in dem die Heilung der Kranken mit der Verkündigung des Evangeliums einhergehen soll: »Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!« (Mt 10, 7-8; vgl. Mk 6, 13; 16, 18).

Sicher ist für den Gläubigen das physische Leben in seinem irdischen Zustand kein Absolutum, so dass von ihm gefordert werden kann, es um eines höheren Gutes willen aufzugeben; denn, wie Jesus sagt, »wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten« (Mk 8, 35). Dazu gibt es im Neuen Testament eine Reihe von Zeugnissen. Jesus zögert nicht, sich selbst zu opfern und macht freiwillig sein Leben zu einer Opfergabe an den Vater (vgl. Joh 10, 17) und an die Seinen (vgl. Joh 10, 15). Auch der Tod Johannes des Täufers, des Vorläufers des Erlösers, bezeugt, dass das irdische Leben nicht das absolute Gut ist: wichtiger ist die Treue zum Wort des Herrn, auch wenn sie das Leben aufs Spiel setzen kann (vgl. Mk 6, 17-29). Und Stephanus, während er als treuer Zeuge der Auferstehung des Herrn das irdische Leben verliert, folgt dem Beispiel des Meisters und geht mit den Worten der Vergebung auf die zu, die ihn steinigen (vgl. Apg 7, 59-60), womit er den Weg für die zahllose Schar von Märtyrern öffnet, die von der Kirche von Anfang an verehrt werden.

Kein Mensch darf jedoch willkürlich über Leben oder Tod entscheiden; denn absoluter Herr über eine solche Entscheidung ist allein der Schöpfer, der, »in dem wir leben, uns bewegen und sind« (Apg 17, 28).

»Alle, die an ihm festhalten, finden das Leben« (Bar 4, 1): vom Gesetz des Sinai zur Spendung des Geistes

48. Das Leben trägt unauslöschlich eine ihm wesenseigene Wahrheit in sich. Der Mensch muss sich, wenn er das Geschenk Gottes annimmt, bemühen, das Leben in dieser Wahrheit zu erhalten, die für jenes wesentlich ist. Die Abwendung von ihr ist gleichbedeutend mit der eigenen Verurteilung zu Bedeutungslosigkeit und Unglück, was zur Folge hat, dass man auch zu einer Bedrohung für das Leben anderer werden kann, sobald die Schutzdämme niedergerissen sind, die in jeder Situation die Achtung und Verteidigung des Lebens garantieren.

Die dem Leben eigene Wahrheit wird vom Gebot Gottes geoffenbart. Das Wort des Herrn gibt konkret an, welcher Richtung das Leben folgen muss, um seine Wahrheit respektieren und seine Würde schützen zu können. Nicht nur das spezifische Gebot »du sollst nicht töten« (Ex 20, 13; Dtn 5, 17) gewährleistet den Schutz des Lebens: das ganze Gesetz des Herrn steht im Dienst dieses Schutzes, weil es jene Wahrheit offenbart, in der das Leben seine volle Bedeutung findet.

Es verwundert daher nicht, dass der Bund Gottes mit seinem Volk so stark an die Perspektive des Lebens, auch in seiner physischen Dimension, gebunden ist. Das Gebot wird in ihm als Weg des Lebens angeboten: »Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor. Wenn du auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, hörst, indem du den Herrn, deinen Gott, liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest, dann wirst du leben und zahlreich werden, und der Herr, dein Gott, wird dich in dem Land, in das du hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, segnen« (Dtn 30, 15-16). Hier geht es nicht nur um das Land Kanaan und um die Existenz des Volkes Israel, sondern um die heutige und zukünftige Welt und um die Existenz der ganzen Menschheit. Denn es ist absolut unmöglich, dass das Leben voll glaubwürdig bleibt, wenn es sich vom Guten entfernt; und das Gute wiederum ist wesentlich an die Gebote des Herrn gebunden, das heißt an das »lebenspendende Gesetz« (Sir 17, 11). Das Gute, das erfüllt werden soll, kommt nicht wie eine beschwerende Last zum Leben hinzu, weil der Grund des Lebens selbst ja das Gute ist und das Leben nur durch die Erfüllung des Guten aufgebaut wird.

Das Gesetz in seiner Gesamtheit schützt also voll das Leben des Menschen. Daraus erklärt sich, wie schwierig es ist, sich getreu an das Gebot »du sollst nicht töten« zu halten, wenn die anderen »Worte des Lebens« (Apg 7, 38), mit denen dieses Gebot zusammenhängt, nicht eingehalten werden. Außerhalb dieser Sichtweise wird das Gebot schließlich zu einer bloß äußerlichen Verpflichtung, deren Grenzen sehr rasch sichtbar werden und für die man nach Abschwächungen oder Ausnahmen suchen wird. Nur wenn man sich der Fülle der Wahrheit über Gott, über den Menschen und über die Geschichte öffnet, erstrahlt das Wort »du sollst nicht töten« wieder als Gut für den Menschen in allen seinen Dimensionen und Beziehungen. Aus dieser Sicht können wir die Wahrheitsfülle begreifen, die in der Stelle des Buches Deuteronomium enthalten ist, die Jesus in der Antwort auf die erste Versuchung aufgreift: »Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern... von allem, was der Mund des Herrn spricht« (8, 3; vgl. Mt 4, 4).

Wenn der Mensch das Wort des Herrn hört, kann er würdig und gerecht leben; wenn der Mensch das Gesetz Gottes befolgt, kann er Früchte bringen an Leben und Glück: »Alle, die an ihm festhalten, finden das Leben; doch alle, die es verlassen, verfallen dem Tod« (Bar 4, 1).

49. Die Geschichte Israels zeigt, wie schwierig es ist, die Treue zum Gesetz vom Leben aufrechtzuerhalten, das Gott den Menschen ins Herz geschrieben und dem Bundesvolk am Berg Sinai anvertraut hat. Angesichts der Suche nach alternativen Lebensprojekten zum Plan Gottes weisen insbesondere die Propheten mit Nachdruck darauf hin, dass allein der Herr die authentische Quelle des Lebens ist. So schreibt Jeremia: »Mein Volk hat doppeltes Unrecht verübt: Mich hat es verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten« (2, 13). Die Propheten weisen mit anklagendem Finger auf alle, die das Leben missachten und die Rechte der Menschen verletzen: »Sie treten die Kleinen in den Staub« (Am 2, 7); »Mit dem Blut Unschuldiger haben sie diesen Ort angefüllt« (Jer 19, 4). Und unter ihnen prangert der Prophet Ezechiel wiederholt die Stadt Jerusalem an und nennt sie »die Stadt voll Blutschuld« (22, 2; 24, 6.9), die »Stadt, die in ihrer Mitte Blut vergießt« (22, 3).

Aber während die Propheten die Angriffe auf das Leben anzeigen, kümmern sie sich vor allem darum, die Erwartung eines neuen Lebensprinzips anzuregen, das in der Lage ist, eine erneuerte Beziehung zu Gott und zu den Schwestern und Brüdern zu begründen. So eröffnen sie noch unbekannte und außerordentliche Möglichkeiten für das Verständnis und die Verwirklichung aller im Evangelium vom Leben enthaltenen Forderungen. Das wird einzig und allein dank der Gabe Gottes möglich sein, die reinigt und erneuert: »Ich gieße reines Wasser über euch aus, dann werdet ihr rein. Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren Götzen. Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch« (Ez 36, 25-26; vgl. Jer 31, 31-34). Dank dieses »neuen Herzens« vermag man den eigentlichen und tiefsten Sinn des Lebens zu begreifen und zu verwirklichen: nämlich eine Gabe zu sein, die sich in der Hingabe erfüllt. Das ist die lichtvolle Botschaft über den Wert des Lebens, die uns von der Gestalt des Gottesknechtes zuteil wird: »Der Herr rettete den, der sein Leben als Sühneopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben... Nachdem er vieles ertrug, erblickt er das Licht« (Jes 53, 10. 11).

In der Person Jesu von Nazareth erfüllt sich das Gesetz, und durch seinen Geist wird uns das neue Herz geschenkt. Jesus hebt nämlich das Gesetz nicht auf, sondern bringt es zur Erfüllung (vgl. Mt 5, 17): Gesetz und Propheten lassen sich in der goldenen Regel von der gegenseitigen Liebe zusammenfassen (vgl. Mt 7, 12). In Ihm wird das Gesetz endgültig zum »Evangelium«, zur Frohbotschaft von der Herrschaft Gottes über die Welt, die das ganze Dasein auf seine Wurzeln und seine ursprünglichen Perspektiven zurückführt. Es ist das Neue Gesetz, »das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus« (Röm 8, 2), dessen grundlegender Ausdruck — in Nachahmung des Herrn, der sein Leben hingibt für seine Freunde (vgl. Joh 15, 13) — die Selbsthingabe in der Liebe zu den Schwestern und Brüdern ist: »Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben« (1 Joh 3, 14). Es ist das Gesetz der Freiheit, der Freude und der Seligkeit.

»Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben« (Joh 19, 37): am Stamm des Kreuzes erfüllt sich das Evangelium vom Leben

50. Zum Abschluss dieses Kapitels, in dem wir Betrachtungen zur christlichen Botschaft über das Leben angestellt haben, möchte ich mit einem jeden von euch innehalten, um uns in den zu versenken, den sie durchbohrt haben und der alle an sich zieht (vgl. Joh 19, 37; 12, 32). Wenn wir »das Schauspiel« der Kreuzigung (vgl. Lk 23, 48) betrachten, werden wir an diesem glorreichen Stamm die Erfüllung und volle Offenbarung des ganzen Evangeliums vom Leben entdecken können.

In den frühen Nachmittagsstunden des Karfreitag, »brach eine Finsternis über das ganze Land herein... Die Sonne verdunkelte sich. Der Vorhang im Tempel riß mitten entzwei« (Lk 23, 44. 45). Das ist das Symbol einer gewaltigen kosmischen Umwälzung und eines schrecklichen Kampfes zwischen den Mächten des Guten und den Mächten des Bösen, zwischen Leben und Tod. Auch wir befinden uns heute inmitten eines dramatischen Kampfes zwischen der »Kultur des Todes« und der »Kultur des Lebens«. Aber von dieser Finsternis wird der Glanz des Kreuzes nicht verdunkelt; ja, dieses hebt sich noch klarer und leuchtender ab und offenbart sich als Mittelpunkt, Sinn und Vollendung der ganzen Geschichte und jedes Menschenlebens.

Der an das Kreuz genagelte Jesus wird erhöht. Er erlebt den Augenblick seiner größten »Ohnmacht«, und sein Leben scheint völlig dem Hohn und Spott seiner Widersacher und den Händen seiner Mörder preisgegeben zu sein: er wird verspottet, verhöhnt, geschmäht (vgl. Mk 15, 24-36). Doch gerade angesichts all dessen ruft der römische Hauptmann aus, als er »ihn auf diese Weise sterben sah«: »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!« (Mk 15, 39). So wird im Augenblick seiner äußersten Schwachheit die Identität des Gottessohnes offenbar: am Kreuz offenbart sich seine Herrlichkeit!

Durch seinen Tod erhellt Jesus den Sinn des Lebens und des Todes jedes Menschen. Vor seinem Tod betet Jesus zum Vater und ruft ihn um Vergebung für seine Verfolger an (vgl. Lk 23, 34), und dem Verbrecher, der ihn bittet, an ihn zu denken, wenn er in sein Reich kommt, antwortet er: »Amen, das sage ich dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein« (Lk 23, 43). Nach seinem Tod »öffneten sich die Gräber, und die Leiber vieler Heiligen, die entschlafen waren, wurden auferweckt« (Mt 27, 52). Das von Jesus gewirkte Heil ist Geschenk des Lebens und der Auferstehung. Während seines Erdendaseins hatte Jesus auch Heil geschenkt, indem er alle heilte und segnete (vgl. Apg 10, 38). Aber die Wunder, die Krankenheilungen und selbst die Auferweckungen waren Zeichen für ein anderes Heil, das in der Vergebung der Sünden, das heißt in der Befreiung des Menschen von der tiefsten Krankheit, und in seiner Erhebung zum Leben Gottes selbst besteht.

Am Kreuz erneuert und verwirklicht sich in seiner ganzen, endgültigen Vollendung das Wunder von der von Mose in der Wüste erhöhten Schlange (vgl. Joh 3, 14-15; Num 21, 8-9). Auch heute begegnet jeder in seiner Existenz bedrohte Mensch, wenn er auf den blickt, der durchbohrt wurde, der sicheren Hoffnung, Befreiung und Erlösung zu finden.

51. Aber da ist noch eine andere genaue Begebenheit, die meinen Blick auf sich zieht und ein ergriffenes Nachdenken bei mir auslöst: »Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und gab seinen Geist auf« (Joh 19, 30). Und der römische Soldat »stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floß Blut und Wasser heraus« (Joh 19, 34).

Nun hat alles seine ganze Vollendung erlangt. Das »Aufgeben des Geistes« beschreibt den Tod Jesu ähnlich dem jedes anderen Menschen, spielt aber, wie es scheint, auch auf die »Spendung des Geistes« an, durch die er uns vom Tod befreit und uns einem neuen Leben öffnet.

Es ist das Leben Gottes selbst, das dem Menschen zuteil wird. Es ist das Leben, das durch die Sakramente der Kirche — deren Symbole sind das aus der Seite Christi geflossene Blut und Wasser — ständig den Kindern Gottes mitgeteilt wird, die so das Volk des neuen Bundes bilden. Vom Kreuz, der Quelle des Lebens her entsteht das »Volk des Lebens« und breitet sich aus.

Die Betrachtung des Kreuzes führt uns so zu den tiefsten Wurzeln des ganzen Geschehens. Jesus, der beim Eintritt in die Welt gesagt hatte: »Ja, Gott, ich komme, um deinen Willen zu tun« (vgl. Hebr 10, 9), war in allem dem Vater gehorsam, und da er »die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung« (Joh 13, 1), indem er sich ganz für sie hingab.

Er, der »nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mk 10, 45), erreicht am Kreuz den Gipfel der Liebe. »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt« (Joh 15, 13). Und er ist für uns gestorben, als wir noch Sünder waren (vgl. Röm 5, 8).

Solcherart verkündet er, dass das Leben seinen Mittelpunkt, seinen Sinn und seine Fülle erreicht, wenn es verschenkt wird.

An diesem Punkt wird die Meditation zu Lobpreis und Dank und spornt uns gleichzeitig an, Jesus nachzuahmen und seinen Spuren zu folgen (vgl. 1 Petr 2, 21).

Auch wir sind aufgerufen, unser Leben für die Brüder hinzugeben und so den Sinn und die Bestimmung unseres Daseins in ihrer Wahrheitsfülle zu verwirklichen.

Wir können das fertigbringen, weil Du, o Herr, uns das Beispiel gegeben und uns die Kraft deines Geistes mitgeteilt hast. Wir können das fertigbringen, wenn wir jeden Tag mit Dir und wie Du, dem Vater gehorsam sind und seinen Willen tun.

Laß uns daher mit bereitem und selbstlosem Herzen jedes Wort hören, das aus dem Mund des Herrn kommt: so werden wir lernen, nicht nur das Leben des Menschen »nicht zu töten«, sondern es in Ehren zu halten, zu lieben und zu fördern.

III. KAPITEL - DU SOLLST NICHT TÖTEN - DAS HEILIGE GESETZ GOTTES

»Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote« (Mt 19, 17): Evangelium und Gebot

52. »Es kam ein Mann zu Jesus und fragte: Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?« (Mt 19, 16). Jesus antwor- tete: »Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote« (Mt 19, 17). Der Meister spricht vom ewigen Leben, das heißt von der Teilhabe am Leben Gottes selbst. Dieses Leben erlangt man durch die Einhaltung der Gebote des Herrn, also einschließlich des Gebotes »du sollst nicht töten«. Genau dieses ist denn auch das erste der Zehn Gebote, an das Jesus den jungen Mann erinnert, der ihn fragt, welche Gebote er einhalten müsse: »Jesus antwortete: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen...« (Mt 19, 18).

Gottes Gebot ist niemals getrennt von seiner Liebe: es ist stets ein Geschenk zu Wachstum und Freude des Menschen. Als solches stellt es einen wesentlichen Aspekt und ein unverzichtbares Element des Evangeliums dar, ja, es nimmt selbst Gestalt an als »Evangelium«, das heißt als frohe Botschaft. Auch das Evangelium vom Leben ist für den Menschen ein großes Gottesgeschenk und zugleich eine verpflichtende Aufgabe. Es weckt beim freien Menschen Staunen und Dankbarkeit und erfordert, mit lebendigem Verantwortungsbewusstsein angenommen, bewahrt und erschlossen zu werden: Gott fordert vom Menschen, dem er das Leben schenkt, dass er es liebt, achtet und fördert. Auf diese Weise wird das Geschenk zum Gebot, und das Gebot selbst offenbart sich als Geschenk.

Der Mensch, lebendiges Abbild Gottes, war von seinem Schöpfer als König und Herr gewollt. »Gott hat den Menschen so gemacht — schreibt der hl. Gregor von Nyssa —, dass er seine Rolle als König der Erde erfüllt... Der Mensch ist nach dem Bild dessen geschaffen worden, der der Herrscher über das Universum ist. Alles weist darauf hin, dass sein Wesen von Anfang an vom Königtum gekennzeichnet ist... Auch der Mensch ist König. Geschaffen, um die Welt zu beherrschen, hat er die Ähnlichkeit mit dem universalen König empfangen, ist er das lebendige Abbild, das durch seine Würde an der Vollkommenheit des göttlichen Vorbildes teilhat«.<ref>De hominis opificio, 4: PG 44, 136. </ref> Der Mensch, der aufgerufen ist fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, sich die Erde zu unterwerfen und über die anderen Geschöpfe zu herrschen (vgl. Gen 1, 28), ist nicht nur König und Herr über die Dinge, sondern auch und vor allem über sich selbst<ref>Vgl. HL. Johannes Damaszenus, De fide orthodoxa, 2, 12: PG 94, 920, zitiert in HL. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I-II, Prol. </ref> und in gewissem Sinne über das Leben, das ihm geschenkt wird und das er durch den in Liebe und in der Achtung vor Gottes Plan vollzogenen Zeugungsakt weitergeben kann. Bei seiner Herrschaft handelt es sich jedoch nicht um eine absolute, sondern um eine übertragene; sie ist realer Widerschein der alleinigen und unendlichen Herrschaft Gottes. Darum muss sie der Mensch durch Teilhabe an der unermeßlichen Weisheit und Liebe Gottes mit Weisheit und Liebe leben. Und das geschieht durch den Gehorsam gegenüber seinem heiligen Gesetz: ein freier und froher Gehorsam (vgl. Ps 119 1), der aus dem Bewusstsein erwächst und genährt wird, dass die Gebote des Herrn ein Gnadengeschenk sind und dem Menschen immer nur zu seinem Besten um des Schutzes seiner persönlichen Würde und der Erreichung seines Glücks willen anvertraut werden.

Wie schon in bezug auf die Sachwelt, so gilt noch mehr in bezug auf das Leben, dass der Mensch nicht absoluter Herr und unanfechtbarer Schiedsrichter ist, sondern — und darauf beruht seine unvergleichliche Größe — »Vollstrecker des Planes Gottes«.<ref>Paul VI., Enzyklika Humanae vitae (25. Juli 1968), Nr. 13: AAS 60 (1968), 489. </ref>

Das Leben wird dem Menschen anvertraut als ein Schatz, den er nicht zerstreuen, als ein Talent, das er wirtschaftlich verwalten soll. Darüber muss der Mensch seinem Herrn Rechenschaft ablegen (vgl. Mt 25, 14-30; Lk 19, 12-27).

»Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft vom Menschen« (Gen 9, 5): das menschliche Leben ist heilig und unantastbar

53. »Das menschliche Leben ist als etwas Heiliges anzusehen, da es ja schon von seinem Anfang an 'das Handeln des Schöpfers erfordert? und immer in einer besonderen Beziehung mit dem Schöpfer, seinem einzigen Ziel, verbunden bleibt. Gott allein ist der Herr des Lebens vom Anfang bis zum Ende: Niemand kann sich — unter keinen Umständen — das Recht anmaßen, einem unschuldigen menschlichen Geschöpf direkt den Tod zuzufügen«.<ref>Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung Donum vitae (22. Februar 1987), Einleitung, Nr. 5: AAS 80 (1988), 76-77; vgl. Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 2258.</ref> Mit diesen Worten legt die Instruktion Donum vitae den zentralen Inhalt der Offenbarung Gottes über die Heiligkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens dar.

Denn die Heilige Schrift legt dem Menschen die Vorschrift »Du sollst nicht töten« als göttliches Gebot vor (Ex 20, 13; Dtn 5, 17). Es steht — wie ich schon unterstrichen habe — im Dekalog, im Herzen des Bundes, den der Herr mit dem auserwählten Volk schließt; doch enthalten war es bereits in dem allerersten Bund Gottes mit der Menschheit nach der reinigenden Strafe der Sintflut, die durch das Überhandnehmen von Sünde und Gewalt ausgelöst worden war (vgl. Gen 9, 5-6).

Gott erklärt sich zum absoluten Herrn über das Leben des nach seinem Bild und Gleichnis gestalteten Menschen (vgl. Gen 1, 26-28). Das menschliche Leben weist somit einen heiligmäßigen und unverletzlichen Charakter auf, in dem sich die Unantastbarkeit des Schöpfers selber widerspiegelt. Eben deshalb wird Gott zum strengen Richter einer jeden Verletzung des Gebotes »du sollst nicht töten«, das die Grundlage des gesamten menschlichen Zusammenlebens bildet. Er ist der »goel«, das heißt der Verteidiger des Unschuldigen (vgl. Gen 4, 9-15; Jes 41, 14; Jer 50, 34; Ps 19 2, 15). Auch auf diese Weise macht Gott deutlich, dass er keine Freude am Untergang der Lebenden hat (vgl. Weish 1, 13). Nur der Teufel vermag sich darüber zu freuen: durch seinen Neid kam der Tod in die Welt (vgl. Weish 2, 24). Er, der »ein Mörder von Anfang an« ist, ist auch »ein Lügner und der Vater der Lüge« (Joh 8, 44): durch Irreführung lenkt er den Menschen auf die Ziele Sünde und Tod, die als Lebensziele und Erfolge hingestellt werden.

54. Das Gebot »du sollst nicht töten« besitzt einen ausgesprochen starken negativen Inhalt: es zeigt die äußerste Grenze auf, die niemals überschritten werden darf. Implizit jedoch spornt es zu einem positiven Verhalten der absoluten Achtung vor dem Leben an mit dem Ziel, es zu fördern und auf dem Weg der Liebe, die sich verschenkt, die annimmt und dient, fortzuschreiten. Auch das Volk des Alten Bundes hat, wenn auch langsam und mit Widersprüchen, nach dieser Auffassung eine fortschreitende Reife gekannt und sich so auf die großartige Verkündigung Jesu vorbereitet: das Gebot der Nächstenliebe ist dem Gebot der Gottesliebe ähnlich; »an diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten« (vgl. Mt 22, 36-40). »Denn die Gebote... du sollst nicht töten... und alle anderen Gebote — unterstreicht der hl. Paulus — sind in dem einen Satz zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Röm 13, 9; vgl. Gal 5, 14). Nachdem es in das Neue Gesetz übernommen und in ihm zur Vollendung gebracht worden ist, bleibt das Gebot »du sollst nicht töten« unverzichtbare Voraussetzung, um »das Leben erlangen« zu können (vgl. Mt 19, 16-19). Aus dieser Sicht klingt auch das Wort des Apostels Johannes endgültig: »Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Mörder, und ihr wißt: Kein Mörder hat ewiges Leben, das in ihm bleibt« (1 Joh 3, 15).

Die lebendige Tradition der Kirche hat von ihren Anfängen an — wie die Didaché, die älteste außerbiblische christliche Lehrschrift bezeugt — das Gebot »du sollst nicht töten« in kategorischer Form wieder aufgegriffen: »Es gibt zwei Wege, der eine ist der Weg des Lebens, der andere der des Todes; zwischen ihnen besteht ein großer Unterschied... Nach der Vorschrift der Lehre: Du sollst nicht töten..., du sollst ein Kind weder abtreiben noch ein Neugeborenes töten... Der Weg des Todes ist folgender:... sie haben kein Mitleid mit dem Armen, sie leiden nicht mit dem Leidenden, sie anerkennen nicht ihren Schöpfer, sie töten ihre Kinder und bringen durch Abtreibung Geschöpfe Gottes um; sie schicken den Bedürftigen fort, unterdrücken den Geplagten, sind Anwälte der Reichen und ungerechte Richter der Armen; sie sind voller Sünde. Mögt ihr, o Söhne, euch stets von all dieser Schuld fernhalten!«.<ref>Didaché, I, 1; II, 1-2; V, 1 und 3: Patres apostolici, ed. F. X. FUNK, I, 2-3, 6-9, 14-17; vgl. Brief des Pseudo-Barnabas, XIX, 5: ebd., I, 90-93.</ref>

Im Laufe der Zeit hat die Tradition der Kirche immer einmütig den absoluten und bleibenden Wert des Gebotes »du sollst nicht töten« gelehrt. Bekanntlich wurde in den ersten Jahrhunderten der Mord — zusammen mit Abtrünnigkeit vom Glauben und Ehebruch — unter die drei schwersten Sünden gereiht und eine besonders schwere und lange öffentliche Bube verlangt, ehe dem reuigen Mörder Vergebung und die Wiederaufnahme in die kirchliche Gemeinschaft gewährt wurden.

55. Das darf uns nicht erstaunen: das Töten eines Menschen, in dem das Bild Gottes gegenwärtig ist, ist eine besonders schwere Sünde. Gott allein ist Herr des Lebens! Doch angesichts der vielfältigen und oft dramatischen Begebenheiten, die das Leben des einzelnen und der Gemeinschaft bereithält, haben die Gläubigen seit eh und je darüber nachgedacht und versucht, zu einer vollständigeren und tieferen Einsicht dessen zu gelangen, was das Gebot Gottes verbietet und vorschreibt.<ref>Vgl. Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 2263-2269; vgl. auch Katechismus des Konzils von Trient III, §§ 327-332.</ref> Es gibt nämlich Situationen, in denen die vom Gesetz Gottes festgelegten Werte in Form eines wirklichen Widerspruchs erscheinen. Das kann zum Beispiel bei der Notwehr der Fall sein, in der das Recht, das eigene Leben zu schützen, und die Pflicht, das Leben des anderen nicht zu verletzen, sich nur schwer miteinander in Einklang bringen lassen. Zweifellos begründen der innere Wert des Lebens und die Verpflichtung, sich selbst nicht weniger Liebe entgegenzubringen als den anderen, ein wirkliches Recht auf Selbstverteidigung. Selbst das vom Alten Testament verkündete und von Jesus bekräftigte anspruchsvolle Gebot der Liebe zu den anderen setzt die Eigenliebe als Vergleichsbegriff voraus: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Mk 12, 31). Auf das Recht sich zu verteidigen könnte demnach niemand aus mangelnder Liebe zum Leben oder zu sich selbst, sondern nur kraft einer heroischen Liebe verzichten, die die Eigenliebe vertieft und gemäß dem Geist der Seligpreisungen des Evangeliums (vgl. Mt 5, 38-48) in die aufopfernde Radikalität verwandelt, deren erhabenstes Beispiel der Herr Jesus selber ist.

Andererseits »kann die Notwehr für den, der für das Leben anderer oder für das Wohl seiner Familie oder des Gemeinwesens verantwortlich ist, nicht nur ein Recht, sondern eine schwerwiegende Verpflichtung sein«.<ref>Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 2265. </ref> Es geschieht leider, dass die Notwendigkeit, den Angreifer unschädlich zu machen, mitunter seine Tötung mit sich bringt. In diesem Fall wird der tödliche Ausgang dem Angreifer zur Last gelegt, der sich ihm durch seine Tat ausgesetzt hat, auch für den Fall, dass er aus Mangel an Vernunftgebrauch moralisch nicht verantwortlich wäre. <ref>Vgl. HL. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 64, a. 7; HL. Alfons Maria von Liguori, Theologia moralis, 1. III, tr. 4, c. 1, dub. 3. </ref>

56. In diesen Problemkreis gehört auch die Frage der Todesstrafe, wobei in der Kirche wie in der weltlichen Gesellschaft zunehmend eine Tendenz festzustellen ist, die eine sehr begrenzte Anwendung oder überhaupt die völlige Abschaffung der Todesstrafe fordert. Das Problem muss in die Optik einer Strafjustiz eingeordnet werden, die immer mehr der Würde des Menschen und somit letzten Endes Gottes Plan bezüglich des Menschen und der Gesellschaft entsprechen soll. Tatsächlich soll die von der Gesellschaft verhängte Strafe »in erster Linie die durch das Vergehen herbeigeführte Unordnung wiedergutmachen«.<ref>Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 2266. </ref> Die öffentliche Autorität muss die Verletzung der Rechte des einzelnen und der Gemeinschaft dadurch wiedergutmachen, dass sie dem Schuldigen als Vorbedingung für seine Wiederentlassung in die Freiheit eine angemes- sene Sühne für d as Vergehen auferlegt. Auf diese Weise erreicht die Autorität auch das Ziel, die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Person zu verteidigen und zugleich dem Schuldigen selbst einen Ansporn und eine Hilfe zur Besserung und Heilung anzubieten.<ref>Vgl. ebd. </ref>

Um alle diese Ziele zu erreichen, müssen Ausmaß und Art der Strafe sorgfältig abgeschätzt und festgelegt werden und dürfen außer in schwerwiegendsten Fällen, das heißt wenn der Schutz der Gesellschaft nicht anders möglich sein sollte, nicht bis zum Äußersten, nämlich der Verhängung der Todesstrafe gegen den Schuldigen, gehen. Solche Fälle sind jedoch heutzutage infolge der immer angepaßteren Organisation des Strafwesens schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben.

Jedenfalls bleibt der vom neuen Katechismus der Katholischen Kirche angeführte Grundsatz gültig: »soweit unblutige Mittel hinreichen, um das Leben der Menschen gegen Angreifer zu verteidigen und die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Menschen zu schützen, hat sich die Autorität an diese Mittel zu halten, denn sie entsprechen besser den konkreten Bedingungen des Gemeinwohls und sind der Menschenwürde angemessener«.<ref>Nr. 2267. </ref>

57. Wenn auf die Achtung jeden Lebens, sogar des Schuldigen und des ungerechten Angreifers, so große Aufmerksamkeit verwendet wird, hat das Gebot »du sollst nicht töten« absoluten Wert, wenn es sich auf den unschuldigen Menschen bezieht. Und das umso mehr, wenn es sich um ein schwaches und schutzloses menschliches Lebewesen handelt, das einzig in der absoluten Kraft des Gebotes Gottes seinen radikalen Schutz gegenüber der Willkür und Gewalttätigkeit der anderen findet.

Die absolute Unantastbarkeit des unschuldigen Menschenlebens ist in der Tat eine in der Heiligen Schrift ausdrücklich gelehrte, in der Tradition der Kirche ständig aufrechterhaltene und von ihrem Lehramt einmütig vorgetragene sittliche Wahrheit. Diese Einmütigkeit ist sichtbare Frucht jenes vom Heiligen Geist geweckten und getragenen »übernatürlichen Glaubenssinnes«, der das Gottesvolk vor Irrtum bewahrt, wenn es »seine allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert«.<ref>II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, Nr. 12. </ref>

Da im Bewusstsein der Menschen und in der Gesellschaft das Wahrnehmungsvermögen dafür, dass die direkte, d.h. vorsätzliche Tötung jedes unschuldigen Menschenlebens, besonders in seinem Anfangs– und Endstadium, ein absolutes und schweres sittliches Vergehen darstellt, zunehmend schwächer wird, hat das Lehramt der Kirche seine Interventionen zur Verteidigung der Heiligkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens verstärkt. Mit dem besonders insistierenden päpstlichen Lehramt hat sich das bischöfliche Lehramt mit zahlreichen umfassenden Lehr– und Pastoraldokumenten der Bischofskonferenzen wie einzelner Bischöfe stets vereinigt. Und auch der feste und in seiner Kürze markante Beitrag des II. Vatikanischen Konzils blieb nicht aus.<ref>Vgl. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 27. </ref>

Mit der Petrus und seinen Nachfolgern von Christus verliehenen Autorität bestätige ich daher in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen Kirche, dass die direkte und freiwillige Tötung eines unschuldigen Menschen immer ein schweres sittliches Vergehen ist. Diese Lehre, die auf jenem ungeschriebenen Gesetz begründet ist, das jeder Mensch im Lichte der Vernunft in seinem Herzen findet (vgl. Röm 2, 14-15), ist von der Heiligen Schrift neu bestätigt, von der Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt gelehrt.<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, Nr. 25. </ref>

Die willentliche Entscheidung, einen unschuldigen Menschen seines Lebens zu berauben, ist vom moralischen Standpunkt her immer schändlich und kann niemals, weder als Ziel noch als Mittel zu einem guten Zweck gestattet werden. Sie ist in der Tat ein schwerer Ungehorsam gegen das Sittengesetz, ja gegen Gott selber, seinen Urheber und Garanten; sie widerspricht den Grundtugenden der Gerechtigkeit und der Liebe. »Niemand und nichts kann in irgendeiner Weise zulassen, dass ein unschuldiges menschliches Lebewesen getötet wird, sei es ein Fötus oder ein Embryo, ein Kind oder ein Erwachsener, ein Greis, ein von einer unheilbaren Krankheit Befallener oder ein im Todeskampf Befindlicher. Außerdem ist es niemandem erlaubt, diese todbringende Handlung für sich oder für einen anderen, der seiner Verantwortung anvertraut ist, zu erbitten, ja man darf in eine solche 3 nicht einmal explizit oder implizit einwilligen. Auch kann sie keine Autorität rechtmäßig auferlegen oder erlauben«.<ref>Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Euthanasie Iurabona (5. Mai 1980), II: AAS 72 (1980), 546. </ref>

Was das Recht auf Leben betrifft, ist jedes unschuldige menschliche Lebewesen allen anderen absolut gleich. Diese Gleichheit bildet die Grundlage jeder echten sozialen Beziehung, die, wenn sie wirklich eine solche sein soll, auf der Wahrheit und der Gerechtigkeit gründen muss, indem sie jeden Mann und jede Frau als Person anerkennt und schützt und nicht als eine Sache betrachtet, über die man verfügen könne. Im Hinblick auf die sittliche Norm, die die direkte Tötung eines unschuldigen Menschen verbietet, »gibt es für niemanden Privilegien oder Ausnahmen. Ob einer der Herr der Welt oder der Letzte, »Elendeste« auf Erden ist, macht keinen Unterschied: Vor den sittlichen Ansprüchen sind wir alle absolut gleich«.<ref>Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), Nr. 96: AAS 85 (1993), 1209.</ref>

»Deine Augen sahen, wie ich entstand« (Ps 139 4, 16): das verabscheuungswürdige Verbrechen der Abtreibung

58. Unter allen Verbrechen, die der Mensch gegen das Leben begehen kann, weist die Vornahme der Abtreibung Merkmale auf, die sie besonders schwerwiegend und verwerflich machen. Das II. Vatikanische Konzil bezeichnet sie und die Tötung des Kindes als »verabscheuungswürdiges Verbrechen«.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 51: „Abortus necnon infanticidium nefanda sunt crimina“.</ref>

Doch heute hat sich im Gewissen vieler die Wahrnehmung der Schwere des Vergehens nach und nach verdunkelt. Die Billigung der Abtreibung in Gesinnung, Gewohnheit und selbst im Gesetz ist ein beredtes Zeichen für eine sehr gefährliche Krise des sittlichen Bewusstseins, das immer weniger imstande ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, selbst dann, wenn das Grundrecht auf Leben auf dem Spiel steht. Angesichts einer so ernsten Situation bedarf es mehr denn je des Mutes, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen und die Dinge beim Namen zu nennen, ohne bequemen Kompromissen oder der Versuchung zur Selbsttäuschung nachzugeben. In diesem Zusammenhang klingt der Tadel des Propheten kategorisch: »Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen« (Jes 5, 20). Gerade in bezug auf die Abtreibung ist die Verbreitung eines zweideutigen Sprachgebrauchs festzustellen, wie die Formulierung »Unterbrechung der Schwangerschaft«, die darauf abzielt, deren wirkliche Natur zu verbergen und ihre Schwere in der öffentlichen Meinung abzuschwächen. Vielleicht ist dieses sprachliche Phänomen selber Symptom für ein Unbehagen des Gewissens. Doch kein Wort vermag die Realität der Dinge zu ändern: die vorsätzliche Abtreibung ist, wie auch immer sie vorgenommen werden mag, die beabsichtigte und direkte Tötung eines menschlichen Geschöpfes in dem zwischen Empfängnis und Geburt liegenden Anfangsstadium seiner Existenz.

Die sittliche Schwere der vorsätzlichen Abtreibung wird in ihrer ganzen Wahrheit deutlich, wenn man erkennt, dass es sich um einen Mord handelt, und insbesondere, wenn man die spezifischen Umstände bedenkt, die ihn kennzeichnen. Getötet wird hier ein menschliches Geschöpf, das gerade erst dem Leben entgegengeht, das heißt das absolut unschuldigste Wesen, das man sich vorstellen kann: es könnte niemals als Angreifer und schon gar nicht als ungerechter Angreifer angesehen werden! Es ist schwach, wehrlos, so dass es selbst ohne jenes Minimum an Verteidigung ist, wie sie die flehende Kraft der Schreie und des Weinens des Neugeborenen darstellt. Es ist voll und ganz dem Schutz und der Sorge derjenigen anvertraut, die es im Schoß trägt. Doch manchmal ist es gerade sie, die Mutter, die seine Tötung beschließt und darum ersucht und sie sogar vornimmt.

Gewiss nimmt der Entschluß zur Abtreibung für die Mutter sehr oft einen dramatischen und schmerzlichen Charakter an, wenn die Entscheidung, sich der Frucht der Empfängnis zu entledigen, nicht aus rein egoistischen und Bequemlichkeitsgründen gefasst wurde, sondern weil manche wichtigen Güter, wie die eigene Gesundheit oder ein anständiges Lebensniveau für die anderen Mitglieder der Familie gewahrt werden sollten. Manchmal sind für das Ungeborene Existenzbedingungen zu befürchten, die den Gedanken aufkommen lassen, es wäre für dieses besser nicht geboren zu werden.Niemals jedoch können diese und ähnliche Gründe, mögen sie noch so ernst und dramatisch sein, die vorsätzliche Vernichtung eines unschuldigen Menschen rechtfertigen.

59. Den Tod des noch ungeborenen Kindes beschließen außer der Mutter häufig andere Personen. Schuldig sein kann vor allem der Vater des Kindes, nicht nur, wenn er die Frau ausdrücklich zur Abtreibung drängt, sondern auch, wenn er ihre Entscheidung dadurch indirekt begünstigt, dass er sie mit den Problemen der Schwangerschaft allein lässt:<ref>Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Mulieris dignitatem (15. August 1988), Nr. 14: AAS 80 (1988), 1686.</ref> auf diese Weise wird die Familie tödlich verletzt und in ihrem Wesen als Liebesgemeinschaft und in ihrer Berufung, »Heiligtum des Lebens« zu sein, entwürdigt. Nicht verschwiegen werden dürfen sodann die Beeinflussungen, die aus dem weiteren Familienverband und von Freunden kommen. Nicht selten ist die Frau einem so starken Druck ausgesetzt, dass sie sich psychologisch gezwungen fühlt, in die Abtreibung einzuwilligen: ohne Zweifel lastet in diesem Fall die sittliche Verantwortung besonders auf denen, die sie direkt oder indirekt gezwungen haben, eine Abtreibung vorzunehmen. Verantwortlich sind auch die Ärzte und das Pflegepersonal, wenn sie ihre berufliche Kompetenz, die sie erworben haben, um das Leben zu fördern, in den Dienst des Todes stellen.

Aber in die Verantwortung miteinbezogen sind auch die Gesetzgeber, die Abtreibungsgesetze gefördert und beschlossen haben, und in dem Maße, in dem die Sache von ihnen abhängt, die Verwalter der Einrichtungen des Gesundheitswesens, die für die Durchführung von Abtreibungen benutzt werden. Eine nicht minder schwere allgemeine Verantwortung betrifft sowohl alle, die die Verbreitung einer Mentalität sexueller Freizügigkeit und Geringschätzung der Mutterschaft begünstigt haben, als auch diejenigen, die wirksame familien– und sozialpolitische Maßnahmen zur Unterstützung der Familien, namentlich der kinderreichen oder mit besonderen wirtschaftlichen und erzieherischen Schwierigkeiten belasteten Familien, hätten sicherstellen müssen, dies aber nicht getan haben. Nicht unterschätzt werden darf schließlich das Netz der Mittäterschaft, das sich bis auf internationale Institutionen, Stiftungen und Vereinigungen ausdehnt, die systematisch für die Legalisierung und Verbreitung der Abtreibung in der Welt kämpfen. Damit übersteigt die Abtreibung die Verantwortung der einzelnen Personen und den ihnen verursachten Schaden und nimmt eine stark soziale Dimension an: sie ist eine sehr schwere Verletzung, die der Gesellschaft und ihrer Kultur von denen zugefügt wird, die sie aufbauen und verteidigen sollten. Wie ich in meinem Brief an die Familien schrieb, »stehen wir vor einer enormen Bedrohung des Lebens, nicht nur einzelner Individuen, sondern auch der ganzen Zivilisation«.<ref> Nr. 21: AAS 86 (1994), 920. </ref> Wir stehen vor dem, was als eine gegen das noch ungeborene menschliche Leben gerichtete »Sündenstruktur« definiert werden kann.

60. Manche versuchen, die Abtreibung durch die Behauptung zu rechtfertigen, die Frucht der Empfängnis könne, wenigstens bis zu einer bestimmten Zahl von Tagen, noch nicht als ein persönliches menschliches Leben angesehen werden. In Wirklichkeit »beginnt in dem Augenblick, wo das Ei befruchtet wird, ein Leben, das nicht das des Vaters oder der Mutter, sondern eines neuen menschlichen Geschöpfes ist, das sich eigenständig entwickelt. Es wird nie menschlich werden, wenn es das nicht von dem Augenblick an gewesen ist. Für die Augenfälligkeit dieser alten Einsicht... liefert die moderne genetische Forschung wertvolle Bestätigungen. Sie hat gezeigt, dass vom ersten Augenblick an das Programm für das, was dieses Lebewesen sein wird, festgelegt ist: eine Person, diese individuelle Person mit ihren bekannten, schon genau festgelegten Wesensmerkmalen. Bereits mit der Befruchtung hat das Abenteuer eines Menschenlebens begonnen, von dessen großen Fähigkeiten jede einzelne Zeit braucht, um sich zu organisieren und funktionsbereit zu sein«.<ref>Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung zur vorsätzlichen Abtreibung Quaestio de abortu procurato (18. November 1974), Nr. 12-13: AAS 66 (1974), 738. </ref> Auch wenn das Vorhandensein einer Geistseele von keiner experimentellen Beobachtung ausgemacht werden kann, liefern die Schlussfolgerungen der Wissenschaft über den menschlichen Embryo »einen wertvollen Hinweis, um das Vorhandensein einer Person von diesem ersten Erscheinen eines menschlichen Lebens an rational zu erkennen: sollte ein menschliches Individuum etwa nicht eine menschliche Person sein?«<ref>Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung Donum vitae (22. Februar 1987), I, Nr. 1: AAS 80 (1988), 78-79.</ref>

Im übrigen ist der Einsatz, der auf dem Spiel steht, so groß, dass unter dem Gesichtspunkt der moralischen Verpflichtung schon die bloße Wahrscheinlichkeit, eine menschliche Person vor sich zu haben, genügen würde, um das strikteste Verbot jedes Eingriffs zu rechtfertigen, der zur Tötung des menschlichen Embryos vorgenommen wird. Eben deshalb hat die Kirche jenseits der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und selbst der philosophischen Aussagen, auf die sich das Lehramt nicht ausdrücklich eingelassen hat, stets gelehrt und lehrt noch immer, dass der Frucht der menschlichen Zeugung vom ersten Augenblick ihrer Existenz an jene unbedingte Achtung zu gewährleisten ist, die dem Menschen in seiner leiblichen und geistigen Ganzheit und Einheit moralisch geschuldet wird: »Ein menschliches Geschöpf ist von seiner Empfängnis an als Person zu achten und zu behandeln, und deshalb sind ihm von jenem Augenblick an die Rechte einer Person zuzuerkennen, als deren erstes das unverletzliche Recht auf Leben angesehen wird, dessen sich jedwedes unschuldige menschliche Geschöpf erfreut«.<ref>Ebd., a. a. O., 79. </ref>

61. Auch wenn die Texte der Heiligen Schrift nie von einer vorsätzlichen Abtreibung sprechen und deshalb keine direkten und spezifischen Verurteilungen diesbezüglich enthalten, so weisen sie doch auf eine Betrachtung des menschlichen Lebewesens im Mutterleib hin, deren logische Konsequenz die Forderung ist, dass Gottes Gebot: »du sollst nicht töten« auch auf dieses noch ungeborene Leben anzuwenden sei.

Das menschliche Leben ist in jedem Augenblick seiner Existenz, auch in jenem Anfangsstadium, das der Geburt vorausgeht, heilig und unantastbar. Der Mensch gehört vom Mutterschoß an Gott, der alles erforscht hat und kennt, der ihn mit seinen Händen formt und gestaltet, der ihn sieht, während er noch ein kleiner formloser Embryo ist, und der in ihm bereits den Erwachsenen von morgen sieht, dessen Tage gezählt sind und dessen Berufung schon in dem »Buch des Lebens« verzeichnet ist (vgl. Ps 139 1, 1. 13-16). Auch da, wenn er sich also noch im Mutterschoß befindet, ist — wie zahlreiche Bibeltexte bezeugen<ref> So der Prophet Jeremia: „Das Wort des Herrn erging an mich: Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt“ (1,4-5). Der Psalmist wiederum wendet sich folgendermaßen an den Herrn: „Vom Mutterleib an stütze ich mich auf dich, vom Mutterschoß an bist du mein Beschützer“ (Ps 71 [70],6; vgl. Jes 46, 3; Ijob 10,8-12; Ps 22 [21],10-11). Auch der Evangelist Lukas unterstreicht – in der wun- derbaren Episode von der Begegnung der beiden Mütter, Elisabet und Maria, und der bei- den noch im Mutterschoß verborgenen Söhne, Johannes des Täufers und Jesu (vgl. 1, 39-45) –, dass das Kind die Ankunft des Jesuskindes bemerkt und vor Freude frohlockt.</ref> — der Mensch das persönlichste Ziel der liebenden und väterlichen Vorsehung Gottes.

Die christliche Überlieferung stimmt — wie die von der Kongregation für die Glaubenslehre diesbezüglich herausgegebene Erklärung gut hervorhebt<ref>Vgl. Erklärung zur vorsätzlichen Abtreibung Quaestio de abortu procurato (18. November 1974): AAS 66 (1974), 740-747.</ref> — von den Anfängen bis in unsere Tage klar darin überein, dass sie die Abtreibung als besonders schwerwiegende sittliche Verwilderung einstuft. Die erste christliche Gemeinde hat sich seit der ersten Konfrontation mit der griechisch-römischen Welt, in der die Abtreibung und die Kindestötung weitgehend praktiziert wurden, durch ihre Lehre und ihre Praxis den in jener Gesellschaft herrschenden Gepflogenheiten radikal widersetzt, wofür die bereits zitierte Didachè ein klarer Beweis ist.<ref>„Du sollst ein Kind weder abtreiben noch ein Neugeborenes töten“: V, 2, Patres Apostolici, ed. F. X. FUNK, I, 17.</ref> Unter den kirchlichen Schriftstellern aus dem griechischen Raum erwähnt Athenagoras, dass die Christen Frauen, die auf medizinische Eingriffe zur Abtreibung zurückgreifen, als Mörderinnen ansehen, weil die Kinder, auch wenn sie noch im Mutterschoß sind, »bereits das Objekt der Fürsorge der göttlichen Vorsehung sind«.<ref>Bittschrift für die Christen, Nr. 35: PG 6, 969. </ref> Unter den lateinischen Schriftstellern behauptet Tertullian: »Die Verhinderung der Geburt ist vorzeitiger Mord; es kommt nicht darauf an, ob man die schon geborene Seele tötet oder sie beim Zurweltkommen auslöscht. Es ist bereits der Mensch, der er später sein wird«.<ref>Apologeticum, IX, 8: CSEL 69, 24. </ref>

Diese selbe Lehre ist während ihrer nunmehr zweitausendjährigen Geschichte von den Vätern der Kirche, von ihren Hirten und Lehrern ständig gelehrt worden. Auch die wissenschaftlichen und philosophischen Diskussionen darüber, zu welchem Zeitpunkt genau das Eingießen der Geistseele erfolge, haben nie auch nur den geringsten Zweifel an der sittlichen Verurteilung der Abtreibung aufkommen lassen.

62. Das päpstliche Lehramt der jüngsten Zeit hat diese allgemeine Lehre mit großem Nachdruck bekräftigt. Insbesondere Pius XI. hat in der Enzyklika Casti connubii die als Vorwand dienenden Rechtfertigungen der Abtreibung zurückgewiesen;<ref>Vgl. Enzyklika Casti connubii (31. Dezember 1930), II: AAS 22 (1930), 562-592. </ref> Pius XII. hat jede direkte Abtreibung ausgeschlossen, das heißt jede Handlung, die das noch ungeborene menschliche Leben direkt zu vernichten trachtet, »mag diese Vernichtung nun als Ziel oder nur als Mittel zum Zweck verstanden werden«;<ref>Ansprache an die Medizinisch-Biologische Vereinigung vom hl. Lukas (12. November 1944): Discorsi e Radiomessaggi; VI (1944-1945), 191; vgl. auch Ansprache an den Katholischen Hebammenverband Italiens (29. Oktober 1951), Nr. 2: AAS 43 (1951), 838. </ref> Johannes XXIII. hat neuerlich beteuert, dass das menschliche Leben heilig ist, denn »es erfordert von seinem Anbeginn an das Wirken Gottes, des Schöpfers«.<ref>Enzyklika Mater et magistra (15. Mai 1961), Nr. 3: AAS 53 (1961), 447. </ref> Das II. Vatikanische Konzil hat, wie bereits erwähnt, die Abtreibung sehr streng verurteilt: »Das Leben ist von der Empfängnis an mit höchster Sorgfalt zu schützen. Abtreibung und Tötung des Kindes sind verabscheuungswürdige Verbrechen«.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 51. </ref>

Die Rechtsordnung der Kirche hat von den ersten Jahrhunderten an über jene, die sich der Abtreibung schuldig machten, Strafsanktionen verhängt. Diese Praxis mit mehr oder weniger schweren Strafen wurde in den verschiedenen Abschnitten der Geschichte bestätigt. Der Codex des kanonischen Rechtes von 1917 drohte für die Abtreibung die Strafe der Exkommunikation an.<ref>Vgl. can. 2350, § 1. </ref> Auch die erneuerte kanonische Gesetzgebung stellt sich auf diese Linie, wenn sie bekräftigt: »Wer eine Abtreibung vornimmt, zieht sich mit erfolgter Ausführung die Tatstrafe der Exkommunikation latae sententiae zu«,<ref>Codex des kanonischen Rechtes, can. 1398; vgl. auch Codex des kanonischen Rechtes der Ostkirchen, can. 1450 § 2. </ref> das heißt die Strafe tritt von selbst durch Begehen der Straftat ein.

Die Exkommunikation trifft alle, die diese Straftat in Kenntnis der Strafe begehen, somit auch jene Mittäter, ohne deren Handeln sie nicht begangen worden wäre.<ref>Vgl. ebd., can. 1329; ebenso Codex des kanonischen Rechtes der Ostkirchen, can. 1417. </ref> Mit dieser erneut bestätigten Sanktion stellt die Kirche diese Straftat als eines der schwersten und gefährlichsten Verbrechen hin und spornt so den, der sie begeht, an, rasch auf den Weg der Umkehr zurückzufinden. Denn in der Kirche hat die Strafe der Exkommunikation den Zweck, die Schwere einer bestimmten Sünde voll bewusst zu machen und somit eine entsprechende Umkehr und Reue zu begünstigen.

Angesichts einer solchen Einmütigkeit in der Tradition der Lehre und Disziplin der Kirche konnte Paul VI. erklären, dass sich diese Lehre »nicht geändert hat und unveränderlich ist«.<ref>Vgl. Ansprache an die Vereinigung katholischer Juristen Italiens (9. Dezember 1972): AAS 64 (1972), 777; Enzyklika Humanae vitae (25. Juli 1968), Nr. 14: AAS 60 (1968), 490. </ref> Mit der Autorität, die Christus Petrus und seinen Nachfolgern übertragen hat, erkläre ich deshalb in Gemeinschaft mit den Bischöfen — die mehrfach die Abtreibung verurteilt und, obwohl sie über die Welt verstreut sind, bei der eingangs erwähnten Konsultation dieser Lehre einhellig zugestimmt haben — dass die direkte, das heißt als Ziel oder Mittel gewollte Abtreibung immer ein schweres sittliches Vergehen darstellt, nämlich die vorsätzliche Tötung eines unschuldigen Menschen. Diese Lehre ist auf dem Naturrecht und auf dem geschriebenen Wort Gottes begründet, von der Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt der Kirche gelehrt.<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, Nr. 25. </ref>

Kein Umstand, kein Zweck, kein Gesetz wird jemals eine Handlung für die Welt statthaft machen können, die in sich unerlaubt ist, weil sie dem Gesetz Gottes widerspricht, das jedem Menschen ins Herz geschrieben, mit Hilfe der Vernunft selbst erkennbar und von der Kirche verkündet worden ist.

63. Die sittliche Bewertung der Abtreibung muss auch auf die neuen Formen des Eingriffs auf menschliche Embryonen angewandt werden, die unvermeidlich mit der Tötung des Embryos verbunden sind, auch wenn sie Zwecken dienen, die an sich erlaubt sind. Das ist bei der Durchführung von Versuchen an Embryonen gegeben, die auf dem Gebiet der biomedizinischen Forschung in wachsender Zunahme begriffen und in einigen Staaten gesetzlich erlaubt ist. Auch wenn »die Eingriffe am menschlichen Embryo unter der Bedingung als erlaubt angesehen werden 2, dass sie das Leben und die Unversehrtheit des Embryos achten und dass sie nicht Gefahren mit sich bringen, die nicht verhältnismäßig sind, sondern dass sie auf die Heilung der Krankheit, auf die Wandlung des Gesundheitszustands zum besseren hin und auf die Sicherstellung des Überlebens des einzelnen Fötus ausgerichtet sind«,<ref>Kongregation für die Glaubenslehre; Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung Donum vitae (22. Februar 1987), I, 3: AAS 80 (1988), 80. </ref> muss man jedoch geltend machen, dass die Verwendung von Embryonen oder Föten als Versuchsobjekt ein Verbrechen darstellt gegen ihre Würde als menschliche Geschöpfe, die dasselbe Recht haben, das dem bereits geborenen Kind und jeder Person geschuldet wird.<ref>Vgl. Charta der Rechte der Familie (22. Oktober 1983), Art. 4b: Tipografia Poliglotta Vaticana, 1983. </ref>

Aus sittlichen Gründen zu verwerfen ist ebenso auch die Vorgehensweise, die — bisweilen eigens zu diesem Zweck mit Hilfe der In-vitro-Befruchtung »erzeugte« — noch lebende menschliche Embryonen und Föten missbraucht, sei es als zu verwertendes »biologisches Material« oder als Lieferanten von Organen oder Geweben zur Transplantation für die Behandlung bestimmter Krankheiten. Die Tötung unschuldiger menschlicher Geschöpfe, und sei es auch zum Vorteil anderer, stellt in Wirklichkeit eine absolut unannehmbare Handlung dar.

Besondere Aufmerksamkeit muss der sittlichen Bewertung der Verfahren vorgeburtlicher Diagnose gelten, die die frühzeitige Feststellung eventueller Mißbildungen oder Krankheiten des ungeborenen Kindes erlauben. Wegen der Komplexität dieser Verfahren muss eine solche Bewertung in der Tat sorgfältiger und artikulierter erfolgen. Wenn sie ohne unverhältnismäßige Gefahren für das Kind und für die Mutter sind und zum Ziel haben, eine frühzeitige Therapie zu ermöglichen oder auch eine gefasste und bewusste Annahme des Ungeborenen zu begünstigen, sind diese Verfahren sittlich erlaubt. Da jedoch die Behandlungsmöglichkeiten vor der Geburt heute noch recht begrenzt sind, kommt es nicht selten vor, dass diese Verfahren in den Dienst einer Eugenetik-Mentalität gestellt werden, die die selektive Abtreibung in Kauf nimmt, um die Geburt von Kindern zu verhindern, die von Mißbildungen und Krankheiten verschiedener Art betroffen sind. Eine solche Denkart ist niederträchtig und höchst verwerflich, weil sie sich anmaßt, den Wert eines menschlichen Lebens einzig und allein nach Maßstäben wie »Normalität« und physisches Wohlbefinden zu beurteilen und auf diese Weise auch der Legitimation der Kindestötung und der Euthanasie den Weg bahnt.

In Wirklichkeit stellen jedoch gerade der Mut und die Gefasstheit, mit denen viele unserer von schweren Gebrechen betroffenen Brüder und Schwestern ihr Dasein meistern, wenn sie von uns angenommen und geliebt werden, ein besonders wirkungsvolles Zeugnis für die echten Werte dar, die das Leben kennzeichnen und es auch unter den schwierigsten Bedingungen für sich selbst und für die anderen wertvoll machen. Die Kirche ist jenen Eheleuten nahe, die unter großer Angst und viel Schmerz bereit sind, ihre von Behinderung schwer heimgesuchten Kinder anzunehmen; und sie ist all jenen Familien dankbar, die durch Adoption Kinder aufnehmen, die wegen Behinderungen oder Krankheiten von ihren Eltern im Stich gelassen worden sind.

»Ich bin es, der tötet und der lebendig macht« (Dtn 32, 39): das Drama der Euthanasie

64. Am anderen Ende seines Daseins steht der Mensch vor dem Geheimnis des Todes. Infolge der Fortschritte auf medizinischem Gebiet und in einem kulturellen Umfeld, das sich der Transzendenz zumeist verschließt, weist die Erfahrung des Sterbens heute einige neue Wesensmerkmale auf. Denn wenn die Neigung vorherrscht, das Leben nur in dem Maße zu schätzen, wie es Vergnügen und Wohlbefinden mit sich bringt, erscheint das Leiden als eine unerträgliche Niederlage, von der man sich um jeden Preis befreien muss. Der Tod, der als »absurd« angesehen wird, wenn er ein Leben plötzlich unterbricht, das noch für eine an möglichen interessanten Erfahrungen reiche Zukunft offen ist, wird dagegen dann zu einer »beanspruchten Befreiung«, wenn das Dasein bereits für sinnlos gehalten wird, weil es in Schmerz getaucht und unerbittlich für weiteres noch heftigeres Leiden bestimmt ist.

Außerdem glaubt der Mensch, der seine wesentliche Beziehung zu Gott ablehnt oder vergibt, er sei sich selber Maßstab und Norm, und maßt sich das Recht an, auch von der Gesellschaft zu verlangen, sie solle ihm Möglichkeiten und Formen garantieren, damit er in voller und vollständiger Autonomie über sein Leben entscheiden könne. Es ist besonders der Mensch in den entwickelten Ländern, der sich so verhält: veranlasst fühlt er sich dazu auch durch die ständigen Fortschritte der Medizin und ihre immer mehr fortgeschrittenen Verfahren. Mit Hilfe äußerst spitzfindiger Systeme und Apparate sind Wissenschaft und ärztliche Praxis heute in der Lage, nicht nur für früher unlösbare Fälle eine Lösung zu finden und Schmerzen zu lindern oder zu beheben, sondern auch das Leben selbst im Zustand äußerster Schwäche zu erhalten und zu verlängern, Personen nach dem plötzlichen Zusammenbruch ihrer biologischen Grundfunktionen künstlich wiederzubeleben sowie Eingriffe vorzunehmen, um Organe für Transplantationen zu gewinnen.

In einem solchen Umfeld zeigt sich immer stärker die Versuchung zur Euthanasie, das heißt, sich zum Herrn über den Tod zu machen, indem man ihn vorzeitig herbeiführt und so dem eigenen oder dem Leben anderer »auf sanfte Weise« ein Ende bereitet. In Wirklichkeit stellt sich, was als logisch und menschlich erscheinen könnte, wenn man es zutiefst betrachtet, als absurd und unmenschlich heraus. Wir stehen hier vor einem der alarmierendsten Symptome der »Kultur des Todes«, die vor allem in den Wohlstandsgesellschaften um sich greift, die von einem Leistungsdenken gekennzeichnet sind, das die wachsende Zahl alter und geschwächter Menschen als zu belastend und unerträglich erscheinen lässt. Sie werden sehr oft von der Familie und von der Gesellschaft isoliert, de- ren Organisation fast ausschließlich auf Kriterien der Produktion und Leistungsfähigkeit beruht, wonach ein hoffnungslos arbeitsunfähiges Leben keinen Wert mehr hat.

65. Für ein korrektes sittliches Urteil über die Euthanasie gilt es zunächst, diese klar zu definieren. Unter Euthanasie im eigentlichen Sinn versteht man eine Handlung oder Unterlassung, die ihrer Natur nach und aus bewusster Absicht den Tod herbeiführt, um auf diese Weise jeden Schmerz zu beenden. »Bei Euthanasie dreht es sich also wesentlich um den Vorsatz des Willens und um die Vorgehensweisen, die angewandt werden«.<ref>Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Euthanasie Iura bona (5. Mai 1980), II: AAS 72 (1980), 546. </ref>

Von ihr zu unterscheiden ist die Entscheidung, auf »therapeutischen Übereifer« zu verzichten, das heißt auf bestimmte ärztliche Eingriffe, die der tatsächlichen Situation des Kranken nicht mehr angemessen sind, weil sie in keinem Verhältnis zu den erhofften Ergebnissen stehen, oder auch, weil sie für ihn und seine Familie zu beschwerlich sind. In diesen Situationen, wenn sich der Tod drohend und unvermeidlich ankündigt, kann man aus Gewissensgründen »auf (weitere) Heilversuche verzichten, die nur eine ungewisse und schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken könnten, ohne dass man jedoch die normalen Bemühungen unterlässt, die in ähnlichen Fällen dem Kranken geschuldet werden«.<ref>Ebd., IV, a. a. O., 551. </ref> Sicherlich besteht die moralische Verpflichtung sich pflegen und behandeln zu lassen, aber diese Verpflichtung muss an den konkreten Situationen gemessen werden; das heißt, es gilt abzuschätzen, ob die zur Verfügung stehenden therapeutischen Maßnahmen objektiv in einem angemessenen Verhältnis zur Aussicht auf Besserung stehen. Der Verzicht auf außergewöhnliche oder unverhältnismäßige Heilmittel ist nicht gleichzusetzen mit Selbstmord oder Euthanasie; er ist vielmehr Ausdruck dafür, dass die menschliche Situation angesichts des Todes akzeptiert wird.<ref>Vgl. ebd. </ref>

Besondere Bedeutung gewinnen in der modernen Medizin die so genannten »palliativen Behandlungsweisen«, die das Leiden im Endstadium der Krankheit erträglicher machen und gleichzeitig für den Patienten eine angemessene menschliche Begleitung gewährleisten sollen. In diesem Zusammenhang erhebt sich unter anderem das Problem, inwieweit die Anwendung der verschiedenen Schmerzlinderungs– und Beruhigungsmittel, um den Kranken vom Schmerz zu befreien, erlaubt ist, wenn das die Gefahr einer Verkürzung des Lebens mit sich bringt. Auch wenn jemand, der das Leiden aus freien Stücken annimmt, indem er auf schmerzlindernde Maßnahmen verzichtet, um seine volle Geistesklarheit zu bewahren und, wenn er gläubig ist, bewusst am Leiden des Herrn teilzuhaben, in der Tat des Lobes würdig ist, so kann diese »heroische« Haltung doch nicht als für alle verpflichtend angenommen werden. Schon Pius XII. hatte gesagt, den Schmerz durch Narkotika zu unterdrücken, auch wenn das eine Trübung des Bewusstseins und die Verkürzung des Lebens zur Folge habe, sei erlaubt, »falls keine anderen Mittel vorhanden sind und unter den gegebenen Umständen dadurch nicht die Erfüllung anderer religiöser und moralischer Verpflichtungen behindert wird«.<ref>Ansprache an eine internationale Gruppe von Ärzten (24. Februar 1957), III: AAS 49 (1957), 147; vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Euthanasie Iura et bona, III: AAS 72 (1980), 547-548. </ref> Denn in diesem Fall wird der Tod nicht gewollt oder gesucht, auch wenn aus berechtigten Gründen die Gefahr dazu gegeben ist: man will einfach durch Anwendung der von der Medizin zur Verfügung gestellten Analgetika den Schmerz wirksam lindern. Doch »darf man den Sterbenden nicht ohne schwerwiegenden Grund seiner Bewusstseinsklarheit berauben«:<ref>Pius XII., Ansprache an eine internationale Gruppe von Ärzten (24. Februar 1957), III: AAS 49 (1957), 145.</ref> die Menschen sollen vor dem herannahenden Tod in der Lage sein, ihren moralischen und familiären Verpflichtungen nachkommen zu können, und sich vor allem mit vollem Bewusstsein auf die endgültige Begegnung mit Gott vorbereiten können.

Nach diesen Unterscheidungen bestätige ich in Übereinstimmung mit dem Lehramt meiner Vorgänger<ref>Vgl. Pius XII., Ansprache an eine internationale Gruppe von Ärzten (24. Februar 1957): AAS 49 (1957), 129-147; Kongregation des Heiligen Offiziums, Decretum de directa insontium occisione (2. Dezember 1940): AAS 32 (1940), 553-554; Paul VI., Botschaft im französischen Fernsehen: „Jedes Leben ist heilig“ (27. Januar 1971): Insegnamenti IX (1971), 57-58; Ansprache an das Internationale Chirurgenkollegium (1. Juni 1972): AAS 64 (1972), 432-436; II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 27.</ref> und in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen Kirche, dass die Euthanasie eine schwere Verletzung des göttlichen Gesetzes ist, insofern es sich um eine vorsätzliche Tötung einer menschlichen Person handelt, was sittlich nicht zu akzeptieren ist. Diese Lehre ist auf dem Naturrecht und auf dem geschriebenen Wort Gottes begründet, von der Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt der Kirche gelehrt.<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, Nr. 25. </ref>

Eine solche Handlung setzt, je nach den Umständen, die Bosheit voraus, wie sie dem Selbstmord oder dem Mord eigen ist.

66. Nun ist Selbstmord immer ebenso sittlich unannehmbar wie Mord. Die Tradition der Kirche hat ihn immer als schwerwiegend böse Entscheidung zurückgewiesen.<ref>Vgl. HL. Augustinus, De Civitate Dei I, 20: CCL 47, 22; HL. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 6, a. 5. </ref> Obwohl bestimmte psychologische, kulturelle und soziale Gegebenheiten einen Menschen dazu bringen können, eine Tat zu begehen, die der natürlichen Neigung eines jeden zum Leben so radikal widerspricht, und dadurch die subjektive Verantwortlichkeit vermindert oder aufgehoben sein mag, ist der Selbstmord aus objektiver Sicht eine schwer unsittliche Tat, weil er verbunden ist mit der Absage an die Eigenliebe und mit der Ausschlagung der Verpflichtungen zu Gerechtigkeit und Liebe gegenüber dem Nächsten, gegenüber den verschiedenen Gemeinschaften, denen der Betreffende angehört, und gegenüber der Gesellschaft als ganzer.<ref>Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Euthanasie Iura bona (5. Mai 1980), I: AAS 72 (1980), 545; Katechismus der katholischen Kirche Nr. 2281-2283. </ref> In seinem tiefsten Kern stellt der Selbstmord eine Zurückweisung der absoluten Souveränität Gottes über Leben und Tod dar, wie sie im Gebet des alten Weisen Israels verkündet wird: »Du hast Gewalt über Leben und Tod; du führst zu den Toren der Unterwelt hinab und wieder herauf« (Weish 16, 13; vgl. Tob 13, 2).

Die Selbstmordabsicht eines anderen zu teilen und ihm bei der Ausführung durch die sog. »Beihilfe zum Selbstmord« behilflich zu sein heißt Mithelfer und manchmal höchstpersönlich Täter eines Unrechts zu werden, das niemals, auch nicht, wenn darum gebeten worden sein sollte, gerechtfertigt werden kann. »Es ist niemals erlaubt — schreibt mit überraschender Aktualität der hl. Augustinus —, einen anderen zu töten: auch wenn er es wollte, ja selbst, wenn er darum bitten würde, weil er, zwischen Leben und Tod schwebend, fleht, ihm zu helfen die Seele zu befreien, die gegen die Fesseln des Leibes kämpft und sich von ihnen zu lösen sucht; es ist nicht einmal dann erlaubt, wenn ein Kranker nicht mehr zu leben imstande wäre«.<ref>Epistula 204, 5: CSEL 57, 320. </ref> Auch wenn sie nicht durch die egoistische Weigerung motiviert ist, sich mit der Existenz des leidenden Menschen zu belasten, muss die Euthanasie als falsches Mitleid, ja als eine bedenkliche »Perversion« desselben bezeichnet werden: denn echtes »Mitleid« solidarisiert sich mit dem Schmerz des anderen, tötet nicht den, dessen Leiden unerträglich ist. Die Tat der Euthanasie erscheint um so perverser, wenn sie von denen ausgeführt wird, die — wie die Angehörigen — ihrem Verwandten mit Geduld und Liebe beistehen sollten, oder von denen, die — wie die Ärzte — auf Grund ihres besonderen Berufes den Kranken auch im leidvollsten Zustand seines zu Ende gehenden Lebens behandeln müssten.

Schwerwiegender wird die Entscheidung für die Euthanasie, wenn sie sich als Mord herausstellt, den die anderen an einem Menschen begehen, der sie keineswegs darum gebeten und niemals seine Zustimmung dazu gegeben hat. Der Höhepunkt der Willkür und des Unrechts wird dann erreicht, wenn sich einige Ärzte oder Gesetzgeber die Macht anmaßen darüber zu entscheiden, wer leben und wer sterben darf. Hier zeigt sich wieder die Versuchung von Eden: werden wie Gott und »Gut und Böse erkennen« (vgl. Gen 3, 5). Doch Gott allein hat die Macht, zu töten und zum Leben zu erwecken: »Ich bin es, der tötet und der lebendig macht« (Dtn 32, 39; vgl. 2 Kön 5, 7; 1 Sam 2, 6). Er verwirklicht seine Macht immer nur nach einem Plan der Weisheit und Liebe. Wenn sich der Mensch im Bann einer Logik von Torheit und Egoismus diese Macht anmaßt, benützt er sie unweigerlich zu Unrecht und Tod. So wird das Leben des Schwächsten in die Hände des Stärksten gelegt; in der Gesellschaft geht der Sinn für Gerechtigkeit verloren und das gegenseitige Vertrauen, Grundlage jeder echten Beziehung zwischen den Menschen, wird an der Wurzel untergraben.

67. Ganz anders hingegen ist der Weg der Liebe und des echten Mitleids, den unser gemeinsames Menschsein vorschreibt und den der Glaube an Christus, den Erlöser, der gestorben und auferstanden ist, mit neuen Einsichten erhellt. Die Bitte, die bei der äußersten Konfrontation mit dem Leid und dem Tod besonders dann aus dem Herzen des Menschen kommt, wenn er versucht ist, sich in seine Verzweiflung zurückzuziehen und in ihr unterzugehen, ist vor allem Bitte um Begleitung, um Solidarität und um Beistand in der Prüfung. Sie ist flehentliche Bitte um Hilfe, um weiter hoffen zu können, wenn alle menschlichen Hoffnungen zerrinnen. Wie uns das II. Vatikanische Konzil zu bedenken gab, wird für den Menschen »angesichts des Todes das Rätsel des menschlichen Daseins am größten«; und trotzdem »urteilt er im Instinkt seines Herzens richtig, wenn er die völlige Zerstörung und den endgültigen Untergang seiner Person mit Entsetzen ablehnt. Der Keim der Ewigkeit im Menschen lässt sich nicht auf die bloße Materie zurückführen und wehrt sich gegen den Tod«.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 18. </ref>

Erhellt und zum Abschluss gebracht werden diese natürliche Abneigung gegen den Tod und diese keimhafte Hoffnung auf Unsterblichkeit durch den christlichen Glauben, der die Teilhabe am Sieg des auferstandenen Christus verheißt und anbietet: es ist der Sieg dessen, der durch seinen Erlösungstod den Menschen vom Tod, dem »Lohn der Sünde« (Röm 6, 23), befreit und ihm den Geist, das Unterpfand für Auferstehung und Leben, geschenkt hat (vgl. Röm 8, 11). Die Gewissheit über die zukünftige Unsterblichkeit und die Hoffnung auf die verheißene Auferstehung werfen ein neues Licht auf das Geheimnis des Leidens und Sterbens und erfüllen den Gläubigen mit einer außerordentlichen Kraft, sich dem Plan Gottes anzuvertrauen.

Der Apostel Paulus hat dieses Neue in den Worten von einer völligen Zugehörigkeit zum Herrn, der den Menschen in jeder Lage umfängt, zum Ausdruck gebracht: »Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn« (Röm 14, 7-8). Sterben für den Herrn heißt den eigenen Tod als letzten Gehorsamsakt gegenüber dem Vater erleben (vgl. Phil 2, 8), indem wir die Begegnung mit dem Tod in der von Ihm gewollten und beschlossenen »Stunde« annehmen (vgl. Joh 13, 1), der allein zu sagen vermag, wann unser irdischer Weg zu Ende ist. Leben für den Herrn heißt auch anerkennen, dass das Leid, auch wenn es an sich ein Übel und eine Prüfung bleibt, immer zu einer Quelle des Guten werden kann. Das ist der Fall, wenn es aus Liebe und mit Liebe, aus freiwilliger Hingabe an Gott und aus freier persönlicher Entscheidung in der Teilhabe am Leiden des gekreuzigten Christus selber gelebt wird. Auf diese Weise wird der, der sein Leiden im Herrn lebt, Ihm vollkommener ähnlich (vgl. Phil 3, 10; 1 Petr 2,

21) und hat zutiefst teil an seinem Erlösungswerk für die Kirche und die Menschheit<ref>Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Salvifici doloris (11. Februar 1984), Nr. 14-24: AAS 76 (1984), 214-234. </ref> Das ist die Erfahrung des Apostels, die auch jeder leidende Mensch nachzuleben aufgerufen ist: »Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt« (Kol 1, 24).

»Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen« (Apg 5, 29): Staatliches Gesetz und Sittengesetz

68. Eines der Wesensmerkmale der — schon mehrmals erwähnten — derzeitigen Anschläge auf das menschliche Leben besteht in dem Bestreben, gesetzliche Legitimation für sie zu fordern, so als würde es sich um Rechte handeln, die der Staat, zumindest unter bestimmten Bedingungen, den Bürgern zuerkennen müsse, und demzufolge in dem Bestreben, die Umsetzung dieser Rechte mit dem sicheren und unentgeltlichen Beistand der Ärzte und des Pflegepersonals zu verlangen.

Nicht selten wird behauptet, das Leben eines ungeborenen oder eines sich in völliger Schwäche befindlichen Menschen sei nur ein relatives Gut: entsprechend einer Logik der Verhältnismäßigkeit oder des kalten Kalküls sollte es mit anderen Gü- tern verglichen und abgewogen werden. Und es wird auch behauptet, dass nur jemand, der sich in der konkreten Situation befindet und persönlich involviert ist, eine gerechte Abwägung der Güter vornehmen könne, um die es geht: infolgedessen könnte nur er über die Sittlichkeit seiner Entscheidung bestimmen. Der Staat sollte daher im Interesse des zivilen Zusammenlebens und der sozialen Eintracht diese Entscheidung respektieren und endlich auch Abtreibung und Euthanasie zulassen.

Bisweilen wird die Meinung vertreten, das staatliche Gesetz könne nicht verlangen, dass alle Bürger einem Sittlichkeitsgrad gemäß leben, der höher ist als jener, den sie selber anerkennen und teilen. Deshalb sollte das Gesetz immer Ausdruck der Meinung und des Willens der Mehrheit der Bürger sein und ihnen, wenigstens in bestimmten Extremfällen, auch das Recht auf Abtreibung und auf Euthanasie zuerkennen. Im übrigen würde das Verbot und die Bestrafung von Abtreibung und Euthanasie in diesen Fällen — so wird behauptet — unvermeidbar zu einer Zunahme illegaler Praktiken führen: diese wären allerdings nicht der notwendigen sozialen Kontrolle unterworfen und würden ohne die erforderliche ärztliche Sicherheit vorgenommen. Hier fragt man sich außerdem, ob das Festhalten an einem konkret nicht anwendbaren Gesetz nicht am Ende bedeute, dass auch die Glaubwürdigkeit jedes anderen Gesetzes untergraben werde.

Die radikalsten Meinungsäußerungen gehen schließlich soweit zu behaupten, in einer modernen und pluralistischen Gesellschaft müsste jedem Menschen volle Autonomie zuerkannt werden, über das eigene Leben und das Leben des ungeborenen Kindes zu verfügen: die Wahl und Entscheidung zwischen den verschiedenen Moralauffassungen wäre in der Tat nicht Sache des Gesetzes, und noch weniger könnte es sich die Auferlegung einer einzelnen dieser Auffassungen zum Nachteil der anderen anmaßen.

69. Auf jeden Fall ist in der demokratischen Kultur unserer Zeit die Meinung weit verbreitet, wonach sich die Rechtsordnung einer Gesellschaft darauf beschränken sollte, die Überzeugungen der Mehrheit zu verzeichnen und anzunehmen, und daher nur auf dem aufbauen, was die Mehrheit selber als moralisch anerkennt und lebt. Wenn dann sogar die Meinung vertreten wird, eine allgemeine und objektive Wahrheit sei de facto unannehmbar, würde es die Achtung vor der Freiheit der Bürger — die in einem demokratischen System als die eigentlichen Souveräne gelten — erfordern, dass man auf Gesetzgebungsebene die Autonomie der einzelnen Gewissen anerkennt und daher bei der Festlegung jener Normen, die auf jeden Fall für das soziale Zusammenleben notwendig sind, ausschließlich dem Willen der Mehrheit, welcher Art immer sie sein mag, gerecht wird. Auf diese Weise müsste jeder Politiker in seinem Tun den Bereich des privaten Gewissens klar von dem des öffentlichen Verhaltens trennen.

Es lassen sich infolgedessen zwei anscheinend diametral entgegengesetzte Tendenzen feststellen. Auf der einen Seite machen die einzelnen Individuen für sich die vollständigste sittliche Entscheidungsautonomie geltend und fordern, dass sich der Staat keine ethische Auffassung zu eigen macht und diese vorschreibt, sondern sich darauf beschränkt, der Freiheit jedes einzelnen weitestmöglichen Raum zu garantieren mit der einzigen äußeren Einschränkung, den Raum von Autonomie nicht zu verletzen, auf den auch jeder andere Bürger ein Recht hat. Auf der anderen Seite vertritt man die Meinung, dass bei der Ausübung der öffentlichen und beruflichen Aufgaben die Achtung vor der Entscheidungsfreiheit des anderen es einem jedem auferlege, von den eigenen Überzeugungen abzurücken, um sich in den Dienst jeder Forderung der Bürger zu stellen, die die Gesetze anerkennen und schützen, wobei als einziges sittliches Kriterium für die Ausübung der eigenen Funktionen akzeptiert wird, was eben von diesen Gesetzen festgelegt wurde. Auf diese Weise wird unter Verzicht auf das eigene sittliche Gewissen zumindest im Bereich des öffentlichen Wirkens die Verantwortlichkeit des Menschen dem staatlichen Gesetz überlassen.

70. Gemeinsame Wurzel all dieser Tendenzen ist der ethische Relativismus, der für weite Teile der modernen Kultur bezeichnend ist. Manche behaupten, dieser Relativismus sei eine Voraussetzung für die Demokratie, weil nur er Toleranz, gegenseitige Achtung der Menschen untereinander und Bindung an die Entscheidungen der Mehrheit gewährleisten würde, während die als objektiv und bindend angesehenen sittlichen Normen zu Autoritarismus und Intoleranz führen würden.

Doch gerade die Problematik der Achtung vor dem Leben zeigt, welche Mißverständnisse und Widersprüche, begleitet von entsetzlichen praktischen Folgen, sich hinter dieser Einstellung verbergen.

Es stimmt, dass die Geschichte Fälle kennt, in denen im Namen der »Wahrheit« Verbrechen begangen worden sind. Aber nicht minder schwere Verbrechen und radikale Leugnungen der Freiheit wurden und werden weiter auch im Namen des »ethischen Relativismus« begangen. Faßt eine parlamentarische oder gesellschaftliche Mehrheit, wenn sie die Rechtmäßigkeit der unter bestimmten Bedingungen vorgenommenen Tötung des ungeborenen menschlichen Lebens beschließt, nicht vielleicht einen »tyrannischen« Beschluß gegen das schwächste und wehrloseste menschliche Geschöpf? Das Weltgewissen reagiert mit Recht auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, mit denen unser Jahrhundert so traurige Erfahrungen gemacht hat. Würden diese Untaten vielleicht nicht mehr länger Verbrechen sein, wenn sie, statt von skrupellosen Tyrannen begangen worden zu sein, durch des Volkes Zustimmung für rechtmäßig erklärt worden wären?

Tatsächlich darf die Demokratie nicht solange zum Mythos erhoben werden, bis sie zu einem Ersatzmittel für die Sittlichkeit oder einem Allheilmittel gegen die Unsittlichkeit gemacht wird. Sie ist ihrem Wesen nach eine »Ordnung« und als solche ein Werkzeug und nicht ein Ziel. Ihr »sittlicher« Charakter ist nicht automatisch gegeben, sondern hängt von der Übereinstimmung mit dem Sittengesetz ab, dem sie, wie jedes andere menschliche Verhalten, unterstehen muss: das heißt, er hängt von der Sittlichkeit der Ziele ab, die sie verfolgt, und der Mittel, deren sie sich bedient. Wenn heute ein beinahe weltweites Einvernehmen über den Wert der Demokratie festzustellen ist, wird das als ein positives »Zeichen der Zeit« angesehen, wie auch das Lehramt der Kirche wiederholt hervorgehoben hat.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), Nr. 46: AAS 83 (1991), 850; Pius XII., Weihnachtsbotschaft im Rundfunk (24. Dezember 1944): AAS 37 (1945), 10-20. </ref> Aber der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die sie verkörpert und fördert: grundlegend und unumgänglich sind sicherlich die Würde jeder menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte sowie die Übernahme des »Gemeinwohls« als Ziel und regelndes Kriterium für das politische Leben.

Grundlage dieser Werte können nicht vorläufige und wechselnde Meinungs«mehrheiten« sein, sondern nur die Anerkennung eines objektiven Sittengesetzes, das als dem Menschen ins Herz geschriebene »Naturgesetz« normgebender Bezugspunkt eben dieses staatlichen Gesetzes ist. Wenn infolge einer tragischen kollektiven Trübung des Gewissens der Skeptizismus schließlich sogar die Grundsätze des Sittengesetzes in Zweifel zöge, würde selbst die demokratische Ordnung in ihren Fundamenten erschüttert, da sie zu einem bloßen Mechanismus empirischer Regelung der verschiedenen und gegensätzlichen Interessen verkäme.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), Nr. 97 u. 99: AAS 85 (1993), 1209-1211. </ref>

Mancher könnte sich vorstellen, dass in Ermangelung eines Besseren auch eine solche Funktion um des sozialen Friedens willen anerkannt werden müsse. Selbst wenn man in einer solchen Einschätzung einen gewissen Wahrheitsaspekt anerkennt, muss man doch sehen, dass ohne eine objektive sittliche Verankerung auch die Demokratie keinen stabilen Frieden sicherstellen kann, um so mehr als der Friede, der nicht an den Werten der Würde jedes Menschen und der Solidarität unter allen Menschen gemessen wird, nicht selten eine illusorische Angelegenheit ist. Denn in den die demokratische Beteiligung einschließenden Regierungssystemen selbst erfolgt die Regelung der Interessen häufig zum Vorteil der Stärkeren, vermögen sie doch am besten nicht nur die Hebel der Macht, sondern auch das Zustandekommen des Konsenses zu steuern. In einer solchen Situation wird Demokratie leicht zu einem leeren Wort.

71. Im Hinblick auf die Zukunft der Gesellschaft und die Entwicklung einer gesunden Demokratie ist es daher dringend notwendig, das Vorhandensein wesentlicher, angestammter menschlicher und sittlicher Werte wieder zu entdecken, die der Wahrheit des menschlichen Seins selbst entspringen und die Würde der Person zum Ausdruck bringen und schützen: Werte also, die kein Individuum, keine Mehrheit und kein Staat je werden hervorbringen, verändern oder zerstören können, sondern die sie nur anerkennen, achten und fördern werden müssen.

In diesem Sinne muss man wieder die Grundzüge der Auffassung von den Beziehungen zwischen staatlichem Gesetz und Sittengesetz aufgreifen, die von der Kirche vorgelegt werden, die aber auch zum Erbe der großen Rechtstraditionen der Menschheit gehören.

Sicherlich ist die Aufgabe des staatlichen Gesetzes im Vergleich zu der des Sittengesetzes anders und von begrenzterem Umfang. Jedoch »kann in keinem Lebensbereich das staatliche Gesetz das Gewissen ersetzen, noch kann es Normen über das vorschreiben, was über seine Zuständigkeit hinausgeht«,<ref>Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung Donum vitae (22. Februar 1987), III: AAS 80 (1988), 98. </ref> die darin besteht, das Gemeinwohl der Menschen durch die Anerkennung und den Schutz ihrer Grundrechte, durch die Förderung des Friedens und der öffentlichen Sittlichkeit sicherzustellen.<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, Nr. 7. </ref> Denn die Aufgabe des staatlichen Gesetzes besteht darin, ein geordnetes soziales Zusammenleben in wahrer Gerechtigkeit zu gewährleisten, damit wir alle »in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können« (1 Tim 2, 2). Eben deshalb muss das staatliche Gesetz für alle Mitglieder der Gesellschaft die Achtung einiger Grundrechte sicherstellen, die dem Menschen als Person eigen sind und die jedes positive Gesetz anerkennen und garantieren muss. Erstes und grundlegendes aller Rechte ist das unverletzliche Recht auf Leben eines jeden unschuldigen Menschen. Auch wenn die öffentliche Autorität bisweilen auf die Unterdrückung von etwas verzichten kann, was im Fall des Verbots einen schwereren Schaden anrichten wür- de,ref>Vgl. HL. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I-II, q. 96, a. 2. </ref> kann sie doch niemals zulassen, die Verletzung, die anderen Menschen durch die Nicht- Anerkennung eines ihrer Grundrechte wie das auf Leben zugefügt wird, als Recht der einzelnen zu legitimieren — selbst wenn diese die Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft ausmachen würden. Die gesetzliche Tolerierung von Abtreibung oder Euthanasie kann sich gerade deshalb keinesfalls auf die Respektierung des Gewissens der anderen berufen, weil die Gesellschaft das Recht und die Pflicht hat, sich vor den Mißbräuchen zu schützen, die im Namen des Gewissens und unter dem Vorwand der Freiheit zustande kommen können.<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit, Dignitatis humanae, Nr. 7. </ref>

Papst Johannes XXIII. hatte diesbezüglich in der Enzyklika Pacem in terris festgestellt: »Da man in unserer Zeit annimmt, das Gemeinwohl bestehe vor allem in der Wahrung der Rechte und Pflichten der menschlichen Person, muss die Aufgabe der Staatslenker vor allem darin bestehen, dass einerseits die Rechte anerkannt, geachtet, untereinander in Einklang gebracht, verteidigt und gefördert werden, und andererseits jeder seine Pflichten leichter erfüllen kann. Denn 'die den Menschen eigenen unverletzlichen Rechte zu schützen und dafür zu sorgen, dass jeder seine Aufgaben leichter erfülle, das ist die vornehmliche Pflicht jeder öffentlichen Gewalt'. Wenn deshalb Behörden die Rechte des Menschen entweder nicht anerkennen oder verletzen, so weichen sie nicht nur selbst von ihrer Pflicht ab, sondern es entbehrt auch das, was von ihnen befohlen wurde, jeder Verbindlichkeit«.<ref>Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris (11. April 1963), II: AAS 55 (1963), 273-274; das darin enthaltene Zitat ist entnommen aus: Pius XII., Radiobotschaft zu Pfingsten 1941 (1. Juni 1941): AAS 33 (1941), 200. Zu diesem Argument nimmt die Enzyklika in der Fußnote Bezug auf: Pius XI., Enzyklika Mit brennender Sorge (14. März 1937): AAS 29 (1937), 159; Enzyklika Divini redemptoris (19. März 1937), III: AAS 29 (1937), 79; Pius XII., Rundfunkbotschaft zu Weihnachten (24. Dezember 1942): AAS 35 (1943), 9-24.</ref>

72. In Kontinuität mit der gesamten Tradition der Kirche steht auch die Lehre über die notwendige Übereinstimmung des staatlichen Gesetzes mit dem Sittengesetz, wie sie gleichfalls aus der genannten Enzyklika Johannes' XXIII. hervorgeht: »Die Befehlsgewalt wird von der sittlichen Ordnung erfordert und geht von Gott aus. Falls daher Staatslenker entgegen dieser Ordnung und insofern entgegen dem Willen Gottes Gesetze erlassen oder etwas gebieten, dann können weder die erlassenen Gesetze noch die gewährten Vollmachten das Gewissen der Bürger verpflichten... Vielmehr bricht dann die Autorität selbst völlig zusammen, und es folgt scheußliches Unrecht«.<ref>Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris (11. April 1963), a. a. O., 271. </ref> Das ist die klare Lehre des hl. Thomas von Aquin, der unter anderem schreibt: »Das menschliche Gesetz hat nur insoweit den Charakter eines Gesetzes, insoweit es der rechten Vernunft gemäß ist; und insofern ist es offensichtlich, dass es vom ewigen Gesetz her abgeleitet wird. Wenn es aber von der Vernunft abweicht, wird es ungerechtes Gesetz genannt und hat nicht den Charakter eines Gesetzes, sondern vielmehr den einer Gewalttätigkeit«.<ref>Summa theologiae, I-II, q. 93, a. 3, ad 2. </ref> Und weiter: »Jedes von Menschen erlassene Gesetz hat insoweit den Charakter eines Gesetzes, insoweit es vom Naturgesetz abgeleitet wird. Wenn es aber in irgend etwas von dem Naturgesetz abweicht, dann wird es nicht mehr Gesetz, sondern die Zersetzung des Gesetzes sein«.<ref>Ebd., I-II, q. 95, a. 2. Der Aquinate zitiert den hl. Augustinus: „Non videtur esse lex, quae iusta non fuerit“ („Ein Gesetz, das nicht gerecht ist, wird nicht als Gesetz wahrgenommen werden“), De libero arbitrio, I, 5, 11: PL 32, 1227. </ref>

Die erste und unmittelbarste Anwendung dieser Lehre betrifft das menschliche Gesetz, welches das jedem Menschen eigene fundamentale Grundrecht auf Leben nicht anerkennt. Auf diese Weise befinden sich die Gesetze, die in Form der Abtreibung und der Euthanasie die unmittelbare Tötung unschuldiger Menschen für rechtmäßig erklären, in totalem und unversöhnlichem Widerspruch zu dem allen Menschen eigenen unverletzlichen Recht auf Leben und leugnen somit die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Man könnte einwenden, dass das auf die Euthanasie dann nicht zutreffe, wenn der betreffende Mensch bei vollem Bewusstsein um sie gebeten hat. Aber ein Staat, der ein derartiges Ersuchen legitimieren und seine Durchführung gestatten würde, würde gegen die Grundprinzipien der Unverfügbarkeit des Lebens und des Schutzes jedes menschlichen Lebens einen Selbstmord- bzw. Mordfall legalisieren. Auf diese Weise wird dem Nachlassen der Achtung vor dem Leben Vorschuß geleistet und Haltungen der Weg geebnet, die das Vertrauen in die sozialen Beziehungen zerstören.

Die Gesetze, die Abtreibung und Euthanasie zulassen und begünstigen, stellen sich also nicht nur radikal gegen das Gut des einzelnen, sondern auch gegen das Gemeinwohl und sind daher ganz und gar ohne glaubwürdige Rechtsgültigkeit. Tatsächlich ist es die Nicht-Anerkennung des Rechtes auf Leben, die sich, gerade weil sie zur Tötung des Menschen führt — in dessen Dienst zu stehen die Gesellschaft ja den Grund ihres Bestehens hat —, am frontalsten und irreparabel der Möglichkeit einer Verwirklichung des Gemeinwohls entgegenstellt. Daraus folgt, dass ein staatliches Gesetz, wenn es Abtreibung und Euthanasie billigt, eben darum kein wahres, sittlich verpflichtendes staatliches Gesetz mehr ist.

73. Abtreibung und Euthanasie sind also Verbrechen, die für rechtmäßig zu erklären sich kein menschliches Gesetz anmaßen kann. Gesetze dieser Art rufen nicht nur keine Verpflichtung für das Gewissen hervor, sondern erheben vielmehr die schwere und klare Verpflichtung, sich ihnen mit Hilfe des Einspruchs aus Gewissensgründen zu widersetzen. Seit den Anfangszeiten der Kirche hat die Verkündigung der Apostel den Christen die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber den rechtmäßig eingesetzten staatlichen Autoritäten eingeschärft (vgl. Röm 13, 1-7; 1 Petr 2, 13-14), sie aber gleichzeitg entschlossen ermahnt, dass »man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen« (Apg 5, 29). Schon im Alten Testament finden wir in bezug auf die Bedrohungen gegen das Leben ein gewichtiges Beispiel für den Widerstand gegen das ungerechte Gebot der staatlichen Autorität. Die hebräischen Hebammen widersetzten sich dem Pharao, der angeordnet hatte, jeden neugeborenen Knaben zu töten. Sie »taten nicht, was ihnen der König von Ägypten gesagt hatte, sondern liessen die Kinder am Leben« (Ex 1, 17). Wichtig ist aber, auf den tieferen Grund dieses ihres Verhaltens hinzuweisen: »Die Hebammen fürchteten Gott« (ebd.). Aus dem Gehorsam gegenüber Gott — dem allein jene Furcht gebührt, die Anerkennung seiner absoluten Souveränität ist — erwachsen die Kraft und der Mut, den ungerechten Gesetzen der Menschen zu widerstehen. Die Kraft und der Mut dessen, der bereit ist, auch ins Gefängnis zu gehen oder durch das Schwert umzukommen in der Gewissheit, dass »sich hier die Standhaftigkeit und die Glaubenstreue der Heiligen bewähren« muss (Offb 13, 10).

Es ist daher niemals erlaubt, sich einem in sich ungerechten Gesetz, wie jenem, das Abtreibung und Euthanasie zulässt, anzupassen, »weder durch Beteiligung an einer Meinungskampagne für ein solches Gesetz noch dadurch, dass man bei der Abstimmung dafür stimmt«.<ref>Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung zur vorsätzlichen Abtreibung(18. November 1974), Nr. 22: AAS 66 (1974), 744. </ref>

Ein besonderes Gewissensproblem könnte sich in den Fällen ergeben, in denen sich eine parlamentarische Abstimmung als entscheidend dafür herausstellen würde, in Alternative zu einem bereits geltenden oder zur Abstimmung gestellten ungleich freizügigeren Gesetz ein restriktiveres Gesetz zu begünstigen, das heißt ein Gesetz, das die Anzahl der erlaubten Abtreibungen begrenzt. Solche Fälle sind nicht selten. Man kann nämlich Folgendes feststellen: Während in manchen Teilen der Welt die nicht selten von mächtigen internationalen Organisationen unterstützten Kampagnen für die Einführung von Gesetzen zur Freigabe der Abtreibung weitergehen, werden dagegen in anderen Nationen — besonders in jenen, die bereits die bittere Erfahrung mit derartigen freizügigen Gesetzen hinter sich haben — Anzeichen eines Umdenkens sichtbar. In dem hypothetisch angenommenen Fall ist es einleuchtend, dass es einem Abgeordneten, dessen persönlicher absoluter Widerstand gegen die Abtreibung klargestellt und allen bekannt wäre, dann, wenn die Abwendung oder vollständige Aufhebung eines Abtreibungsgesetzes nicht möglich wäre, gestattet sein könnte, Gesetzesvorschläge zu unterstützen, die die Schadensbegrenzung eines solchen Gesetzes zum Ziel haben und die negativen Auswirkungen auf das Gebiet der Kultur und der öffentlichen Moral vermindern. Auf diese Weise ist nämlich nicht eine unerlaubte Mitwirkung an einem ungerechten Gesetz gegeben; vielmehr wird ein legitimer und gebührender Versuch unternommen, die ungerechten Aspekte zu begrenzen.

74. Die Einführung ungerechter Gesetzgebungen stellt moralisch korrekte Menschen oft vor schwierige Gewissensprobleme, was die Mitwirkung im Verhältnis zur gebührenden Geltendmachung des eigenen Rechtes betrifft, nicht zur Teilnahme an sittlich schlechten Handlungen gezwungen zu sein. Manchmal sind die Entscheidungen, die nötig erscheinen, schmerzlich und können sogar das Opfer einer renommierten beruflichen Stellung oder den Verzicht auf berechtigte Aufstiegs- und Karriereaussichten erfordern. In anderen Fällen kann sich herausstellen, dass die Durchführung von an sich indifferenten oder sogar positiven Handlungen, die in den Artikeln von insgesamt ungerechten Gesetzgebungen vorgesehen sind, den Schutz bedrohter Menschenleben erlaubt. Andererseits darf man jedoch mit Recht befürchten, dass die Bereitschaft zur Durchführung solcher Handlungen nicht nur zu einem Stein des Anstoßes wird und dem Nachlassen des notwendigen Widerstandes gegen Anschläge gegen das Leben Vorschuß leistet, sondern unmerklich dazu verleitet, immer mehr einer permissiven Logik nachzugeben.

Zur Erhellung dieses schwierigen sittlichen Problems muss an die allgemeinen Grundsätze über die Mitwirkung an schlechten Handlungen erinnert werden. Wie alle Menschen guten Willens sind die Christen aufgerufen, aus ernster Gewissenspflicht nicht an jenen Praktiken formell mitzuwirken, die, obgleich von der staatlichen Gesetzgebung zugelassen, im Gegensatz zum Gesetz Gottes stehen. Denn unter sittlichem Gesichtspunkt ist es niemals erlaubt, formell am Bösen mitzuwirken. Solcher Art ist die Mitwirkung dann, wenn die durchgeführte Handlung entweder auf Grund ihres Wesens oder wegen der Form, die sie in einem konkreten Rahmen annimmt, als direkte Beteiligung an einer gegen das unschuldige Menschenleben gerichteten Tat oder als Billigung der unmoralischen Absicht des Haupttäters bezeichnet werden muss. Diese Mitwirkung kann niemals gerechtfertigt werden, weder durch Berufung auf die Achtung der Freiheit des anderen, noch dadurch, dass man sich auf die Tatsache stützt, dass das staatliche Gesetz diese Mitwirkung vorsehe und fordere: denn für die Handlungen, die ein jeder persönlich vornimmt, gibt es eine sittliche Verantwortlichkeit, der sich niemand entziehen kann und nach der Gott selber einen jeden richten wird (vgl. Röm 2, 6; 14, 12).

Die Beteiligung am Begehen eines Unrechts zu verweigern, ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch ein menschliches Grundrecht. Wenn es nicht so wäre, würde der Mensch gezwungen sein, eine mit seiner Würde an sich unvereinbare Handlung durchzuführen, und auf diese Weise würde seine Freiheit, deren glaubwürdiger Sinn und deren Ziel auf der Hinordnung zum Wahren und Guten beruhen, radikal gefährdet sein. Es handelt sich also um ein wesentliches Recht, das eben als solches vom staatlichen Gesetz selbst vorgesehen und geschützt werden müsste. In diesem Sinne müsste für die Ärzte, das Pflegepersonal und die verantwortlichen Träger von Krankenhäusern, Kliniken und Pflegeheimen die Möglichkeit sichergestellt sein, die Beteiligung an der Phase der Beratung, Vorbereitung und Durchführung solcher Handlungen gegen das Leben zu verweigern. Wer zum Mittel des Einspruchs aus Gewissensgründen greift, muss nicht nur vor Strafmaßnahmen, sondern auch vor jeglichem Schaden auf gesetzlicher, disziplinarischer, wirtschaftlicher und beruflicher Ebene geschützt sein.

»Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst« (Lk 10, 27): »fördere« das Leben

75. Die Gebote Gottes lehren uns den Weg des Lebens. Die negativen sittlichen Vorschriften, also jene, die die Wahl einer bestimmten Handlung für sittlich unannehmbar erklären, haben einen absoluten Wert für die menschliche Freiheit: sie gelten ausnahmslos immer und überall. Sie weisen darauf hin, dass die Wahl bestimmter Verhaltens- weisen mit der Liebe zu Gott und mit der Würde des nach seinem Bild geschaffenen Menschen radikal unvereinbar ist: eine solche Wahl kann daher keinesfalls durch die dahinterstehende gute Absicht und die sich ergebenden guten Folgen aufgewogen werden; sie steht in unversöhnlichem Gegensatz zu der Gemeinschaft zwischen den Menschen, sie widerspricht der Grundentscheidung, sein Leben auf Gott hinzuordnen.<ref>Vgl. Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1753-1755; Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), Nr. 81-82: AAS 85 (1993), 1198-1199. </ref>

Schon in diesem Sinne haben die negativen sittlichen Vorschriften eine äußerst wichtige positive Funktion: das »Nein«, das sie bedingungslos fordern, nennt die unüberschreitbare Grenze, unter die der freie Mensch nicht gehen darf, und zugleich gibt es das Minimum an, das er respektieren und von dem er ausgehen muss, um unzählige »Ja« auszusprechen, die in der Lage sind, immer mehr den Gesamthorizont des Guten zu erfassen (vgl. Mt 5, 48). Die Gebote, insbesondere die negativen sittlichen Vorschriften, sind der Anfang und die erste notwendige Etappe des Weges zur Freiheit: »Die erste Freiheit — schreibt der hl. Augustinus — besteht im Freisein von Verbrechen..., als da sind Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, Betrug, Gotteslästerung usw. Wenn einer mit diesen Vergehen nichts zu tun hat (und kein Christ darf mit ihnen zu tun haben), beginnt er sein Haupt zur Freiheit zu erheben, aber das ist erst der Anfang der Freiheit, nicht die vollkommene Freiheit«.<ref> In Iohannis Evangelium Tractatus, 41, 10: CCL 36, 363. Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), Nr. 13: AAS 85 (1993), 1144. </ref>

76. Das Gebot »du sollst nicht töten« bestimmt also den Ausgangspunkt für einen Weg in wahrer Freiheit, der uns dahin führt, das Leben aktiv zu fördern und bestimmte Haltungen und Verhaltensweisen im Dienst am Leben zu entwickeln: dadurch erfüllen wir unsere Verantwortlichkeit gegenüber den Menschen, die sich uns anvertraut haben, und bringen in den Taten und in der Wahrheit Gott unsere Dankbarkeit für das große Geschenk des Lebens zum Ausdruck (vgl. Ps 139 1, 13-14).

Der Schöpfer hat das Leben des Menschen seiner verantwortlichen Fürsorge anvertraut, nicht damit er willkürlich darüber verfüge, sondern damit er es mit Weisheit bewahre und in liebevoller Treue verwalte. Der Gott des Bundes hat entsprechend dem Gesetz der Gegenseitigkeit von Geben und Empfangen, von Selbsthingabe und Annahme des anderen das Leben eines jeden Menschen dem anderen Menschen, seinem Bruder, anvertraut. Als die Zeit erfüllt war, hat der Sohn Gottes dadurch, dass er Mensch wurde und sein Leben für den Menschen hingab, gezeigt, welche Höhe und Tiefe dieses Gesetz der Gegenseitigkeit erreichen kann. Durch das Geschenk seines Geistes verleiht Christus dem Gesetz der Gegenseitigkeit, dem Anvertrauen des Menschen an den Menschen neue Inhalte und Bedeutungen. Der Geist, der Baumeister von Gemeinschaft in Liebe ist, stellt zwischen den Menschen eine neue Brüderlichkeit und Solidarität her, einen echten Abglanz des der heiligsten Dreifaltigkeit eigenen Geheimnisses von gegenseitiger Hingabe und Annahme. Der Geist selbst wird zum neuen Gesetz, das den Gläubigen die Kraft gibt und ihre Verantwortlichkeit dazu anspornt, durch Teilhabe an der Liebe Jesu Christi selbst und nach ihrer Maßgabe gegenseitig die Selbsthingabe und die Annahme des anderen zu leben.

77. Von diesem neuen Gesetz wird auch das Gebot »du sollst nicht töten« beseelt und geformt. Für den Christen schließt es letzten Endes das Pflichtgebot ein, den Ansprüchen und Dimensionen der Liebe Gottes in Jesus Christus gemäß das Leben jedes Bruders zu achten, zu lieben und zu fördern. »Er hat sein Leben für uns hingegeben. So müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben« (1 Joh 3, 16).

Das Gebot »du sollst nicht töten« verpflichtet jeden Menschen auch in seinen positivsten Inhalten, nämlich Achtung, Liebe und Förderung des menschlichen Lebens. Es lässt sich in der Tat als ein ununterdrückbares Echo des ursprünglichen Bundes Gottes, des Schöpfers, mit dem Menschen im sittlichen Bewusstsein eines jeden Menschen vernehmen; es kann von allen im Licht der Vernunft erkannt und dank des geheimnisvollen Wirkens des Geistes wahrgenommen werden, der, da er weht, wo er will (vgl. Joh 3, 8), jeden in dieser Welt lebenden Menschen erreicht und miteinbezieht.

Es ist also ein Liebesdienst, den wir verpflichtet sind unserem Nächsten zu leisten, damit seinem Leben immer, vor allem aber, wenn es am schwächsten oder bedroht ist, Schutz und Förderung zuteil werde. Es ist nicht nur persönliche, sondern soziale Fürsorge, die wir alle dadurch ausüben müssen, dass wir die bedingungslose Achtung vor dem menschlichen Leben zum tragenden Fundament einer erneuerten Gesellschaft machen.

Es wird von uns verlangt, das Leben jedes Mannes und jeder Frau zu lieben und zu ehren und mit Standhaftigkeit und Mut daran zu arbeiten, dass in unserer Zeit, die allzu viele Zeichen des Todes aufweist, endlich eine neue Kultur des Lebens als Frucht der Kultur der Wahrheit und der Liebe entstehen möge.

IV. KAPITEL - DAS HABT IHR MIR GETAN - FÜR EINE NEUE KULTUR DES MENSCHLICHEN LEBENS

»Ihr aber seid ein Volk, das Gottes besonderes Eigentum wurde, damit es seine großen Taten verkünde« (1 Petr 2, 9): das Volk des Lebens und für das Leben

78. Die Kirche hat das Evangelium als Ankündigung und Quelle von Freude und Heil empfangen. Sie hat es als Geschenk von Jesus empfangen, der vom Vater gesandt wurde, »damit Er den Armen eine gute Nachricht bringe« (Lk 4, 18). Sie hat es durch die Apostel empfangen, die von Ihm in die ganze Welt ausgesandt wurden (vgl. Mk 16, 15; Mt 28, 19-20). Die aus diesem Einsatz für die Verkündigung des Evangeliums entstandene Kirche vernimmt in sich selbst jeden Tag das mahnende Wort des Apostels: »Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde« (1 Kor 9, 16). »Evangelisieren ist — schrieb Paul VI. — in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren«.<ref>Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), Nr. 14: AAS 68 (1976), 13.</ref>

Evangelisierung ist eine globale und dynamische Aktion, die die Kirche in ihrer Teilhabe an der prophetischen, priesterlichen und königlichen Sendung des Herrn Jesus einbezieht. Sie ist daher untrennbar mit den Dimensionen der Verkündigung, der Feier und des Dienstes der Nächstenliebe verbunden. Sie ist ein zutiefst kirchliches Tun, das alle heranzieht, die auf verschiedenste Weise für das Evangelium tätig sind, einen jeden nach seinen Gaben und seinem Amt.

Das gilt auch für die Verkündigung des Evangeliums vom Leben, eines wesentlichen Bestandteils des Evangeliums, das Jesus Christus ist. Wir stehen im Dienst dieses Evangeliums, getragen von dem Bewusstsein, dass wir es als Geschenk empfangen haben und ausgesandt sind, es der ganzen Menschheit »bis an die Grenzen der Erde« (Apg 1, 8) zu verkünden. Darum hegen wir das demütige und dankbare Bewusstsein, das Volk des Lebens und für das Leben zu sein, und treten so vor allen auf.

79. Wir sind das Volk des Lebens, weil Gott uns in seiner unentgeltlichen Liebe das Evangelium vom Leben geschenkt hat und wir von diesem Evangelium verwandelt und gerettet worden sind. Wir sind vom »Urheber des Lebens« (Apg 3, 15) um den Preis seines kostbaren Blutes erkauft (vgl. 1 Kor 6, 20; 7, 23; 1 Petr 1, 19) und durch die Taufe in Ihn eingegliedert worden (vgl. Röm 6, 4-5; Kol 2, 12) wie Zweige, die aus dem einen Stamm Lebenssaft und Fruchtbarkeit ziehen (vgl. Joh 15, 5). Innerlich erneuert durch die Gnade des Geistes, der »Herr ist und lebendig macht«, sind wir zu einem Volk für das Leben geworden und sind aufgerufen, uns auch so zu verhalten.

Wir sind gesandt: im Dienst des Lebens zu stehen, ist für uns nicht Prahlerei, sondern eine Verpflichtung, die aus dem Bewusstsein entsteht, »ein Volk« zu sein, »das Gottes besonderes Eigentum wurde, damit es seine großen Taten verkünde« (1 Petr 2, 9). Auf unserem Weg führt und trägt uns das Gesetz der Liebe: es ist die Liebe, deren Quelle und Vorbild der menschgewordene Gottessohn ist, der »durch seinen Tod der Welt das Leben geschenkt hat«.<ref>Vgl. Römisches Messbuch, Gebet des Priesters vor der Kommunion. </ref>

Wir sind als Volk gesandt. Die Verpflichtung zum Dienst am Leben lastet auf allen und auf jedem einzelnen. Es handelt sich um eine »kirchliche« Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn, die das aufeinander abgestimmte hochherzige Handeln aller Mitglieder und aller Gruppierungen der christlichen Gemeinde erfordert. Die gemeinschaftliche Aufgabe hebt jedoch die Verantwortung des einzelnen Menschen, an den das Gebot des Herrn, für jeden Menschen »zum Nächsten zu werden«, gerichtet ist: »Dann geh und handle genauso!« (Lk 10, 37), weder auf noch verringert sie diese.

Wir spüren alle miteinander die Verpflichtung, das Evangelium vom Leben zu verkünden, es in der Liturgie und in unserem gesamten Dasein zu feiern, ihm mit verschiedenen Initiativen und Strukturen zu dienen, die seine Unterstützung und Förderung zum Ziele haben.

»Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch« (1 Joh 1, 3): das Evangelium vom Leben verkünden

80. »Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, ... das Wort des Lebens..., das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt« (1 Joh 1, 1.3). Jesus ist das einzige Evangelium: wir haben nichts anderes zu sagen und zu bezeugen.

Die Verkündigung Jesu ist die Verkündigung des Lebens. Denn Er ist »das Wort des Lebens« (1 Joh 1, 1). In Ihm »wurde das Leben offenbart« (1 Joh 1, 2); ja, Er ist selber »das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde« (ebd.). Dank der Gabe des Geistes wurde dieses Leben dem Menschen mitgeteilt. Wenn es auf das Leben in Fülle, auf das »ewige Leben«, hingeordnet ist, gewinnt auch das »irdische Leben« seinen vollen Sinn.

Wenn wir von diesem Evangelium vom Leben erleuchtet werden, empfinden wir das Bedürfnis, es in dem überraschend Neuen, das es kennzeichnet, zu verkünden und zu bezeugen: da es sich mit Jesus selbst, dem Überbringer alles Neuen<ref>Vgl. HL. Irenäus von Lyon: „Omnem novitatem attulit, semetipsum afferens, qui fuerat annuntiatus“: Gegen die Häresien IV, 34, 1: SCh 100/2, 846-847. </ref> und Sieger über das »Alter«, das aus der Sünde stammt und zum Tod führt,<ref>Vgl. HL. Thomas von Aquin: „Peccator inveterascit, recedens a novitate Christi“: In Psalmos Davidis lectura, 6,5. </ref> gleichsetzt, übersteigt dieses Evangelium jede menschliche Erwartung und macht offenbar, zu welchen erhabenen Höhen sich die Würde der Person durch die Gnade zu erheben vermag. Der hl. Gregor von Nyssa stellt folgende Betrachtung darüber an: »Der Mensch, der unter den Lebewesen nichts zählt, der Staub, Gras, Vergänglichkeit ist, wird, sobald vom Gott des Universums an Kindes Statt angenommen, zum Vertrauten dieses Gottes, dessen Vollkommenheit und Größe niemand sehen, hören und begreifen kann. Mit welchem Wort, Gedanken oder Aufschwung des Geistes wird man je vermögen, den Überfluß dieser Gnade zu preisen? Der Mensch übersteigt seine Natur: vom Sterblichen wird er zum Unsterblichen, vom Vergänglichen zum Unvergänglichen, vom Vorübergehenden zum Ewigen, er wird vom Menschen zu Gott«.<ref>De beatitudinibus, Oratio VII: PG 44, 1280. </ref>

Die Dankbarkeit und Freude angesichts der unermeßlichen Würde des Menschen spornt uns an, alle an dieser Botschaft teilhaben zu lassen: »Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt« (1 Joh 1, 3). Man muss das Evangelium vom Leben zum Herzen jedes Mannes und jeder Frau gelangen lassen und es in die verborgensten Winkel der ganzen Gesellschaft einführen.

81. Es geht darum, zunächst die Mitte dieses Evangeliums zu verkünden. Das bedeutet Verkündigung eines lebendigen und nahen Gottes, der uns in eine tiefe Verbindung mit sich ruft und uns öffnet für die sichere Hoffnung auf das ewige Leben; es bedeutet Geltendmachung des untrennbaren Zusammenhangs, der zwischen der menschlichen Person, ihrem Leben und ihrer Leiblichkeit besteht; es bedeutet Darstellung des menschlichen Lebens als Leben der Beziehung, als Gottesgeschenk, als Frucht und Zeichen seiner Liebe; es bedeutet Verkündigung der außergewöhnlichen Beziehung Jesu zu jedem Menschen, der es ermöglicht, in jedem menschlichen Antlitz das Ant- litz Christi zu erkennen; es bedeutet Aufzeigen der »aufrichtigen Selbsthingabe« als Aufgabe und Ort voller Verwirklichung der eigenen Freiheit.

Gleichzeitig gilt es sämtliche Konsequenzen aufzuzeigen, die sich aus diesem Evangelium ergeben und die man wie folgt zusammenfassen kann: das menschliche Leben, ein wertvolles Geschenk Gottes, ist heilig und unantastbar und daher sind insbesondere die vorsätzliche Abtreibung und die Euthanasie absolut unannehmbar; das Leben des Menschen darf nicht nur nicht ausgelöscht, sondern es muss mit aller liebevollen Aufmerksamkeit geschützt werden; das Leben findet seinen Sinn in der empfangenen und geschenkten Liebe, in deren Blickfeld Sexualität und menschliche Fortpflanzung volle Wahrheit erlangen; in dieser Liebe haben auch das Leiden und der Tod einen Sinn und können, wenngleich das Geheimnis, das sie umfängt, weiterbesteht, zu Heilsereignissen werden; die Achtung vor dem Leben erfordert, dass Wissenschaft und Technik stets auf den Menschen und seine ganzheitliche Entwicklung hingeordnet werden; die ganze Gesellschaft muss die Würde jeder menschlichen Person in jedem Augenblick und in jeder Lage ihres Lebens achten, verteidigen und fördern.

82. Um wahrhaftig ein Volk im Dienst am Leben zu sein, müssen wir von der ersten Verkündigung des Evangeliums an und später in der Katechese und in den verschiedenen Verkündigungsformen, im persönlichen Gespräch und in jeder erzieherischen Tätigkeit mit Standhaftigkeit und Mut diese Inhalte vorlegen. Den Erziehern, Lehrern, Katecheten und Theologen obliegt die Aufgabe, die anthropologischen Gründe hervorzuheben, auf die sich die Achtung vor jedem Menschenleben gründet und stützt. Während wir das eigenartig Neue des Evangeliums vom Leben zum Strahlen bringen, werden wir auf diese Weise allen helfen können, auch im Licht der Vernunft und der Erfahrung zu entdecken, dass die christliche Botschaft den Menschen und die Bedeutung seines Seins und seiner Existenz voll erhellt; wir werden wertvolle Punkte für Begegnung und Dialog auch mit den Nichtglaubenden finden, sind wir doch alle miteinander verpflichtet, eine neue Kultur des Lebens erstehen zu lassen.

Während wir von den widersprüchlichsten Stimmen umgeben sind und viele die gesunde Lehre über das Leben des Menschen verwerfen, spüren wir, dass die inständige Bitte des Paulus an Timotheus auch an uns gerichtet ist: »Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung« (2 Tim 4, 2). Diese Ermahnung muss besonders im Herzen derer kräftigen Widerhall finden, die in der Kirche auf verschiedene Weise an ihrer Sendung als »Lehrerin« der Wahrheit am unmittelbarsten teilhaben. Sie soll vor allem bei uns Bischöfen Widerhall finden: wir sind als erste dazu angehalten, unermüdliche Verkünder des Evangeliums vom Leben zu sein; uns ist auch die Aufgabe anvertraut, über die zuverlässige und getreue Weitergabe der in dieser Enzyklika neu vorgelegten Lehre zu wachen und die geeignetsten Maßnahmen zu ergreifen, damit die Gläubigen vor jeder Lehre, die ihr widerspricht, geschützt werden. Besondere Aufmerksamkeit müssen wir darauf legen, dass an den theologischen Fakultäten, in den Priesterseminarien und in den verschiedenen katholischen Institutionen die Kenntnis der gesunden Lehre verbreitet, erklärt und vertieft wird.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), Nr. 116: AAS 85 (1993), 1224. </ref> Die Ermahnung des Paulus möge von allen Theologen, von den Seelsorgern und von allen anderen vernommen werden, die Aufgaben der Lehre, Katechese und Gewissensbildung wahrnehmen: mögen sie im Bewusstsein der ihnen zukommenden Rolle niemals die schwerwiegende Verantwortung auf sich nehmen, die Wahrheit und ihren eigenen Auftrag dadurch zu verraten, dass sie persönliche Ideen vortragen, die im Gegensatz zum Evangelium vom Leben stehen, wie es das Lehramt getreu vor– und auslegt.

Bei der Verkündigung dieses Evangeliums dürfen wir nicht Feindseligkeit und Unpopularität fürchten, wenn wir jeden Kompromiß und jede Zweideutigkeit ablehnen, die uns der Denkweise dieser Welt angleichen würde (vgl. Röm 12, 2). Wir sollen in der Welt, aber nicht von der Welt sein (vgl. Joh 15, 19; 17, 16) mit der Kraft, die uns von Christus kommt, der durch seinen Tod und seine Auferstehung die Welt besiegt hat (vgl. Joh 16, 33).

»Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast« (Ps 139 1, 14): das Evangelium vom Leben feiern

83. Da wir als »Volk für das Leben« in die Welt gesandt sind, soll unsere Verkündigung auch zu einer echten Feier des Evangeliums vom Leben werden. Ja, durch die beschwörende Kraft ihrer Gesten, Symbole und Riten wird diese Feier zum wertvollen und bedeutsamen Ort für die Weitergabe der Schönheit und Größe dieses Evangeliums.

Dazu ist es vor allem dringend notwendig, in uns und in den anderen eine kontemplative Sicht zu pflegen.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), Nr. 37: AAS 83 (1991), 840. </ref> Diese entsteht aus dem Glauben an den Gott des Lebens, der jeden Menschen geschaffen und wunderbar gestaltet hat (vgl. Ps 139 2, 14). Es ist die Sicht dessen, der das Leben dadurch in seiner Tiefe sieht, dass er dessen Dimensionen der Unentgeltlichkeit, der Schönheit, der Herausforderung zu Freiheit und Verantwortlichkeit erfasst. Es ist die Sicht dessen, der sich nicht anmaßt, der Wirklichkeit habhaft zu werden, sondern sie als ein Geschenk annimmt und dabei in jedem Ding den Widerschein des Schöpfers und in jedem Menschen sein lebendiges Abbild entdeckt (vgl. Gen 1, 27; Ps 8, 6). Diese Sicht kapituliert nicht mutlos angesichts derer, die sich in Krankheit, in Leid, am Rande der Gesellschaft und an der Schwelle des Todes befinden; sondern sie lässt sich von allen diesen Situationen befragen, um nach einem Sinn zu suchen, und beginnt gerade unter diesen Gegebenheiten, auf dem Antlitz jedes Menschen einen Aufruf zu Gegenüberstellung, zu Dialog, zu Solidarität zu entdecken.

Es ist an der Zeit, dass alle diese Sicht übernehmen und so wieder fähig werden, mit dem von ehrfürchtigem Staunen erfüllten Herzen jeden Menschen zu ehren und zu achten, wie uns Paul VI. in einer seiner ersten Weihnachtsbotschaften einlud zu tun.<ref>Vgl. Weihnachtsbotschaft von 1967: AAS 60 (1968), 40. </ref> Beseelt von dieser kontemplativen Sicht, kann das neue Volk der Erlösten gar nicht anders als in Freudes-, Lobes– und Dankeshymnen auszubrechen über das unschätzbare Geschenk des Lebens, über das Geheimnis der Berufung jedes Menschen, in Christus am Gnadenleben und an einer Existenz unendlicher Gemeinschaft mit Gott, dem Schöpfer und Vater, teilzuhaben.

84. Das Evangelium vom Leben feiern heißt, den Gott des Lebens, den Gott, der das Leben schenkt, feiern: »Wir müssen das ewige Leben feiern, von dem jedes andere Leben herrührt. Von ihm empfängt jedes Wesen, das in irgendeiner Weise am Leben teilhat, proportional zu seinen Fähigkeiten das Leben. Dieses göttliche Leben, das über jedem Leben steht, belebt und bewahrt das Leben. Jedes Leben und jede Lebensregung haben ihren Ursprung in diesem Leben, das jedes Leben und jeden Lebensursprung übersteigt. Ihm verdanken die Seelen ihre Unvergänglichkeit, sowie dank ihm alle Tiere und Pflanzen leben, die das schwächste Echo des Lebens empfangen. Den Menschen, Wesen, die aus Geist und Materie bestehen, schenkt das (göttliche) Leben das Leben. Wenn es dann geschieht, dass wir es verlassen müssen, dann verwandelt uns das Leben wegen seiner überströmenden Liebe zum Menschen und ruft uns zu sich. Nicht nur das: es verheißt uns, uns, Seelen und Körper, in das vollkommene Leben, in die Unsterblichkeit zu geleiten. Es ist zu wenig, wenn man sagt, dieses Leben ist lebendig: es ist Lebensursprung, einzige Lebensursache und Lebensquelle. Jedes Lebewesen muss es betrachten und preisen: es ist Leben, das in Leben überströmt«.<ref>PSEUDO-DIONYSIUS AREOPAGITA, Die Namen Gottes, 6, 1-3: PG 3, 856-857. </ref>

Wie der Psalmist, so loben und preisen auch wir im persönlichen und gemeinschaftlichen täglichen Gebet Gott, unseren Vater, der uns im Mutterschoß gewoben und uns gesehen und geliebt hat, als wir noch ohne Gestalt waren (vgl. Ps 139 3, 13. 15-16), und mit unbezähmbarer Freude rufen wir aus: »Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast. Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke« (Ps 139 4, 14). Ja, »dieses sterbliche Leben ist trotz seiner Mühen, seiner dunklen Geheimnisse, seiner Leiden, seiner unabwendbaren Hinfälligkeit eine sehr schöne Sache, ein immer originelles und ergreifendes Wunder, ein Ereignis, würdig mit Freude und Lobpreis besungen zu werden«.<ref>Paul VI., Pensiero alla morte (Gedanke an den Tod), Istituto Paolo VI, Brescia 1988, S. 24. </ref> Mehr noch, der Mensch und sein Leben erscheinen uns nicht nur als eines der größten Wunderwerke der Schöpfung: Gott hat dem Menschen eine beinahe göttliche Würde verliehen (vgl. Ps 8, 6-7). In jedem Kind, das geboren wird, und in jedem Menschen, der lebt oder der stirbt, erkennen wir das Abbild der Herrlichkeit Gottes: diese Herrlichkeit feiern wir in jedem Menschen, der Zeichen des lebendigen Gottes, Ikone Jesu Christi ist.

Wir sind aufgerufen, Staunen und Dankbarkeit über das als Geschenk empfangene Leben zum Ausdruck zu bringen und das Evangelium vom Leben nicht nur im persönlichen und gemeinschaftlichen Gebet, sondern vor allem in den Feiern des liturgischen Jahres anzunehmen, zu genießen und mitzuteilen. Hier muss im besonderen an die Sakramente als wirksame Zeichen für die Gegenwart und das Heilswirken des Herrn Jesus in der christlichen Existenz erinnert werden: sie machen die Menschen dadurch zu Teilhabern am göttlichen Leben, dass sie ihnen die nötige geistliche Kraft sicherstellen, um in ihrer vollen Wahrheit die Bedeutung des Lebens, des Leidens und des Sterbens zu realisieren. Dank einer echten Wiederentdeckung des Sinnes der Riten und dank ihrer angemessenen Bewertung werden die liturgischen Feiern, vor allem jene sakramentalen Charakters, immer mehr in der Lage sein, die volle Wahrheit über die Geburt, das Leben, das Leiden und den Tod auszudrücken und so dazu verhelfen, diese Wirklichkeit als Teilhabe am Ostermysterium des gestorbenen und auferstandenen Christus zu erleben.

85. Bei der Feier des Evangeliums vom Leben muss man auch die Gesten und die Symbole zu würdigen und zu schätzen wissen, an denen die verschiedenen kulturellen und volkstümlichen Traditionen und Bräuche so reich sind. Es handelt sich um Gelegenheiten und Formen der Begegnung, mit denen in den verschiedenen Ländern und Kulturen die Freude über ein neugeborenes Leben, die Achtung und die Verteidigung jedes menschlichen Lebens, die Sorge für den Kranken oder Notleidenden, die Nähe zum Alten oder Sterbenden, die Teilnahme am Schmerz des Trauernden, die Hoffnung und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit zum Ausdruck gebracht werden.

Aus dieser Sicht greife ich auch die von den Kardinälen im Konsistorium von 1991 gebotene Anregung auf und schlage vor, man möge in den verschiedenen Nationen jedes Jahr einen Tag für das Leben feiern, wie er bereits auf Initiative einiger Bischofskonferenzen begangen wird. Dieser Tag muss unter der aktiven Beteiligung aller Mitglieder der Ortskirche vorbereitet und gefeiert werden. Sein wesentliches Ziel ist es, in den Gewissen, in den Familien, in der Kirche und in der zivilen Gesellschaft das Erkennen des Sinnes und Wertes zu wecken, den das menschliche Leben zu jedem Zeitpunkt und unter jeder Bedingung hat; in das Zentrum der Aufmerksamkeit soll dabei besonders das schwerwiegende Problem von Abtreibung und Euthanasie gerückt werden, ohne jedoch die anderen Augenblicke und Aspekte des Lebens zu übergehen, die je nachdem, was die geschichtliche Entwicklung nahelegt, jeweils aufmerksame Beachtung verdienen.

86. In der Logik des gottgefälligen geistlichen Kultes (vgl. Röm 12, 1) soll sich die Feier des Evangeliums vom Leben vor allem in dem in Liebe zu den anderen und in Selbsthingabe gelebten Alltagsdasein vollziehen. Auf diese Weise wird unsere ganze Existenz zur glaubwürdigen und verantwortungsbewussten Aufnahme des Geschenkes des Lebens und zu einem aufrichtigen, dankbaren Lobpreis an Gott, der uns dieses Geschenk gemacht hat. Das geschieht bereits in vielen, vielen Akten eines oft schlichten und verborgenen Sichverschenkens, die von Männern und Frauen, Kindern und Erwachsenen, Jungen und Alten, Gesunden und Kranken vollbracht werden.

In diesem an Menschlichkeit und Liebe reichen Rahmen entstehen auch die heroischen Taten. Sie sind die feierlichste Verherrlichung des Evangeliums vom Leben, weil sie es mit totaler Selbsthingabe verkünden; sie sind die leuchtende Offenbarung des höchsten Grades von Liebe, der darin besteht, dass einer sein Leben für den geliebten Menschen hingibt (vgl. Joh 15, 13); sie sind die Teilhabe am Geheimnis des Kreuzes, an dem Jesus offenbar macht, welchen Wert für Ihn das Leben jedes Menschen hat und wie es sich in der aufrichtigen Selbsthingabe voll verwirklicht. Jenseits aufsehenerregender Taten gibt es den Heroismus im Alltag, der aus kleinen und großen Gesten des Teilens besteht, die eine echte Kultur des Lebens fördern. Unter diesen Gesten verdient die in ethisch annehmbaren Formen durchgeführte Organspende besondere Wertschätzung, um Kranken, die bisweilen jeder Hoffnung beraubt sind, die Möglichkeit der Gesundheit oder sogar des Lebens anzubieten.

Zu diesem Heroismus im Alltag gehört das stille, aber um so fruchtbarere und beredtere Zeugnis »aller mutigen Mütter, die sich vorbehaltlos ihrer Familie widmen, die unter Schmerzen ihre Kinder zur Welt bringen und dann bereit sind, jede Mühe und jedes Opfer auf sich zu nehmen, um ihnen das Beste weiterzugeben, was sie in sich tragen«.<ref>Johannes Paul II., Predigt bei der Seligsprechung von Isidor Bakanja, Elisabeth Canori Mora und Gianna Beretta Molla (24. April 1994): „L’Osservatore Romano“, 25.-26. April 1994, S. 5. </ref> Wenn sie ihre Sendung leben, »finden diese heroischen Mütter dabei in ihrer Umgebung nicht immer Unterstützung. Ja, die Vorbilder der Zivilisation, wie sie häufig von den Massenmedien vorgestellt und verbreitet werden, begünstigen nicht die Mutterschaft. Im Namen des Fortschritts und der Moderne werden die Werte der Treue, der Keuschheit und des Opfers heute als überholt hingestellt, und doch haben sich in diesen Werten ganze Scharen von christlichen Gattinnen und Müttern ausgezeichnet und tun es weiter... Wir danken euch, heroische Mütter, für eure unbesiegbare Liebe! Wir danken euch für euer unerschrockenes Vertrauen auf Gott und seine Liebe. Wir danken euch für das Opfer eures Lebens... Im Ostergeheimnis erstattet euch Christus das Geschenk zurück, das ihr Ihm gemacht habt. Denn Er hat die Macht, euch das Leben zurückzugeben, das ihr Ihm als Opfer dargebracht habt«.<ref>Ebd.</ref>

»Meine Brüder, was nützt es, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke?« (Jak 2, 14): dem Evangelium vom Leben dienen

87. Kraft der Teilhabe an der königlichen Sendung Christi müssen sich die Unterstützung und Förderung des menschlichen Lebens durch den Dienst der Nächstenliebe verwirklichen, der im persönlichen Zeugnis, in den verschiedenen Formen des freiwilligen Einsatzes, im sozialen Handeln und im politischen Engagement zum Ausdruck kommt. Das ist zur Stunde eine besonders dringende Forderung, da sich die »Kultur des Todes« so mächtig der »Kultur des Lebens« widersetzt und bisweilen die Oberhand zu gewinnen scheint. Davor liegt jedoch noch eine Forderung, die aus dem Glauben entsteht, »der in der Liebe wirksam ist« (Gal 5, 6), wie uns der Jakobusbrief ermahnt: »Meine Brüder, was nützt es, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke? Kann etwa der Glaube ihn retten? Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung ist und ohne das tägliche Brot, und einer von euch zu ihnen sagt: Geht in Frieden, wärmt und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen — was nützt das? So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat« (2, 14-17).

Beim Dienst der Nächstenliebe muss uns eine Haltung beseelen und kennzeichnen: wir müssen uns des anderen als Person annehmen, die von Gott unserer Verantwortung anvertraut worden ist. Als Jünger Jesu sind wir berufen, uns zum Nächsten jedes Menschen zu machen (vgl. Lk 10, 29-37) und dabei dem Ärmsten, Einsamsten und Bedürftigsten besonderen Vorzug zu gewähren. Dadurch, dass wir dem Hungernden, dem Dürstenden, dem Fremden, dem Nackten, dem Kranken, dem Gefangenen — wie auch dem ungeborenen Kind, dem alten Menschen in seinem Leiden oder unmittelbar vor seinem Tod — helfen, dürfen wir Jesus dienen, wie Er selber gesagt hat: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25, 40). Daher müssen wir uns von dem immer noch aktuellen Wort des hl. Johannes Chrysostomus angesprochen und beurteilt fühlen: »Willst du dem Leib Christi Ehre erweisen? Vernachlässige ihn nicht, wenn er nackt ist. Ehre ihn nicht hier im Tempel mit Seidenstoffen, um ihn dann draußen, wo er unter Kälte und Nacktheit leidet, unbeachtet zu lassen«.<ref>Kommentar zum Evangelium des Matthäus, L, 3: PG 58, 508. </ref>

Der Dienst der Liebe gegenüber dem Leben muss zutiefst einheitlich sein: er darf keine Einseitigkeiten und Diskriminierungen dulden, denn das menschliche Leben ist in jeder Phase und in jeder Situation heilig und unverletzlich; es ist ein unteilbares Gut. Es geht also darum, sich des ganzen Lebens und des Lebens aller »anzunehmen«. Ja, noch tiefgründiger: es gilt, bis an die eigentlichen Wurzeln des Lebens und der Liebe zu gehen.

Ausgehend von einer tiefen Liebe zu jedem Mann und jeder Frau hat sich im Laufe der Jahrhunderte eine außergewöhnliche Geschichte der Liebe entwickelt, die in das kirchliche und staatliche Leben zahlreiche Strukturen für den Dienst am Leben eingeführt hat, die bei jedem unvoreinge- nommenen Beobachter Bewunderung hervorrufen. Es ist eine Geschichte, die mit erneuertem Verantwortungsgefühl jede christliche Gemeinde durch ein vielfältiges pastorales und soziales Handeln weiterschreiben muss. In diesem Sinne müssen ausreichende und wirksame Formen der Begleitung des werdenden Lebens in die Tat umgesetzt werden, wobei es darum geht, jenen Müttern besonders nahe zu sein, die sich auch ohne Unterstützung durch den Vater nicht scheuen, ihr Kind zur Welt zu bringen und zu erziehen. Gleiche Fürsorge muss dem Leben am Rande der Gesellschaft oder im Leiden, besonders in seiner Schlussphase, erwiesen werden.

88. Das alles erfordert eine geduldige und mutige Erziehungsarbeit, die alle und jeden einzelnen dazu anhalten soll, die Last der anderen zu tragen (vgl. Gal 6, 2); es verlangt besonders unter der Jugend eine ständige Förderung von Berufungen zum Dienst; es schließt die Durchführung konkreter, fester und vom Evangelium angeregter Vorhaben und Initiativen ein.

Vielfältig sind die Mittel, die mit Kompetenz und ernsthaftem Einsatz abgeschätzt werden müssen. Im Hinblick auf den Ursprung des Lebens gilt es, die Zentren für die natürlichen Methoden der Fruchtbarkeitsregelung als eine wirksame Hilfe für die verantwortliche Elternschaft zu fördern, wobei jeder Mensch, vom Kind angefangen, um seiner selbst willen anerkannt und geachtet und jede Entscheidung vom Kriterium der aufrichtigen Selbsthingabe angeregt und geleitet wird. Auch die Ehe- und Familienberater leisten durch ihre spezifische Tätigkeit der Beratung und Vorbeugung, die sie im Licht einer der christlichen Auffassung vom Menschen, vom Paar und von der Sexualität entsprechenden Anthropologie ausüben, einen wertvollen Dienst, um den Sinn der Liebe und des Lebens wiederzuentdecken und jede Familie in ihrer Sendung als »Heiligtum des Lebens« zu unterstützen und zu begleiten. In den Dienst am werdenden Leben stellen sich auch die Zentren für Lebenshilfe und die Häuser oder Zentren zur Aufnahme des Lebens. Dank ihrer Arbeit gewinnen viele unverheiratete Mütter und in Schwierigkeiten geratene Paare wieder Sinn und Überzeugungen und finden Beistand und Hilfe, um Unbehagen und Ängste bei der Annahme eines werdenden oder gerade zur Welt gekommenen Lebens zu überwinden.

Angesichts des Lebens in elendem, herabgekommenem Zustand, in der Situation der Entgleisung, in Krankheit und am Rande der Gesellschaft sind andere Instrumente — wie die Gemeinschaften zur Wiederherstellung von Drogenabhängigen, die Wohngemeinschaften für die Minderjährigen oder die Geisteskranken, die Zentren zur Behandlung und Aufnahme von AIDS-Kranken, die Solidaritätsgemeinschaften vor allem für die Behinderten — beredter Ausdruck dessen, was sich die Liebe auszudenken vermag, um einem jeden neuen Grund zur Hoffnung und konkrete Lebensmöglichkeiten zu geben.

Wenn sich dann das irdische Dasein seinem Ende zuneigt, ist es wiederum die Liebe, die die geeignetsten Bedingungen ausfindig macht, damit alte Menschen, besonders wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen können, und die so genannten Kranken im Endstadium sich einer wirklich menschlichen Fürsorge erfreuen und Antworten erhalten können, die ihren Bedürfnissen, insbesondere ihrer Angst und Einsamkeit angemessen sind. Unersetzlich ist in diesen Fällen die Rolle der Familien; aber diese können in den sozialen Strukturen der Fürsorge und — falls notwendig — bei der Anwendung der palliativen Behandlungsmethoden große Hilfe finden, wenn sie sich geeigneter Gesundheits– und Sozialdienste bedienen, die sowohl in den öffentlichen Krankenhäu- sern, Kliniken und Pflegeheimen als auch zu Hause tätig sind.

Neu nachgedacht werden muss über die Rolle der Krankenhäuser, der Kliniken und der Pflegeheime: ihre wahre Identität ist nicht einfach jene von Strukturen, in denen man sich der Kranken und Sterbenden annimmt, sondern vor allem die Identität einer Umgebung, in welcher das Leiden, der Schmerz und der Tod in ihrer menschlichen und spezifisch christlichen Bedeutung erkannt und gedeutet werden. In besonderer Weise als klar und wirksam erweisen muss sich diese Identität in den Instituten, die von Ordensleuten abhängig oder jedenfalls an die Kirche gebunden sind.

89. Diese Strukturen und Orte des Dienstes am Leben und alle anderen Initiativen zu Hilfe und Solidarität, die die jeweiligen Situationen wachrufen können, müssen von Personen belebt werden, die auf hochherzige Weise verfügbar und sich zutiefst dessen bewusst sind, wie entscheidend das Evangelium vom Leben für das Wohl des einzelnen und der Gesellschaft ist.

Von besonderer Art ist die den im Gesundheitswesen Tätigen anvertraute Verantwortung: der Ärzte, Apotheker, Krankenschwestern und Krankenpfleger, der Seelsorger, Ordensleute, Verwalter und der freiwilligen Helfer. Ihr Beruf macht sie zu Hütern und Dienern des menschlichen Lebens. In dem heutigen kulturellen und sozialen Umfeld, in dem die Wissenschaft und die ärztliche Kunst Gefahr laufen, die ihnen eigene ethische Dimension zu verlieren, können sie bisweilen stark versucht sein, zu Urhebern der Manipulation des Lebens oder gar zu Todesvollstreckern zu werden. Angesichts dieser Versuchung ist ihre Verantwortung heute enorm gewachsen und findet ihre tiefste Inspiration und stärkste Stütze gerade in der dem Ärzteberuf innewohnenden, unumgänglichen ethischen Dimension, wie schon der alte und immer noch aktuelle hippokratische Eid erkannte, demgemäß von jedem Arzt verlangt wird, sich zur absoluten Achtung vor dem menschlichen Leben und seiner Heiligkeit zu verpflichten.

Die absolute Achtung jedes unschuldigen Menschenlebens erfordert auch die Ausübung des Einspruchs aus Gewissensgründen gegen vorsätzliche Abtreibung und Euthanasie. »Sterben lassen« darf niemals als eine medizinische Behandlung angesehen werden, auch dann nicht, wenn man nur die Absicht hätte, damit einer Bitte des Patienten nachzukommen: es ist vielmehr die Verneinung des ärztlichen Berufes, der sich als leidenschaftliches und hartnäckiges »Ja« zum Leben qualifiziert. Auch die biomedizinische Forschung, ein faszinierendes und neue große Wohltaten für die Menschheit verheißendes Gebiet, muss immer die Durchführung von Experimenten, Forschungen bzw. Anwendungen ablehnen, die infolge der Mißachtung der unverletzlichen Würde des Menschen nicht mehr im Dienst der Menschen stehen und zu Realitäten werden, die sie, obwohl sie ihnen zu helfen scheinen, tatsächlich unterdrücken.

90. Zu einer besonderen Rolle berufen sind die Personen, die sich im Freiwilligendienst engagieren: sie leisten einen wertvollen Beitrag im Dienst am Leben, wenn sie berufliche Fähigkeit und hochherzige, unentgeltliche Liebe zu verbinden verstehen. Das Evangelium vom Leben spornt sie an, die Gefühle einfacher Menschenliebe auf die Höhe der Christusliebe emporzuheben; jeden Tag inmitten von Ermüdung und Überdruß das Bewusstsein von der Würde jedes Menschen zurückzugewinnen; die Bedürfnisse der Menschen ausfindig zu machen und dabei, wenn nötig, dort neue Wege einzuschlagen, wo die Not am dringendsten ist und Beachtung und Hilfe am schwächsten sind.

Der hartnäckige Realismus der Liebe erfordert, dass dem Evangelium vom Leben auch durch Formen sozialen Handelns und politischen Engagements, durch die Verteidigung und Förderung des Wertes des Lebens in unseren immer komplexeren und pluralistischeren Gesellschaften gedient wird. Einzelne, Familien, Gruppen, Gemeinschaften haben, und sei es auch in je verschiedener Weise, eine Verantwortung im sozialen Handeln und in der Erarbeitung kultureller, wirtschaftlicher, politischer und gesetzgeberischer Vorhaben, die unter Achtung aller und nach der Logik des demokratischen Zusammenlebens zum Aufbau einer Gesellschaft beitragen sollen, in der die Würde jedes Menschen anerkannt und geschützt und das Leben aller verteidigt und gefördert wird.

Diese Aufgabe lastet im besonderen auf den Verantwortlichen für die Staatsangelegenheiten. Da sie dazu bestellt sind, dem Menschen und dem Gemeinwohl zu dienen, haben sie die Pflicht, vor allem im Bereich der von der Gesetzgebung getroffenen Verfügungen mutige Entscheidungen zugunsten des Lebens zu treffen. In einer demokratischen Regierungsform, in der auf Grund der Zustimmung vieler die Gesetze verabschiedet und die Entscheidungen gefällt werden, kann sich im Gewissen der einzelnen, die mit Autorität ausgestattet sind, der Sinn für die persönliche Verantwortung abschwächen. Aber niemand kann auf sie je verzichten, vor allem dann nicht, wenn er ein Gesetzgebungs– oder Entscheidungsmandat innehat, das ihn ruft, sich vor Gott, vor dem eigenen Gewissen und vor der Gesamtgesellschaft über Entscheidungen, die eventuell dem wirklichen Gemeinwohl entgegenstehen, zu verantworten. Wenn die Gesetze auch nicht das einzige Mittel sind, um das menschliche Leben zu verteidigen, so spielen sie doch eine sehr wichtige und manchmal entscheidende Rolle bei der Förderung einer Denkweise und einer Gewohnheit. Ich wiederhole noch einmal, dass eine Vorschrift, die das natürliche Recht auf Leben eines Unschuldigen verletzt, unrecht ist und als solche keinen Gesetzeswert haben kann. Deshalb erneuere ich mit Nachdruck meinen Appell an alle Politiker, keine Gesetze zu erlassen, die durch Mißachtung der Würde der Person das bürgerliche Zusammenleben selber an der Wurzel bedrohen.

Die Kirche weiß, dass es im Rahmen pluralistischer Demokratien wegen des Vorhandenseins starker kultureller Strömungen mit verschiedenem Ansatz schwierig ist, einen wirksamen gesetzlichen Schutz des Lebens in die Tat umzusetzen. Doch veranlasst von der Gewissheit, dass die sittliche Wahrheit im Inneren jedes Gewissens ein Echo haben muss, ermutigt sie die Politiker, angefangen bei jenen, die Christen sind, nicht zu resignieren und jene Entscheidungen zu treffen, die unter Berücksichtigung der konkreten Möglichkeiten zur Wiederherstellung einer gerechten Ordnung bei der Geltendmachung und Förderung des Wertes des Lebens führen sollen. Im Hinblick darauf muss unterstrichen werden, dass es mit der Aufhebung der ungerechten Gesetze nicht getan ist. Man wird die Ursachen beseitigen müssen, die den Angriffen gegen das Leben Vorschuß leisten, indem man vor allem für Familie und Mutterschaft die gebührende Unterstützung sicherstellt: die Familienpolitik muss Grundlage und Motor jeder Sozialpolitik sein. Es gilt daher, soziale und gesetzgeberische Initiativen in Gang zu setzen, die imstande sind, bei der Entscheidung bezüglich der Elternschaft Bedingungen echter Freiheit zu garantieren; außerdem ist es notwendig, die Arbeitspolitik, die Städtebaupolitik, die Wohnungsbau– und Dienstleistungspolitik neu zu ordnen, damit die Arbeitszeiten und der Zeitplan der Familie aufeinander abgestimmt werden können und die Betreuung der Kinder und der alten Menschen tatsächlich möglich wird.

91. Ein wichtiges Kapitel der Politik für das Leben stellt heute die Problematik des Bevökerungswachstums dar. Die staatlichen Behörden haben gewiss die Verantwortung, mit Initiativen »auf das

Bevölkerungswachstum einzuwirken«;<ref>Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 2372. </ref> aber solche Initiativen müssen immer die vorrangige und unveräußerliche Verantwortlichkeit der Ehegatten und der Familien voraussetzen und respektieren und dürfen nicht Methoden anwenden, die die Person und ihre Grundrechte missachten, angefangen bei dem Recht jedes unschuldigen menschlichen Geschöpfes auf Leben. Es ist daher sittlich unannehmbar, dass man wegen der Geburtenregelung zur Anwendung von Mitteln wie Empfängnisverhütung, Sterilisation und Abtreibung ermutigt, ja sie sogar auferlegt.

Es gibt sehr wohl andere Wege, um das Problem des Bevölkerungswachstums zu lösen: die Regierungen und die verschiedenen internationalen Einrichtungen müssen vor allem die Schaffung wirtschaftlicher, sozialer, medizinisch-sanitärer und kultureller Verhältnisse anstreben, die es den Eheleuten erlauben, ihre die Fortpflanzung betreffenden Entscheidungen in voller Freiheit und mit wirklicher Verantwortung zu treffen; sodann müssen sie sich »um die Vermehrung der Mittel und die gerechtere Verteilung des Reichtums kümmern, so dass alle gleichmäßig an den Gütern der Schöpfung beteiligt werden. Es muss nach Lösungen auf Weltebene gesucht werden durch Einrichtung einer glaubwürdigen Wirtschaftsgemeinschaft und Güterverteilung sowohl auf internationaler wie auf nationaler Ebene«.<ref>Johannes Paul II., Ansprache zur Eröffnung der 4. Vollversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Santo Domingo (12. Oktober 1992), Nr. 15: AAS 85 (1993), 819. </ref> Das ist der einzige Weg, der nicht nur die Würde der Person und der Familien, sondern auch das authentische Kulturerbe der Völker achtet.

Der Dienst am Evangelium vom Leben ist daher umfassend und vielschichtig. Er erscheint uns zunehmend als wertvoller und geeigneter Rahmen für eine tatkräftige Zusammenarbeit mit den Brüdern der anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften, und zwar auf der Linie jenes Ökumenismus der Werke, zu dem das II. Vatikanische Konzil maßgebend ermutigt hat.<ref>Vgl. Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 12; Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 90. </ref> Außerdem erscheint er als willkommener Raum für den Dialog und die Zusammenarbeit mit den Anhängern anderer Religionen und mit allen Menschen guten Willens: niemand besitzt das Monopol auf den Schutz und die Förderung des Lebens, sondern sie sind Aufgabe und Verantwortung aller. Es ist eine schwierige Herausforderung, die vor dem nahen dritten Jahrtausend vor uns liegt: allein die einträchtige Zusammenarbeit aller, die an den Wert des Lebens glauben, wird eine Niederlage der Zivilisation von unvorhersehbaren Ausmaßen vermeiden können.

»Kinder sind eine Gabe des Herrn, die Frucht des Leibes ist sein Geschenk« (Ps 127 1, 3): die Familie »Heiligtum des Lebens«

92. Innerhalb des »Volkes des Lebens und für das Leben« kommt es entscheidend auf die Verantwortlichkeit der Familie an: eine Verantwortlichkeit, die dem der Familie eigenen Wesen — nämlich auf die Ehe gegründete Lebens– und Liebesgemeinschaft zu sein — und ihrer Sendung, »die Liebe zu hüten, zu offenbaren und mitzuteilen«<ref>Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981), Nr. 17: AAS 74 (1982), 100. </ref> entspringt. Es geht um die Liebe Gottes selbst, dessen Mitwirkende und gleichsam Interpreten seiner Liebe die Eltern sind, wenn sie dem Plan des Vaters entsprechend das Leben weitergeben und erziehen.<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 50. </ref> Die Liebe wird somit zu unentgelt- lichem Dienst, zu Aufnahme, zum Geschenk: in der Familie wird ein jeder anerkannt, geachtet und geehrt, weil er Person ist, und wenn einer es nötig hat, wird ihm intensivere und aufmerksamere Fürsorge zuteil.

Die Familie wird in die gesamte Lebensspanne ihrer Mitglieder hineingezogen, von der Geburt bis zum Tod. Sie ist wahrlich »das Heiligtum des Lebens..., der Ort, an dem das Leben, Gabe Gottes, in angemessener Weise angenommen und gegen die vielfältigen Angriffe, denen es ausgesetzt ist, geschützt wird und wo es sich entsprechend den Forderungen eines echten menschlichen Wachstums entfalten kann«.<ref>Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), Nr. 39: AAS 83 (1991), 842. </ref> Darum ist die Rolle der Familie beim Aufbau der Kultur des Lebens entscheidend und unersetzlich.

Als Hauskirche ist die Familie aufgerufen, das Evangelium vom Leben zu verkünden, zu feiern und ihm zu dienen. Dies ist vor allem Aufgabe der Eheleute, die berufen sind, das Leben weiterzugeben auf der Grundlage eines immer wieder erneuerten Bewusstseins vom Sinn der Zeugung als bevorzugtem Ereignis, in dem offenbar wird, dass das menschliche Leben ein Geschenk ist, um seinerseits weitergeschenkt zu werden. Bei der Zeugung eines neuen Lebens werden die Eltern gewahr, dass ihr Kind, »wenn es Frucht ihrer gegenseitigen Schenkung aus Liebe ist, seinerseits ein Geschenk für beide ist: eine Gabe, die der Gabe entspringt«.<ref>Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer am 7. Symposion der europäischen Bischöfe über das Thema „Heutige Haltungen gegenüber Geburt und Tod: eine Herausforderung für die Evangelisierung“ (17. Oktober 1989), Nr. 5: Insegnamenti XII, 2 (1989), 945. Eben als Geschenk Gottes werden die Kinder von der biblischen Überlieferung hingestellt (vgl. Ps 127 [126],3), als Zeichen seines Segens auf dem Mann, der auf seinen We- gen wandelt (vgl. Ps 128 [127],3-4).</ref>

Vor allem durch die Erziehung der Kinder erfüllt die Familie ihre Sendung, das Evangelium vom Leben zu verkünden. Durch das Wort und das Beispiel in den täglichen Beziehungen und Entscheidungen und durch konkrete Gesten und Zeichen führen die Eltern ihre Kinder in die echte Freiheit ein, die sich in der aufrichtigen Selbsthingabe verwirklicht, und bilden in ihnen die Achtung vor dem anderen, den Gerechtigkeitssinn, die herzliche Aufnahme, den Dialog, den großzügigen Dienst, die Solidarität und jeden anderen Wert aus, der helfen soll, das Leben als ein Geschenk zu leben. Die Erziehungsarbeit der christlichen Eltern muss zum Dienst am Glauben der Kinder und zu ihnen angebotener Hilfe werden, damit sie die von Gott empfangene Berufung erfüllen können. Es gehört zum Erziehungsauftrag der Eltern, die Kinder durch Zeugnis den wahren Sinn des Leidens und Sterbens zu lehren: das wird ihnen gelingen, wenn sie jedes Leiden in ihrer Umgebung beachten und wenn sie noch vorher für die Entwicklung von Haltungen sorgen wie Nähe, Fürsorge, Anteilnahme gegenüber Kranken und Alten im Familienkreis.

93. Des weiteren feiert die Familie das Evangelium vom Leben durch das tägliche Gebet, das persönliche und das Gebet in der Familie: mit ihm lobt sie den Herrn und dankt Ihm für die Gabe des Lebens und fleht um Licht und Kraft, um mit schwierigen Situationen und Leiden fertigzuwerden, ohne die Hoffnung zu verlieren. Aber die Feier, die jeder anderen Gebets- und Kultform erst Sinn gibt, ist diejenige, die sich im alltäglichen Dasein der Familie ausdrückt, wenn es denn ein Dasein ist, das von Liebe und Sichverschenken bestimmt wird.

Die Feier wird so zu einem Dienst am Evangelium vom Leben, der sich durch die innerhalb und außerhalb der Familie als zuvorkommende, wachsame und herzliche Aufmerksamkeit in den kleinen und anspruchslosen Handlungen des Alltags erlebte Solidarität ausdrückt. Einen besonders bedeutsamen Ausdruck findet die Solidarität zwischen den Familien in der Bereitschaft, von ihren Eltern verlassene oder in schlimmen, elenden Verhältnissen lebende Kinder zu adoptieren oder sich ihrer anzunehmen. Die wahre Elternliebe kann über die Bande des Fleisches und Blutes hinausgehen und Kinder anderer Familien aufnehmen, indem ihnen geboten wird, was für ihr Leben und ihre Entfaltung nötig ist. Unter den Adoptionsmöglichkeiten verdient auch die Adoption aus der Ferne Beachtung; ihr ist in den Fällen der Vorzug zu geben, in denen die große Armut der Familie der einzige Grund dafür ist, dass ein Kind im Stich gelassen wird. Durch diesen Adoptionstyp werden den Eltern die nötigen Mittel bereitgestellt, damit sie ihre Kinder erhalten und erziehen können, ohne sie ihrer natürlichen Umgebung entwurzeln zu müssen.

Die Solidarität, die als »feste und beständige Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen«<ref>Johannes Paul II., Sollicitudo rei socialis (30. Dezember 1987), Nr. 38: AAS 80 (1988), 565-566.</ref> verstanden wird, muss auch durch Formen sozialer und politischer Beteiligung in die Tat umgesetzt werden. Infolgedessen ist der Dienst am Evangelium vom Leben damit verbunden, dass sich die Familien besonders durch aktive Mitgliedschaft in eigenen Familienverbänden darum bemühen, dass die Gesetze und Einrichtungen des Staates auf keinen Fall das Recht auf Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod verletzen, sondern es schützen und fördern.

94. Ein Sonderplatz muss den alten Menschen eingeräumt werden. Während in einigen Kulturen der Mensch vorgerückten Alters mit einer wichtigen aktiven Rolle in die Familie eingebunden bleibt, wird hingegen in anderen Kulturen der alte Mensch als eine unnütze Last empfunden und sich selbst überlassen: in einem solchen Umfeld kann leichter die Versuchung zum Rückgriff auf die Euthanasie auftauchen.

Die Abschiebung oder gar Ablehnung der alten Menschen ist unerträglich. Ihre Anwesenheit in der Familie oder wenigstens die Nähe der Familie zu ihnen, wenn es wegen beengter Wohnverhältnisse oder aus anderen Gründen keine realen Alternativen zum Krankenhaus oder Altenheim geben sollte, sind von grundlegender Bedeutung, um ein Klima gegenseitigen Austausches und bereichernder Kommunikation zwischen den verschiedenen Altersgruppen herzustellen. Es ist deshalb sehr wichtig, dass man eine Art »Vertrag« zwischen den Generationen beibehält bzw. dort, wo er verloren gegangen ist, wiederherstellt, so dass die alten Eltern, wenn sie am Ende ihres Weges angekommen sind, bei den Kindern die Aufnahme und die Solidarität finden können, die sie ihnen ihrerseits entgegengebracht haben, als diese dem Leben entgegengingen: das fordert der Gehorsam gegen das göttliche Gebot, Vater und Mutter zu ehren (vgl. Ex 20, 12; Lev 19, 3). Aber das ist nicht alles. Der alte Mensch ist nicht nur als Objekt der Aufmerksamkeit, der Nähe und des Dienstes zu betrachten. Auch er hat einen wertvollen Beitrag zum Evangelium vom Leben zu leisten. Dank des im Laufe der Jahre erworbenen reichen Erfahrungsschatzes kann und muss er einer sein, der Weisheit weitergibt sowie Zeugnis von Hoffnung und Liebe ablegt.

Auch wenn es stimmt, dass »die Zukunft der Menschheit über die Familie geht«,<ref> Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981), Nr. 85: AAS 74 (1982), 188.</ref> muss man zugeben, dass die heutigen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen die Aufgabe der Familie, dem Leben zu dienen, oft erschweren und mühsam gestalten. Damit sie ihre Berufung als »Heiligtum des Lebens«, als Zelle einer Gesellschaft, die das Leben liebt und aufnimmt, verwirklichen kann, ist es dringend nötig, dass die Familie selbst Hilfe und Unterstützung erfährt. Die Gesellschaften und die Staaten müssen ihr alle jene, auch wirtschaftliche Hilfe sicherstellen, die die Familien brauchen, damit sie ihren Problemen auf humanere Weise nachkommen können. Die Kirche ihrerseits muss unermüdlich eine Familienpastoral fördern, die jede Familie anzuspornen vermag, mit Freude und Mut ihre Sendung gegenüber dem Evangelium vom Leben wiederzuentdecken und zu leben.

»Lebt als Kinder des Lichts!« (Eph 5, 8): um eine kulturelle Wende herbeizuführen

95. »Lebt als Kinder des Lichts... Prüft, was dem Herrn gefällt, und habt nichts gemein mit den Werken der Finsternis« (Eph 5, 8. 10-11). Im heutigen gesellschaftlichen Kontext, der von einem dramatischen Kampf zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes« gekennzeichnet ist, muss man einen starken kritischen Geist zum Reifen bringen, der die wahren Werte und die echten Erfordernisse zu erkennen in der Lage ist.

Es bedarf dringend einer allgemeinen Mobilisierung der Gewissen und einer gemeinsamen sittlichen Anstrengung, um eine große Strategie zu Gunsten des Lebens in die Tat umzusetzen. Wir müssen alle zusammen eine neue Kultur des Lebens aufbauen: neu, weil sie in der Lage sein muss, die heute neu anstehenden Probleme in bezug auf das Leben des Menschen aufzugreifen und zu lösen; neu, weil sie eben mit stärkerer und tätiger Überzeugung von seiten aller Christen aufgebaut werden muss; neu, weil sie in der Lage sein muss, zu einer ernsthaften und mutigen kulturellen Gegenüberstellung mit allen anzuregen. Die Dringlichkeit dieser kulturellen Wende hängt mit der historischen Situation zusammen, in der wir uns befinden, aber sie wurzelt vor allem im Evangelisierungsauftrag, der wesenhaft zur Kirche gehört. Denn das Evangelium hat zum Ziel, »die Menschheit von innen her umzuwandeln, sie zu erneuern«;<ref>Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), Nr. 18: AAS 68 (1976), 17.</ref> es ist wie die Hefe, die den ganzen Teig durchsäuert (vgl. Mt 13, 33), und als solches dazu bestimmt, alle Kulturen zu durchdringen und sie von innen her zu beleben,<ref>Vgl. ebd., Nr. 20, a. a. O., 18. </ref> damit sie die ganze Wahrheit über den Menschen und über sein Leben zum Ausdruck bringen.

Beginnen muss man bei der Erneuerung der Kultur des Lebens innerhalb der christlichen Gemeinden selbst. Allzu oft verfallen die Gläubigen, sogar jene, die aktiv am kirchlichen Leben teilnehmen, auf eine Art Trennung zwischen dem christlichen Glauben und seinen sittlichen Forderungen in bezug auf das Leben, was schließlich zum moralischen Subjektivismus und zu manchen unannehmbaren Verhaltensweisen führt. Wir müssen uns also mit großer Klarheit und mutig fragen, welche Kultur des Lebens heutzutage unter den einzelnen Christen, in den Familien, den Gruppen und den Gemeinden unserer Diözesen verbreitet ist. Mit derselben Klarheit und Entschiedenheit müssen wir feststellen, welche Schritte wir vorzunehmen aufgerufen sind, um dem Leben der Fülle seiner Wahrheit entsprechend zu dienen. Zugleich müssen wir mit allen, auch mit den Nichtglaubenden, an den Stätten des Denkens und geistigen Schaffens ebenso wie in den verschiedenen Berufsbereichen und dort, wo sich täglich das Leben eines jeden abspielt, eine ernsthafte und gründliche Auseinandersetzung über die Grundprobleme des menschlichen Lebens anstellen.

96. Der erste und grundlegende Schritt für die Verwirklichung dieser kulturellen Wende besteht in der Bildung des sittlichen Gewissens hinsichtlich des unermeßlichen und unverletzlichen Wertes jedes Menschenlebens. Von größter Bedeutung ist die Wiederentdeckung des untrennbaren Zusammenhanges zwischen Leben und Freiheit. Das sind voneinander untrennbare Güter: wo das eine verletzt wird, wird zum Schluss auch das andere verletzt. Es gibt keine wahre Freiheit, wo das Leben nicht aufgenommen und geliebt wird; und Leben im Vollsinn gibt es nur in der Freiheit. Diese beiden Wirklichkeiten haben außerdem eine angestammte Sonderbeziehung, die sie unlösbar verbindet: die Berufung zur Liebe. Diese Liebe als aufrichtige Selbsthingabe<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 24. </ref> ist der eigentlichste Sinn des Lebens und der Freiheit der Person.

Nicht minder entscheidend bei der Gewissensbildung ist die Wiederentdeckung des Zusammenhanges, der zwischen Freiheit und Wahrheit besteht. Wie ich wiederholt hervorgehoben habe, macht es die Entwurzelung der Freiheit von der objektiven Wahrheit unmöglich, die Rechte der Person auf einer festen rationalen Basis zu begründen, und schafft die Vorbedingungen dafür, dass sich in der Gesellschaft die unlenkbare Willkür einzelner oder der beschämende Totalitarismus der staatlichen Macht durchsetzen.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), Nr. 17: AAS 83 (1991), 814; Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), Nr. 95-101: AAS 85 (1993), 1208-1213. </ref>

Es kommt also wesentlich darauf an, dass der Mensch die urgegebene Augenfälligkeit seines Zustandes als Geschöpf anerkennt, das von Gott das Sein und das Leben als Gabe und Aufgabe empfängt: nur wenn er diese seine angeborene Abhängigkeit im Sein annimmt, kann der Mensch voll sein Leben und seine Freiheit verwirklichen und zugleich zutiefst das Leben und die Freiheit jedes anderen Menschen achten. Hier vor allem erweist sich, dass »im Mittelpunkt jeder Kultur die Haltung steht, die der Mensch dem größten Geheimnis gegenüber einnimmt: dem Geheimnis Gottes«.<ref>Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), Nr. 24: AAS 83 (1991), 822.</ref> Wenn Gott geleugnet wird und man lebt, als ob Er nicht existierte oder wenn man sich nicht an seine Gebote hält, wird man am Ende auch leicht die Würde der menschlichen Person und die Unantastbarkeit ihres Lebens leugnen oder kompromittieren.

97. In engem Zusammenhang mit der Gewissensbildung steht dieErziehungsarbeit, die dem Menschen hilft, immer mehr Mensch zu sein, die ihn immer tiefer in die Wahrheit einführt, ihn zu einer wachsenden Achtung vor dem Leben anleitet und ihn für die rechten zwischenmenschlichen Beziehungen heranbildet.

Besonders notwendig ist es, zum Wert des Lebens von seinen Ursprüngen an zu erziehen. Es ist eine Illusion zu meinen, man könne eine echte Kultur des menschlichen Lebens aufbauen, wenn man den jungen Menschen nicht hilft, die Sexualität, die Liebe und das ganze Sein in ihrer wahren Bedeutung und in ihrer tiefen Wechselbeziehung zu begreifen und zu leben. Die Geschlechtlichkeit, ein Reichtum der ganzen Person, »zeigt ihre tiefste Bedeutung darin, dass sie die Person zur Hingabe ihrer selbst in der Liebe führt«.<ref>Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981), Nr. 37: AAS 74 (1982), 128.</ref> Die Banalisierung der Sexualität gehört zu den hauptsächlichen Faktoren, in denen die Verachtung des werdenden Lebens ihren Ursprung hat: nur eine echte Liebe vermag das Leben zu hüten. Man kann also nicht umhin, vor allem den Heranwachsenden und Jugendlichen die authentische Erziehung zur Sexualität und zur Liebe anzubieten, eine Erziehung, die dieErziehung zur Keuschheit als Tugend beinhaltet, die die Reife der Person fördert und sie befähigt, die »bräutliche« Bedeutung des Körpers zu achten.

Das Werk der Erziehung zum Leben schließt die Formung der Eheleute im Hinblick auf die verantwortliche Zeugung der Nachkommenschaft ein. Diese erfordert in ihrer wahren Bedeutung, dass sich die Ehegatten dem Ruf des Herrn fügen und als treue Interpreten seines Planes handeln: das ist der Fall, wenn die Familie sich großherzig neuem Leben öffnet und auch dann in einer Haltung der Offenheit für das Leben und des Dienstes an ihm bleibt, wenn die Ehepartner aus ernstzunehmenden Gründen und unter Achtung des Moralgesetzes entscheiden, vorläufig oder für unbestimmte Zeit eine neue Geburt zu vermeiden. Das Moralgesetz verpflichtet sie in jedem Fall, die Neigungen des Instinkts und der Leidenschaften zu beherrschen und die ihrer Person eingeschriebenen biologischen Gesetze zu beachten. Im Dienst der Verantwortlichkeit bei der Zeugung erlaubt gerade diese Beachtung die Anwendung der natürlichen Methoden der Fruchtbarkeitsregelung: sie werden vom wissenschaftlichen Standpunkt her immer besser erklärt und bieten konkrete Möglichkeiten für Entscheidungen an, die mit den sittlichen Werten im Einklang stehen. Eine gewissenhafte Betrachtung der erzielten Ergebnisse müsste noch zu sehr verbreitete Vorurteile fallen lassen und die Gatten sowie das im Gesundheits- und im Sozialdienst tätige Personal von der Wichtigkeit einer diesbezüglich angemessenen Aufklärung überzeugen. Die Kirche ist denjenigen dankbar, die sich unter persönlichen Opfern und mit oft verkannter Hingabe für die Erforschung und Verbreitung solcher Methoden einsetzen und gleichzeitig eine Erziehung zu den sittlichen Werten fördern, die deren Anwendung voraussetzt.

Die Erziehungsarbeit muss auch das Leiden und den Tod in Betracht ziehen. Tatsächlich gehören sie ja zur menschlichen Erfahrung, und es ist vergeblich und darüber hinaus abwegig zu versuchen, sie einer Zensur zu unterwerfen oder zu verdrängen. Hingegen soll jedem geholfen werden, ihr tiefes Geheimnis in der konkreten und harten Wirklichkeit zu erfassen. Auch der Schmerz und das Leiden haben einen Sinn und einen Wert, wenn sie in enger Verbindung mit der empfangenen und verschenkten Liebe gelebt werden. In dieser Perspektive wollte ich, dass man jedes Jahr den Welttag der Kranken begehe, wobei ich »den Heilswert der Aufopferung des Leidens« betonte, »das, in Vereinigung mit Christus ertragen, zum eigentlichen Wesen der Erlösung gehört«.<ref>Schreiben zur Einrichtung des Welttages der Kranken (13. Mai 1992), Nr. 2: Insegnamenti XV, 1 (1992), 1410.</ref> Im übrigen ist sogar der Tod alles andere als ein Abenteuer ohne Hoffnung: er ist das Tor des Lebens, das sich zur Ewigkeit hin auftut, und für alle, die ihn bewusst in Christus leben, ist er Erfahrung der Teilhabe am Geheimnis von Tod und Auferstehung.

98. Zusammenfassend können wir sagen, dass die hier herbeigewünschte kulturelle Wende von allen den Mut verlangt, einen neuen Lebensstil zu entfalten, der sich darin ausdrückt, dass den konkreten Entscheidungen — auf persönlicher, familiärer, gesellschaftlicher und internationaler Ebene — die rechte Werteskala zugrunde gelegt wird: der Vorrang des Seins vor dem Haben,<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 35; Paul VI., Enzyklika Populorum progressio (26. März 1967), Nr. 15: AAS 59 (1967), 265.</ref> der Person vor den Dingen.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane (2. Februar 1994), Nr. 13: AAS 86 (1994), 892.</ref> Dieser erneuerte Lebensstil schließt auch ein, dass wir uns ändern von der Gleichgültigkeit zur Anteilnahme für den anderen und von der Ablehnung zu seiner Aufnahme: die anderen sind nicht Konkurrenten, vor denen wir uns verteidigen müssen, sondern Brüder und Schwestern, mit denen wir solidarisch sein sollen; sie müssen um ihrer selbst willen geliebt werden; sie bereichern uns durch ihre Gegenwart.

Bei der Mobilisierung für eine neue Kultur des Lebens darf sich niemand ausgeschlossen fühlen: alle haben eine wichtige Rolle zu erfüllen. Neben der Aufgabe der Familien ist jene der Lehrer und der Erzieher besonders wertvoll. Es wird sehr von ihnen abhängen, ob die auf eine echte Freiheit vorbereiteten jungen Leute imstande sein werden, echte Ideale vom Leben in sich zu bewahren und um sich herum zu verbreiten und in der Achtung vor jedem und im Dienst an jedem Menschen in Familie und Gesellschaft zu wachsen.

Auch die Intellektuellen können viel für den Aufbau einer neuen Kultur des menschlichen Lebens tun. Eine besondere Aufgabe obliegt den katholischen Intellektuellen, die aufgerufen sind, aktiv präsent zu sein an den bevorzugten Stätten des kulturellen Schaffens, in der Welt der Schule und der Universität, in den Kreisen der wissenschaftlichen und technischen Forschung, an den Orten des künstlerischen Schaffens und der humanistischen Reflexion. Sie sollen ihren Geist und ihr Handeln aus den klaren lebenspendenden Säften des Evangeliums nähren und sich engagieren im Dienst einer neuen Kultur des Lebens, durch die Erstellung ernsthafter, gut dokumentierter Beiträge, die wegen ihres Wertes das Ansehen und das Interesse aller auf sich zu ziehen vermögen. Gerade aus dieser Sicht habe ich die Päpstliche Akademie für das Leben mit der Aufgabe eingerichtet, »zu studieren, zu informieren und zu bilden über die Hauptprobleme der Biomedizin und des Rechts, die im Zusammenhang mit der Förderung und der Verteidigung des Lebens stehen, vor allem in der direkten Beziehung, die sie mit der christlichen Moral und den Anweisungen des Lehramtes der Kirche haben«.<ref>Johannes Paul II., Motu proprio Vitae mysterium (11. Februar 1994), Nr. 4: AAS 86 (1994), 386-387.</ref> Ein Beitrag spezifischer Art wird auch von den Universitäten, im besonderen von den katholischen, und von den Zentren, Instituten und Komitees für Bioethik kommen müssen.

Groß und schwer ist die Verantwortung der in den Massenmedien Tätigen, die aufgerufen sind, sich dafür einzusetzen, dass die mit so großer Wirksamkeit weitergegebenen Botschaften zur Kultur des Lebens beitragen mögen. Sie müssen also erhabene und vornehme Lebensbeispiele präsentieren und den positiven und mitunter heroischen Zeugnissen von der Liebe zum Menschen Raum verschaffen; mit großem Respekt die Werte der Sexualität und der Liebe vorstellen, ohne sich über das zu verbreiten, was die Würde des Menschen entstellt und herabsetzt. Beim Lesen der Wirklichkeit müssen sie sich weigern etwas herauszustellen, was Gefühle oder Haltungen der Gleichgültigkeit, Verachtung oder Ablehnung gegenüber dem Leben wecken oder wachsen lassen kann. In gewissenhafter Treue zur Wahrheit der Tatsachen sind sie aufgerufen, die Freiheit der Information, die Achtung vor jeder Person und einen tiefen Sinn für Humanität miteinander zu verbinden.

99. Bei der kulturellen Wende zu Gunsten des Lebens haben die Frauen einen einzigartigen und vielleicht entscheidenden Denk– und Handlungsspielraum: sie sind es, die einen »neuen Feminismus« fördern müssen, der, ohne in die Versuchung zu verfallen, »Männlichkeits«-Vorbildern nachzujagen, durch den Einsatz zur Überwindung jeder Form von Diskriminierung, Gewalt und Ausbeutung den echten weiblichen Geist in allen Ausdrucksformen des bürgerlichen Zusammenlebens zu erkennen und zu bekunden versteht.

Indem ich die Worte der Schlussbotschaft des II. Vatikanischen Konzils aufgreife, richte auch ich an die Frauen die dringende Aufforderung: Versöhnt die Menschen mit dem Leben!«.<ref>Botschaften des Konzils an die Menschheit (8. Dezember 1965): an die Frauen. </ref> Ihr seid berufen, den Sinn der echten Liebe zu bezeugen, jener Selbsthingabe und jener Aufnahme des anderen, die sich zwar auf besondere Weise in der ehelichen Beziehung verwirklichen, die aber die Seele jeder anderen zwischenmenschlichen Beziehung sein sollen. Die Erfahrung der Mutterschaft begünstigt in euch eine scharfe Sensibilität für den anderen Menschen und überträgt euch zugleich eine besondere Aufgabe: »Die Mutterschaft enthält eine besondere Gemeinschaft mit dem Geheimnis des Lebens, das im Schoß der Frau heranreift... Diese einmalige Weise des Kontaktes mit dem neuen Menschen, der Gestalt annimmt, schafft seinerseits eine derartige Einstellung zum Menschen — nicht nur zum eigenen Kind, sondern zum Menschen als solchem —, dass dadurch die ganze Persönlichkeit der Frau tief geprägt wird«.<ref>Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Mulieris dignitatem (15. August 1988), Nr. 18: AAS 80 (1988), 1696. </ref> Denn die Mutter nimmt einen anderen Menschen auf und trägt ihn in sich, gibt ihm die Möglichkeit, in ihr heranzuwachsen, macht ihm Platz und achtet ihn zugleich in seinem Anderssein. So nimmt die Frau wahr und lehrt, dass die menschlichen Beziehungen glaubwürdig sind, wenn sie sich der Aufnahme des anderen Menschen öffnen, der um der Würde willen anerkannt und geliebt wird, die ihm aus der Tatsache seines Personseins und nicht aus anderen Faktoren, wie Nützlichkeit, Kraft, Intelligenz, Schönheit, Gesundheit, zukommt. Das ist der fundamentale Beitrag, den sich die Kirche und die Menschheit von den Frauen erwarten. Und es ist die unersetzliche Voraussetzung für eine echte kulturelle Wende.

Einen besonderen Gedanken möchte ich euch, den Frauen, vorbehalten, die sich für eine Abtreibung entschieden haben. Die Kirche weiß, wie viele Bedingtheiten auf eure Entscheidung Einfluß genommen haben können, und sie bezweifelt nicht, dass es sich in vielen Fällen um eine leidvolle, vielleicht dramatische Entscheidung gehandelt hat. Die Wunde in eurem Herzen ist wahrscheinlich noch nicht vernarbt. Was geschehen ist, war und bleibt in der Tat zutiefst unrecht. Laßt euch jedoch nicht von Mutlosigkeit ergreifen und gebt die Hoffnung nicht auf. Sucht vielmehr das Geschehene zu verstehen und interpretiert es in seiner Wahrheit. Falls ihr es noch nicht getan habt, öffnet euch voll Demut und Vertrauen der Reue: der Vater allen Erbarmens wartet auf euch, um euch im Sakrament der Versöhnung seine Vergebung und seinen Frieden anzubieten. Euer Kind aber könnt ihr diesem Vater und seiner Barmherzigkeit mit Hoffnung anvertrauen. Mit Hilfe des Rates und der Nähe befreundeter und zuständiger Menschen werdet ihr mit eurem erlittenen Zeugnis unter den beredtesten Verfechterinnen des Rechtes aller auf Leben sein können. Durch euren Einsatz für das Leben, der eventuell von der Geburt neuer Geschöpfe gekrönt und mit der Aufnahme und Aufmerksamkeit gegenüber dem ausgeübt wird, der der Nähe am meisten bedarf, werdet ihr eine neue Betrachtungsweise des menschlichen Lebens schaffen.

100. Bei dieser großen Anstrengung für eine neue Kultur des Lebens werden wir von dem Vertrauen derer unterstützt und angeregt, die wissen, dass das Evangelium vom Leben wie das Reich Gottes wächst und seine reichen Früchte bringt (vgl. Mk 4, 26-29). Sicherlich besteht ein enormes Mißverhältnis zwischen den zahllosen und mächtigen Mitteln, mit denen die Kräfte ausgestattet sind, die zur Unterstützung der »Kultur des Todes« am Werk sind, und jenen, über die die Förderer einer »Kultur des Lebens und der Liebe« verfügen. Doch wissen wir, dass wir auf die Hilfe Gottes vertrauen dürfen, für den nichts unmöglich ist (vgl. Mt 19, 26).

Mit dieser Gewissheit im Herzen und bewegt von der betrübten Sorge um das Schicksal jedes Mannes und jeder Frau, wiederhole ich heute für alle, was ich den Familien gesagt habe, die sich unter den sie bedrohenden Gefahren in ihren schwierigen Aufgaben engagieren:<ref>Vgl. Johannes Paul II., Brief an die Familien Gratissimam sane (2. Februar 1994), Nr. 5: AAS 86 (1994), 872. </ref> es bedarf dringend eines großangelegten Gebetes für das Leben, das die ganze Welt durchdringen soll. Mit außerordentlichen Initiativen und im gewohnten Gebet möge von jeder christlichen Gemeinde, von jeder Gruppe oder Vereinigung, von jeder Familie und vom Herzen jedes Gläubigen ein leidenschaftliches, inständiges Bittgebet zu Gott, dem Schöpfer und Freund des Lebens, emporsteigen. Jesus selber hat uns durch sein Beispiel gezeigt, dass Gebet und Fasten die hauptsächlichen und wirksamsten Waffen gegen die Kräfte des Bösen sind (vgl. Mt 4, 1-11), und hat seine Jünger gelehrt, dass manche Dämonen sich nur auf diese Weise austreiben lassen (vgl. Mk 9, 29). Finden wir also wieder die Demut und den Mut zum Beten und Fasten, um zu erreichen, dass die Kraft, die vom Himmel kommt, die Mauern aus Betrug und Lüge zum Einsturz bringt, die die perverse Natur lebensfeindlicher Verhaltensweisen und Gesetze vor den Blicken vieler unserer Brüder und Schwestern verbergen, und ihre Herzen für die Vorschläge und Absichten öffnet, die sich an der Zivilisation des Lebens und der Liebe inspirieren.

»Wir schreiben dies, damit unsere Freude vollkommen ist« (1 Joh 1, 4): das Evangelium vom Leben ist für die Gesellschaft der Menschen

101. »Wir schreiben dies, damit unsere Freude vollkommen ist« (1 Joh 1, 4). Die Offenbarung des Evangeliums vom Leben ist uns als Gut gegeben, das allen mitgeteilt werden soll: damit alle Menschen mit uns und mit der Dreifaltigkeit Gemeinschaft haben (vgl. 1 Joh 1, 3). Unsere Freude könnte gar nicht vollkommen sein, wenn wir dieses Evangelium den anderen nicht mitteilten, sondern es nur für uns behielten.

Das Evangelium vom Leben ist nicht ausschließlich für die Gläubigen da: es ist für alle da. Die Frage des Lebens und seiner Verteidigung und Förderung ist nicht alleiniges Vorrecht der Christen. Auch wenn es vom Glauben außerordentliches Licht und Kraft empfängt, gehört es jedem menschlichen Gewissen, das sich nach der Wahrheit sehnt und um das Schicksal der Menschheit bedacht und besorgt ist. Es gibt im Leben sicherlich einen heiligen und religiösen Wert, aber er betrifft keineswegs nur die Gläubigen: es geht in der Tat um einen Wert, den jeder Mensch auch im Lichte der Vernunft erfassen kann und der deshalb notwendigerweise alle betrifft.

Unser Handeln als »Volk des Lebens und für das Leben« verlangt daher, richtig ausgelegt und mit Sympathie aufgenommen zu werden. Wenn die Kirche die unbedingte Achtung vor dem Recht auf Leben jedes unschuldigen Menschen — von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Tod — zu einer der Säulen erklärt, auf die sich jede bürgerliche Gesellschaft stützt, »will sie lediglich einen humanen Staat fördern. Einen Staat, der die Verteidigung der Grundrechte der menschlichen Person, besonders der schwächsten, als ihre vorrangige Pflicht anerkennt«.<ref>Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer am Studienkongress über „Das Recht auf Leben und Europa“ (18. Dezember 1987): Insegnamenti X, 3 (1987), 1446. </ref>

Das Evangelium vom Leben ist für die Gesellschaft der Menschen da. Für das Leben eintreten heißt zur Erneuerung der Gesellschaft durch den Aufbau des Gemeinwohls beitragen. Denn ohne Anerkennung und Schutz des Rechtes auf Leben, auf dem alle anderen unveräußerlichen Rechte des Menschen beruhen und sich entwickeln, lässt sich das Gemeinwohl unmöglich aufbauen. Noch kann eine Gesellschaft gesicherte Grundlagen haben, die — während sie Werte wie Würde der Person, Gerechtigkeit und Frieden geltend macht — sich von Grund auf widerspricht, wenn sie die verschiedensten Formen von Mißachtung und Verletzung des menschlichen Lebens akzeptiert oder duldet, vor allem, wenn es sich um schwaches oder ausgegrenztes Leben handelt. Nur die Achtung vor dem Leben kann die wertvollsten und notwendigsten Güter der Gesellschaft, wie die Demokratie und den Frieden, stützen und garantieren.

Es kann in der Tat keine echte Demokratie geben, wenn nicht die Würde jeder Person anerkannt wird und seine Rechte nicht respektiert werden.

Und es kann auch keinen wahren Frieden geben, wenn man nicht das Leben verteidigt und fördert. Daran erinnerte Paul VI.: »Jedes Vergehen gegen das Leben ist ein Attentat auf den Frieden, besonders wenn dabei die Sitten des Volkes verletzt werden 1. Wo aber die Menschenrechte wirklich ernst genommen und öffentlich anerkannt und verteidigt werden, dort kann der Friede zu einer Atmosphäre werden, in der sich das soziale Zusammenleben glücklich und wirkungsvoll entwickelt«.<ref>Paul VI., Botschaft zum Weltfriedenstag 1977: AAS 68 (1976), 711-712. </ref>

Das »Volk des Lebens« freut sich, seinen Einsatz mit vielen anderen teilen zu können, so dass das »Volk für das Leben« immer zahlreicher wird und die neue Kultur der Liebe und Solidarität wachsen kann zum wahren Wohl der Gesellschaft der Menschen.

SCHLUSS

102. Am Ende dieser Enzyklika kehrt der Blick unwillkürlich zum Herrn Jesus zurück, »der uns als Kind geboren worden ist« (vgl. Jes 9, 5), um in ihm »das Leben« zu betrachten, »das offenbart wurde« (1 Joh 1, 2). Im Geheimnis dieser Geburt vollzieht sich die Begegnung Gottes mit dem Menschen und beginnt der Weg des Gottessohnes auf Erden, ein Weg, der im Verschenken seines Lebens am Kreuz seinen Höhepunkt erreichen wird: mit seinem Tod wir Er den Tod besiegen und für die ganze Menschheit zum Prinzip neuen Lebens werden.

Maria, die Jungfrau und Mutter, war es, die »das Leben« im Namen aller und zum Heil aller empfing. Sie steht also in engster persönlicher Beziehung zum Evangelium vom Leben. Die Zustimmung Mariens bei der Verkündigung und ihre Mutterschaft stehen am Ursprung des Geheimnisses des Lebens, das den Menschen zu schenken Christus gekommen ist (vgl. Joh 10, 10). Durch ihre Aufnahme und ihre bereitwillige Fürsorge um das Leben des fleischgewordenen Wortes ist das Leben des Menschen der Verdammnis des endgültigen und ewigen Todes entzogen worden.

Darum ist Maria »Mutter aller, die zum Leben wiedergeboren werden, genauso wie die Kirche, deren Vorbild sie ist. Sie ist Mutter jenes Lebens, von dem alle leben. Dadurch, dass sie das Leben gebar, hat sie jene zu neuem Leben erweckt, die von diesem Leben leben sollten«.<ref>B. GUERRICUS D’IGNY, In Assumptione B. Mariae, Sermo I, 2: PL 185, 188. </ref>

Bei der Betrachtung der Mutterschaft Mariens entdeckt die Kirche den Sinn ihrer eigenen Mutterschaft und die Art, wie sie diese zum Ausdruck zu bringen berufen ist. Gleichzeitig enthüllt die Muttererfahrung der Kirche die tiefgründigste Sicht, um die Erfahrung Mariens als unvergleichliches Vorbild für die Aufnahme und Pflege des Lebens zu begreifen.

»Es erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet« (Offb 12, 1): die Mutterschaft Mariens und der Kirche

103. Die gegenseitige Beziehung zwischen dem Geheimnis der Kirche und Maria drückt sich deutlich im »großen Zeichen« aus, wie es in der Offenbarung beschrieben ist: »Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füs- sen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt« (12, 1). In diesem Zeichen erkennt die Kirche ein Bild ihres Geheimnisses: auch wenn sie in die Geschichte eingetaucht ist, ist sie sich zugleich bewusst, dass sie diese übersteigt, insofern sie auf Erden den »Keim und Anfang« des Reiches Gottes darstellt.<ref>II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, Nr. 5. </ref> Dieses Geheimnis sieht die Kirche voll und beispielhaft in Maria verwirklicht. Sie ist die glorreiche Frau, in der der Plan Gottes mit größter Vollkommenheit ausgeführt werden konnte.

Die »mit der Sonne bekleidete Frau« — berichtet das Buch der Offenbarung — »war schwanger« (12, 2). Die Kirche ist sich voll dessen bewusst, dass sie den Retter der Welt, den Herrn Christus, in sich trägt und berufen ist, ihn der Welt zu schenken, indem sie die Menschen wieder zum Leben Gottes selbst erweckt. Sie kann jedoch nicht vergessen, dass diese ihre Sendung nur durch die Mutterschaft Mariens möglich geworden ist, die den empfangen und zur Welt gebracht hat, der »Gott von Gott«, »wahrer Gott vom wahren Gott« ist. Maria ist wahrhaft Gottesmutter, die Theotokos, in deren Mutterschaft die von Gott jeder Frau eingeschriebene Berufung zur Mutterschaft auf die höchste Stufe erhoben wurde. So wird Maria zum Vorbild für die Kirche, dazu berufen, die »neue Eva«, Mutter der Glaubenden, Mutter der »Lebenden« zu sein (vgl. Gen 3, 20).

Die geistige Mutterschaft der Kirche — auch dessen ist sich die Kirche bewusst — verwirklicht sich nur inmitten der Schmerzen und »Geburtswehen« (Offb 12, 2), d.h. in der ewigen Auseinandersetzung mit den Kräften des Bösen, die die Welt auch weiterhin überziehen und im Widerstand gegen Christus das Herz der Menschen markieren: »In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst« (Joh 1, 4-5).

Wie die Kirche, so musste auch Maria ihre Mutterschaft im Zeichen des Leidens leben: »Dieser... wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden. Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen« (Lk 2, 34-35). In den Worten, die am Beginn des Erdendaseins des Erlösers Simeon an Maria richtet, ist jene Ablehnung gegenüber Jesus und mit Ihm gegenüber Maria bildlich zusammengefasst, die auf dem Kalvarienberg ihren Höhepunkt erreichen wird. »Bei dem Kreuz Jesu« (Joh 19, 25) hat Maria teil an dem Sichverschenken ihres Sohnes: sie bietet Jesus dar, sie schenkt ihn, sie bringt ihn endgültig für uns zur Welt. Das »Ja« vom Tag der Verkündigung gelangt am Tag des Kreuzes zur vollen Reife, als für Maria die Zeit kommt, jeden Menschen, der zum Jünger geworden ist, als Sohn aufzunehmen und zur Welt zu bringen, indem sie die erlösende Liebe des Sohnes über ihn ausgießt: »Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: 'Frau, siehe, dein Sohn!?« (Joh 19, 26).

»Der Drache stand vor der Frau...; er wollte ihr Kind verschlingen, sobald es geboren war« (Offb 12, 4): das von den Mächten des Bösen bedrohte Leben

104. Im Buch der Offenbarung wird das »große Zeichen« der »Frau« (12, 1) von »einem anderen Zeichen am Himmel« begleitet: »einem Drachen, groß und feuerrot« (12, 3), der Satan verkörpert, die verderbenbringende Macht in Person, und zugleich alle Kräfte des Bösen, die in der Geschichte am Werk sind und sich der Sendung der Kirche widersetzen.

Auch darin erleuchtet Maria die Gemeinschaft der Glaubenden: die Feindseligkeit der Kräfte des Bösen ist tatsächlich ein heimlicher Widerstand, der sich, ehe er die Jünger Jesu trifft, gegen seine Mutter richtet. Um das Leben des Sohnes vor denen zu retten, die ihn als eine gefährliche Bedrohung fürchten, muss Maria mit Josef und dem Kind nach Ägypten fliehen (vgl. Mt 2, 13-15).

Maria hilft so der Kirche, sich bewusst zu werden, dass das Leben immer im Mittelpunkt eines großen Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis steht. Das Kind, das, »sobald es geboren war« (Offb 12, 4), will der Drache verschlingen; es ist die Gestalt Christi, den Maria, »als die Zeit erfüllt war« (Gal 4, 4), zur Welt bringt und den die Kirche beständig den Menschen der verschiedenen Epochen der Geschichte anbieten muss. Aber es ist in gewisser Weise auch die Gestalt jedes Menschen, jedes Kindes, besonders jedes schwachen und bedrohten Geschöpfes, denn — wie uns das Konzil erinnert — »der Sohn Gottes hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt«.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 22. </ref> Gerade im »Fleisch« jedes Menschen offenbart sich Christus weiter und tritt in Gemeinschaft mit uns, so dass die Ablehnung des Lebens des Menschen in ihren verschiedenen Formen tatsächlich eine Ablehnung Christi ist. Das ist die faszinierende und zugleich anspruchsvolle Wahrheit, die uns Christus offenbart und die seine Kirche unermüdlich vorstellt: »Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf« (Mt 18, 5); »Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25, 40).

»Der Tod wird nicht mehr sein« (Offb 21, 4): die Herrlichkeit der Auferstehung

105. Die Verkündigung des Engels an Maria ist in die beruhigenden Worte eingeschlossen: »Fürchte dich nicht, Maria« und »Für Gott ist nichts unmöglich« (Lk 1, 30.37). In Wahrheit ist die ganze Existenz der Jungfrau und Mutter eingehüllt von der Gewissheit, dass Gott ihr nahe ist und sie begleitet mit seinem sorgenden Wohlwollen. Das gilt auch für die Kirche, die »einen Zufluchtsort« (Offb 12, 6) in der Wüste findet, dem Ort der Prüfung, aber auch der Offenbarung der Liebe Gottes zu seinem Volk (vgl. Hos 2, 16). Maria ist das lebendige Wort des Trostes für die Kirche in ihrem Kampf gegen den Tod. Indem sie uns auf den Sohn verweist, versichert sie uns, dass in Ihm die Kräfte des Todes bereits besiegt sind: »Tod und Leben, die kämpften unbegreiflichen Zweikampf; des Lebens Fürst, der starb, herrscht nun lebend«.<ref>Missale Romanum, Sequenz zum Ostersonntag. </ref>

Das geschlachtete Lamm lebt mit den Zeichen der Passion in der Herrlichkeit der Auferstehung. Es allein beherrscht das ganze Geschehen der Geschichte: es öffnet deren »Siegel« (vgl. Offb 5, 1-10) und macht in der Zeit und über sie hinaus die Macht des Lebens über den Tod geltend. Im »neuen Jerusalem«, d.h. in der neuen Welt, auf die die Geschichte der Menschen gerichtet ist, wird »der Tod nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen« (Offb 21, 4).

Und während wir als pilgerndes Volk, als Volk des Lebens und für das Leben, vertrauensvoll auf »einen neuen Himmel und eine neue Erde« (Offb 21, 1) zugehen, wenden wir den Blick auf sie, die für uns »Zeichen der sicheren Hoffnung und des Trostes«<ref>II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, Nr. 68.</ref> ist.

O Maria,

Morgenröte der neuen Welt,
Mutter der Lebendigen,
Dir vertrauen wir die Sache des Lebens an:
o Mutter, blicke auf die grenzenlose Zahl
von Kindern, denen verwehrt wird,
geboren zu werden,
von Armen, die es schwer haben zu leben,
von Männern und Frauen,
die Opfer unmenschlicher Gewalt wurden,
von Alten und Kranken,
die aus Gleichgültigkeit
oder angeblichem Mitleid getötet wurden.
Bewirke, dass alle,
die an deinen Sohn glauben,
den Menschen unserer Zeit
mit Freimut und Liebe
das Evangelium vom Leben verkünden können.
Vermittle ihnen die Gnade, es anzunehmen
als je neues Geschenk
die Freude, es über ihr ganzes Dasein hinweg
in Dankbarkeit zu feiern,
und den Mut, es mit mühseliger Ausdauer
zu bezeugen,
um zusammen mit allen Menschen
guten Willens
die Zivilisation der Wahrheit und der Liebe
zu errichten,
zum Lob und zur Herrlichkeit Gottes,
des Schöpfers und Freundes des Lebens.

Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, am 25. März 1995,
dem Hochfest der Verkündigung des Herrn,
im siebzehnten Jahr meines Pontifikats.

Johannes Paul II. PP.

Anmerkungen

<references />