Evangelium vitae (Wortlaut)

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Enzyklika
Evangelium vitae

unseres Heiligen Vaters
Johannes Paul II.
an die Bischöfe, Priester und Diakone, die Ordensleute und Laien sowie an alle Menschen guten Willens
über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens
24. Mai 1995

(Offizieller lateinischer Text AAS 87 [1995] 401-522)

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite.
Anmerkungen aus: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 120.
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


EINFÜHRUNG

1. Das Evangelium vom Leben liegt der Botschaft Jesu am Herzen. Von der Kirche jeden Tag liebevoll aufgenommen soll es mit beherzter Treue als Frohe Botschaft allen Menschen jeden Zeitalters und jeder Kultur verkündet werden.

Am Beginn des Heils steht die Geburt eines Kindes, die als frohe Nachricht verkündet wird: »Ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr« (Lk 2, 10-11). Gewiss ist es die Geburt des Erlösers, die diese »große Freude« ausstrahlt; aber zu Weihnachten wird auch der volle Sinn jeder menschlichen Geburt offenbar, und die messianische Freude erscheint so als Fundament und Erfüllung der Freude über jedes Kind, das geboren wird (vgl. Joh 16, 21).

Den zentralen Kern seines Erlösungsauftrags stellt Jesus mit den Worten vor: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10, 10). Tatsächlich bezieht Er sich auf jenes »neue« und »ewige« Leben, das in der Gemeinschaft mit dem Vater besteht, zu der jeder Mensch im Sohn durch das Wirken des heiligmachenden Geistes unentgeltlich gerufen ist. Doch eben in diesem »Leben« gewinnen sämtliche Aspekte und Momente des Lebens des Menschen ihre volle Bedeutung.

Der unvergleichliche Wert der menschlichen Person

2. Der Mensch ist zu einer Lebensfülle berufen, die weit über die Dimensionen seiner irdischen Existenz hinausgeht, da sie in der Teilhabe am Leben Gottes selber besteht. Die Erhabenheit dieser übernatürlichen Berufung enthüllt die Größe und Kostbarkeit des menschlichen Lebens auch in seinem zeitlich-irdischen Stadium. Denn das Leben in der Zeit ist Grundvoraussetzung, Einstiegsmoment und integrierender Bestandteil des gesamten einheitlichen Lebensprozesses des menschlichen Seins. Eines Prozesses, der unerwarteter- und unverdienterweise von der Verheißung erleuchtet und vom Geschenk des göttlichen Lebens erneuert wird, das in der Ewigkeit zu seiner vollen Erfüllung gelangen wird (vgl. 1 Joh 3, 1-2). Zugleich unterstreicht diese übernatürliche Berufung die Relativität des irdischen Lebens von Mann und Frau. In Wahrheit ist es nicht »letzte«, sondern »vorletzte« Wirklichkeit; es ist also heilige Wirklichkeit, die uns anvertraut wird, damit wir sie mit Verantwortungsgefühl hüten und in der Liebe und Selbsthingabe an Gott sowie an die Schwestern und Brüder zur Vollendung bringen.

Die Kirche weiß, dass dieses Evangelium vom Leben, das ihr von ihrem Herrn anvertraut wurde,<ref>Tatsächlich findet sich der Ausdruck „Evangelium vom Leben“ als solcher nicht in der Heiligen Schrift. Er entspricht jedoch einem wesentlichen Aspekt der biblischen Botschaft.</ref> im Herzen jedes gläubigen, aber auch nicht gläubigen Menschen tiefen und überzeugenden Widerhall findet, weil es seinen Erwartungen, während es unendlich über diese hinausgeht, überraschenderweise entspricht. Selbst in Schwierigkeiten und Unsicherheiten vermag jeder Mensch, der in ehrlicher Weise für die Wahrheit und das Gute offen ist, im Licht der Vernunft und nicht ohne den geheimnisvollen Einfluß der Gnade im ins Herz geschriebenen Naturgesetz (vgl. Röm 2, 14-15) den heiligen Wert des menschlichen Lebens vom ersten Augenblick bis zu seinem Ende zu erkennen und das Recht jedes Menschen zu bejahen, dass dieses sein wichtigstes Gut in höchstem Mabe geachtet werde. Auf der Anerkennung dieses Rechtes beruht das menschliche Zusammenleben und das politische Gemeinwesen.

Besonders verteidigen und fördern müssen dieses Recht die Christgläubigen im Bewusstsein der wunderbaren Wahrheit, an die das II. Vatikanische Konzil erinnert: »Der Sohn Gottes hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt«.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 22. </ref> Denn in diesem Heilsereignis offenbart sich der Menschheit nicht nur die unendliche Liebe Gottes, der »die Welt so sehr geliebt (hat), dass er seinen einzigen Sohn hingab« (Joh 3, 16), sondern auch der unvergleichliche Wert jeder menschlichen Person.

Und während die Kirche beharrlich das Geheimnis der Erlösung ergründet, erfasst sie mit immer neuem Staunen <ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), Nr. 10: AAS 71 (1979), 275. </ref> diesen Wert und fühlt sich aufgerufen, dieses »Evangelium«, Quelle unbesiegbarer Hoffnung und wahrer Freude für jede Epoche der Geschichte, den Menschen aller Zeiten zu verkünden. Das Evangelium von der Liebe Gottes zum Menschen, das Evangelium von der Würde der Person und das Evangelium vom Leben sind ein einziges, unteilbares Evangelium.

Der Mensch, der lebendige Mensch stellt den ersten und grundlegenden Weg der Kirche dar.<ref>Vgl. ebd., Nr. 14: a. a. O., 285. </ref>

Die neuen Bedrohungen des menschlichen Lebens

3. Jeder Mensch ist auf Grund des Geheimnisses vom fleischgewordenen Wort Gottes (vgl. Joh 1, 14) der mütterlichen Sorge der Kirche anvertraut. Darum muss jede Bedrohung der Würde und des Lebens des Menschen eine Reaktion im Herzen der Kirche auslösen, sie muss sie im Zentrum ihres Glaubens an die erlösende Menschwerdung des Gottessohnes treffen, sie muss sie miteinbeziehen in ihren Auftrag, in der ganzen Welt und allen Geschöpfen das Evangelium vom Leben zu verkünden (vgl. Mk 16, 15).

Heute erweist sich diese Verkündigung als besonders dringend angesichts der erschütternden Vermehrung und Verschärfung der Bedrohungen des Lebens von Personen und Völkern, vor allem dann, wenn es schwach und wehrlos ist. Zu den alten schmerzlichen Plagen von Elend, Hunger, endemischen Krankheiten, Gewalt und Kriegen gesellen sich andere unbekannter Art und von beunruhigenden Ausmaßen.

Schon das Zweite Vatikanische Konzil beklagte an einer Stelle, die von geradezu dramatischer Aktualität ist, nachdrücklich vielfältige Verbrechen und Angriffe gegen das menschliche Leben. Wenn ich mir nun im Abstand von dreißig Jahren die Worte der Konzilsversammlung zu eigen mache, erhebe ich im Namen der ganzen Kirche und in der Gewissheit, damit dem echten Empfinden jedes reinen Gewissens Ausdruck zu verleihen, noch einmal und mit gleichem Nachdruck klagend meine Stimme: »Was ferner zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 27. </ref>

4. Weit davon entfernt, sich einschränken zu lassen, ist dieses beunruhigende Panorama statt dessen leider in Ausdehnung begriffen: mit den neuen, vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt eröffneten Perspektiven entstehen neue Formen von Anschlägen auf die Würde des Menschen, während sich eine neue kulturelle Situation abzeichnet und verfestigt, die den Verbrechen gegen das Leben einen bisher unbekannten und womöglich noch widerwärtigeren Aspekt verleiht und neue ernste Sorgen auslöst: breite Schichten der öffentlichen Meinung rechtfertigen manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen Freiheit und beanspruchen unter diesem Vorwand nicht nur Straffreiheit für derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des Staates, sie in absoluter Freiheit und unter kostenloser Beteiligung des staatlichen Gesundheitswesens durchzuführen.

Das alles bewirkt einen tiefgreifenden Wandel in der Betrachtungsweise des Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Umstand, dass die Gesetzgebung vieler Länder sogar in Abweichung von den Grundprinzipien ihrer Verfassungen zugestimmt hat, solche gegen das Leben gerichtete Praktiken nicht zu bestrafen oder ihnen gar volle Rechtmäßigkeit zuzuerkennen, ist zugleich besorgniserregendes Symptom und keineswegs nebensächliche Ursache für einen schweren moralischen Verfall: Entscheidungen, die einst einstimmig als verbrecherisch angesehen und vom allgemeinen sittlichen Empfinden abgelehnt wurden, werden nach und nach gesellschaftlich als achtbar betrachtet. Selbst die Medizin, die auf die Verteidigung und Pflege des menschlichen Lebens ausgerichtet ist, verwendet sich in einigen ihrer Bereiche immer eingehender für die Durchführung dieser Handlungen gegen die Person und entstellt auf diese Weise ihr Gesicht, widerspricht sich selbst und verletzt die Würde all derer, die sie ausüben. In einem solchen kulturellen und gesetzlichen Kontext sehen sich auch die schwerwiegenden bevölkerungsstatistischen, sozialen oder familiären Probleme, die auf zahlreichen Völkern der Welt lasten und eine verantwortungsvolle und rührige Aufmerksamkeit seitens der nationalen und internationalen Gemeinschaften erfordern, falschen und illusorischen Lösungsversuchen ausgesetzt, die zur Wahrheit und zum Wohl der Menschen und der Nationen im Widerspruch stehen.

Das Ergebnis, zu dem man gelangt, ist dramatisch: so schwerwiegend und beunruhigend das Phänomen der Beseitigung so vieler menschlicher Leben vor der Geburt oder auf dem Weg zum Tod auch sein mag, so ist die Tatsache nicht weniger schwerwiegend und beunruhigend, dass selbst das Gewissen, als wäre es von so weitreichenden Konditionierungen verfinstert, immer träger darin wird, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse wahrzunehmen im Hinblick auf den fundamentalen Wert des menschlichen Lebens.

In Gemeinschaft mit allen Bischöfen der Welt

5. Dem Problem der Bedrohungen des menschlichen Lebens in unserer Zeit war das außerordentliche Konsistorium der Kardinäle gewidmet, das vom 4. bis 7. April 1991 in Rom stattgefunden hat. Nach einer umfassenden und gründlichen Erörterung des Problems und der Herausforderungen, die sich der ganzen Menschheitsfamilie und im besonderen der christlichen Gemeinschaft stellen, haben mich die Kardinäle einstimmig ersucht, den Wert des menschlichen Lebens und seine Unantastbarkeit unter Bezugnahme auf die gegenwärtigen Umstände und die Angriffe, von denen es heute bedroht wird, mit der Autorität des Nachfolgers Petri zu bekräftigen.

Nach Annahme dieses Vorschlags habe ich zu Pfingsten 1991 ein persönliches Schreiben an jeden Mitbruder gerichtet mit der Bitte, er möge mir im Geiste der bischöflichen Kollegialität im Hinblick auf die Erstellung eines eigenen Dokuments seine Mitarbeit zukommen lassen.<ref>Vgl. Brief an alle Brüder im Bischofsamt über „das Evangelium vom Leben“ (19. Mai 1991): Insegnamenti XIV/1 (1991), 1293-1296. </ref> Ich bin allen Bischö- fen, die geantwortet haben und mir wertvolle Informationen, Ratschläge und Vorschläge zugehen lieben, zutiefst dankbar. Sie haben so auch ihre einmütige und überzeugte Teilnahme am Lehr- und Pastoralauftrag der Kirche in bezug auf das Evangelium vom Leben unter Beweis gestellt.

In demselben Brief habe ich, wenige Tage vor der Hundertjahrfeier der Veröffentlichung der Enzyklika Rerum novarum, die Aufmerksamkeit aller auf diese einzigartige Analogie gelenkt: »Wie es vor einem Jahrhundert die Arbeiterklasse war, die, in ihren fundamentalsten Rechten unterdrückt, von der Kirche mit großem Mut in Schutz genommen wurde, indem diese die heiligen Rechte der Person des Arbeiters herausstellte, so weiß sie sich auch jetzt, wo eine andere Kategorie von Personen in ihren grundlegenden Lebensrechten unterdrückt wird, verpflichtet, mit unvermindertem Mut den Stimmlosen Stimme zu sein. Für immer hat sie sich den Ruf des Evangeliums nach dem Schutz der Armen zu eigen gemacht, deren Menschenrechte bedroht, missachtet und verletzt werden«.<ref>Ebd., a. a. O., 1294. </ref>

Das fundamentale Recht auf Leben wird heute bei einer großen Zahl schwacher und wehrloser Menschen, wie es insbesondere die ungeborenen Kinder sind, mit Füßen getreten. Wenn die Kirche am Ende des vorigen Jahrhunderts angesichts der damals vorherrschenden Ungerechtigkeiten nicht schweigen durfte, so kann sie heute noch weniger schweigen, wo sich in vielen Teilen der Welt zu den leider noch immer nicht überwundenen sozialen Ungerechtigkeiten der Vergangenheit noch schwerwiegendere Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen gesellen, die möglicherweise mit Elementen des Fortschritts im Hinblick auf die Gestaltung einer neuen Weltordnung verwechselt werden.

Die vorliegende Enzyklika, Frucht der Zusammenarbeit des Episkopates jedes Landes der Welt, will also eine klare und feste Bekräftigung des Wertes des menschlichen Lebens und seiner Unantastbarkeit und zugleich ein leidenschaftlicher Appell im Namen Gottes an alle und jeden einzelnen sein: achte, verteidige, liebe das Leben, jedes menschliche Leben und diene ihm! Nur auf diesem Weg wirst du Gerechtigkeit, Entwicklung, echte Freiheit, Frieden und Glück finden!

Mögen diese Worte alle Söhne und Töchter der Kirche erreichen! Mögen sie alle Menschen guten Willens erreichen, die um das Wohl jedes Mannes und jeder Frau und um das Schicksal der ganzen Gesellschaft besorgt sind!

6. In tiefer Verbundenheit mit jeder Schwester und jedem Bruder im Glauben und von aufrichtiger Freundschaft für alle beseelt, möchte ich das Evangelium vom Leben neu überdenken und verkünden, als Glanz der Wahrheit, das die Gewissen erleuchtet, als helles Licht, das den verfinsterten Blick erhellt, als unerschöpfliche Quelle der Beständigkeit und des Mutes, um den immer neuen Herausforderungen entgegenzutreten, denen wir auf unserem Weg begegnen.

Und während ich an die im Verlauf des Jahres der Familie gesammelte reiche Erfahrung denke, blicke ich, gleichsam als gedankliche Ergänzung des Briefes, den ich »an jede konkrete Familie jeder Region der Erde«<ref>Brief an die Familien Gratissimam sane (2. Februar 1994), Nr. 4: AAS 86 (1994), 871. </ref> gerichtet hatte, mit neuem Vertrauen auf alle Hausgemeinschaften und wünsche mir, dass auf allen Ebenen der Einsatz aller für die Unterstützung der Familie wieder auflebe und sich verstärke, damit diese auch heute — trotz zahlreicher Schwierigkeiten und schwerwiegender Bedrohungen — dem Plan Gottes entsprechend immer als »Heiligtum des Lebens«<ref> Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), Nr. 39: AAS 83 (1991), 842.</ref> erhalten bleibe.

Alle Mitglieder der Kirche, des Volkes des Lebens und für das Leben, lade ich ganz dringend ein, miteinander dieser unserer Welt neue Zeichen der Hoffnung zu geben, indem wir bewirken, dass Gerechtigkeit und Solidarität wachsen und sich durch den Aufbau einer echten Zivilisation der Wahrheit und der Liebe eine neue Kultur des menschlichen Lebens durchsetzt.

I. KAPITEL - DAS BLUT DEINES BRUDERS SCHREIT ZU MIR VOM ACKERBODEN - DIE GEGENWÄRTIGEN BEDROHUNGEN DES MENSCHLICHEN LEBENS

»Kain griff seinen Bruder Abel an und erschlug ihn« (Gen 4, 8): an der Wurzel der Gewalt gegen das Leben

7. »Denn Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen... Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit geschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht. Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören« (Weish 1, 13-14; 2, 23-24).

Im Widerspruch zum Evangelium vom Leben, das am Anfang mit der Erschaffung des Menschen nach dem Ebenbild Gottes zu einem vollen und vollkommenen Leben (vgl. Gen 2, 7; Weish 9, 2-3) erschallte, steht die qualvolle Erfahrung des Todes, der in die Welt kommt und auf das ganze Dasein des Menschen den Schatten des Un-Sinnes wirft. Der Tod kommt durch den Neid des Teufels (vgl. Gen 3, 1.4-5) und die Sünde der Stamm- eltern (vgl. Gen 2, 17; 3, 17-19) in die Welt. Und er kommt gewaltsam mit der Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain: »Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn« (Gen 4, 8).

Dieser erste Mord wird in einer beispielhaften Episode des Buches Genesis mit einzigartiger Beredtheit geschildert: eine Episode, die jeden Tag pausenlos und in bedrückender Wiederholung neu ins Buch der Geschichte der Völker geschrieben wird.

Wir wollen miteinander diesen Passus aus der Bibel wieder lesen, der trotz seines archaischen Charakters und seiner äußersten Schlichtheit höchst lehrreich erscheint.

»Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer. Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht.

Da überfiel es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: 'Warum überläuft es dich heiß, und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn!?

Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn.

Da sprach der Herr zu Kain: 'Wo ist dein Bruder Abel?? Er entgegnete: 'Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?? Der Herr sprach: 'Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein.?

Kain antwortete dem Herrn: 'Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte. Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen.?

Der Herr aber sprach zu ihm: 'Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen.? Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde. Dann ging Kain vom Herrn weg und ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden« (Gen 4, 2-16).

8. Kain »überlief es ganz heiß« und sein Blick »senkte sich», weil »der Herr auf Abel und sein Opfer schaute« (Gen 4, 4). Der biblische Text enthüllt zwar nicht, aus welchem Grund Gott das Opfer Abels jenem Kains vorzieht; er weist jedoch mit aller Klarheit darauf hin, dass Gott trotz der Bevorzugung von Abels Gabe den Dialog mit Kain nicht abbricht. Er ermahnt ihn, indem er ihn an seine Freiheit gegenüber dem Bösen erinnert: der Mensch ist keineswegs für das Böse vorherbestimmt. Sicherlich wird er, wie schon Adam, von der verderblichen Macht der Sünde in Versuchung geführt, die, einer wilden Bestie gleich, an der Pforte seines Herzens lauert und darauf wartet, über die Beute herzufallen. Aber Kain bleibt der Sünde gegenüber frei. Er kann und er soll Herr über sie sein: »Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn!« (Gen 4, 7).

Eifersucht und Zorn gewinnen Oberhand über die Mahnung des Herrn, und so greift Kain seinen eigenen Bruder an und erschlägt ihn. Im Katechismus der katholischen Kirche lesen wir: »Im Bericht über die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain offenbart die Schrift, dass im Menschen schon von Anfang seiner Geschichte an Zorn und Eifersucht als Folgen der Erbsünde wirksam sind. Der Mensch ist zum Feind des Mitmenschen geworden«.<ref>Nr. 2259. </ref>

Der Bruder tötet den Bruder. Wie beim ersten Brudermord wird bei jedem Mord die »geistige« Verwandtschaft geschändet, die die Menschen zu einer einzigen großen Familie vereinigt,<ref>Vgl. HL. Ambrosius, De Noe, 26, 94-96: CSEL 32, 480-481. </ref> da sie alle an demselben grundlegenden Gut teilhaben: der gleichen Personwürde. Nicht selten wird auch die Verwandtschaft »des Fleisches und Blutes« geschändet, wenn zum Beispiel die Bedrohungen des Lebens im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ausbrechen, wie es bei der Abtreibung geschieht, oder wenn im weitesten Familien- und Verwandtenkreis die Euthanasie befürwortet oder dazu angestiftet wird.

Am Anfang jeder Gewalt gegen den Nächsten steht ein Nachgeben gegenüber der »Logik« des Bösen, das heißt desjenigen, der »von Anfang an ein Mörder war« (Joh 8, 44), wie uns der Apostel Johannes in Erinnerung ruft: »Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt: Wir sollen einander lieben und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug« (1 Joh 3, 11-12). Die Ermordung des Bruders ist also von Beginn der Geschichte an das traurige Zeugnis dafür, wie das Böse mit beeindruckender Geschwindigkeit voranschreitet: zum Aufbegehren des Menschen gegen Gott im irdischen Paradies gesellt sich der tödliche Kampf des Menschen gegen den Menschen.

Nach dem Verbrechen greift Gott ein, um den Ermordeten zu rächen. Gott gegenüber, der sich nach dem Schicksal Abels erkundigt, weicht Kain in Überheblichkeit der Frage aus, statt sich verlegen zu zeigen und um Verzeihung zu bitten: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Gen 4, 9). »Ich weiß es nicht«: mit der Lüge versucht Kain das Verbrechen zu verdecken. So ist es oft geschehen und geschieht es, wenn Ideologien verschiedenster Art dazu dienen, um die schrecklichsten Verbrechen gegen die Person zu rechtfertigen und zu bemänteln. »Bin ich der Hüter meines Bruders?«: Kain will nicht an den Bruder denken und lehnt es ab, jene Verantwortung, die jeder Mensch gegenüber dem anderen hat, zu leben. Das lässt uns unwillkürlich an heutige Bestrebungen denken, die den Menschen seiner Verantwortung gegenüber seinem Mitmenschen entheben wollen; Anzeichen dafür sind unter anderem das Nachlassen der Solidarität gegenüber den schwächsten Gliedern der Gesellschaft, wie den Alten, den Kranken, den Einwanderern, den Kindern gegenüber, und die häufig zu bemerkende Gleichgültigkeit in den Beziehungen der Völker untereinander, selbst dann, wenn fundamentale Werte wie das Überleben, die Freiheit und der Friede auf dem Spiel stehen.

9. Doch Gott kann das Verbrechen nicht ungestraft lassen: vom Ackerboden, auf dem es vergossen wurde, verlangt das Blut des Erschlagenen, dass Er Gerechtigkeit widerfahren lasse (vgl. Gen 37, 26; Jes 26, 21; Ez 24, 7f). Aus diesem Text hat die Kirche die Bezeichnung »himmelschreiende Sünden« abgeleitet und in diese vor allem den beabsichtigten Mord einbezogen.<ref>Vgl. Katechismus der katholischen Kirche Nr. 1867 und 2268. </ref> Für die Juden ist, wie für viele Völker der Antike, das Blut der Sitz des Lebens, ja »das Blut ist Lebenskraft« (Dtn 12, 23), und das Leben, besonders das menschliche Leben, gehört allein Gott: wer daher nach dem Leben des Menschen trachtet, trachtet Gott selbst nach dem Leben.

Kain ist von Gott und ebenso vom Ackerboden, der ihm seinen Ertrag verweigert, verflucht (vgl. Gen 4, 11-12). Und er wird bestraft: er soll in der Steppe und in der Wüste wohnen. Die mörderische Gewalttätigkeit verändert das Lebensmilieu des Menschen tiefgreifend. Aus dem »Garten von Eden« (Gen 2, 15), einem Ort des Überflusses, der unbeschwerten zwischenmenschlichen Beziehungen und der Freundschaft mit Gott, wird die Erde zum »Land Nod« (Gen 4, 16), Ort des »Elends», der Einsamkeit und der Gottferne. Kain wird »rastlos und ruhelos auf der Erde« sein (Gen 4, 14): Unsicherheit und Unbeständigkeit werden ihn immer begleiten.

Gott jedoch, der stets Barmherzige, auch wenn Er straft, »machte dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde« (Gen 4, 15): Er versieht ihn also mit einem Zeichen, das nicht den Zweck hat, ihn zur Verabscheuung durch die anderen Menschen zu verdammen, sondern ihn vor allen zu schützen und zu verteidigen, die ihn töten wollen, und wäre es auch, um den Tod Abels zu rächen. Nicht einmal der Mörder verliert seine Personwürde, und Gott selber leistet dafür Gewähr. Tatsächlich offenbart sich hier das paradoxe Geheimnis von der barmherzigen Gerechtigkeit Gottes, wie der hl. Ambrosius schreibt: »Nachdem in dem Augenblick, als sich die Sünde eingeschlichen hatte, ein Brudermord, also das größte Verbrechen, begangen worden war, musste sofort das Gesetz von der göttlichen Barmherzigkeit erweitert werden; damit es nicht geschähe, dass die Menschen, obwohl die Strafe den Schuldigen unmittelbar getroffen hatte, beim Bestrafen weder Toleranz noch Milde walten lassen, sondern die Schuldigen unverzüglich der Strafe ausliefern würden. (...) Gott verstieß Kain von seinem Angesicht und verbannte den von seinen Eltern Abtrünnigen an einen anderen Wohnort, weil er von der menschlichen Zahmheit zur tierischen Wildheit übergegangen war. Doch Gott wollte den Mörder nicht durch einen Mord bestrafen, da Er mehr die Reue des Sünders will als seinen Tod«.<ref>De Cain et Abel, II, 10, 38: CSEL 32, 408. </ref>

»Was hast du getan?« (Gen 4, 10): die Verfinsterung des Wertes des Lebens

10. Der Herr sprach zu Kain: »Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden!« (Gen 4, 10). Das von den Menschen vergossene Blut hört nicht auf zu schreien, von Generation zu Generation nimmt dieses Schreien andere und immer neue Töne und Akzente an.

Die Frage des Herrn »Was hast du getan?«, der Kain nicht entgehen kann, ist auch an den heutigen Menschen gerichtet, damit er sich den Umfang und die Schwere der Angriffe auf das Leben bewusst mache, von denen die Geschichte der Menschheit weiterhin gekennzeichnet ist; damit er auf die Suche nach den vielfältigen Ursachen gehe, die diese Bedrohungen hervorrufen und fördern; damit er mit größtem Ernst über die Folgen nachdenke, die sich aus diesen Anschlägen für die Existenz der Menschen und der Völker ergeben.

Manche Bedrohungen stammen aus der Natur selbst, werden aber durch die schuldhafte Unbekümmertheit und Nachlässigkeit der Menschen, die nicht selten Abhilfe schaffen könnten, verschlimmert; andere hingegen sind das Ergebnis von Gewaltsituationen, Haß und gegensätzlichen Interessen, die die Menschen veranlassen, mit Mord, Krieg, Blutbädern und Völkermord über andere Menschen herzufallen.

Und wie sollte man nicht an die Gewalt denken, die dem Leben von Millionen von Menschen, besonders Kindern, zugefügt wird, die wegen der ungerechten Verteilung der Reichtümer unter den Völkern und sozialen Klassen zu Elend, Unterernährung und Hunger gezwungen sind? Oder an die Gewalt, die, noch ehe Kriege ausbrechen, einem skandalösen Waffenhandel anhaftet, der einer Spirale von zahllosen bewaffneten Konflikten, die die Welt in Blut tauchen, Vorschuß leistet? Oder an die Todessaat, die durch die unbedachte Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, durch die kriminelle Verbreitung der Drogen und dadurch zustande kommt, dass Muster für die Sexualität Unterstützung finden, die nicht nur in moralischer Hinsicht unannehmbar, sondern auch Vorboten schwerwiegender Gefahren für das Leben sind? Es ist gar nicht möglich, die umfangreiche Skala der Bedrohungen des menschlichen Lebens vollständig aufzuzählen, so zahlreich sind die offen zutage tretenden oder heimtückischen Formen, die sie in unserer Zeit annehmen!

11. Unsere Aufmerksamkeit will sich aber im besonderen auf eine andere Art von Angriffen konzentrieren, die das werdende und das zu Ende gehende Leben betreffen, Angriffe, die im Vergleich zur Vergangenheit neue Merkmale aufweisen und ungewöhnlich ernste Probleme aufwerfen: deshalb, weil die Tendenz besteht, dass sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit den »Verbrechenscharakter« verlieren und paradoxerweise »Rechtscharakter« annehmen, so dass eine regelrechte gesetzliche Anerkennung durch den Staat und die darauf folgende Durchführung mittels des kostenlosen Eingriffs durch das im Gesundheitswesen tätige Personal verlangt wird. Diese Angriffe treffen das menschliche Leben in äußerst bedenklichen Situationen, wo es völlig wehrlos ist. Noch schwerwiegender ist die Tatsache, dass sie großenteils gerade in der und durch die Familie ausgetragen werden, die doch grundlegend dazu berufen ist, »Heiligtum des Lebens« zu sein.

Wie hat es zu einer solchen Situation kommen können? Dabei müssen vielfältige Faktoren in Betracht gezogen werden. Im Hintergrund steht eine tiefe Kulturkrise, die Skepsis selbst an den Fundamenten des Wissens und der Ethik hervorruft und es immer schwieriger macht, den Sinn des Menschen, seiner Rechte und seiner Pflichten klar zu erfassen. Dazu kommen die verschiedensten existentiellen und Beziehungsschwierigkeiten, die noch verschärft werden durch die Wirklichkeit einer komplexen Gesellschaft, in der die Personen, die Ehepaare, die Familien oft mit ihren Problemen allein bleiben. Es fehlt nicht an Situationen von besonderer Armut, Bedrängnis oder Verbitterung, in denen der Kampf um das Überleben, der Schmerz bis an die Grenzen der Erträglichkeit, die besonders von Frauen erlittenen Gewaltakte den Entscheidungen zur Verteidigung und Förderung des Lebens bisweilen geradezu Heroismus abverlangen.

Das alles erklärt wenigstens zum Teil, dass der Wert des Lebens heute eine Art »Verfinsterung« erleiden kann, mag auch das Gewissen nicht aufhören, ihn als heiligen und unantastbaren Wert anzuführen, wie die Tatsache beweist, dass man geneigt ist, manche Verbrechen gegen das werdende oder zu Ende gehende Leben mit medizinischen Formulierungen zu bemänteln, die den Blick von der Tatsache ablenken, dass das Existenzrecht einer konkreten menschlichen Person auf dem Spiel steht.

12. Mögen auch viele und ernste Aspekte der heutigen sozialen Problematik das Klima verbreiteter moralischer Unsicherheit irgendwie erklären und manchmal bei den einzelnen die subjektive Verantwortung schwächen, so trifft es tatsächlich nicht weniger zu, dass wir einer viel weiter reichenden Wirklichkeit gegenüberstehen, die man als wahre und ausgesprochene Struktur der Sünde betrachten kann, gekennzeichnet von der Durchsetzung einer Anti-Solidaritätskultur, die sich in vielen Fällen als wahre »Kultur des Todes« herausstellt. Sie wird aktiv gefördert von starken kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strö- mungen, die eine leistungsorientierte Auffassung der Gesellschaft vertreten.

Wenn man die Dinge von diesem Gesichtspunkt her betrachtet, kann man in gewisser Hinsicht von einem Krieg der Mächtigen gegen die Schwachen sprechen: das Leben, das mehr Annahme, Liebe und Fürsorge verlangen würde, wird für nutzlos gehalten oder als eine unerträgliche Last betrachtet und daher auf vielerlei Weise abgelehnt. Wer durch seine Krankheit, durch seine Behinderung oder, noch viel einfacher, durch sein bloßes Dasein den Wohlstand oder die Lebensgewohnheiten derer in Frage stellt, die günstiger dastehen, wird zunehmend als Feind angesehen, gegen den man sich verteidigen bzw. den man ausschalten muss. Auf diese Weise wird eine Art »Verschwörung gegen das Leben« entfesselt. Sie involviert nicht nur die einzelnen Personen in ihren individuellen, familiären oder Gruppenbeziehungen, sondern geht darüber hinaus, um schließlich auf Weltebene den Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten zu schaden und sie durcheinanderzubringen.

13. Um die Verbreitung der Abtreibung zu erleichtern, wurden und werden weiterhin ungeheuere Summen investiert, die für die Abstimmung pharmazeutischer Präparate bestimmt sind, die die Tötung des Fötus im Mutterleib ermöglichen, ohne die Hilfe eines Arztes in Anspruch nehmen zu müssen. Die diesbezügliche wissenschaftliche Forschung scheint fast ausschließlich darum bemüht zu sein, zu immer einfacheren und wirksameren Produkten gegen das Leben zu gelangen, die zugleich die Abtreibung jeder Form sozialer Kontrolle und Verantwortung entziehen sollen.

Es wird häufig behauptet, die sichere und allen zugänglich gemachte Empfängnisverhütung sei das wirksamste Mittel gegen die Abtreibung. Sodann wird die katholische Kirche beschuldigt, de facto der Abtreibung Vorschuss zu leisten, weil sie weiter hartnäckig die moralische Unerlaubtheit der Empfängnisverhütung lehrt. Bei genauerer Betrachtung erweist sich der Einwand tatsächlich als trügerisch. Denn es mag sein, dass viele auch in der Absicht zu Verhütungsmitteln greifen, um in der Folge die Versuchung der Abtreibung zu vermeiden. Doch die der »Verhütungsmentalität« — die sehr wohl von der verantwortlichen, in Achtung vor der vollen Wahrheit des ehelichen Aktes ausgeübten Elternschaft zu unterscheiden ist — innewohnenden Pseudowerte verstärken nur noch diese Versuchung angesichts der möglichen Empfängnis eines unerwünschten Lebens. In der Tat hat sich die Abtreibungskultur gerade in Kreisen besonders entwickelt, die die Lehre der Kirche über die Empfängnisverhütung ablehnen. Sicherlich sind vom moralischen Gesichtspunkt her Empfängnisverhütung und Abtreibung ihrer Art nach verschiedene Übel: die eine widerspricht der vollständigen Wahrheit des Geschlechtsaktes als Ausdruck der ehelichen Liebe, die andere zerstört das Leben eines Menschen; die erste widersetzt sich der Tugend der ehelichen Keuschheit, die zweite widersetzt sich der Tugend der Gerechtigkeit und verletzt direkt das göttliche Gebot »du sollst nicht töten«.

Aber trotz dieses Unterschieds in ihrer Natur und moralischen Bedeutung stehen sie, als Früchte ein und derselben Pflanze, sehr oft in enger Beziehung zueinander. Sicherlich gibt es Fälle, in denen jemand unter dem Druck mannigfacher existentieller Schwierigkeiten zu Empfängnisverhütung und selbst zur Abtreibung schreitet; selbst solche Schwierigkeiten können jedoch niemals von der Bemühung entbinden, das Gesetz Gottes voll und ganz zu befolgen. Aber in sehr vielen anderen Fällen haben solche Praktiken ihre Wurzeln in einer Mentalität, die von Hedonismus und Ablehnung jeder Verantwortlichkeit gegenüber der Sexualität bestimmt wird, und unterstellen einen egoistischen Freiheitsbegriff, der in der Zeugung ein Hindernis für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sieht. Das Leben, das aus der sexuellen Begegnung hervorgehen könnte, wird so zum Feind, das absolut vermieden werden muss, und die Abtreibung zur einzig möglichen Antwort und Lösung bei einer misslungenen Empfängnisverhütung.

Leider tritt der enge Zusammenhang, der mentalitätsmäßig zwischen der Praxis der Empfängnisverhütung und jener der Abtreibung besteht, immer mehr zutage; das beweisen auf alarmierende Weise auch die Anwendung chemischer Präparate, das Anbringen mechanischer Empfängnishemmer in der Gebärmutter und der Einsatz von Impfstoffen, die ebenso leicht wie Verhütungsmittel verbreitet werden und in Wirklichkeit als Abtreibungsmittel im allerersten Entwicklungsstadium des neuen menschlichen Lebens wirken.

14. Auch die verschiedenen Techniken künstlicher Fortpflanzung, die sich anscheinend in den Dienst am Leben stellen und die auch nicht selten mit dieser Absicht gehandhabt werden, öffnen in Wirklichkeit neuen Anschlägen gegen das Leben Tür und Tor. Unabhängig von der Tatsache, dass sie vom moralischen Standpunkt aus unannehmbar sind, da sie die Zeugung von dem gesamtmenschlichen Zusammenhang des ehelichen Aktes trennen,<ref>Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung Donum vitae: AAS 80 (1988), 70-102. </ref> verzeichnen diese Techniken hohe Prozentsätze an Misserfolgen: das betrifft nicht so sehr die Befruchtung als die nachfolgende Entwicklung des Embryos, der der Gefahr ausgesetzt ist, meist innerhalb kürzester Zeit zu sterben. Zudem werden mitunter Embryonen in größerer Zahl erzeugt, als für die Einpflanzung in den Schoß der Frau notwendig sind, und diese so genannten »überzähligen Embryonen« werden dann umgebracht oder für Forschungszwecke verwendet, die unter dem Vorwand des wissenschaftlichen oder medizinischen Fortschritts in Wirklichkeit das menschliche Leben zum bloßen »biologischen Material« degradieren, über das man frei verfügen könne.

Die vorgeburtlichen Diagnosen, gegen die es keine moralischen Bedenken gibt, sofern sie vorgenommen werden, um eventuell notwendige Behandlungen an dem noch ungeborenen Kind fest- zustellen, werden allzu oft zum Anlass, die Abtreibung anzuraten oder vorzunehmen. Die angebliche Rechtmäßigkeit der eugenischen Abtreibung entsteht in der öffentlichen Meinung aus einer Mentalität — sie wird zu Unrecht für kohärent mit den Ansprüchen der »Behandelbarkeit mit Aussicht auf Heilung« gehalten —, die das Leben nur unter bestimmten Bedingungen annimmt und Begrenztheit, Behinderung und Krankheit ablehnt.

Infolge eben dieser Logik ist man soweit gegangen, Kindern, die mit schweren Schäden oder Krankheiten geboren wurden, die elementarsten üblichen Behandlungen und sogar die Ernährung zu verweigern. Noch bestürzender wird das moderne Szenarium darüber hinaus durch da und dort auftauchende Vorschläge, auf derselben Linie wie das Recht auf Abtreibung sogar die Kindestötung für rechtmäßig zu erklären: damit würde man in ein Stadium der Barbarei zurückfallen, das man für immer überwunden zu haben hoffte.

15. Nicht minder schwerwiegende Bedrohungen kommen auch auf die unheilbar Kranken und auf die Sterbenden in einem Sozial- und Kulturgefüge zu, das bei einer sich immer schwieriger gestaltenden Auseinandersetzung mit dem Leiden und seinem Ertragen die Versuchung verstärkt, das Problem des Leidens dadurch zu lösen, dass man es an der Wurzel ausreibt und den Tod in dem Augenblick vorwegnimmt, den man selbst für den geeignetsten hält.

In diese Entscheidung fließen oft verschiedene Elemente ein, die leider diesem schrecklichen Ausgang zustreben. Entscheidend mag beim Kranken Angstgefühl sowie das Gespür von Verbitterung, ja Verzweiflung sein, hervorgerufen durch die Erfahrung eines intensiven und langen Schmerzes. Dies stellt das manchmal ohnehin schon ins Wanken geratene Gleichgewicht des persönlichen und familiären Lebens auf eine harte Probe, so dass der Kranke einerseits trotz der immer wirksamer werdenden Mittel medizinischer und sozialer Assistenz Gefahr läuft, sich von der eigenen Gebrechlichkeit erdrückt zu fühlen; andererseits kann bei denen, die ihm liebevoll verbunden sind, ein Gefühl verständlichen, wenn auch mißverstandenen Mitleids wirksam sein. Dies alles wird von einem kulturellen Umfeld verschlimmert, das im Leid keinerlei Bedeutung oder Wert sieht; im Gegenteil, es betrachtet das Leid als das Übel schlechthin, das es um jeden Preis auszumerzen gilt; diese Haltung tritt vor allem dann ein, wenn man keine religiöse Einstellung hat, die helfen kann, das Geheimnis des Schmerzes positiv zu deuten.

Aber es wird nicht versäumt, dem kulturellen Gesamthorizont auch eine Art Prometheushaltung des Menschen einzuprägen, der sich derart der Illusion hingibt, Herr über Leben und Tod werden zu können, dass er über sie entscheidet, während er in Wirklichkeit von einem Tod überwunden und erdrückt wird, der sich jeder Sinnperspektive und jeder Hoffnung unrettbar verschließt. Einem tragischen Ausdruck von alledem begegnen wir in der Verbreitung der maskiert und schleichend oder offen durchgeführten und sogar legalisierten Euthanasie. Sie wird mit einem angeblichen Mitleid angesichts des Schmerzes des Patienten und darüber hinaus mit einem utilitaristischen Argument gerechtfertigt, nämlich um unproduktive Ausgaben zu vermeiden, die für die Gesellschaft zu belastend seien. So schlägt man die Beseitigung der missgestalteten Neugeborenen, der geistig und körperlich Schwerstbehinderten, der Leistungsunfähigen, der Alten, vor allem wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen können, und der Kranken vor, deren Leben zu Ende geht. Und auch angesichts anderer, heimlicherer, aber nicht minder schwerwiegender und realer Formen von Euthanasie dürfen wir nicht schweigen. Sie könnten sich zum Beispiel dann ereignen, wenn man, um mehr Organe für Transplantationen zur Verfügung zu haben, die Entnahme dieser Organe vornimmt, ohne die objektiven und angemessenen Kriterien für die Feststellung des Todes des Spenders zu respektieren.

16. Ein weiteres aktuelles Phänomen, mit dem häufig Bedrohungen und Angriffe gegen das Leben einhergehen, ist das Bevölkerungswachstum. Es stellt sich in den verschiedenen Teilen der Welt in unterschiedlicher Weise dar: in den reichen und entwickelten Ländern verzeichnet man einen besorgniserregenden Geburtenrückgang oder -einbruch; die armen Länder dagegen weisen im allgemeinen eine hohe Wachstumsrate der Bevölkerung auf, die auf dem Hintergrund geringer wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung oder gar schwerwiegender Unterentwicklung kaum tragbar ist. Angesichts der Überbevölkerung der armen Länder fehlt es auf internationaler Ebene an weltweiten Maßnahmen — eine ernsthafte Familien- und Sozialpolitik, Programme kultureller Entwicklung und einer gerechten Produktion und Verteilung der Ressourcen —, während weiter eine geburtenfeindliche Politik betrieben wird.

Empfängnisverhütung, Sterilisation und Abtreibung müssen gewiss zu den Ursachen gezählt werden, die zum Zustand des starken Geburtenrückganges beitragen und ihn wesentlich bestimmen. Die Versuchung, dieselben Methoden und Angriffe gegen das Leben auch in Situationen von »Bevölkerungsexplosion« anzuwenden, mag auf der Hand liegen.

Der alte Pharao, der die Anwesenheit der Söhne Israels und ihre Vermehrung als Alptraum empfand, setzte sie jeder nur möglichen Unterdrückung aus und befahl, jedes männliche Neugeborene der jüdischen Frauen zu töten (vgl. Ex 1, 7-22). Genauso verhalten sich heutzutage viele Mächtige der Erde. Sie empfinden die derzeitige Bevölkerungsentwicklung als Alptraum und befürchten, dass die kinderreicheren und ärmeren Völker eine Bedrohung für den Wohlstand und die Sicherheit ihrer Länder darstellen. Statt diese schwerwiegenden Probleme aufzugreifen und sie unter Achtung der Würde der einzelnen und der Familien und des unantastbaren Rechtes jedes Menschen auf Leben zu lösen, fördern sie daher lieber eine massive Geburtenplanung und setzen sie mit jeglichem Mittel durch. Selbst die Wirtschaftshilfen, die zu leisten sie bereit wären, werden ungerechterweise von der Annahme einer geburtenfeindlichen Politik abhängig gemacht.

17. Die heutige Menschheit bietet uns ein wahrhaft alarmierendes Schauspiel, wenn wir nicht nur an die verschiedenen Bereiche denken, in denen die Angriffe auf das Leben ausbrechen, sondern auch an ihr einzigartiges Zahlenverhältnis sowie an die mannigfache und machtvolle Unterstützung, die ihnen durch das weitgehende Einverständnis der Gesellschaft, durch die häufige gesetzliche Anerkennung, durch die Einbeziehung eines Teils des im Gesundheitswesen tätigen Personals zuteil wird.

Wie ich anlässlich des VIII. Weltjugendtreffens in Denver mit allem Nachdruck sagen musste, »nehmen die Bedrohungen des Lebens im Laufe der Zeit nicht ab. Im Gegenteil, sie nehmen immer größere Ausmaße an. Es handelt sich nicht nur um Bedrohungen des Lebens von außen, von den Kräften der Natur her oder von weiteren 'Kains?, die die 'Abels? töten«; nein, es handelt sich um wissenschaftlich und systematisch geplante Bedrohungen. Das 20. Jahrhundert wird als eine Epoche massiver Angriffe auf das Leben, als endlose Serie von Kriegen und andauernde Vernichtung unschuldiger Menschenleben gelten. Die falschen Propheten und Lehrer erfreuen sich des größtmöglichen Erfolges.<ref>Ansprache während der Gebetswache zum VIII. Weltjugendtag (14. August 1993), II, 3: AAS 86 (1994), 419. </ref> Jenseits der Absichten, die unterschiedlicher Art sein und möglicherweise sogar im Namen der Solidarität überzeugende Formen annehmen können, stehen wir tatsächlich einer objektiven »Verschwörung gegen das Leben« gegenüber, die auch internationale Institutionen einschließt, die mit großem Engagement regelrechte Kampagnen für die Verbreitung der Empfängnisverhütung, der Sterilisation und der Abtreibung anregen und planen. Schließlich lässt sich nicht leugnen, dass sich die Massenmedien häufig zu Komplizen dieser Verschwörung machen, indem sie jener Kultur, die die Anwendung der Empfängnisverhütung, der Sterilisation, der Abtreibung und selbst der Euthanasie als Zeichen des Fortschritts und als Errungenschaft der Freiheit hinstellt, in der öffentlichen Meinung Ansehen verschaffen, während sie Positionen, die bedingungslos für das Leben eintreten, als freiheits- und entwicklungsfeindlich beschreibt.

»Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Gen 4, 9): eine entartete Vorstellung von Freiheit

18. Das beschriebene Panorama macht erforderlich, dass es nicht nur in den Todeserscheinungen erkannt wird, die es kennzeichnen, sondern auch in den vielfältigen Ursachen, die es bestimmen. Die Frage des Herrn »Was hast du getan?« (Gen 4, 10) scheint gleichsam eine Aufforderung an Kain zu sein, den materiellen Charakter seiner Mordtat hinter sich zu lassen und ihre ganze Schwere in den ihr zugrunde liegenden Motivationen und in den aus ihr erwachsenden Folgen zu erfassen.

Die Entscheidungen gegen das Leben entstehen bisweilen aus schwierigen oder geradezu dramatischen Situationen tiefen Leides, der Einsamkeit, des völligen Fehlens wirtschaftlicher Perspektiven, der Depression und Zukunftsangst. Solche Umstände können die subjektive Verantwortlichkeit und die daraus folgende Schuld derer vermindern, die diese in sich verbrecherischen Entscheidungen treffen. Trotzdem geht das Problem heute weit über die, wenn auch gebotene Anerkennung dieser persönlichen Situationen hinaus. Es stellt sich auch auf kultureller, sozialer und politischer Ebene, wo es sein subversivstes und verwirrendstes Gesicht in der immer weiter um sich greifenden Tendenz zeigt, die erwähnten Verbrechen gegen das Leben als legitime Äußerungen der individuellen Freiheit auszulegen, die als wahre und eigene Rechte anerkannt und geschützt werden müssen.

Auf diese Weise gelangt ein langer historischer Prozess an einen Wendepunkt mit tragischen Folgen, ein Prozess, der nach Entdeckung der Idee der »Menschenrechte« — als Rechte, die zu jeder Person gehören und jeder Verfassung und Gesetzgebung der Staaten vorausgehen — heute in einen überraschenden Widerspruch gerät: gerade in einer Zeit, in der man feierlich die unverletzlichen Rechte der Person verkündet und öffentlich den Wert des Lebens geltend macht, wird dasselbe Recht auf Leben, besonders in den sinnbildhaftesten Augenblicken des Daseins, wie es Geburt und Tod sind, praktisch verweigert und unterdrückt.

Auf der einen Seite sprechen die verschiedenen Menschenrechtserklärungen und die vielfältigen Initiativen, die von ihnen inspiriert werden, von der Durchsetzung einer moralischen Sensibilität auf Weltebene, die sorgfältiger darauf achtet, den Wert und die Würde jedes Menschen als solchen anzuerkennen, ohne jede Unterscheidung von Rasse, Nationalität, Religion, politischer Meinung und sozialem Stand.

Auf der anderen Seite setzt man diesen edlen Proklamationen leider in den Taten ihre tragische Verneinung entgegen. Diese ist noch bestürzender, ja skandalöser, weil sie sich in einer Gesellschaft abspielt, die die Durchsetzung und den Schutz der Menschenrechte zu ihrem Hauptziel und zugleich zu ihrem Ruhmesblatt macht. Wie lassen sich diese wiederholten Grundsatzbeteuerungen mit der ständigen Vermehrung und verbreiteten Legalisierung der Angriffe auf das menschliche Leben in Einklang bringen? Wie lassen sich diese Erklärungen in Einklang bringen mit der Ablehnung des Schwächsten, des Bedürftigsten, des Alten, des soeben im Mutterschoß Empfangenen? Diese Angriffe gehen in die genau entgegengesetzte Richtung wie die Achtung vor dem Leben und stellen eine frontale Bedrohung der gesamten Kultur der Menschenrechte dar. Eine Bedrohung, die letzten Endes imstande ist, selbst die Bedeutung des demokratischen Zusammenlebens aufs Spiel zu setzen: unsere Städte laufen Gefahr, aus einer Gesellschaft von »zusammenlebenden Menschen« zu einer Gesellschaft von Ausgeschlossenen, an den Rand Gedrängten, Beseitigten und Unterdrückten zu werden. Muss man, wenn sich der Blick dann auf einen Welthorizont ausweitet, nicht daran denken, dass selbst die Beteuerung der Rechte der Personen und der Völker, wie sie bei ranghohen internationalen Zusammenkünften erfolgt, zu fruchtloser rhetorischer Übung wird, wenn nicht der Egoismus der reichen Länder, die den armen Ländern den Zugang zur Entwicklung verschließen oder ihn an die Bedingung absurder Fortpflanzungsverbote knüpfen und so die Entwicklung gegen den Menschen richten, die Maske fallen lässt? Muss man vielleicht nicht selbst die Wirtschaftsmodelle in Frage stellen, die von den Staaten häufig auch für Druckmaßnahmen und Konditionierungen auf internationaler Ebene angewandt werden und die Unrechts– und Gewaltsituationen verursachen und fördern, in denen das menschliche Leben ganzer Völker erniedrigt und mit Füßen getreten wird?

19. Wo liegen die Wurzeln eines derart paradoxen Widerspruchs?

Wir können sie in kulturellen und moralischen Gesamtbewertungen feststellen, angefangen bei jener Mentalität, die unterVerschärfung und sogar Entstellung des Subjektivitätsbegriffs nur den als Inhaber von Rechten anerkennt, der mit voller oder zumindest mit ersten Anzeichen von Autonomie auftritt und den Zustand totaler Abhängigkeit von den anderen hinter sich lässt. Aber wie lässt sich dieser Ansatz mit der Verherrlichung des Menschen als »unverfügbares« Wesen in Einklang bringen? Die Theorie der Menschenrechte beruht gerade auf der Erwägung der Tatsache, dass der Mensch zum Unterschied von den Tieren und den Sachen nicht der Herrschaft von irgend jemandem unterworfen werden kann. Es muss auch auf jene Logik hingewiesen werden, die dazu neigt, die Personwürde mit der Fähigkeit zu verbaler, ausdrücklicher, auf alle Fälle erprobbarer Kommunikation gleichzusetzen. Es ist klar, dass unter solchen Voraussetzungen in der Welt kein Raum für den ist, der, wie das ungeborene Kind oder der Sterbende, ein von seiner physischen Konstitution her schwaches Wesen ist, auf Gedeih und Verderb anderen Menschen ausgeliefert und radikal von ihnen abhängig ist und mit dem Kommunikation nur durch die stumme Sprache einer tiefen Symbiose liebender Zuneigung möglich ist. Damit wird die Stärke zum Entscheidungs– und Handlungskriterium in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im sozialen Zusammenleben. Doch das ist das genaue Gegenteil von dem, was den Rechtsstaat historisch als Gemeinschaft bestätigt hat, in der an die Stelle des »Rechts der Stärke« die »Stärke des Rechts« tritt.

Auf einer anderen Ebene liegen die Wurzeln des Widerspruchs zwischen der feierlichen Bestätigung der Menschenrechte und ihrer tragischen Verweigerung in der Praxis in einer Auffassung von Freiheit, die das einzelne Individuum zum Absoluten erhebt und es nicht zur Solidarität, zur vollen Annahme des anderen und zum Dienst an ihm veranlasst. Wenn es wahr ist, dass sich die Auslöschung des ungeborenen oder zu Ende gehenden Lebens mitunter auch den Anstrich eines mißverstandenen Gefühls von Altruismus und menschlichen Erbarmens gibt, so kann man nicht bestreiten, dass eine solche Kultur des Todes in ihrer Gesamtheit eine ganz individualistische Freiheitsauffassung enthüllt, die schließlich die Freiheit der »Stärkeren« gegen die zum Unterliegen bestimmten Schwachen ist.

Genau in diesem Sinn kann man die Antwort Kains auf die Frage des Herrn »Wo ist dein Bruder Abel?« auslegen: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Joh 4, 9). Jawohl, jeder Mensch ist »Hüter seines Bruders», weil Gott den Menschen dem Menschen anvertraut. Und im Hinblick auf dieses Anvertrauen schenkt Gott auch jedem Menschen die Freiheit, die eine wesentliche Beziehungsdimension besitzt. Sie ist ein großes Geschenk des Schöpfers, so sie in den Dienst der Person und ihrer Verwirklichung durch die Selbsthingabe und die Annahme des anderen gestellt wird; wenn die Freiheit jedoch in individualistischer Weise verabsolutiert wird, wird sie ihres ursprünglichen Inhalts entleert und steht im Widerspruch zu ihrer Berufung und Würde.

Noch einen tiefgehenderen Aspekt gilt es zu unterstreichen: die Freiheit verleugnet sich selber, zerstört sich selber und macht sich zur Vernichtung des anderen bereit, wenn sie ihre grundlegende Verbindung mit der Wahrheit nicht anerkennt und nicht mehr respektiert. Jedesmal, wenn die Freiheit sich von jeder Tradition und Autorität befreien will und sich den wesentlichen Klarheiten einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit als dem Fundament für das persönliche und soziale Leben verschließt, hört der Mensch auf, als einzigen und unanfechtbaren Anhaltspunkt für seine Entscheidungen nicht mehr die Wahrheit über Gut und Böse anzunehmen, sondern nur noch seine subjektive und wandelbare Meinung oder gar sein egoistisches Interesse und seine Laune.

20. In dieser Auffassung von Freiheit wird das soziale Zusammenleben tiefgreifend entstellt. Wenn die Förderung des eigenen Ich als absolute Autonomie verstanden wird, gelangt man unvermeidlich zur Verneinung des anderen, der als Feind empfunden wird, gegen den man sich verteidigen muss. Auf diese Weise wird die Gesellschaft zu einer Gesamtheit von nebeneinanderstehenden Individuen, die aber keine gegenseitigen Beziehungen haben: ein jeder will sich unabhängig vom anderen behaupten, ja seinen eigenen Interessen Vorteil verschaffen. Angesichts gleichartiger Interessen des anderen muss man jedoch nachgeben und eine Art Kompromiss suchen, wenn man in der Gesellschaft jedem die größtmögliche Freiheit garantieren will. So schwindet jeder Bezug zu gemeinsamen Werten und zu einer für alle geltenden absoluten Wahrheit: das gesellschaftliche Leben läuft Gefahr, in einen vollkommenen Relativismus abzudriften. Da lässt sich alles vereinbaren, über alles verhandeln: auch über das erste Grundrecht, das Recht auf Leben.

Das geschieht denn auch in der Tat im eigentlich politisch-staatlichen Bereich: das ursprüngliche, unveräußerliche Recht auf Leben wird auf Grund einer Parlamentsabstimmung oder des Willens eines — sei es auch mehrheitlichen — Teiles der Bevölkerung in Frage gestellt oder verneint. Es ist das unheilvolle Ergebnis eines unangefochten herrschenden Relativismus: das »Recht« hört auf Recht zu sein, weil es sich nicht mehr fest auf die unantastbare Würde der Person gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen wird. Auf diese Weise beschreitet die Demokratie ungeachtet ihrer Regeln den Weg eines substantiellen Totalitarismus. Der Staat ist nicht mehr das »gemeinsame Haus«, in dem alle nach den Prinzipien wesentlicher Gleichheit leben können, sondern er verwandelt sich in einen tyrannischen Staat, der sich anmaßt, im Namen einer allgemeinen Nützlichkeit — die in Wirklichkeit nichts anderes als das Interesse einiger weniger ist — über das Leben der Schwächsten und Schutzlosesten, vom ungeborenen Kind bis zum alten Menschen, verfügen zu können.

Alles geschieht scheinbar ganz auf dem Boden der Legalität, zumindest wenn über die Gesetze zur Freigabe der Abtreibung und der Euthanasie nach den so genannten demokratischen Regeln abgestimmt wird. In Wahrheit stehen wir lediglich einem tragischen Schein von Legalität gegenüber, und das demokratische Ideal, das es tatsächlich ist, wenn es denn die Würde jeder menschlichen Person anerkennt und schützt, wird in seinen Grundlagen selbst verraten: »Wie kann man noch von Würde jeder menschlichen Person reden, wenn die Tötung des schwächsten und unschuldigsten Menschen zugelassen wird? Im Namen welcher Gerechtigkeit begeht man unter den Menschen die ungerechteste aller Diskriminierungen, indem man einige von ihnen für würdig erklärt verteidigt zu werden, während anderen diese Würde abgesprochen wird?«.<ref>Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer am Studienkongress über „Das Recht auf Leben und Europa“ (18. Dezember 1987): Insegnamenti X/3 (1987), 1446-1447. </ref> Wenn diese Zustände eintreten, sind bereits jene Dynamismen ausgelöst, die zum Zerfall eines echten menschlichen Zusammenlebens und zur Zersetzung der staatlichen Realität führen.

Das Recht auf Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie zu fordern und es gesetzlich anzuerkennen heißt der menschlichen Freiheit eine perverse, abscheuliche Bedeutung zuzuschreiben: nämlich die einer absoluten Macht über die anderen und gegen die anderen. Aber das ist der Tod der wahren Freiheit: »Amen, amen, das sage ich euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde« (Joh 8, 34).

»Ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen« (Gen 4, 14): die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen

21. Auf der Suche nach den tiefsten Wurzeln des Kampfes zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes« dürfen wir nicht bei der oben erwähnten perversen Freiheitsvorstellung stehen bleiben. Wir müssen zum Herzen des Dramas vorstoßen, das der heutige Mensch erlebt: die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen, wie sie für das vom Säkularismus beherrschte soziale und kulturelle Umfeld typisch ist, der mit seinen durchdringenden Fangarmen bisweilen sogar christliche Gemeinschaften auf die Probe stellt. Wer sich von dieser Atmosphäre anstecken lässt, gerät leicht in den Strudel eines furchtbaren Teufelskreises: wenn man den Sinn für Gott verliert, verliert man bald auch den Sinn für den Menschen, für seine Würde und für sein Leben; die systematische Verletzung des Moralgesetzes, besonders was die Achtung vor dem menschlichen Leben und seiner Würde betrifft, erzeugt ihrerseits eine Art fortschreitender Verdunkelung der Fähigkeit, die lebenspendende und rettende Gegenwart Gottes wahrzunehmen.

Und wieder können wir dem Bericht von der Ermordung Abels durch seinen Bruder folgen. Nach dem von Gott über ihn verhängten Fluch wendet sich Kain mit den Worten an den Herrn: »Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte! Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen« (Gen 4, 13-14). Kain glaubt, dass seine Sünde beim Herrn keine Vergebung erfahren kann und dass es sein unvermeidliches Schicksal sein wird, »sich vor seinem Angesicht verbergen« zu müssen. Wenn es Kain fertigbringt zu bekennen, dass seine Schuld »zu groß« ist, dann deshalb, weil er weiß, dass er Gott und seinem gerechten Rich- terspruch gegenübersteht. Tatsächlich vermag der Mensch nur vor dem Herrn seine Sünde zu erkennen und ihre ganze Schwere zu erfassen. Das ist die Erfahrung Davids, der, nachdem er »gegen den Herrn gesündigt hat«, auf die Vorwürfe des Propheten Natan (vgl. 2 Sam 11-12) ausruft: »Ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen. Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir mißfällt« (Ps 51 1, 5-6).

22. Darum wird, wenn der Sinn für Gott schwindet, auch der Sinn für den Menschen bedroht und verdorben, wie das Zweite Vatikanische Konzil lapidar feststellt: »Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts... Überdies wird das Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes unverständlich«.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 36. </ref> Der Mensch vermag sich nicht mehr als »in geheimnisvoller Weise anders« als die verschiedenen irdischen Lebewesen wahrzunehmen; er sieht sich als eines der vielen Lebewesen, als einen Organismus, der bestenfalls eine sehr hohe Vollkommenheitsstufe erreicht hat. In den engen Horizont seiner Körperlichkeit eingeschlossen, wird er gewissermaßen zu »einer Sache« und beachtet nicht mehr den »trans- zendenten« Charakter seines »Existierens als Mensch«. Er sieht das Leben nicht mehr als ein großartiges Geschenk Gottes an, als eine »heilige« Wirklichkeit, die seiner Verantwortung und damit seiner liebevollen Obhut, seiner »Verehrung« anvertraut ist. Es wird einfach zu »einer Sache«, die er als sein ausschließliches, total beherrschbares und manipulierbares Eigentum beansprucht.

Er ist daher nicht mehr in der Lage, sich angesichts des Lebens, das geboren wird, und des Lebens, das stirbt, nach dem wahren Sinn seines Daseins fragen zu lassen, indem er diese entscheidenden Augenblicke des eigenen »Seins« in echter Freiheit annimmt. Er kümmert sich nur um das »Machen« und bemüht sich unter Zuhilfenahme jeder Art von Technologie um die Planung, Kontrolle und Beherrschung von Geburt und Tod. Aus ursprünglichen Erfahrungen, die »gelebt« werden sollen, werden Geburt und Tod zu Dingen, die man sich einfach zu »besitzen« oder »abzulehnen« anmaßt.

Wenn im übrigen einmal der Bezug zu Gott ausgeschlossen ist, überrascht es nicht, dass der Sinn aller Dinge tief entstellt zum Vorschein kommt, und die Natur selbst, nicht mehr »mater«, zu einem »Material« entwürdigt wird, das allen Manipulationen offensteht. Zu diesem Punkt scheint eine gewisse in der modernen Kultur vorherrschende technisch-wissenschaftliche Rationalität zu führen, die selbst die Vorstellung einer Wahrheit vom Schöpfer, der anzuerkennen ist, oder eines Planes Gottes vom Leben, das zu achten ist, leugnet. Und dies gilt genauso, wenn die Angst vor den Ergebnissen dieser »Freiheit ohne Gesetz« manche zur entgegengesetzten Vorstellung von einem »Gesetz ohne Freiheit« verleitet, wie es z.B. in den Ideologien der Fall ist, die die Rechtmäßigkeit eines jeden Eingriffes in die Natur gleichsam im Namen ihrer »Vergöttlichung« bestreiten; eine Vorstellung, die wiederum die Abhängigkeit vom Plan des Schöpfers missachtet.

Wenn der Mensch wirklich lebt, »als ob es Gott nicht gäbe«, so kommt ihm nicht nur der Sinn für das Geheimnis Gottes, sondern auch für das Geheimnis der Welt und seines eigenen Seins abhanden.

23. Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen führt unvermeidlich zum praktischen Materialismus, in dem der Individualismus, der Utilitarismus und der Hedonismus gedeihen. Auch hier offenbart sich die ewige Gültigkeit dessen, was der Apostel schreibt: »Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem verworfenen Denken aus, so dass sie tun, was sich nicht gehört« (Röm 1, 28). Auf diese Weise werden die Werte des Seins durch jene des Habens ersetzt. Das einzige Ziel, auf das es ankommt, ist die Erlangung des eigenen materiellen Wohlergehens. Die so genannte »Lebensqualität« wird vorwiegend oder ausschließlich als wirtschaftliche Leistung, hemmungsloser Konsumismus, Schönheit und Genuss des physischen Lebens ausgelegt, wobei die tiefer reichenden — beziehungsmäßigen, geistigen und religiösen — Dimensionen des Daseins in Vergessenheit geraten.

In einem solchen Gesamtrahmen wird das Leiden, eine unvermeidbare Belastung der menschlichen Existenz, aber auch ein Faktor möglichen personalen Wachstums, »beanstandet», als unnütz zurückgewiesen, ja als immer und auf jeden Fall zu vermeidendes Übel bekämpft. Kann man es nicht überwinden und schwindet die Aussicht wenigstens auf künftiges Wohlergehen, dann scheint das Leben jede Bedeutung verloren zu haben, und im Menschen wächst die Versuchung, das Recht zu seiner Beseitigung geltend zu machen.

Im selben kulturellen Umfeld wird der Körper nicht mehr als für die Person typische Wirklichkeit, nämlich als Zeichen und Ort der Beziehung zu den anderen, zu Gott und zur Welt, wahrgenommen. Er ist auf einen rein materiellen Charakter verkürzt: er ist nur ein Komplex von Organen, Funktionen und Kräften, die nach reinen Kriterien von Genuss und Leistung zu gebrauchen sind. Infolgedessen wird auch die Sexualität entpersönlicht und instrumentalisiert: aus Zeichen, Ort und Sprache der Liebe, das heißt der Selbsthingabe und der Annahme des anderen, wie sie dem ganzen Reichtum der Person entspricht, wird sie immer mehr zu einer Gelegenheit und einem Werkzeug der Bestätigung des eigenen Ich und der egoistischen Befriedigung der eigenen Begierden und Instinkte. So wird der ursprüngliche Inhalt der menschlichen Sexualität entstellt und verfälscht, und die zwei Bedeutungen, die das Wesen des ehelichen Aktes ausmachen, nämlich Vereinigung und Zeugung, werden künstlich getrennt: auf diese Weise wird die Vereinigung verraten, und die Fruchtbarkeit wird der Willkür des Mannes und der Frau unterworfen. Da wird die Zeugung zum »Feind«, die es bei der Ausübung der Sexualität zu vermeiden gilt: wenn man sie zulässt, dann nur deshalb, weil sie den eigenen Wunsch oder geradezu den eigenen Willen zum Ausdruck bringt, »um jeden Preis« ein Kind zu haben, jedoch nicht, weil sie totale Annahme des anderen und damit Offenheit für die Lebensfülle besagt, deren Träger das Kind ist.

In der bisher beschriebenen materialistischen Sicht erfahren die zwischenmenschlichen Beziehungen eine schwerwiegende Verarmung. Die Ersten, die unter den Schäden dieser Verarmung zu leiden haben, sind die Frau, das Kind, der kranke oder leidende und der alte Mensch. An die Stelle des eigentlichen Kriteriums der Personwürde — nämlich das der Achtung, der Unentgeltlichkeit und des Dienstes — tritt das Kriterium der Leistungsfähigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Nützlichkeit: der andere wird nicht für das anerkannt und geschätzt, was er »ist«, sondern für das, was er »hat, tut und leistet«. Das ist die Herrschaft des Stärkeren über den Schwächeren.

24. Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und für den Menschen mit allen ihren mannigfachen, verhängnisvollen Auswirkungen auf das Leben vollzieht sich im Innern des sittlichen Gewissens. Dabei geht es zunächst um das Gewissen jedes einzelnen Menschen, der in seiner Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit allein mit Gott ist.<ref> Vgl. ebd., Nr. 16. </ref> Doch es geht in gewissem Sinne auch um das »sittliche Gewissen« der Gesellschaft: sie ist irgendwie verantwortlich, nicht nur weil sie gegen das Leben gerichtete Haltungen duldet oder unterstützt, sondern auch weil sie durch die Schaffung und Festigung regelrechter »Sündenstrukturen« gegen das Leben die »Kultur des Todes« fördert. Das sittliche Gewissen sowohl des einzelnen wie der Gesellschaft ist heute auch wegen des aufdringlichen Einflusses vieler sozialer Kommunikationsmittel einer sehr ernsten und tödlichen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr der Verwirrung zwischen Gut und Böse in bezug auf das fundamentale Recht auf Leben. Ein Großteil der heutigen Gesellschaft zeigt sich ähnlich jener Menschheit, die Paulus im Römerbrief beschreibt. Sie besteht aus »Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten« (1, 18): nachdem sie von Gott abgefallen sind und glaubten, das irdische Gemeinwesen ohne Ihn aufbauen zu können, »verfielen sie in ihrem Denken der Nichtigkeit, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert« (1, 21); »sie behaupteten weise zu sein, und wurden zu Toren« (1, 22); sie wurden zu Urhebern todesträchtiger Werke und »tun sie nicht nur selber, sondern stimmen bereitwillig auch denen zu, die so handeln« (1, 32). Wenn das Gewissen, dieses leuchtende Auge der Seele (vgl. Mt 6, 22-23), »das Gute böse und das Böse gut« nennt (Jes 5, 20), dann ist es auf dem Weg besorgniserregender Entartung und finsterster moralischer Blindheit.

Doch sämtlichen Konditionierungen und Anstrengungen, das Schweigen durchzusetzen, gelingt es nicht, die Stimme des Herrn zu ersticken, die sich im Gewissen jedes Menschen vernehmen lässt: von diesem inneren Heiligtum des Gewissens kann immer wieder ein neuer Weg der Liebe, der Annahme und des Dienstes für das menschliche Leben seinen Ausgang nehmen.

[Fortsetzung folgt]

Anmerkungen

<references />