Rite expiatis (Wortlaut)

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Enzyklika
Rite expiatis
unseres Heiligen Vaters
Pius XI.
an die Ehrwürdigen Brüder, Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe
und die anderen Ordinarien, welche in Gnade und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle leben
zum 700. Jahrestag des Heimganges des heiligen Franz von Assisi.
30. April 1926 an
(Lateinischer Text: AAS XVIII [1926] 153-175)

(Quelle: Heilslehre der Kirche, Dokumente von Pius IX. bis Pius XII. Deutsche Ausgabe des französischen Originals von P. Cattin O.P. und H. Th. Conus O.P. besorgt von Anton Rohrbasser, Paulus Verlag Freiburg Schweiz 1953, S. 1141-1168; Imprimatur Friburgi Helv., die 22. maii 1953 L. Weber V. G; Die Nummerierung folgt der englischen Fassung [1])

Allgemeiner Hinweis: Die in der Kathpedia veröffentlichen Lehramstexte, dürfen nicht als offizielle Übersetzungen betrachtet werden, selbst wenn die Quellangaben dies vermuten ließen. Nur die Texte auf der Vatikanseite [2] können als offiziell angesehen werden (Schreiben der Libreria Editrice Vaticana vom 21. Januar 2008).

Ehrwürdige Brüder !
Gruß und apostolischen Segen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Das Franziskus-Gedenkjahr soll die Früchte des Jubeljahres zur Reife bringen

1 Das große Jubiläum hat hier im ehrwürdigen Rom viele Seelen mit Gott dem Herrn ausgesöhnt und zu einem Leben höherer Vollkommenheit angeregt. Und damit man des Jubiläums auf der ganzen Welt teilhaftig werden könne, haben Wir es bis zum Ende des laufenden Jahres verlängert. Der reiche geistige Gewinn, den es uns schon brachte und sicherlich noch bringen wird, soll nunmehr - so möchten Wir annehmen - eine besonders hohe Steigerung erfahren anlässlich der allenthalben sich vorbereitenden Gedenkfeier zu Ehren des heiligen Franziskus von Assisi. Das siebte Jahrhundert geht jetzt gerade zu Ende, seit der Heilige gegen die irdische Verbannung hienieden seine himmlische Heimat glückselig eintauschen konnte.

Die wahre Größe des heiligen Franziskus

Überzeitliche Sendung

Gottes Vorsehung hatte ihn gesandt, auf dass er nicht bloß sein unruhiges Jahrhundert, sondern die christliche Gesellschaft aller Zeiten seelisch erneuere. Darum konnte Unser letzter Vorgänger ihn der sogenannten „Katholischen Bewegung“ zum himmlischen Schutzherrn geben. Und es ziemt sich wahrlich, dass jene Unserer Söhne, die auf diesem Gebiete gemäß Unseren Weisungen eifrig tätig sind, in die Jubelchöre all der vielen Franziskusjünger einstimmen sowie sein: Leben, seine Tugenden und seinen Geist der Gegenwart in Erinnerung bringen und rühmend vor Augen stellen.

Heiligkeit nach dem Vorbild des Evangeliums

Freilich muss man jenes trügerische Scheinbild des Seraphischen Heiligen ablehnen, das Gefallen findet bei den Wortführern neuzeitlicher Abwegigkeiten oder in den mondänen Kreisen der eleganten Herren und Damen. Vielmehr sollen alle Christgläubigen jene Form der Heiligkeit zum Vorbild und Muster nehmen, die er im engsten Anschluss an die Lauterkeit und Schlichtheit der Lehre des Evangeliums selber verkörperte.

2 Dies ist nämlich Unser ausdrücklicher Wunsch: Möchten doch alle Gottesdienste und öffentlichen Festveranstaltungen, Vorträge und Ansprachen im Verlaufe dieses Gedächtnisjahres darauf eingestellt sein, mit den Äußerungen echter Frömmigkeit in ihm den Heiligen zu feiern, der die Gaben der Natur und der Gnade zu seiner und zu des Nächsten höchster Vervollkommnung in wunderbarer Weise zu verwerten wusste und so zum Seraphischen Patriarchen wurde; also ihn so zu feiern, wie er wirklich war und nicht unter einer fremden oder ganz anderen Gestalt.

Vollkommene Nachfolge Christi

Unter den in die himmlische Heimat aufgenommenen Helden der Heiligkeit lässt der Heilige Geist den einen diese Aufgabe, den andern jenes Anliegen bei den Menschen wahrnehmen. Deshalb ist es gewiss ein unkluges Beginnen, die Heiligen des Himmels untereinander vergleichen zu wollen. Ein solcher Vergleich stammt meistens aus einer ungeordneten Seelenverfassung, ist ganz fruchtlos und enthält eine Beleidigung gegen Gott selbst, den Urheber der Heiligkeit.

Dennoch hat es, so möchten Wir glauben, niemanden gegeben, bei dem das Bild Christi des Herrn und die evangelische Lebensform genauer und auch ausdrucksvoller zu Tage getreten wäre als bei Franziskus. Wie er sich selbst „Herold des großen Königs“ nannte, so wurde er gerade deshalb mit Recht auch als „zweiter Christus“ bezeichnet, weil er sich für seine Zeitgenossen und für die kommenden Jahrhunderte gleichsam als wiedererstandenen Christus erwies. So ist es zu erklären, dass er heute noch vor unseren Augen lebt und in alle Zukunft leben wird.

Sein heilsamer Einfluss

Wer möchte sich darüber wundern! Haben doch schon seine Zeitgenossen, die zuerst über Leben und Werke ihres Vaters und Ordensstifters schrieben, seine Größe und Erhabenheit als geradezu übermenschlich bezeichnet. Und es haben Unsere Vorgänger, die Franziskus sehr nahe standen, ohne Bedenken in ihm einen Gottgesandten erkannt, der von der Vorsehung zum Heile des Volkes und zum Schutze der Kirche bestimmt war.

3 Wie erklärt es sich denn, dass so lange nach dem Tode des Seraphischen Heiligen bei den Katholiken die fromme Liebe zu ihm und selbst bei den Nichtkatholiken staunende Bewunderung mächtig aufflammt und auflodert? Wie anders als daraus, dass sein Idealbild heute noch in eben demselben strahlenden Glanze wie früher vor dem Geiste der Menschheit steht, dass seine Seelengröße noch immer eine starke Heilkraft für die Völker ist, und dass man sich deshalb danach sehnt, sie zur Heilung und Hilfe zu gewinnen. Denn sein heilbringendes Wirken erfasste dermaßen die ganze Menschheit, dass nicht nur in weiten Kreisen die Reinheit des Glaubens und der Sitten wiederhergestellt wurde, sondern dass auch die evangelischen Grundsätze der Liebe und der Gerechtigkeit das Gemeinschafts- und Sozialleben viel tiefer und allseitiger beeinflussten.

Bedeutung für die Gegenwart

4 Die Bedeutung des glücklichen Ereignisses, das bald bevorsteht, legt es Uns nahe, die günstige Gelegenheit zu benützen, des Patriarchen von Assisi Lehren und vorbildliches Leben zum Heile der Seelen in Erinnerung zu bringen und dadurch den franziskanischen Geist, der sich vom Wortlaut und Geist des Evangeliums gar nicht unterscheidet noch entfernt, im christlichen Volke wieder zu beleben. Und ihr, ehrwürdige Mitbrüder, werdet euch gern zu Verkündern und Erklärern Unserer Worte machen. Wir möchten nämlich in eifriger Franziskusverehrung nicht hinter Unsern unmittelbaren Vorgängern zurückstehen, die kein Jahrhundertgedächtnis der hauptsächlichsten Daten seines Lebens vorübergehen ließen, ohne es mit der Autorität ihres apostolischen Lehramtes zu erläutern und die Gläubigen zur Gedenkfeier einzuladen.

5 Dabei erinnern Wir Uns mit ganz besonderer Freude und mit Uns gewiss alle, die schon über die Blüte der Jahre hinaus sind -, wie die begeisterte Liebe des Volkes zu Franziskus und zu seinen Stiftungen in der ganzen Welt durch das Rundschreiben Auspicato (2) neu entfacht wurde, das Leo XIII. vor vierundvierzig Jahren erließ, als sich das siebte Jahrhundert seit der Geburt des Heiligen von Assisi vollendete. Damals hat diese begeisterte Liebe in vielfältigen Kundgebungen der Franziskusverehrung und in einer dringend ersehnten geistigen Erneuerung ihren Ausdruck gefunden. Wir sehen keinen Grund, weshalb bei dem bevorstehenden Ereignis, das an Bedeutung ebenso groß ist, der Schlusserfolg nicht auch ebenso groß sein sollte. Im Gegenteil; einen weit größeren Erfolg lässt die gegenwärtige Lage der christlichen Gesellschaft erwarten. Denn wer kann übersehen, dass allenthalben die geistigen Güter allmählich höher gewertet werden, dass die Völker aus der Erfahrung der Vergangenheit gelernt haben, Ruhe und Frieden einzig von der Rückkehr zu Gott zu erwarten, und dass sie deshalb zur katholischen Kirche als der einzigen Quelle des Heils aufblicken? Ist es zudem nicht ein besonders günstiger Umstand, dass diese Jahrhundertfeier, die sich vom Geiste der Buße und Gottesliebe gar nicht trennen lässt, gerade mit dem auf den ganzen Erdkreis ausgedehnten römischen Jubiläumsablass zeitlich zusammenfällt?

Franziskus und seine Zeit

Das Antlitz seines Zeitalters

6 Jedermann weiß, ehrwürdige Mitbrüder, wie schwer und wie trostlos das Zeitalter war, in dem Franziskus lebte. Wir geben zu, dass der christliche Glaube damals noch im Volke tiefer und fester verwurzelt war. Dafür zeugt schon die Tatsache, dass es nicht etwa Mietstruppen, sondern Bürger jeglichen Standes waren, die mit heiliger Begeisterung nach Palästina zogen, um das Grab Christi zu befreien.

Die falschen Reformatoren

Und dennoch wurde damals die Giftsaat der Häresien unvermerkt auf dem Acker des Herrn ausgestreut, teils von bekannten Wortführern, teil von verkappten Bauernfängern. Indem sie strenge Lebenszucht und Scheinheiligkeit vorheuchelten, hatten sie leichtes Spiel, einfache und haltlose Menschen zu betrügen. So wurde ein gefährlicher Zündstoff des Aufruhrs heimlich in die breiten Massen des Volkes getragen. Wo man aber die Vergehen von Einzelpersonen der Kirche Gottes zur Last legte und sich hochmütigen Sinnes von Gott zum Reformator berufen glaubte, trat, weil man die Lehren und die Autorität des Apostolischen Stuhles missachtete, gar bald deutlich zutage, von welchem Geiste man beseelt war.

Irrlehren und Irrwege:

Auflehnung gegen Kirche und Staat

Dieser abschüssige Weg führte bekanntlich manche von ihnen zu Ausschweifungen und Zügellosigkeit und selbst zur Umwälzung der politischen Verhältnisse, wobei die Grundlagen der Religion, des Eigentums, der Familie und des Staates erschüttert wurden. Es zeigte sich ja immer da und dort im Verlauf der Jahrhunderte, dass Empörungen gegen die Kirche und gegen den Staat Hand in Hand gehen; die eine begünstigt die andere.

Schwinden des christlichen Geistes

7 Indessen, mochte auch der katholische Glaube damals in den Seelen noch unversehrt oder wenigstens nicht vollständig verdunkelt sein, der Geist des Evangeliums war fast ganz geschwunden und deshalb auch die Liebe Christi in der menschlichen Gesellschaft dermaßen schal geworden, dass man hätte glauben können, sie sei vollständig erloschen. Denn um von den Parteikämpfen derer zu schweigen, die es hier mit der Kirche, dort mit dem Staate hielten: die Städte Italiens zerfleischten sich in Bürgerkriegen. Manche Städte wollten sich der Oberherrschaft des Landesherrn entziehen und so die politische Unabhängigkeit erringen; andere Städte, die mächtig waren, suchten sich kleinere zu unterjochen; anderswo kämpften in einer und derselben Stadt mehrere Parteien um die Vormacht. Daher kam es auf bei den Seiten vielfach zu entsetzlichem Blutvergießen, zu Mordbrennereien, zu Raub und Plünderung, zu Verbannung und zu Konfiskation des Eigentums und Vermögens.

Soziale Ungerechtigkeiten

8 Die Lage breitester Volksschichten sprach aller Gerechtigkeit und Billigkeit Hohn. Denn zwischen Herren und Hörigen, zwischen den sogenannten „Großen“ und den „Kleinen“, zwischen Eigentümern und Pächtern herrschten übermäßige Standesunterschiede, die nicht mehr menschenwürdig waren. Die niederen Volksschichten wurden gewohnheitsmäßig von den Mächtigen bedrückt und ungestraft gequält. Vor lauter Egoismus und Habgier ließen sich alle, die nicht gerade in den armseligsten Verhältnissen lebten, von unersättlicher Sucht nach Reichtum hinreißen. Vereinzelte gesetzliche Maßnahmen gegen allzu großen Aufwand blieben wirkungslos. In Kleidung, Gelagen und Vergnügungen jeder Art entfaltete sich prahlerisch eine unsinnige Pracht. Armut und Arme verachtete man. Mit Aussätzigen, deren es damals eine Menge gab, wollte man nichts zu tun haben; man sonderte sie ab und überließ sie ihrem Schicksal.

Tiefstand des Klerus

Von dieser übertriebenen Genuss- und Vergnügungssucht wussten sich - mochten auch recht viele Geistliche immerhin wegen ihrer Sittenstrenge Lob verdienen - doch auch solche nicht freizuhalten, die sich mit aller Gewissenhaftigkeit davor hatten bewahren sollen. So war es dahin gekommen, dass sich jedermann mit allen Mitteln möglichst ergiebige Erwerbsquellen zu erschließen suchte. Nicht bloß, dass man Geld gewaltsam erpresste oder ungerechte Wucherzinsen forderte; dadurch, dass man sich öffentliche Ämter, Ehrenstellen, die Handhabung der Gerichtsbarkeit, ja selbst von Angeklagten die Straflosigkeit bezahlen ließ, wussten nicht wenige ihr Vermögen zu vermehren und Reichtum aufzuhäufen.

Machtlosigkeit der Kirche

9 Die Kirche hat dazu freilich nicht geschwiegen; sie hat auch mit Strafen nicht zurückgehalten. Aber wie konnte das fruchten, wenn selbst Kaiser zum schlimmsten öffentlichen Ärgernis den Bann des Apostolischen Stuhles herausforderten und schamlos verachteten? Das Ordenswesen, das so erfreuliche Früchte zum Reifen gebracht hatte, zeigte Staubflecke der Verweltlichung und hatte wenig Kraft zum Widerstand und zur Abwehr. Und wenn auch durch neue Männerorden die kirchliche Zucht etwas mehr geschützt und gestützt wurde, so hätte es doch eines viel reicheren Stromes von Licht und Liebe bedurft, um die schwer daniederliegende menschliche Gesellschaft zu heilen.

Berufung und Sendung des heiligen Franziskus

10 Das war in den Hauptzügen die Lage der menschlichen Gesellschaft in jener Zeit. Ihr wieder Licht zu bringen und sie zum unverfälschten Ideal der Weisheit des Evangeliums zurückzuführen, dazu erschien nach dem Ratschlusse der göttlichen Vorsehung der Heilige von Assisi; in ihm leuchtete, wie Dante Alighieri singt, eine Sonne der Welt auf (3). Denselben Gedanken äußert auch Thomas von Celano: „Er strahlte wie ein Stern, leuchtend im Dunkel der Nacht, und wie die Morgenhelle, die sich ausspannt über die Finsternis (4).

11 Als junger Mensch von übersprudelnder und fast leidenschaftlicher Gemütsart liebte es Franziskus, in kostbarer Kleidung im Kreise vornehmer, fröhlicher Kameraden üppige Gastmähler zu geben und mit munterem Gesang durch die Straßen seiner Vaterstadt zu ziehen. Aber durch Sittenreinheit, durch Lauterkeit im Reden und durch Verachtung des Reichtums musste er schon damals auffallen. Nach den Beschwerden einer Gefangenschaft in Perugia und nach den Leiden einer Krankheit fühlt er sich zu seiner eigenen Verwunderung innerlich wie umgewandelt. Nichtsdestoweniger möchte er sich gewissermaßen der Hand Gottes entziehen. Deshalb macht er sich nach Apulien auf, um dort Heldentaten zu bestehen. Unterwegs erhält er von Gott die unzweideutige Weisung, nach Assisi zurückzukehren; dort solle er erfahren, was er zu tun habe. Lange ist er von Unruhe und Ungewissheit geplagt. Aber der Antrieb der göttlichen Gnade und das während der Messfeier vernommene Wort des Evangeliums von der Aussendung und Lebensweise der Apostel lässt ihn zur Erkenntnis kommen, dass er „nach dem Vorbild des heiligen Evangeliums“ leben und Christus dienen müsse.

Sein Lebensideal: Nachfolge Christi

Damals schon ging er daran, mit Christus sich aufs engste zu verbinden und ihm ganz ähnlich zu werden. „Des Gottesmannes ganzes Sinnen und Trachten, für sich und für andere, drehte sich um das Kreuz des Herrn; und sobald er angefangen hatte, dem Gekreuzigten seinen Kriegsdienst zu widmen, leuchteten an ihm verschiedene Geheimnisse des Kreuzes auf“ (5). Wahrhaftig, er war ein guter Krieger und Ritter Christi mit dem ganzen hochgemuten Edelsinn seines Charakters. Damit er selbst und seine Jünger in keinem einzigen Punkte mit dem göttlichen Meister in Widerspruch gerieten, pflegte er sich bei Entscheidungen an das Evangelienbuch zu wenden und holte sich daraus Rat wie bei einem Orakel. Außerdem hat er die Regel der Orden, die er stiftete, dem Evangelium selbst und ebenso das Ordensleben der Seinen dem apostolischen Leben in einzigartiger Weise angeglichen. Darum hat er zu Recht die Regel mit den Worten eingeleitet: „Regel und Leben der Minderbrüder besteht darin, unseres Herrn Jesu Christi heiliges Evangelium zu beobachten ...“. (6)

Haupttugenden des heiligen Franziskus

Armut

12 Doch Wir möchten, ehrwürdige Mitbrüder, näher darauf eingehen; deshalb wollen Wir betrachten, wie sich Franziskus durch hervorragende Übung eines vollkommenen Tugendlebens bereitete, den Ratschlüssen der göttlichen Barmherzigkeit zu dienen, und wie er sich dadurch als taugliches Werkzeug für die Erneuerung der Welt erwies.


Liebe zu den Armen

13 Welch begeisterte Liebe zur evangelischen Armut unseren Heiligen beseelte, das lässt sich wohl vorstellen; aber schwer, ja Unseres Erachtens sehr schwer ist es, das genauer zu beschreiben. Jedermann weiß, dass er von Natur aus geneigt war, Armen zu helfen; und Bonaventura bezeugt, er sei so voller Güte gewesen, dass er, „nun nicht mehr ein tauber Hörer des Evangeliums“, bei sich beschlossen habe, keinem Bettler ein Almosen abzuschlagen, zumal nicht, wenn er sich bei seiner Bitte „auf die Liebe Gottes berufe“ (7). Aber die Gnade hat dann die Natur auf den höchsten Gipfel der Vollkommenheit geführt. Einmal hat er einen Armen abgewiesen; auf innern Antrieb Gottes, von Reue gerührt, sucht er ihn gleich auf und hilft ihm in seiner Not barmherzig und reichlich.

14 Ein andermal zieht er mit einer Schar von Kameraden nach einem fröhlichen Mahle singend durch die Stadt. Plötzlich bleibt er stehen, wie verklärt durch ein tiefes seelisches Wonnegefühl. Nachdem er wieder zu sich gekommen, fragen ihn seine Kameraden, ob er eine Frau im Sinne habe. Begeistert antwortete er sogleich, sie hätten recht, er gedenke eine Frau heimzuführen, wie es edler und reicher und schöner keine gebe. Damit meinte er die Armut oder die besonders auf die Liebe zur Armut sich stützende Frömmigkeit.

Freigewählte Armut

Denn von Christus dem Herrn, der, obgleich er reich war, unseretwegen arm ward, damit wir durch seine Armut reich würden, (8) hatte er jene himmlische Weisheit gelernt, die keine Erfindung menschlicher Weisheit je zunichte machen wird, und die einzig und allein kraft ihrer heiligen Neuheit alles wieder herzustellen vermag. Jesus hatte ja gelehrt: Selig sind die Armen im Geiste (9); Willst du vollkommen sein, geh hin, verkaufe deine Habe und schenke sie den Armen; du wirst einen Schatz im Himmel Haben; dann komm und folge mir (10).

15 Diese Armut ist wesentlich verschieden von jener unfreiwilligen und griesgrämigen Besitzlosigkeit, die einige antike Philosophen zur Schau trugen; sie besteht vielmehr darin, dass man auf Antrieb des Heiligen Geistes hin freiwillig und freudig auf alles verzichtet. Und dieser Armut ergab sich unser Heiliger so herzlich, dass er sie in Ehrfurcht und Liebe seine Herrin, Mutter und Braut nannte. Der heilige Bonaventura sagt: „Keiner kann das Gold so leidenschaftlich lieben, wie er die Armut liebte, und keiner kann ängstlicher besorgt sein um die Verwahrung eines kostbaren Schatzes, als er es war in Bezug auf diese himmlische Perle“ (11).

Vorschriften der Regel

Und wo Franziskus in seiner eigenen Ordensregel die geradezu einzigartige Übung dieser Tugend empfiehlt und vorschreibt, da tut er mit deutlichen Worten kund, wie hoch er sie schätzt und wie innig er sie liebt: „Das ist jene Erhabenheit der höchsten Armut, die euch, meine teuren Brüder, zu Erben und Königen des Himmelreiches einsetzte, die euch arm an Gütern machte, an Tugenden aber hoch erhob. Sie sei euer Anteil; ... ihr... sollt ihr euch ganz ergeben, und für immer entschlossen sein, um des Namens unseres Herrn Jesu Christi willen nie etwas anderes unter dem Himmel zu besitzen“ (12).

Die Armut: Braut Christi

16 Und gerade deshalb liebte Franziskus die Armut in vorzüglicher Weise, weil sie in seinen Augen der Gottesmutter vertraute Freundin war, und zudem nicht nur vertraute Freundin Jesu Christi, sondern sogar dessen Braut, die er sich am Kreuz anvermählte, die dann aber bei den Menschen in Vergessenheit geriet und der Welt sehr bitter und lästig wurde.

17 Wenn er das überdachte, brach er jeweils in Weinen und Wehklagen aus. Wen sollte nun der außerordentliche Anblick eines Mannes nicht rühren, der bei den früheren Genossen seiner frohen Stunden und manchen andern den Eindruck erweckte, als habe ihm die Liebe Zur Armut geradezu den Verstand geraubt? Und was soll man dazu sagen, dass dieser große Liebhaber der Armut von der Nachwelt, selbst wenn sie dem Begriff und der Übung der evangelischen Vollkommenheit ganz fern stand, täglich mehr bewundert wurde und noch von der heutigen Menschheit bewundert wird? Dieser Nachwelt ging Dante Alighieri voran mit seinem berühmten Gesang (13) von der Verlobung des Franziskus mit der Armut, jenem Gesang, von dem man nicht weiß, was man daran mehr bewundern soll, den erhabenen Schwung der Gedanken oder die zarte Anmut der dichterischen Einkleidung.

Demut

18 Eine so hohe Auffassung von der Armut und die großmütige Hingabe an sie, wie sie Geist und Herz des Franziskus beherrschten, ließen sich jedoch nicht auf den Verzicht auf äußere Güter einengen und beschränken. Denn wer könnte sich die echte Armut nach Christi Vorbild aneignen und sich ganz zu ihr bekennen, ohne im Geiste arm und durch die Tugend der Demut klein geworden zu sein? Das wusste unser Heiliger recht wohl. Deshalb trennt er niemals die eine Tugend von der andern, beide mitsammen grüßt er und heißt er willkommen: „O Herrin, heilige Armut, der Herr behüte dich mit deiner Schwester, der heiligen Demut! ... Die heilige Armut beschämt alle Begehrlichkeit und Habsucht und Sorgen dieser Welt. Die heilige Demut beschämt den Stolz und alle Menschen dieser Welt und alles, was in der Welt ist“ (14).

19 Um Franziskus mit einem einzigen Worte zu kennzeichnen, nennt ihn der Verfasser des goldenen Büchleins „Von der Nachfolge Christi“ den „Demütigen“: „Wie viel ein jeder in deinen Augen ist (o Gott), so viel ist er und nicht mehr, sagt der demütige Sankt Franziskus“ (15).

Das war in der Tat seine hauptsächlichste Sorge, sich als den allergeringsten und allerletzten ganz bescheiden zu zeigen. Von dem Augenblick an, da er sein Leben auf höhere Vollkommenheit eingestellt hatte, sehnte er sich leidenschaftlich nach dem Spott und Hohn der Welt. Obwohl er als Stifter und Vater der Minderbrüder ihr Gesetzgeber war, wählte er sich doch einen Ordensbruder aus, von dessen Wink und Willen er abhängen wollte. Sobald es möglich war, legte er, ohne sich von den flehentlichen Bitten der Mitbrüder beeinflussen zu lassen, die oberste Leitung des Ordens nieder, „um die Tugend der heiligen Demut zu bewahren“, und um „von nun an ein Untergebener bis zum Tode, demütiger im Tun und Lassen als irgendeiner von den andern“ (16) zu bleiben.

20 Öfters wurde ihm von Kardinälen und aus den ersten Kreisen der Stadt großzügig eine prunkvolle Unterkunft angeboten; aber er wollte nichts davon wissen und lehnte immer ab. Seine Mitmenschen schätzte er sehr hoch, erwies ihnen jegliche Ehre und war „unter den Sündern wie einer aus ihnen“ (17). Denn er kam sich selbst vor wie der größte Sünder. Er pflegte zu sagen: wenn Gott die Barmherzigkeit, die er ihm erwiesen, genau so einem verbrecherischen Menschen geschenkt hätte, wäre dieser zehnmal vollkommener geworden. Was man Lobenswertes und Gutes an ihm fände, das stamme alles ausschließlich von Gott und sei Gott allein zu verdanken. Aus diesem Grunde suchte er mit allem Eifer, die Vorzüge und Gnadenerweise, die ihm bei den Menschen Hochachtung und Lob hätten einbringen können, geheim zu halten, namentlich auch die Wundmale unseres Herrn Jesu, die er vom Himmel bekommen hatte und an seinem Körper trug: Wurde er aber einmal öffentlich oder allein gelobt, dann meinte und bekannte er nicht nur er habe Verachtung und Schmach verdient; es verursachte ihm sogar ganz unglaubliche Angst und Trauer, die sich bis zu Seufzen und Wehklagen steigerte. Hielt er sich doch für so unwürdig, dass er sich weigerte, die Priesterweihe zu empfangen.

21 Gerade die Demut sollte nach seinem Willen das Fundament sein, worauf sich der Orden der Minderbrüder gründen und stützen sollte. Wenn er in seinen von wundersamer Weisheit erfüllten Anweisungen die Seinigen immer und immer wieder darüber belehrte, weshalb sie sich gar keines Vorzuges, geschweige denn der Tugenden und himmlischen Gnadenerweise rühmen dürften, so pflegte er hauptsächlich jene Brüder zu ermahnen und gegebenenfalls zu tadeln, die eben infolge ihrer Berufspflichten durch eitlen Ehrgeiz und Hochmut gefährdet waren, wie Prediger des göttlichen Wortes, literarisch und wissenschaftlich Gebildete oder Vorsteher von Klöstern und Provinzen; Es würde gewiss zu weit führen, auf Einzelheiten genauer einzugehen. Aber an das eine darf noch erinnert werden, dass Franziskus die Demut als das besondere Merkmal des Ordens aus dem Wort und Beispiel Christi (18) auf die Seinen übertragen hat. Seinen Jüngern „gab er nämlich den Namen 'Minderbrüder' und den Vorgesetzten in seinem Orden die Bezeichnung 'Minister'. Das tat er einesteils, um sich an den Wortlaut des Evangeliums zu halten, das zu beobachten er versprochen hatte; anderseits sollten seine Jünger schon aus der Benennung erfahren, dass sie, um Demut zu lernen, in die Schule des demütigen Christus gekommen seien“ (19).

Gehorsam

22 Wir sahen, dass der Seraphische Heilige gerade auf Grund seiner Auffassung von der unbedingten Armut sich so gering und demütig zeigte, dass er als Ordensgeneral einem andern - ja, Wir dürfen hinzufügen, fast allen - mit schlichter Einfalt gehorchte. Denn wer sich nicht selbst verleugnet und auf seinen freien Willen nicht verzichtet, von dem kann man wahrlich nicht sagen, er habe sich alles dessen, was er besitze, entäußert oder er sei fähig, ganz anspruchslos zu sein. So hat auch unser Heiliget die Willensfreiheit, die allervorzüglichste Gabe des Schöpfergottes an die Menschennatur, dem Statthalter Jesu Christi durch das Gelübde des Gehorsams ganz übergeben und anheimgestellt.

23 O wie unsinnig und wie weit entfernt vom rechten Verständnis des Heiligen von Assisi ist das Unterfangen jener, die sich in ihren abwegigen Phantastereien einen Franziskus ersinnen und zurechtmachen, der sich - kaum zu glauben - der kirchlichen Zucht nur schwer untergeordnet, ja um die Glaubenslehre gar nicht gekümmert haben soll, der schließlich sogar Vorläufer und Prophet jener vielgestaltigen lügenhaften Freiheit gewesen sei, deren man sich seit Beginn der Neuzeit mehr und mehr rühmte und die in Kirche und Staat soviel Verwirrung angerichtet hat! Möge der Herold des großen Königs Katholiken und Nichtkatholiken insgesamt durch sein eigenes wunderbares Beispiel belehren, wie eng er sich mit der kirchlichen Hierarchie, mit dem Apostolischen Stuhl und mit Christi Lehre verbunden wusste! Denn, wie aus zeitgenössischen, durchaus glaubwürdigen Geschichtsquellen hervorgeht, „begegnete er mit Ehrfurcht den Priestern, und jeder kirchlichen Rangstufe erwies er große Liebe und Hochachtung“ (20). „Darauf ... drang dieser durch und durch katholische und apostolische Mann in seiner Predigt hauptsächlich, dass man den Glauben der katholischen Kirche unversehrt bewahre und ferner den Priesterstand hoch in Ehren halte wegen der Würde des heiligsten Altarssakramentes, das durch den Dienst des Priesters zustande kommt. Aber auch vor den Lehrern des göttlichen Gesetzes und vor allen kirchlichen Ständen, so lehrte er, müsse man große Ehrfurcht haben“ (21). Was er dem Volke von der Kanzel aus empfahl, das prägte er seinen Brüdern noch viel nachdrücklicher ein. Zu wiederholten Malen pflegte er sie zu mahnen - auch in seinem „Testamente“ und immer wieder vor seinem Tode -, sie möchten den Prälaten und Geistlichen in Ausübung des heiligen Dienstes bescheiden gehorchen und sich ihnen gegenüber wie Kinder des Friedens verhalten.

24 Was aber hier die Hauptsache ist: kaum hatte der Seraphische Patriarch seine eigene Ordensregel verfasst und niedergeschrieben, da zögerte er nicht, alsbald mit seinen ersten elf Jüngern sich Innozenz III. persönlich vorzustellen und seine Regel zur Bestätigung zu unterbreiten. Vom Wort und Anblick des armen und demütigen Mannes wundersam ergriffen und von einer göttlichen Eingebung angetrieben, schloss jener Papst unsterblichen Andenkens Franziskus liebevoll in seine Arme, bestätigte die ihm vorgelegte Regel (22) und gab außerdem den neuen Mitarbeitern die Vollmacht, Buße zu predigen. Später wurde die Regel ein wenig abgeändert, und die Geschichte bezeugt, dass dann auf Bitten des Franziskus Papst Honorius III. sie endgültig bestätigte (23).

25 Regel und Lebensführung der Minderbruder ist es aber nach dem Willen des Seraphischen Vaters, „unseres Herrn Jesu Christi heiliges Evangelium“ zu beobachten, „durch ein Leben im Gehorsam, ohne Eigentum und in Keuschheit“ (24) nicht zwar nach eigenem Gutdünken und gemäß eigener Auslegung, sondern nach dem Wink und Willen, der rechtmäßig erwählten römischen Päpste. Wer immer wünscht, „dieses Leben auf sich zu nehmen ... den sollen die Ministri sorgfältig prüfen über den katholischen Glauben und die Sakramente der Kirche; und ob sie das alles glauben und treu bekennen und es bis zum Ende standhaft beobachten wollen“ (25). Wer in den Orden aufgenommen wurde, darf unter keinen Umständen wieder austreten „gemäß dem Befehl des Papstes“ (26). Den Klerikern wird vorgeschrieben, das göttliche Offizium zu verrichten „nach der Verordnung der heiligen Römischen Kirche“ (27). Den Brüdern insgesamt, dass sie im Gebiete irgendeines Bischofs nicht predigen dürfen ohne dessen Geheiß. Ferner dass sie nicht, der Seelsorge halber, Frauenklöster betreten, außer es habe der Apostolische Stuhl eine besondere Erlaubnis dazu erteilt. Genau denselben Geist der Ehrfurcht und der Unterordnung gegenüber dem Apostolischen Stuhl atmet des Franziskus Vorschrift, man solle sich einen Kardinalprotektor erbitten: „Im Gehorsam trage ich den Ministri auf, vom Papste einen der Kardinäle der heiligen Römischen Kirche zu erbitten, der diese Brüdergemeinde leite, schütze und zurechtweise; auf dass wir stets dieser heiligen Römischen Kirche untertänig und unterworfen, standhaft im katholischen Glauben, ... das heilige Evangelium unseres Herrn Jesus Christus, wie wir fest versprochen haben, beobachten mögen“ (28).

Keuschheit

26 Ferner dürfen wir nicht übergehen, dass der Seraphische Heilige „ganz besonders die Schönheit und Reinheit der Wohlanständigkeit liebte“ (29), nämlich die Keuschheit an Leib und Seele, die er durch harte körperliche Kasteiung zu bewahren und zu schützen wusste. Schon damals, als er noch in jungen Jahren ein fröhliches und weltfreudiges Leben führte, sehen wir ihn jede Unziemlichkeit, selbst im Reden, tief verabscheuen. Sobald er aber auf die eitlen Vergnügungen der Welt verzichtet hatte, da begann er alsbald seine Sinne in eine sehr harte Zucht zu nehmen. Und wenn es einmal vorkam, dass er von sinnlichen Regungen belästigt und gequält wurde, trug er kein Bedenken, sich in dornigem Gestrüpp zu wälzen oder mitten im kalten Winter in eiskaltes Wasser zu tauchen.

27 Es ist übrigens eine allgemein bekannte Tatsache, dass unser Heiliger, um die Menschen zu einer Lebensführung nach dem Evangelium aufzurufen, alle zu ermahnen pflegte, „sie sollten Gott lieben und fürchten und Buße tun für ihre Sünden“ (30), und dass er durch sein Beispiel allen Lehrmeister und Führer zur Buße wurde. Er trug ja ein härenes Bußhemd auf bloßem Leibe, hatte ein raues und ärmliches Gewand an, ging barfuss einher, legte sich zum Schlafen einen Stein oder ein Stück Holz unter den Kopf, aß nur soviel, um eben notdürftig das Leben zu fristen, und mischte häufig Wasser und Asche in die Speisen, um sie unschmackhaft zu machen, ja den größeren Teil des Jahres brachte er mit Fasten zu. Seinen Leib verglich er mit einem Lasttier und behandelte ihn streng und hart, gleichviel, ob er einigermaßen gesund oder krank war; und wenn der Leib sich widerspenstig zeigte, verdoppelte er seine Bußübungen. Selbst als er in den letzten Lebensjahren Christus ganz ähnlich geworden, durch die Wundmale gewissermaßen ans Kreuz geheftet war und durch vielerlei Krankheiten heftig gequält wurde, auch da gestattete er seinem Körper gar keine Pflege und Ruhe.

Ebenso trug er Sorge, dass die Seinen sich an Strenge und Buße gewöhnten, wenngleich er - und in diesem einen Punkte „stimmten Wort und Werk beim heiligen Vater nicht überein“ (31) - ihnen anbefahl und sie ermahnte, sich vor dem Übermaß im Fasten und in körperlicher Abtötung in acht zu nehmen.

Gottes- und Nächstenliebe

28 All diese Tugenden aber entsprangen offensichtlich ein und derselben Hauptquelle, der Gottesliebe. Denn wie Thomas von Celano schreibt: „Glühend von Liebe zu Gott ... bemühte er sich, an heroische Aufgaben Hand anzulegen; großmütigen Herzens wandelte er den Weg der Gebote Gottes, und sehnte sich, den Gipfel der Vollkommenheit zu erreichen“ (32). Nach dem Zeugnisse des heiligen Bonaventura „schien sein ganzes Wesen ... wie eine glühende Kohle von der Flamme göttlicher Liebe verzehrt zu sein“ (33). Und manche vergossen sogar heiße Tränen, wenn sie sahen, „wie rasch er zu einem solchen Rausch der Gottesliebe gekommen war“ (34). Diese große Liebe zu Gott strömte in solchem Maß auf die Mitmenschen über, dass er die Notleidenden, darunter unglückliche Aussätzige, vor denen er in der Jugend einen natürlichen Abscheu hatte, sich selbst überwindend mit ganz besonderer Güte umfing; ihrem Dienst und ihrer Pflege widmete er sich vorbehaltlos und stellte die Seinen zu ihrer Verfügung. In ebenso großer Bruderliebe sollten nach seinem Willen seine Jünger einander zugetan sein. So ist denn die franziskanische Familie wie ein „edles Bauwerk brüderlicher Liebe erstanden, wo lebendige Steine, aus allen Teilen der Welt zusammengetragen, zu einer Wohnstätte des Heiligen Geistes aufgebaut wurden“ (35).

Keine Bewunderung ohne Nachahmung

29 Ehrwürdige Mitbrüder, Wir wollten absichtlich bei dieser Betrachtung seiner hervorragenden Tugenden etwas länger verweilen. Denn gerade in unsern Tagen pflegen manche, von der Krankheit des Laizismus [der Verweltlichung] angesteckt, unsere Tugendhelden ihres eigentlichen und wahren Ruhmes leuchtender Heiligkeit zu berauben. Da preist und rühmt man denn ihre herrlichen Verdienste um den Fortschritt von Bildung und Wissenschaft, um Wohlfahrtseinrichtungen, um ihr Vaterland, um die gesamte Menschheit. Und so erniedrigt man sie auf die Stufe einer rein natürlichen Vollkommenheit und macht sie zu Helden einer verschwommenen Religiosität. Wir fragen Uns immer wieder, was die staunende Bewunderung eines solchen, man möchte sagen, um die Hälfte gekürzten und deshalb entstellten Franziskus der Schar seiner modernen Liebhaber nützen soll, da sie ja nur, nach Geld und Vergnügen haschen, oder, elegant und modisch gekleidet, die Promenaden, Tanzlokale und Theater beleben oder im Schmutz der Sinnenlust sich wälzen oder die Gebote Christi und der Kirche missachten, sie sogar ablehnen. Da passt ausgezeichnet jener Ausspruch: „Wer Freude hat am Verdienste eines Heiligen, der muss auch am gleichen Eifer im Dienste Gottes Freude haben. Entweder soll man auch nachahmen, wenn man lobt, oder man soll nicht loben, wenn man nicht nachahmen will. Wer die Verdienste der Heiligen bewundert, soll selbst bewunderungswürdig werden durch die Heiligkeit seines Lebens“ (36).

Sein segensreiches Wirken

Die christliche Erneuerung seiner Zeit:

Stütze der Kirche

30 So war denn Franziskus mit Kraft und Tugend ausgerüstet, als der Herr ihn berief zur seelischen Erneuerung und Rettung seiner Zeitgenossen und zum Schutze der gesamten Kirche.

31 In der Damiankirche, wo er unter Seufzen und Stöhnen zu beten pflegte, hatte er dreimal eine Stimme vom Himmel gehört: Geh, Franziskus, stütze mein wankendes Haus! (37) Die geheimnisvolle, tiefere Bedeutung des Wortes hatte er jedoch nicht begriffen, weil er allzu bescheiden war und sich selber zu Großtaten kaum für tauglich hielt. Den erbarmungsvollen Ratschluss Gottes wusste jedoch Innozenz III. zu erschließen aus einer Erscheinung, die ihm von Gott zuteil wurde; er sah nämlich im Schlafe, wie die Lateran-Basilika wankte und wie dann Franziskus sie mit seinen Schultern stützte.

Eroberer der Seelen

32 Nachdem der Seraphische Heilige die beiden Orden gestiftet hatte, den einen, um Männer, den andern, um Frauen zur Vollkommenheit des Evangeliums empor zu führen, machte er sich nun daran, die Städte Italiens zu durcheilen und sowohl persönlich als auch durch die gleich anfangs gewonnenen Brüder dem Volk in knappen, aber höchst eindringlichen Worten Buße zu predigen. Es ist unglaublich, wie viel er bei dieser Seelsorgerarbeit durch Wort und Beispiel erreichte. Wohin immer Franziskus in seinem Aposteleifer pilgerte, strömte ihm Geistlichkeit und Volk in Prozession unter Glockengeläute und gemeinschaftlichem Gesang, Ölzweige in den Händen, entgegen. Um ihn drängt sich die Menge jeglichen Alters, Geschlechtes und Standes. Das Haus, in dem er wohnt, umringt man bei Tag und bei Nacht; wenn er ausgeht, möchte man ihn sehen, berühren, ansprechen, hören. Wenn er predigt, widersteht keiner; selbst jene nicht, die in einem ständigen Sünden- und Lasterleben alt und grau geworden sind. So kam es, dass viele Leute, auch solche gesetzten Alters, scharenweise aus Begeisterung für das evangelische Leben allem Irdischen entsagten. Noch mehr: Italiens Völker kamen wieder vollständig zur Selbstbesinnung und Besserung und stellten sich wie Schüler unter die Leitung des Franziskus. Schließlich mehrte sich seine Jüngerschaft derart, überall flammte ein solcher Feuereifer auf, ihm nachzufolgen, dass der Seraphische Patriarch sich des öftern gezwungen sah, Männer und Frauen, die sich allenthalben anschickten, sogar der Ehe und der häuslichen Gemeinschaft zu entsagen, persönlich von dem Entschlusse, die Welt aufzugeben, wieder abzubringen und sie daran zu hindern.

Friedensstifter

33 Inzwischen erwuchs den neuen Bußpredigern ein neues Hauptanliegen: zwischen Einzelpersonen, Familien, Städten und Gegenden, die durch ständige blutige Zerwürfnisse zerrüttet waren, den Frieden wiederherzustellen. Und es ist tatsächlich der geradezu übermenschlichen Beredsamkeit jener schlichten, ungelehrten Männer zuzuschreiben, wenn es in Assisi, in Arezzo, in Bologna und sonst noch in manchen Städten und Ortschaften wirklich zu einer vollen innern Eintracht kam, die zuweilen durch feierliche Verträge und Vergleiche bekräftigt wurde.

Gründung des Dritten Ordens

34 Zur allgemeinen Befriedung und seelischen Erneuerung trug der Dritte Orden sehr viel bei, ein wahrer und eigentlicher Orden, der aber, was es bis dahin noch nicht gab, keine Verpflichtung durch Gelübde forderte. Dadurch sollte allen in der Welt lebenden Männern und Frauen die Möglichkeit gegeben werden, Gottes Gebote zu beobachten und außerdem zur christlichen Vollkommenheit zu gelangen.

Die Regel der neuen Bruderschaft enthielt in der Hauptsache die folgenden Kapitel: Es dürfen nur solche aufgenommen werden, die am katholischen Glauben festhalten und der Kirche mit höchster Willfährigkeit gehorchen. Sodalen beiderlei Geschlechtes können in den Orden eintreten, sie müssen ein Probejahr bestehen und dann die Regel geloben, der Mann jedoch mit Zustimmung der Frau, die Frau mit Einwilligung des Mannes; die Kleidung soll den Anstand und dem Geiste der Armut entsprechen, und die Frauen sollen ihre Putzsucht mäßigen. Die Terziaren dürfen an unanständigen Gelagen und Schauspielen und auch an Tanzveranstaltungen nicht teilnehmen. Über Abstinenz und Fasten. Dreimal im Jahre solle man die Sünden beichten und ebenso oft die heilige Kommunion empfangen, nachdem man sich gegenseitig ausgesöhnt und fremdes Eigentum dem Besitzer zurückgegeben hat. Waffen dürfen die Terziaren nur tragen zum Schutz der Römischen Kirche, des christlichen Glaubens, des Vaterlandes und der eigenen Person oder sonst mit Bewilligung ihrer Ordensobern. Vom Stundengebet und anderen Gebeten. Innerhalb von drei Monaten nach Eintritt in den Orden sollen die Terziaren ein rechtsgültiges Testament machen. Die Sodalen sollen, wenn untereinander oder mit Fremden der Friede gestört ist, ihn schnell wiederherstellen. Was sie zu tun haben, wenn einmal ihre Rechte oder Privilegien angegriffen oder verletzt werden sollten. Einen feierlichen Eid sollen sie niemals ablegen, außer in einem dringenden und vom Apostolischen Stuhl anerkannten Notfall.

Dazu kamen noch einige andere ebenso wichtige Bestimmungen. So über das Anhören der heiligen Messe und die Abhaltung regelmäßiger, zu festgesetzter Zeit stattfindender Versammlungen. Über einen Beitrag, den die einzelnen je nach ihren Kräften leisten sollen zur Unterstützung ärmerer, zumal kranker Mitbrüder und für ein geziemendes Begräbnis verstorbener Mitbrüder. Untereinander sollen sie sich besuchen, wenn jemand von ihnen krank ist, oder wenn jemand sich verfehlt und widerspenstig zeigt, sich gegenseitig zurechtweisen und bessern. Niemand darf Ämter oder Dienstleistungen, die ihm übertragen werden, ablehnen oder nachlässig erfüllen. Wie man Streitigkeiten schlichtet. (38)

35 Wir sind hierbei absichtlich auf Einzelheiten näher eingegangen, um zu zeigen, wie Franziskus durch seinen eigenen und durch seiner Jünger unermüdlichen Seeleneifer und durch die Einrichtung des Dritten Ordens die Grundlagen legte zu einer neuen, vollständig nach dem Vorbild des Evangeliums umgestalteten Gesellschaft. Lassen wir beiseite, was sich in dieser Regel, mag es noch so wichtig sein, auf den Gottesdienst und auf das geistliche Leben bezieht. Schon aus den übrigen Bestimmungen musste, wie jedermann einsieht, eine Gestaltung des privaten und sozialen Lebens erwachsen, die aus der bürgerlichen Gesellschaft gewissermaßen einen heiligen Bund von Brüdern machte und die außerdem das Recht der Armen und Schwachen gegen Reiche und Mächtige schützte, ohne irgendwie die Ordnung und Gerechtigkeit zu beeinträchtigen. Da nämlich die Terziaren zum Klerus gezählt wurden, so musste sich als glückliche Folge ergeben, dass die neuen Bruderschaften dieselben Vergünstigungen erhielten, wie sie der Klerus genoss. Deshalb waren die Terziaren schon damals nicht zum sogenannten Vasalleneid verpflichtet, noch griffen sie zu den Waffen, wenn sie zum Heeresdienst oder zu einem Angriffskrieg aufgeboten wurden. Verwies man sie auf das sogenannte Lehensrecht, so beriefen sie sich demgegenüber auf das Drittordensrecht; verwies man sie auf das Dienstverhältnis, so beriefen sie sich auf die rechtmäßig erworbene Freiheit.

Sie hatten indessen mancherlei Belästigungen von Leuten auszustehen, denen sehr viel daran lag, die Dinge wieder auf den alten Stand zurückzuführen. Da waren es Honorius III. und Gregor IX., die sie als Schirmherren in Schutz nahmen und durch strenge Strafen die Anfeindungen abwehrten.

36 So machte sich eine sehr heilsame Zuständereform in der menschlichen Gesellschaft geltend. Unter den christlichen Völkern setzte sich der neue Orden, dessen Vater und Gesetzgeber Franziskus war, überall durch, und in dessen Gefolge erwachten Bußeifer und Sittenreinheit. Nicht nur Päpste, Kardinäle und Bischöfe, sondern selbst Könige und Fürsten, von denen manche ein leuchtendes Vorbild der Heiligkeit wurden, empfingen begeisterten Herzens die Abzeichen des Dritten Ordens und machten sich mit dem franziskanischen Geiste und mit der Weisheit des Evangeliums vertraut. Wert und Würde hoher Tugend wurde in der Gesellschaft wieder geschätzt; ja, das Angesicht der Erde erneuerte sich (39).

Missionar in Heidenländern

37 Doch Franziskus, der katholische „und ganz apostolische Mann“ (40), widmete sich nicht nur mit erstaunlichem Erfolg der sittlichen Erneuerung des gläubigen Volkes; ebenso sehr wollte er durch seinen eigenen und seiner Jünger unermüdlichen Arbeitseifer die Heiden für den Glauben und das Sittengesetz Christi gewinnen. Es ist gewiss nicht nötig, jene allbekannte Tatsache des näheren darzulegen: aus großer Sehnsucht, das Evangelium zu verkünden und den Martertod zu erleiden, setzte der Heilige mit einigen Jüngern nach Ägypten über und trat mit herzhaftem Mut vor das Angesicht des Sultans. Wie viele Missionare gleich zu Anfang und sozusagen im ersten Frühling des Ordens der Minderbrüder in Syrien und in Marokko ihr Leben opferten, steht das nicht in den Geschichtsbüchern der Kirche aufs ehrenvollste verzeichnet? Und diese apostolische Tätigkeit hat die vielverzweigte Familie des heiligen Franziskus im Laufe der Zeiten auch unter reichen Opfern an Blut und Leben so treu weitergeführt, dass sie jetzt sehr viele Heidenländer zu betreuen hat, die ihr von den Römischen Päpsten zur Missionierung anvertraut wurden.

Allgemein bewundert und verehrt

38 Darum darf sich niemand wundern, dass während der ganzen Dauer der verflossenen 700 Jahre die Erinnerung an die segensreichen Wohltaten, die von diesem Manne ausgingen, aus dem Gedächtnis der Menschheit niemals getilgt und nirgends ausgelöscht werden konnte. Ja, sein Leben und Wirken, das nach Dantes Wort der Himmel besser als die Erde rühmen und besingen könnte (41), sein Leben und Wirken schienen die Generationen einander zur Bewunderung und Verehrung so vorzustellen und zu empfehlen, dass er nicht nur wegen seiner hervorragenden Heiligkeit in hellem Glanze vor dem katholischen Erdkreis steht, sondern dass er auch im Ruhmeslichte bürgerlicher Huldigungen erstrahlt, als Heiliger von Assisi allüberall hochgefeiert.

Durch bildende Kunst und Dichtung

39 Zu Ehren des Seraphischen Vaters wurden nämlich nicht lange nach seinem Tode auf Anregung des Volkes allenthalben stilvolle Gotteshäuser errichtet, wahre Wunderwerke der Kunst. Künstler ersten Ranges wetteiferten, um des Franziskus Bild und Lebenswerk möglichst getreu und formschön in Malerei und Plastik, in Schnitzwerk und Mosaik darzustellen. Zur Kirche Santa Maria Angeli, jener Stätte, von wo aus Franziskus, „arm und demütig, und doch reich, in den Himmel“ einzog, und zu seinem glorreichen Grabe auf dem Hügel von Assisi strömen Pilger aus der ganzen Welt zusammen, einzeln und in Scharen, um zum Vorteil ihrer Seele das Gedächtnis dieses großen Heiligen zu begehen sowie um die unvergänglichen Denkmäler der Kunst zu bewundern.

Den Heiligen von Assisi hat ferner, wie wir sahen, ein Lobredner besungen, wie es keinen zweiten gibt: Dante Alighleri (42), und auch später hat es nicht an Zierden der italienischen und auswärtigen Literatur gefehlt, die seine Größe rühmten.

40 Aber besonders in unsern Tagen, da die Franziskusforschung in den Gelehrtenkreisen einen erfreulichen Aufschwung nahm, sind zahlreiche Bücher über ihn in den verschiedensten Sprachen erschienen; der schöpferische Geist tüchtiger Fachmänner fühlte sich zu hochbedeutsamen Arbeiten und Kunstwerken angeregt; und eine gewaltige, wenn auch nicht gerade immer richtige Bewunderung für Franziskus hat manche moderne Menschen erfasst.

Falsches und wahres Franziskusbild

Die einen sehen in ihm mehr den Menschen, der sich dank einer gewissen angeborenen Regsamkeit gedrängt fühlt, seinem innern Erleben dichterischen Ausdruck zu verleihen, und dessen Sonnengesang, eines der ältesten poetischen Denkmäler der jungen italienischen Sprache, noch heute der gebildeten Nachwelt zur Freude gereicht. Andere bewundern in ihm den Freund der Natur, der von der Majestät der leblosen Schöpfung, vom Glanz der Gestirne, vom Zauber der Berge und Täler Umbriens, von der Schönheit der Tierwelt wundersam ergriffen war, und der sogar - gleich dem unschuldigen Adam im irdischen Paradiese - sich mit den Tieren eng verbunden und gewissermaßen verbrüdert fühlte, sich mit ihnen unterhielt und sie seinen Weisungen ganz willfährig machte. Andere verherrlichen seine Vaterlandsliebe, weil er unser Italien - das sich rühmen kann, seine Heimat zu sein - mit einer reicheren Fülle von Wohltaten beschenkt hat als irgendeine der andern Nationen. Andere schließlich preisen die einzigartige Liebe, die ihn mit allen Menschen zu einer Gemeinschaft eng verband.

All das ist freilich wahr, aber nicht die Hauptsache, und man muss es zudem richtig verstehen. Wer diese Züge in erster Linie ins Auge fassen oder verdrehen sollte, um damit seine Weichlichkeit zu entschuldigen, seine vorgefassten Meinungen oder seine Lieblingsbestrebungen zu stützen, der würde gewiss das wahre Franziskusbild fälschen.

Der echte und ganze Franziskus besteht vielmehr aus jener von Uns kurz dargestellten Gesamtheit heldenhafter Tugenden, aus jener Lebensstrenge und Bußpredigt, aus jener vielgestaltigen und mühsamen Arbeit an der seelischen Erneuerung der Gesellschaft; somit steht er vor dem christlichen Volke nicht so sehr als Gegenstand der Bewunderung, denn als Vorbild zur Nachahmung. Ihm, dem Herold des großen Königs, kam es darauf an, die Menschen zur "Heiligkeit des Evangeliums und zur Kreuzesliebe heranzubilden, keineswegs darauf, sie zu sentimentalen Schwärmern für Blumen und Vögel, für Schäfchen und Fische und Häslein zu machen. Wenn er offensichtlich allen Geschöpfen in zarter Liebe zugetan war und „auch die kleinsten als Bruder und Schwester bezeichnete“ - eine Liebe übrigens, die innerhalb der rechten Ordnung keineswegs verboten ist -, so war es ganz allein seine Gottesliebe, die ihn bewegte, auch die Dinge zu lieben, von denen „er wusste, dass sie denselben Ursprung hatten wie er selbst“ (43), und in denen er Gottes Güte sah. Denn „auf den Spuren der Schöpfung folgt er überall seinem geliebten Herrn, und alles wird ihm zur Leiter, auf der man zu seinem Throne gelangen soll“ (44).

41 Was hält im übrigen die Italiener ab, sich eines Italieners zu rühmen, der als „des Vaterlandes Leuchte“ (45) selbst in der kirchlichen Liturgie bezeichnet wird? Was hindert denn die Männer, die sich besonders des Volkes annehmen, des Franziskus Liebe zu preisen, die allen Menschen, vorzüglich aber den Ärmsten gehört? Indes sollen sich die ersteren davor hüten, in maßloser Liebe zu ihrem eigenen Volke jenen „katholischen Mann“ (46) herabzumindern, indem sie sich mit ihm brüsten, als wäre er Wegweiser und Bannerträger ihres glühenden Nationalstolzes. Und die zweiten sollen sich hüten, ihn fälschlich zum Vorläufer und Vertreter von Irrtümern zu machen, von denen er so weit wie überhaupt nur möglich entfernt war. Für alle jene übrigens, die gewiss aus echter Verehrung an diesen weniger bedeutenden Vorzügen des Heiligen von Assisi ihre besondere Freude finden und diese Jahrhundertfeier mit liebevoller Begeisterung zu fördern suchen, haben Wir den einen Wunsch: Wie sie Unser Lob verdienen, so mögen sie eben aus diesem frohen Ereignis reiche Anregung schöpfen, um das echte Bild des großen Nachahmers Christi immer genauer zu entdecken und nach den höheren Geistesgaben zu streben.

Zeitgemäße Sendung der Franziskusjünger

Franziskus-Geist wird die Welt erneuern

42 Inzwischen gereicht es Uns, ehrwürdige Mitbrüder, zur besonderen Freude, dass dank dem einträchtigen Zusammenwirken aller Gutgesinnten zur Feier des siebenhundertsten Todestages des seligen Patriarchen religiöse und weltliche Feierlichkeiten auf der ganzen Welt vorbereitet werden, besonders aber an jenen Stätten, die er durch sein Erdenleben, durch das Licht seiner Heiligkeit und durch den Ruhm seiner Wunder verklärte. Vor Unserem Geiste, ja bereits vor Unserem Auge stehen schon jetzt all die zahlreichen Pilgerscharen, die Assisi und die nahen Heiligtümer im grünen Umbrien oder die steilen Höhenzüge des Alverno oder die heiligen Hügel im Tale von Rieti ehrfürchtig besuchen werden. Die andächtige Begrüßung dieser Stätten, wo Franziskus heute noch zu atmen und seine Tugenden uns zur Nachahmung zu empfehlen scheint, wird zweifellos bewirken, dass die Pilger tiefer und innerlicher durchdrungen vom franziskanischen Geiste heimkehren. Denn - um an die Worte Leos XIII. zu erinnern – „von den Huldigungen, die dem heiligen Franziskus dargebracht werden, muss man sagen: sie werden dem Geehrten dann am liebsten sein, wenn sie dem Verehrer selbst Frucht bringen. Darin besteht aber ihre wahre und bleibende Frucht, dass man sich wenigstens eine gewisse Ähnlichkeit mit dem anzueignen sucht, dessen überragende Tugend man bewundert, und dass man sich bemüht, durch seine Nachahmung besser zu werden.(47) Es könnte vielleicht jemand sagen, um die christliche Gesellschaft zu erneuern, müsse heute erst ein zweiter Franziskus auf die Welt kommen. Aber gesetzt den Fall, die Menschheit würde ihre seelische Einstellung erneuern und unsern Franziskus in Frömmigkeit und Heiligkeit zum Lehrmeister nehmen; gesetzt den Fall, man würde ganz allgemein die Beispiele nachahmen und im eigenen Leben verwirklichen, die er, „der Spiegel der Tugend, der Weg zur Rechtschaffenheit, der Maßstab der Sitte“ (48), uns hinterließ; wäre das nicht kräftig und wirksam genug, die Krebsschäden der Gegenwart auszumerzen und zu heilen?

Aufruf an die drei franziskanischen Orden:

Erster oder Männerorden

43 In erster Linie müssen nun die zahlreichen Franziskus-Kinder aus den drei Orden sich um eine besonders deutliche Ähnlichkeit mit ihrem Vater und Stifter bemühen: die Mitglieder jener Ordensstiftungen, in denen - wie Gregor IX. an die selige Agnes, die Tochter des Königs von Böhmen, schrieb – „in der ganzen weiten Welt der Allmächtige Tag für Tag vielstimmig verherrlicht wird“.(49) Und zunächst beglückwünschen Wir von Herzen alle Mitglieder des ersten Ordens, die einen franziskanischen Namen tragen: nach manchen empörenden Anfeindungen und Beraubungen erstehen sie, wie in der Feuerprobe geläutertes Gold, zusehends in ihrem alten Glanze; wir wünschen sehr, dass sie durch ein beispielhaftes Leben der Buße und der Demut immer lauter und eindringlicher Einspruch erheben gegen die weitverbreitete Fleischeslust und Hoffart des Lebens. Ihr Beruf soll es sein, die Mitmenschen wieder zurückzuführen zur Lebensnorm des Evangeliums. Und das wird ihnen umso leichter gelingen, je genauer sie ihre heilige Regel beobachten, die ihr Stifter bezeichnete als Buch des Lebens, Hoffnung des Heiles, Mark des Evangeliums, Weg der Vollkommenheit, Schlüssel des Paradieses, Vertrag des ewigen Bundes“49. Möge der Seraphische Patriarch nicht ablassen, den mystischen Weinberg, den er eigenhändig gepflanzt hat, vom Himmel aus gütig zu überwachen und ihm Glück und Segen zu vermitteln; möge er seine zahlreiche Nachkommenschaft dermaßen mit dem Gnadentau brüderlicher Liebe nähren und stärken, dass sie alle wie ein Herz und eine Seele (50) sich mit Feuereifer der Erneuerung der christlichen, Gesellschaft widmen.

Zweiter oder Frauenorden

44 Die gottgeweihten Jungfrauen aus dem zweiten Orden, die teilhaben an jenem „engelgleichen Leben, das durch die heilige Klara verklärt wurde“, sie mögen fortfahren, Lilien gleich in den Gartenbeeten des Herrn, köstlichen Wohlgeruch der Tugenden zu verbreiten und durch den schneeweißen Glanz ihrer Seele Gott zu gefallen. Möge es zumal ihrem Fürbittgebet gelingen, noch größere Scharen armer Sünder zur milden Güte Christi des Herrn zu führen. Dann wird unsere heilige Mutter die Kirche stets größere Freude empfinden an ihren Kindern, die der Gnade Gottes und der Hoffnung des Heiles zurückgewonnen werden.

Dritter oder Laienorden

45 Die Terziaren schließlich, ob sie nun in Klostergemeinschaften oder in der Welt leben, sie alle rufen Wir auf, um das geistliche Wachstum des christlichen Volkes auch durch ihr apostolisches Leben zur baldigen Reife zu bringen. Durch ihr apostolisches Wirken verdienten sich schon die ersten Bruderschaften von Gregor IX. die Ehrentitel „Soldaten Christi“ und „neue Makkabäer“. Indessen können sie heute noch von ebenso großer Bedeutung für das Gemeinwohl sein; unter einer Bedingung: wie sie durch ihre Mitgliederzahl über den ganzen Erdkreis verbreitet sind, so sollen sie auch nach dem Vorbild ihres Vaters Franziskus in ihrem sittlichen Leben stets Unschuld und Lauterkeit pflegen.

46 Was aber Unsere Vorgänger Leo XIII. im Rundschreiben Auspicato (51) und Benedikt XV. im Schreiben Sacra propediem (52) dem gesamten Episkopate der katholischen Welt als ihren sehnlichen Wunsch kundgetan haben, eben das versprechen Wir Uns, ehrwürdige Mitbrüder, von euer aller seelsorglichem Bemühen: Fördert den Dritten Orden des heiligen Franziskus auf jede mögliche Weise, indem ihr entweder persönlich oder durch geeignete und ausgebildete Prediger euer Volk genau darüber belehrt, was dieser Orden von Weltleuten beider Geschlechter bezweckt, wie hoch er zu schätzen ist, wie einfach der Eintritt in die Ordensgemeinde und wie leicht die Beobachtung ihrer heiligen Regeln ist, wie reiche Ablässe und Privilegien den Terziaren erteilt wurden, wie groß schließlich der Segen des Dritten Ordens ist für die einzelnen wie für die Gesellschaft. Wer sich dieser herrlichen Heerschar noch nicht angeschlossen hat, möge es auf euren Rat hin in diesem Jahre tun. Wer es infolge seines jugendlichen Alters noch nicht darf, der möge sich als Mitglied der Gürtelbruderschaft einschreiben lassen, um sich schon als Kind an diese heilige Ordensverfassung zu gewöhnen.

Schluss: Der Papst als Franziskus-Verehrer

47 Oft bietet sich in Unsern Tagen der erhebende Anlass zu einer kirchlichen Festfeier. Es hat somit den Anschein, als wolle Gottes Güte Unser Pontifikat nicht ohne den Ertrag einer erfreulichen Ernte für den Katholizismus vorübergehen lassen. Deshalb ist es Uns auch eine besondere Freude zu sehen; wie man sich zu dieser Festfeier des heiligen Franziskus rüstet, der in seiner Zeit das Haus ausbesserte, das Heiligtum in seinen Tagen festigte (53). Und Wir sehen es umso lieber, als Wir ihn seit frühester Jugend mit inniger Andacht verehren, selber die Abzeichen des Dritten Ordens in kindlicher Liebe empfangen haben und somit in die Zahl seiner Söhne aufgenommen wurden. Möge also in diesem Jahre, dem siebenhundertsten seit dem Heimgang des Seraphischen Vaters, so viel Segen auf die katholische Welt, so viel auf unser Volk durch die Fürbitte des heiligen Franziskus herabströmen, dass dieses Jahr in der Geschichte der Kirche immerdar denkwürdig sei und bleibe.

48 Als Unterpfand himmlischer Gaben und als Erweis Unseres väterlichen Wohlwollens spenden Wir inzwischen Euch, ehrwürdige Mitbrüder, und Eurem Klerus und Volke liebevoll im Herrn den Apostolischen Segen.

Gegeben zu Rom, bei St. Peter, am 30. April des Jahres1926,
im fünften Jahre Unseres Pontifikates
Papst Pius X.

Anmerkungen

(1) Pius XI., Rundschreiben zum 700. Todestag des heiligen Franziskus von Assisi. AAS XVIII (1926) 153-175.

(2) Vgl. Leo XIII., Rundschreiben Auspicato vom 17. September 1882. ASS XV (1882) 145-153.

(3) Vgl. Dante, Paradiso XI 50.

(4) Thomas von Celano, Leg. I, n. 37.

(5) Thomas von Celano, Tract. de mirac. n.2.

(6) Regel der Minderbrüder, c. 1.

(7) Bonaventura, Leg. maior c.1, n. 1.

(8) VgI. II Kor. VIII 9.

(9) Matth. v 3.

(10) Matth. XIX 21.

(11) Bonaventura, Leg. major c.7.

(12) Regel der Minderbrüder, c. 6.

(13) VgI. Dante, Paradiso XI 58-85.

(14) Franziskus von Asissi, Salutatio virtutum, Opusc. (Ed. 1904) S. 20 f.

(15) Nachfolge Christi, III 50.

(16) Thomas von Celano, Leg. II, n.143.

(17) Ebd. n. 123.

(18) Vgl. Matth. xx 26-28; Luk. XXII 26.

(19) Bonaventura, Leg. major c. 6, n. 5.

(20) Thomas von Celano, Leg. I, n. 62.

(21) Julian von Speyer, Vita S. Franc. n. 28.

(22) Franziskus von Asissi, Reguia I (Opusc. S. 24).

(23) Ebd. Reguia II (Opusc. S. 63).

(24) Regel der Minderbrüder, c; 1.

(25) Ebd., c.2.

(26) Ebd., c. 2.

(27) Ebd., c. 3.

(28) Ebd., c.12.

(29) Speculum perfectionis c. 86.

(30) Leg. Trium Sociorum, n. 33.

(31) Thomas von Celano, Leg. II, n. 129.

(32) Thomas von Celano, Leg. I, n. 55.

(33) Bonaventura, Leg. Maior c.9, n.1.

(34) Leg. Trium Sociorum, n. 21.

(35) Thomas von Celano, Leg. I, n. 38 ff.

(36) Röm. Brevier, am 7. November, Matutin, 4. Lesung.

(37) Bonaventura, Leg. maior, c.2.

(38) Vgl. Regel des Dritten Ordens des heiligen Franziskus.

(39) Vgl. Ps. CIII 30.

(40) Julian von Speyer, Vita S. Franc., n.28

(41) Vgl. Dante, Paradiso XI 96.

(42) Vgl. Dante, Paradiso XI 28-117.

(43) Bonaventura, Leg. maior c. 8, n. 6.

(44) Thomas von Celano, Leg. II, n. 165.

(45) Brevier der Minderbrüder, Vesperantiphon; in der Franziskusfestes.

(46) Julian von Speyer, Vita S. Franc., n.28.

(47) LEO XIII., Rundschreiben Auspicato vom 17. September 1882. ASS xv (1882) 146.

(48) Brevier der Minderbrüder, Vesperantiphon; in der Oktav des Franziskusfestes.

(49) Gregor IX., Schreiben De Conditoris omnium vom 9. Mai 1238. Thomas von Celano, Leg. II, n.208.

(50) Apg. IV 32.

(51) Vgl. Leo XIll., Rundschreiben Auspicato vom 17. September 1882. ASS xv (1882) 150.

(52) Vgl. Benedikt XV., Rundschreiben Sacra propediem vom 6. Januar 1921. AAS XIII (1921) 33-41.

(53) Sir. 1,1.