Dives in misericordia (Wortlaut): Unterschied zwischen den Versionen
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Mit dem Geheimnis der Schöpfung ist das Geheimnis der Erwählung verbunden, das in besonderer Weise die Geschichte jenes Volkes geprägt hat, dessen geistlicher Vater Abraham kraft seines Glaubens ist. Durch dieses Volk, dessen Weg entlang der Geschichte des Alten sowie des Neuen Bundes führt, richtet sich das Geheimnis der Erwählung an jeden Menschen, an die ganze Menschheitsfamilie. »Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt«.<ref>{{B|Jer|31|3}}.</ref> »Auch wenn die Berge von ihrem Platz weichen... - meine Gnade wird nie von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken«.<ref>{{B|Jes|54|10}}.</ref> Diese Wahrheit, einst Israel verkündet, trägt in sich die Perspektive der ganzen Geschichte des Menschen: eine Perspektive, die zugleich zeitlich und endzeitlich ist.<ref>{{B|Jona|4|2. 11}}; {{B|Ps|145|9}}; {{B|Sir|18|8-14}}; {{B|Weish|11|23}}-12, 1.</ref> Christus offenbart den Vater in der gleichen Perspektive einer schon vorbereiteten Hörerschaft, wie die Schriften des Alten Testaments an vielen Stellen beweisen. Beim Abschluss dieses Offenbarens am Vorabend seines Todes spricht er zum Apostel Philippus die denkwürdigen Worte: »Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt...? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«.<ref>{{B|Joh|14|9}}.</ref> | Mit dem Geheimnis der Schöpfung ist das Geheimnis der Erwählung verbunden, das in besonderer Weise die Geschichte jenes Volkes geprägt hat, dessen geistlicher Vater Abraham kraft seines Glaubens ist. Durch dieses Volk, dessen Weg entlang der Geschichte des Alten sowie des Neuen Bundes führt, richtet sich das Geheimnis der Erwählung an jeden Menschen, an die ganze Menschheitsfamilie. »Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt«.<ref>{{B|Jer|31|3}}.</ref> »Auch wenn die Berge von ihrem Platz weichen... - meine Gnade wird nie von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken«.<ref>{{B|Jes|54|10}}.</ref> Diese Wahrheit, einst Israel verkündet, trägt in sich die Perspektive der ganzen Geschichte des Menschen: eine Perspektive, die zugleich zeitlich und endzeitlich ist.<ref>{{B|Jona|4|2. 11}}; {{B|Ps|145|9}}; {{B|Sir|18|8-14}}; {{B|Weish|11|23}}-12, 1.</ref> Christus offenbart den Vater in der gleichen Perspektive einer schon vorbereiteten Hörerschaft, wie die Schriften des Alten Testaments an vielen Stellen beweisen. Beim Abschluss dieses Offenbarens am Vorabend seines Todes spricht er zum Apostel Philippus die denkwürdigen Worte: »Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt...? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«.<ref>{{B|Joh|14|9}}.</ref> | ||
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+ | ==IV. DAS GLEICHNIS VOM VERLORENEN SOHN== | ||
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+ | ===5. Der Vergleich=== | ||
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+ | Schon an der Schwelle zum Neuen Testament wird im Evangelium des heiligen Lukas eine einzigartige Entsprechung zwischen zwei Beschreibungen des göttlichen Erbarmens hörbar, in der die gesamte Tradition des Alten Testamentes machtvoll widerhallt. Hier finden die semantischen Inhalte der differenzierten Terminologie der alttestamentlichen Bücher ihren Niederschlag. Wir sehen Maria, die das Haus des Zacharias betritt und aus ganzer Seele den Herrn preist für »sein Erbarmen von Geschlecht zu Geschlecht über denen, die ihn fürchten«. Gleich darauf erwähnt sie Gottes Huld für Israel und rühmt die Erwählung Israels, »das Erbarmen«, an das er, sein Erwähler, eh und je »denkt«.<ref> In beiden Fällen handelt es sich um hesed, also um die Treue Gottes zur eigenen Liebe gegenüber seinem Volk, um die Treue zu den Verheißungen, die eben in der Mutterschaft der Gottesmutter ihre endgültige Erfüllung finden werden (vgl. {{B|Lk|1|49-54}}).</ref> Später, im selben Haus, lobpreist bei der Geburt Johannes' des Täufers dessen Vater Zacharias den Gott Israels und verherrlicht sein »Erbarmen mit unseren Vätern«, und dass er »seines heiligen Bundes gedachte«.<ref>Vgl. {{B|Lk|1|72}}. - Auch in diesem Fall handelt es sich um Erbarmen im Sinn von hesed, während in den folgenden Sätzen, in denen Zacharias von der »barmherzigen Liebe unseres Gottes« spricht, eindeutig die zweite Bedeutung, die von rahamim (lateinische Übersetzung: viscera misericordiae), zum Ausdruck gebracht wird, welche das göttliche Erbarmen eher mit der mütterlichen Liebe identifiziert.</ref> | ||
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+ | In der Lehre Christi wird das vom Alten Testament übernommene Bild vereinfacht und zugleich vertieft. Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der Parabel vom verlorenen Sohn,<ref>Vgl. {{B|Lk|15|11-32}}.</ref> wo das Wesen des göttlichen Erbarmens besonders deutlich aufleuchtet (wenn auch das Wort »Erbarmen« im Urtext nicht vorkommt). Dazu trägt nicht so sehr, wie in den alttestamentlichen Büchern, die Terminologie bei, sondern vielmehr die Analogie, der Vergleich, der es möglich macht, das Geheimnis des Erbarmens vollständiger zu erfassen, das sich wie ein tiefes Drama zwischen der Liebe des Vaters und der Verlorenheit und Sünde des Sohnes ereignet. | ||
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+ | Dieser Sohn, der vom Vater das ihm zustehende Erbteil erhält und von zuhause weggeht, um es in einem fernen Land mit seinem »zügellosen Leben« zu verschleudern, ist in gewisser Hinsicht der Mensch aller Zeiten, angefangen von dem, der als erster das Erbteil der Gnade und der Gerechtigkeit des Urstandes verlor. Die Analogie ist hier sehr weitgespannt. Die Parabel bezieht sich indirekt auf jeden Bruch des Liebesbundes, auf jeden Verlust der Gnade, auf jede Sünde. In dieser Analogie wird weniger die Untreue des Volkes Israel hervorgehoben, als dies in der Tradition der Propheten der Fall war, obwohl auch sie mitgemeint sein kann. Als dieser Sohn »alles durchgebracht hatte, ging es ihm sehr schlecht«, um so mehr als »in dem Land«, in das er sich nach Verlassen des väterlichen Hauses begeben hatte, »eine große Hungersnot ausgebrochen war«. In dieser Lage »hätte er gerne seinen Hunger gestillt«, ganz gleich womit, sogar »mit den Futterschoten, die die Schweine fraßen«, welche er für »einen Bürger des Landes« auf dem Feld hütete. Aber selbst das wurde ihm verweigert. | ||
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+ | Die Analogie verlagert sich eindeutig auf das Innere des Menschen. Das Vermögen, welches der Sohn vom Vater empfangen hatte, war eine Quelle materieller Güter; aber wichtiger als diese Güter war seine Würde als Sohn im Haus des Vaters. Die Lage, in der er sich nach dem Verlust der materiellen Güter vorfand, musste ihm den Verlust dieser Würde zum Bewusstsein bringen. Früher, als er vom Vater sein Erbteil verlangte, um fortzugehen, hatte er daran nicht gedacht. Anscheinend denkt er auch jetzt noch nicht daran, wenn er zu sich selbst sagt: »Wieviele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen, und ich komme hier vor Hunger um«. Er mißt sich mit dem Maß der Güter, die er verloren hat, die er nicht mehr »besitzt«, während die Tagelöhner im Haus seines Vaters sie »besitzen«. Aus seinen Worten spricht vor allem seine Ausrichtung auf die materiellen Güter. Nichtsdestoweniger verbirgt sich unter ihrer Oberfläche das Drama der verlorenen Würde, das Wissen um die leichtsinnig zerstörte Sohnschaft. | ||
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+ | So fasst er denn den Entschluss: »Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner«.<ref>{{B|Lk|15|18 f}}.</ref> Diese Worte rücken das Kernproblem vollends ins Licht. Der materielle Engpaß, in den der verlorene Sohn durch seine Leichtfertigkeit und seine Sünde geraten war, hatte in ihm den Sinn für seine - jetzt verlorene - Würde zum Reifen gebracht. Sein Entschluß, in das väterliche Haus zurückzukehren und den Vater um Aufnahme zu bitten - nicht aufgrund der Rechte eines Sohnes, sondern als Tagelöhner - , scheint äußerlich durch den Hunger und das Elend veranlaßt, in die er gefallen war; diesen Beweggrund durchdringt jedoch das Wissen um einen viel tieferen Verlust: ein Tagelöhner im Haus des eigenen Vaters zu sein, ist sicher eine große Demütigung und Schande. Dennoch ist der verlorene Sohn bereit, diese Demütigung und Schande auf sich zu nehmen. Er ist sich klar darüber, dass er kein anderes Recht mehr hat als das, im Haus des Vaters Tagelöhner zu sein. Er faßt seinen Entschluß im vollen Bewusstsein dessen, was er verdient hat und worauf er nach den Normen der Gerechtigkeit noch Anspruch erheben kann. Gerade diese Überlegung beweist, dass in der Tiefe des Gewissens des verlorenen Sohnes der Sinn für die verlorene Würde auftaucht, für jene Würde, die dem Verhältnis des Sohnes zum Vater entspringt. Mit diesem Entschluß macht er sich auf den Weg. | ||
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+ | In der Parabel vom verlorenen Sohn wird kein einziges Mal das Wort »Gerechtigkeit« verwendet; gleiches gilt - im Urtext - für das Wort »Erbarmen«. Aber das Verhältnis der Gerechtigkeit zur Liebe, die sich als Erbarmen kundtut, ist dem Inhalt der evangelischen Parabel in großer Genauigkeit eingeschrieben. Sie macht deutlich, dass die Liebe zum Erbarmen wird, wenn es gilt, die - genaue und oft zu enge - Norm der Gerechtigkeit zu überschreiten. Nachdem der verlorene Sohn das vom Vater erhaltene Vermögen aufgebraucht hat und ins väterliche Haus zurückgekehrt ist, kann er nur beanspruchen, sich seinen Lebensunterhalt als Tagelöhner verdienen zu dürfen und eventuell nach und nach zu einem gewissen materiellen Besitz zu kommen, der in seiner Größe aber vielleicht nie mehr an den heranreichen wird, den er verschleudert hat. Mehr kann er nicht beanspruchen in der Ordnung der Gerechtigkeit, umso weniger, als er nicht nur den ihm zustehenden Vermögensanteil vergeudet, sondern durch sein ganzes Verhalten auch den Vater verletzt und beleidigt hat. Dieses Verhalten, das ihn nach seinem eigenen Urteil die Würde eines Sohnes gekostet hat, konnte ja dem Vater nicht gleichgültig sein; es musste ihm Schmerz bereiten und ihn in gewisser Hinsicht auch mit hineinziehen. Und doch, letzten Endes ging es um den eigenen Sohn, und diese Beziehung konnte durch keinerlei Verhalten gestört oder getroffen werden. Der verlorene Sohn ist sich dessen bewusst, und gerade dieses Wissen lässt ihn den Verlust seiner Würde klar erkennen und den Platz richtig einschätzen, der ihm im Haus des Vaters noch zustehen konnte. | ||
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+ | ===6. Die Betonung der menschlichen Würde=== | ||
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+ | Dieses klar gezeichnete Bild von der inneren Verfassung des verlorenen Sohnes erlaubt es uns, genau zu erfassen, worin das göttliche Erbarmen besteht. Zweifellos enthüllt uns die Gestalt des Vaters in dieser einfachen, aber eindringlichen Analogie Gott als Vater. Das Verhalten des Vaters im Gleichnis, seine ganze Handlungsweise, in der seine innere Haltung sichtbar wird, lässt uns die einzelnen Linien der alttestamentlichen Sicht des Erbarmens in einer völlig neuen, ganz einfachen und tiefen Synthese wiederfinden. Der Vater des verlorenen Sohnes ist seiner Vaterschaft treu, ist der Liebe treu, mit der er seit jeher seinen Sohn beschenkt hat. Diese Treue kommt im Gleichnis nicht nur in der sofortigen Bereitschaft zum Ausdruck, mit der er den heimkehrenden Sohn, der das Vermögen verschleudert hat, aufnimmt; sie kommt noch mehr in der überströmenden, großzügigen Freude über den heimgekehrten Verschwender zum Ausdruck, deren Ausmaß sogar den Widerspruch und Neid des älteren Bruders hervorruft, der sich nie vom Vater abgewendet und sein Haus nicht verlassen hatte. | ||
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+ | Die Treue des Vaters zu sich selbst - ein von dem alttestamentlichen Ausdruck »hesed« her bereits bekannter Wesenszug - wird in ergreifender Wärme beschrieben: »Der Vater sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn«.<ref>{{B|Lk|15|20}}.</ref> Dieses Tun ist sicher von einer tiefen Zuneigung bestimmt, die auch seine dem Sohn erwiesene Großzügigkeit erklärt, über die der ältere dann so in Zorn gerät. Die Gründe für diesen bewegten Empfang liegen jedoch tiefer: der Vater weiß sehr wohl, dass ein grundlegendes Gut gerettet ist - das Mensch-sein seines Sohnes. Mag dieser auch das Vermögen verschleudert haben, sein Mensch-sein ist heil geblieben. Ja, es wurde sozusagen wiedergefunden. Das bezeugen die Worte des Vaters an den älteren Sohn: »Jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern, denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden«.<ref>{{B|Lk|15|32}}.</ref> Im selben 15. Kapitel des Lukasevangeliums lesen wir das Gleichnis vom verlorenen Schaf<ref>Vgl. {{B|Lk|15|3-6}}.</ref> und anschließend von der verlorenen Drachme.<ref>Vgl. {{B|Lk|15|8 f}}.</ref> Jedes Mal wird die gleiche Freude hervorgehoben, die wir beim verlorenen Sohn finden. Die Treue des Vaters zu sich selbst ist voll und ganz auf das Mensch - sein, auf die Würde des verlorenen Sohnes ausgerichtet. So erklärt sich vor allem seine bewegte Freude im Augenblick der Heimkehr. | ||
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+ | Man kann also sagen, dass die Liebe zum Sohn, die Liebe, die aus dem Wesen der Vaterschaft fließt, den Vater in einem bestimmten Sinn dazu verpflichtet, sich um die Würde des Sohnes zu sorgen. Diese Sorge ist der Maßstab seiner Liebe, wie der heilige Paulus schreibt: »Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig... Sie sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach... Sie freut sich an der Wahrheit. ... Sie hofft alles, hält allem stand« und »hört niemals auf«.<ref>{{B|1 Kor|13|4-8}}.</ref> Das Erbarmen - wie es Christus im Gleichnis vom verlorenen Sohn darstellt - hat die innere Form jener Liebe, die im Neuen Testament agápe genannt wird. Solche Liebe ist fähig, sich über jeden verlorenen Sohn zu beugen, über jedes menschliche Elend, vor allem über das moralische Elend: die Sünde. Wenn das geschieht, fühlt sich der, dem das Erbarmen zuteil wird, nicht gedemütigt, sondern gleichsam wiedergefunden und »aufgewertet«. Der Vater lässt ihn in erster Linie spüren, wie groß seine Freude ist, dass er »wiedergefunden wurde« und »wieder lebt«. Diese Freude weist auf ein unverletztes Gut hin: ein Sohn hört nie auf, in Wahrheit Sohn seines Vaters zu sein, selbst dann nicht, wenn er sich von ihm trennt; sie weist darüber hinaus auf ein wiedergefundenes Gut hin: im Fall des verlorenen Sohnes die Rückkehr zur Wahrheit über sich selbst. | ||
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+ | Was sich im Verhältnis des Vaters zum Sohn im Gleichnis Christi ereignet, lässt sich nicht »von außen her« werten. Unsere Vorurteile in bezug auf das Erbarmen sind größtenteils das Ergebnis einer rein äußerlichen Wertung. Entsprechend einer solchen Wertung sehen wir manchmal im Erbarmen vor allem ein Verhältnis der Ungleichheit zwischen dem, der es schenkt, und dem, der es empfängt. Infolgedessen sind wir bereit, den Schluß zu ziehen, das Erbarmen demütige den, der es empfängt, es verletze die Würde des Menschen. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn beweist uns, dass es in Wirklichkeit anders ist: die Beziehung des Erbarmens beruht auf der gemeinsamen Erfahrung jenes Gutes, das der Mensch ist, auf der gemeinsamen Erfahrung der ihm eigenen Würde. Diese gemeinsame Erfahrung führt dazu, dass der verlorene Sohn sich und seine Taten in der vollen Wahrheit zu sehen beginnt (dieses Sehen in Wahrheit ist echte Demut) und seinem Vater gerade dadurch besonderers lieb wird, der in so leuchtender Klarheit das Gute sieht, das dank einer geheimnisvollen Ausstrahlung der Wahrheit und der Liebe geschehen ist, dass er alle Schandtaten des Sohnes gleichsam vergisst. | ||
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+ | Das Gleichnis vom verlorenen Sohn bringt auf einfache, aber tiefe Weise die Wirklichkeit der Bekehrung zum Ausdruck. Sie ist das konkreteste Zeugnis für das Wirken der Liebe und die Gegenwart des Erbarmens in der Welt des Menschen. Die wahre und eigentliche Bedeutung von Erbarmen beschränkt sich nicht auf den - noch so tiefgehenden und mitfühlenden - Blick auf das moralische, physische oder materielle Übel: das Erbarmen zeigt sich wahrhaft und eigentlich, wenn es wieder aufwertet, fördert und aus allen Formen des Übels in der Welt und im Menschen das Gute zieht. So betrachtet, stellt es den Grundinhalt der messianischen Botschaft Christi dar und den eigentlichen Impuls seiner Mission. So wurde es auch von seinen Jüngern und Anhängern verstanden und geübt. In ihren Herzen und in ihrem Wirken offenbarte es sich unaufhörlich als ein besonders schöpferischer Erweis der Liebe, die »sich vom Bösen nicht besiegen lässt, sondern das Böse durch das Gute besiegt«.<ref>Vgl. {{B|Röm|12|21}}.</ref> Das wahre Antlitz des Erbarmens muss sich immer neu enthüllen. Unsere Zeit bedarf seiner, trotz vielfacher Vorurteile, ganz besonders. | ||
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+ | ==V. DAS PASCHAMYSTERIUM== | ||
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+ | ===7. Das Erbarmen wird in Kreuz und Auferstehung offenbar=== | ||
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+ | Die messianische Verkündigung Christi und sein Wirken unter den Menschen finden ihren Abschluss in Kreuz und Auferstehung. Wir müssen tief in dieses letzte Geschehen eindringen - das vor allem in der Sprache des Konzils das Paschamysterium genannt wird - , wenn wir der Wahrheit vom Erbarmen, wie sie in der Geschichte unseres Heils geoffenbart wurde, entsprechen wollen. An diesem Punkt unserer Überlegungen ist es angebracht, uns noch eingehender dem Inhalt der Enzyklika Redemptor Hominis zuzuwenden. Denn wenn auch die Wirklichkeit der Erlösung in ihrer menschlichen Dimension die unerhörte Größe des Menschen enthüllt, qui talem ac tantum meruit habere Redemptorem,<ref>..., »dem ein solcher, so großer Erlöser beschieden war«. Vgl Liturgie der Osternacht: »[[Exsultet]]«.</ref> so erlaubt uns doch die göttliche Dimension der Erlösung, auf eine sozusagen unüberbietbar empirische und »historische« Weise zugleich die Tiefe jener Liebe zu enthüllen, die nicht einmal vor dem außerordentlichen Opfer des Sohnes zurückweicht, um der Treue des Schöpfers und Vaters zu den Menschen gerecht zu werden, die nach seinem Bild geschaffen und vom »Anfang« an in diesem Sohn zur Gnade und Herrlichkeit berufen sind. | ||
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+ | Die Ereignisse des Karfreitags und noch vorher das Gebet in Getsemani stellen im Verlauf der Offenbarung der Liebe und des Erbarmens in der messianischen Sendung Christi einen radikalen Umschwung dar. Er, der »umherzog, Gutes zu tun«<ref>{{B|Apg|10|38}}.</ref> und »alle Krankheiten und Leiden zu heilen«,<ref>{{B|Mt|9|35}}.</ref> scheint jetzt selbst das größte Erbarmen zu verdienen und das Erbarmen anzurufen, während er gefangengenommen, beschimpft, verurteilt, gegeißelt, mit Dornen gekrönt und ans Kreuz genagelt wird, wo er unter unbeschreiblichen Qualen seinen Geist aufgibt.<ref>Vgl. {{B|Mk|15|37}}; {{B|Joh|19|30}}.</ref> Gerade in diesen Stunden würde er ganz besonders das Erbarmen der Menschen, denen er Gutes erwiesen hat, verdienen, und es wird ihm nicht zuteil. Nicht einmal jenen, die ihm am nächsten sind, gelingt es, ihn zu beschützen und den Händen seiner Verfolger zu entreißen. In diesem letzten Abschnitt seines messianischen Dienstes erfüllen sich an Christus die Worte der Propheten, vor allem die Weissagungen Jesajas über den Gottesknecht: »Durch seine Wunden sind wir geheilt«<ref>{{B|Jes|53|5}}.</ref> | ||
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+ | Christus wendet sich als Mensch, der im Ölgarten und auf Golgota wirklich und auf entsetzliche Art leidet, an den Vater, an jenen Vater, dessen Liebe er den Menschen verkündet und dessen Erbarmen er mit all seinem Tun bezeugt hat. Gerade ihm bleibt jedoch das furchtbare Erleiden des Todes am Kreuz nicht erspart: »Den, der keine Sünde kannte, hat (Gott) für uns zur Sünde gemacht«,<ref>{{B|2 Kor|5|21}}.</ref> wird später der heilige Paulus schreiben und so die ganze Tiefe des Kreuzesgeheimnisses und die göttliche Dimension der Erlösungswirklichkeit in wenigen Worten zusammenfassen. Gerade diese Erlösung ist die letzte und endgültige Offenbarung der Heiligkeit Gottes, der die absolute Fülle der Vollkommenheit ist: Fülle der Gerechtigkeit und der Liebe, weil die Gerechtigkeit auf der Liebe gründet, von ihr ausgeht und ihr zustrebt. Im Leiden und Tod Christi - in der Tatsache, dass der Vater seinen Sohn nicht verschonte, sondern ihn »für uns zur Sünde gemacht hat«<ref>Ebd.</ref> - kommt die absolute Gerechtigkeit zum Ausdruck, insofern wegen der Sünden der Menschheit Christus Leiden und Kreuz erduldet. Das ist geradezu ein »Übermaß« der Gerechtigkeit, denn die Sünde des Menschen wird »aufgewogen« durch das Opfer des Gott - Menschen. Diese Gerechtigkeit wahrhaft göttlichen »Maßes« entspringt ganz der Liebe, der Liebe des Vaters und des Sohnes, und bringt von ihrem Wesen her Früchte in der Liebe. Diese göttliche Gerechtigkeit, wie sie das Kreuz Christi offenbart, ist eben insofern »nach dem Maße« Gottes, als sie Ursprung und Erfüllung in der Liebe hat und Früchte des Heils hervorbringt. Die göttliche Dimension der Ertösung beschränkt sich nicht auf das Gericht über die Sünde, sondern sie erneuert in der Liebe jene schöpferische Kraft im Menschen, die ihm wieder die von Gott kommende Fülle des Lebens und der Heiligkeit zugänglich macht. Auf diese Weise beinhaltet die Erlösung die Offenbarung des Erbarmens in seiner Vollendung. | ||
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+ | Das Paschamysterium ist der Gipfelpunkt der Offenbarung und Verwirklichung des Erbarmens, das den Menschen zu rechtfertigen und die Gerechtigkeit wiederherzustellen vermag im Sinne der Heilsordnung, die Gott vom Anbeginn her im Menschen und durch ihn in der Welt wollte. Der leidende Christus spricht den Menschen, und nicht nur den Gläubigen, besonders an. Auch der Ungläubige kann in ihm die überzeugende Solidarität mit dem Schicksal des Menschen sowie die harmonische Vollendung einer selbstlosen Hingabe an die Sache des Menschen, an die Wahrheit und Liebe entdecken. Die göttliche Dimension des Paschageheimnisses reicht jedoch noch tiefer. Das auf Golgota errichtete Kreuz, an dem Christus sein letztes Zwiegespräch mit dem Vater führt, erwächst aus dem innersten Kern jener Liebe, die dem nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffenen Menschen gemäß dem ewigen Plan Gottes geschenkt worden ist. Gott, wie Christus ihn geoffenbart hat, bleibt nicht nur als Schöpfer und letzter Seinsgrund in enger Verbindung mit der Welt. Er ist auch Vater: mit dem Menschen, den er in der sichtbaren Welt ins Dasein gerufen hat, verbinden ihn Bande, welche die des Erschaffens an Tiefe übertreffen. Es sind dies die Bande der Liebe, die nicht nur das Gute hervorbringt, sondern am Leben Gottes selbst, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, teilhaben lässt. Wer liebt, den drängt es ja, sich selbst zum Geschenk zu machen. | ||
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+ | Das Kreuz Christi auf Golgota steht am Weg jenes admirabile commercium, jener wunderbaren Selbstmitteilung Gottes an den Menschen, die zugleich die Einladung an den Menschen in sich schließt, sich und mit sich die ganze sichtbare Welt Gott hinzugeben und so an seinem Leben teilzuhaben; als angenommener Sohn der Wahrheit und Liebe in Gott und aus Gott teilhaft zu werden. Am Weg der ewigen Erwählung des Menschen zur Würde eines angenommenen Sohnes Gottes steht in der Geschichte das Kreuz Christi, des eingeborenen Sohnes, der als »Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott«<ref>Nizänisch-konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis.</ref> gekommen ist, um ein letztes Zeugnis abzulegen für den wunderbaren Bund Gottes mit der Menschheit, Gottes mit dem Menschen - mit jedem Menschen. Dieser Bund, der so alt ist wie der Mensch und auf das Geheimnis der Erschaffung selbst zurückgeht, der mehrmals mit dem einen auserwählten Volk erneuert wurde, ist gleichermaßen der neue und endgültige Bund, der auf Golgota geschlossen wurde und nicht auf ein einziges Volk, auf Israel, beschränkt ist, sondern allen und einem jeden offensteht. | ||
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+ | Was sagt uns also das Kreuz Christi, welches in einem bestimmten Sinn das letzte Wort seiner Botschaft und Mission als Messias ist? Und doch ist es nicht das letzte Wort des Bundes - Gottes dieses wird im Morgengrauen jenes Tages gesprochen, an dem zunächst die Frauen und dann die Apostel zum Grab des gekreuzigten Herrn kommen, es leer vorfinden und zum ersten Mal vernehmen: »Er ist auferstanden!«. Sie werden es weitersagen und Zeugen des Auferstandenen sein. Dennoch ist auch in dieser Verherrlichung des Sohnes Gottes das Kreuz weiterhin gegenwärtig, welches - durch das gesamte messianische Zeugnis des Menschen-Sohnes, der an ihm den Tod erlitten hat - unaufhörlich vom göttlichen Vater spricht, der seiner ewigen Liebe zum Menschen unverbrüchlich treu bleibt, der »die Welt so sehr geliebt hat« - und somit den Menschen in ihr - , »dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat«.<ref>{{B|Joh|3|16}}.</ref> An den gekreuzigten Sohn glauben, heißt »den Vater sehen«,<ref>Vgl. {{B|Joh|14|9}}.</ref> heißt glauben, dass die Liebe in der Welt gegenwärtig ist und dass sie mächtiger ist als jedwedes Übel, in das der Mensch, die Menschheit, die Welt verstrickt sind. An diese Liebe glauben, heißt, an das Erbarmen glauben. Dieses ist ja die unerlässliche Dimension der Liebe, ist sozusagen ihr zweiter Name und zugleich die spezifische Art, wie sie sich zeigt und vollzieht angesichts der Wirklichkeit des Übels in der Welt, das den Menschen trifft und bedrängt, sich auch in sein Herz einschleicht und ihn »ins Verderben der Hölle stürzen kann«.<ref>{{B|Mt|10|28}}.</ref> | ||
[Fortsetzung folgt] | [Fortsetzung folgt] |
Version vom 9. April 2014, 08:14 Uhr
Dives in misericordia |
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unseres Heiligen Vaters
Johannes Paul II.
über das göttliche Erbarmen
30. November 1980
(Offizieller lateinischer Text AAS 72 [1980] 1177-1232)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist |
Gruß und Apostolischen Segen
Inhaltsverzeichnis
I. WER MICH SIEHT, SIEHT DEN VATER (vgl. Joh 14, 9)
1. Die Offenbarung des Erbarmens
»GOTT..., DER VOLL ERBARMEN IST«,<ref> {{#ifeq: Brief des Apostels Paulus an die Epheser | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Eph|Eph|Brief des Apostels Paulus an die Epheser}}|{{#if: Eph |Eph|Brief des Apostels Paulus an die Epheser}}}} 2{{#if:4|,4}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> wurde uns von Jesus Christus als Vater geoffenbart: sein Sohn selbst hat ihn uns in sich kundgetan und kennengelehrt.<ref>Vgl. {{#ifeq: Evangelium nach Johannes | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Joh|Joh|Evangelium nach Johannes}}|{{#if: Joh |Joh|Evangelium nach Johannes}}}} 1{{#if:18|,18}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Brief an die Hebräer | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Hebr|Hebr|Brief an die Hebräer}}|{{#if: Hebr |Hebr|Brief an die Hebräer}}}} 1{{#if:1 f|,1 f}} f|,1 f}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">f|,1 f}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> Denkwürdig ist die Szene, da Philippus, einer der zwölf Apostel, sich an Jesus wandte mit der Bitte: »Herr, zeig uns den Vater, das genügt uns«, und die Antwort bekam: »Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt...? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«.<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Johannes | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Joh|Joh|Evangelium nach Johannes}}|{{#if: Joh |Joh|Evangelium nach Johannes}}}} 14{{#if:8 f|,8 f}} f|,8 f}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">f|,8 f}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> Diese Worte wurden während der Abschiedsreden gesprochen, am Ende des Ostermahles, dem dann die Ereignisse jener heiligen Tage folgten, in denen es sich ein für allemal erwiesen hat, dass »Gott..., der voll Erbarmen ist, ... uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht hat«.<ref>{{#ifeq: Brief des Apostels Paulus an die Epheser | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Eph|Eph|Brief des Apostels Paulus an die Epheser}}|{{#if: Eph |Eph|Brief des Apostels Paulus an die Epheser}}}} 2{{#if:4 f|,4 f}} f|,4 f}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">f|,4 f}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref>
Im Anschluss an die Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils und im Blick auf die besonderen Erfordernisse unserer Zeit habe ich die Enzyklika Redemptor Hominis der Wahrheit über den Menschen gewidmet, die uns in ihrer Fülle und Tiefe in Christus offenbar wird. Ein nicht weniger gewichtiges Erfordernis unserer ernsten und keineswegs leichten Zeit drängt mich dazu, mich noch einmal in das Geheimnis Christi zu versenken, um in ihm das Antlitz des Vaters zu entdecken, der der »Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes«<ref>{{#ifeq: 2. Brief des Paulus an die Korinther | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 2 Kor|2 Kor|2. Brief des Paulus an die Korinther}}|{{#if: 2 Kor |2 Kor|2. Brief des Paulus an die Korinther}}}} 1{{#if:3|,3}} Kor%201{{#if:3|,3}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Kor%201{{#if:3|,3}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> ist. In der Konstitution Gaudium et Spes lesen wir: »Christus, der neue Adam, macht... dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung«, und er tut dies eben »in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe«.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 22; AAS 58 (1966), S. 1042.</ref> Diese Worte bezeugen sehr klar, dass der Mensch in der vollen Würde seiner Natur nicht dargestellt werden kann ohne einen - nicht nur theoretischen, sondern ganzheitlich existentiellen - Bezug auf Gott. Der Mensch und seine höchste Berufung werden in Christus durch die Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe offenbar.
Sich diesem Geheimnis zuzuwenden, wird von vielfachen Erfahrungen der Kirche und des zeitgenössischen Menschen nahegelegt; es wird auch von den notvollen Rufen so vieler Menschenherzen, von ihren Leiden und Hoffnungen, ihren Ängsten und Erwartungen gefordert. Wenn es zutrifft, dass in gewissem Sinne jeder Mensch der Weg der Kirche ist - wie ich es in der Enzyklika Redemptor Hominis ausgesprochen habe - , dann sagen uns das Evangelium und die gesamte Tradition zugleich, dass wir diesen Weg mit jedem Menschen so gehen müssen, wie Christus ihn vorgezeichnet hat, indem er in sich selbst den Vater und dessen Liebe offenbarte.<ref>Vgl. ebd.</ref> In Jesus Christus ist jeder Weg zum Menschen - der Kirche ein für allemal im wechselvollen Bild der Zeiten aufgegeben - gleichzeitig ein Weg, der zum Vater und zu seiner Liebe führt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat diese Wahrheit auf unsere Zeit hin neu bekräftigt.
Je mehr sich die Sendung der Kirche auf den Menschen konzentriert, je mehr sie sozusagen anthropozentrisch ist, desto mehr muss sie sich als theozentrisch erweisen und es in Wirklichkeit sein, sich also in Jesus Christus auf den Vater ausrichten. Während verschiedene Geistesströmungen in der Vergangenheit und der Gegenwart dazu neigten und neigen, Theozentrik und Anthropozentrik voneinander zu trennen und sogar in Gegensatz zueinander zu bringen, bemüht sich die Kirche, darin Christus folgend, deren organische, tiefe Verbindung in die Geschichte des Menschen einzubringen. Das ist auch ein Grundgedanke, vielleicht sogar der wichtigste in der Lehre des letzten Konzils. Wenn wir also in der gegenwärtigen Phase der Kirchengeschichte unsere erste Aufgabe darin sehen, die Lehre des großen Konzils zu verwirklichen, so müssen wir uns diesem Grundgedanken mit Glauben, offenem Geist und mit dem Herzen zuwenden. Schon in meiner vorhin erwähnten Enzyklika habe ich versucht hervorzuheben, dass die Vertiefung und vielfache Bereicherung des Wissens um die Kirche - eine Frucht des Konzils - unseren Geist und unser Herz für Christus selbst weiter auftun müssen. Heute möchte ich sagen, dass diese Öffnung auf Christus hin - der als Erlöser der Welt dem Menschen den Menschen voll offenbart - sich nur vollziehen kann in einer immer reiferen Beziehung zum Vater und zu seiner Liebe.
2. Die Inkarnation des Erbarmens
Gott, »der in unzugänglichem Licht wohnt«,<ref>{{#ifeq: 1. Brief des Paulus an Timotheus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 1 Tim|1 Tim|1. Brief des Paulus an Timotheus}}|{{#if: 1 Tim |1 Tim|1. Brief des Paulus an Timotheus}}}} 6{{#if:16|,16}} Tim%206{{#if:16|,16}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Tim%206{{#if:16|,16}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> spricht zugleich zum Menschen durch die Sprache des Universums: »Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit«.<ref>{{#ifeq: Vorlage:Röm (Bibel) | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Röm|Röm|Vorlage:Röm (Bibel)}}|{{#if: Röm |[[Vorlage:Röm (Bibel)|Röm]]|[[Vorlage:Röm (Bibel)]]}}}} 1{{#if:20|,20}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> Diese indirekte und unvollkommene Erkenntnis - ein Werk des Verstandes, der Gott durch Vermittlung der Geschöpfe sucht, ausgehend von der sichtbaren Welt - ist noch kein »Sehen des Vaters«. »Niemand hat Gott je gesehen«, schreibt der heilige Johannes, um jener Wahrheit besonderen Nachdruck zu verleihen, dass »Er, der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, (ihn) kundgemacht hat«.<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Johannes | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Joh|Joh|Evangelium nach Johannes}}|{{#if: Joh |Joh|Evangelium nach Johannes}}}} 1{{#if:18|,18}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> Diese »Kundmachung« offenbart Gott im unauslotbaren Geheimnis seines einen und dreifaltigen Seins, das von »unzugänglichem Licht«<ref>{{#ifeq: 1. Brief des Paulus an Timotheus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 1 Tim|1 Tim|1. Brief des Paulus an Timotheus}}|{{#if: 1 Tim |1 Tim|1. Brief des Paulus an Timotheus}}}} 6{{#if:16|,16}} Tim%206{{#if:16|,16}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Tim%206{{#if:16|,16}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> umgeben ist. Doch erkennen wir Gott durch die »Kundmachung« Christi vor allem in seiner liebenden Zuwendung zum Menschen, in seiner »Menschen - Freundlichkeit«.<ref>«Phil-antropía»: {{#ifeq: Brief des Paulus an Titus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Tit|Tit|Brief des Paulus an Titus}}|{{#if: Tit |Tit|Brief des Paulus an Titus}}}} 3{{#if:4|,4}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> Gerade hier wird seine »unsichtbare Wirklichkeit« auf besondere Weise »sichtbar« in unvergleichlich höherem Maß als durch all seine anderen »Werke«: sie wird sichtbar in Christus und durch Christus, durch seine Taten und seine Worte und schließlich durch seinen Kreuzestod und seine Auferstehung.
Auf diese Weise - in Christus und durch Christus - wird Gott auch in seinem Erbarmen besonders sichtbar, das heißt: jene göttliche Eigenschaft tritt hervor, die schon das Alte Testament - in verschiedenen Bildern und Ausdrucksweisen - als »Erbarmen« beschrieben hat. Christus gibt der gesamten alttestamentlichen Tradition vom göttlichen Erbarmen eine endgültige Bedeutung. Er spricht nicht nur vom Erbarmen und erklärt es mit Hilfe von Gleichnissen und Parabeln, er ist vor allem selbst eine Verkörperung des Erbarmens, stellt es in seiner Person dar. Er selbst ist in gewissem Sinne das Erbarmen. Für den, der es in ihm sieht - und in ihm findet - , wird Gott in besonderer Weise »sichtbar« als Vater, »der voll Erbarmen ist«.<ref>{{#ifeq: Brief des Apostels Paulus an die Epheser | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Eph|Eph|Brief des Apostels Paulus an die Epheser}}|{{#if: Eph |Eph|Brief des Apostels Paulus an die Epheser}}}} 2{{#if:4|,4}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref>
Die Mentalität von heute scheint sich vielleicht mehr als die der Vergangenheit gegen einen Gott des Erbarmens zu sträuben und neigt dazu, schon die Idee des Erbarmens aus dem Leben und aus den Herzen zu verdrängen. Das Wort und der Begriff »Erbarmen« scheinen den Menschen zu befremden, der dank eines in der Geschichte vorher nie gekannten wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts Herrscher geworden ist und sich die Erde untertan gemacht und unterjocht hat.<ref>Vgl. {{#ifeq: Genesis | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Gen|Gen|Genesis}}|{{#if: Gen |Gen|Genesis}}}} 1{{#if:28|,28}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> Dieses Herrschen über die Erde, das zuweilen einseitig und oberflächlich verstanden wird, scheint für das Erbarmen keinen Raum zu lassen. Es ist in diesem Zusammenhang lohnend, auf das Bild von der »Situation des Menschen in der heutigen Welt« zurückzugreifen, wie es am Beginn der Konstitution Gaudium et Spes umrissen wird. Unter anderem lesen wir dort die folgenden Sätze: »So zeigt sich die moderne Welt zugleich stark und schwach, zum Besten befähigt und zum Schlimmsten bereit. Sie hat die Wahl zwischen Freiheit und Sklaverei, Fortschritt und Rückschritt, Brüderlichkeit und Haß. Zudem weiß nun der Mensch, dass es seine Aufgabe ist, jene Kräfte, die er selbst geweckt hat und die ihn zermalmen oder ihm dienen können, richtig zu lenken«.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 9; AAS 58 (1966), S. 1032.</ref>
Die Lage der Welt von heute weist nicht nur Umwandlungen auf, die zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft des Menschen auf dieser Erde berechtigen, sondern auch vielfache Bedrohungen, welche über die bisher gekannten weit hinausgehen. Die Kirche muss auf diese Bedrohungen bei entsprechenden Gelegenheiten weiterhin aufmerksam machen (wie in den Ansprachen vor der UNO, der UNESCO, der FAO und anderswo), sie aber auch im Lichte der von Gott empfangenen Wahrheit durchdenken.
In Christus geoffenbart, erlaubt uns die Wahrheit über Gott, den »Vater des Erbarmens«,<ref>{{#ifeq: 2. Brief des Paulus an die Korinther | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 2 Kor|2 Kor|2. Brief des Paulus an die Korinther}}|{{#if: 2 Kor |2 Kor|2. Brief des Paulus an die Korinther}}}} 1{{#if:3|,3}} Kor%201{{#if:3|,3}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Kor%201{{#if:3|,3}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> ihn dem Menschen besonders nahe zu »sehen«, und zwar vor allem dann, wenn der Mensch leidet, wenn er im Kern seiner Existenz und seiner Würde bedroht ist. Das ist der Grund, warum sich in der heutigen Situation der Kirche und der Welt viele Menschen und viele Gemeinschaften, von einem lebendigen Glaubenssinn geführt, sozusagen spontan an Gottes Erbarmen wenden. Sie werden dazu sicher von Christus selbst gedrängt, der durch seinen Geist in den Herzen der Menschen am Werk ist. Das von ihm geoffenbarte Geheimnis Gottes als des »Vaters des Erbarmens« wird vor dem Hintergrund der heutigen Bedrohung des Menschen gleichsam ein einzigartiger Appell an die Kirche.
Mit dieser Enzyklika möchte ich auf diesen Appell eingehen; ich möchte aus der zeitlosen, in ihrer Einfachheit und zugleich Tiefe unvergleichlichen Sprache der Offenbarung und des Glaubens schöpfen, um in ihr noch einmal die großen Besorgnisse unserer Zeit vor Gott und den Menschen auszusprechen.
Offenbarung und Glaube lehren uns ja nicht so sehr, abstrakt über das Geheimnis Gottes als des »Vaters des Erbarmens« nachzusinnen, sondern zu diesem Erbarmen unsere Zuflucht zu nehmen, im Namen Christi und in Einheit mit ihm. Hat er etwa nicht gesagt, dass unser Vater, »der auch das Verborgene sieht«,<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Matthäus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Mt|Mt|Evangelium nach Matthäus}}|{{#if: Mt |Mt|Evangelium nach Matthäus}}}} 6{{#if:4.6.18|,4.6.18}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> sozusagen unablässig darauf wartet, dass wir ihn in jeder Not anrufen und so immer sein Geheimnis ermessen: das Geheimnis des Vaters und seiner Liebe?<ref>Vgl. {{#ifeq: Brief des Apostels Paulus an die Epheser | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Eph|Eph|Brief des Apostels Paulus an die Epheser}}|{{#if: Eph |Eph|Brief des Apostels Paulus an die Epheser}}}} 3{{#if:18|,18}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; außerdem {{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 11{{#if:5-13|,5-13}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref>
So ist es mein Wunsch, dass die Überlegungen dieser Enzyklika das Geheimnis der väterlich-erbarmenden Liebe Gottes allen näher bringen und zugleich zu einem inständigen Gebet der Kirche um Erbarmen werden, das der Mensch und die Welt von heute so sehr brauchen - und sie brauchen es, auch wenn sie sich dessen oft nicht bewusst sind.
II. DIE MESSIANISCHE BOTSCHAFT
3. Als Christus zu wirken und zu lehren begann
Vor seinen Landsleuten in Nazaret bezieht sich Christus auf die Worte des Propheten Jesaja: »Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe«.<ref> {{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 4{{#if:18 f|,18 f}} f|,18 f}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">f|,18 f}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> Diese Sätze sind bei Lukas Jesu erste Messias - Offenbarung, der dann die Taten und Worte folgen, die wir aus dem Evangelium kennen. Durch diese Taten und Worte macht Christus den Vater unter den Menschen gegenwärtig. Es ist ungemein bezeichnend, dass diese Menschen vor allem die Armen sind, denen es an Lebensunterhalt fehlt; die, welche ihrer Freiheit beraubt sind; die Blinden, welche die Schönheit der Schöpfung nicht sehen können; die, welche in Trauer und Sorge leben oder unter sozialen Ungerechtigkeiten leiden; und schließlich die Sünder. Vor allem für die Letztgenannten wird der Messias ein besonders verstehbares Zeichen Gottes, der Liebe ist, ein Zeichen des Vaters. In diesem sichtbaren Zeichen können die Menschen von heute ebenso wie die Menschen von damals den Vater sehen.
Es ist aufschlussreich, dass Jesus den von Johannes dem Täufer gesandten Boten auf ihre Frage: »Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?«,<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 7{{#if:19|,19}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> mit dem gleichen Zeugnis antwortet, mit dem er in Nazaret seine Lehrtätigkeit begonnen hatte: »Geht und berichtet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen, und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet«, und dass er abschließend hinzufügt: »Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt«.<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 7{{#if:22 f|,22 f}} f|,22 f}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">f|,22 f}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref>
Jesus offenbarte insbesondere durch seinen Lebensstil und seine Taten, wie die Liebe, die wirkende Liebe, die Liebe, die sich dem Menschen zuwendet und alles umfängt, was sein Menschsein ausmacht, in unserer Welt gegenwärtig ist. Diese Liebe tritt besonders dort in Erscheinung, wo sie mit Leid, Ungerechtigkeit und Armut in Berührung kommt, mit der konkreten conditio humana, der geschichtlichen Befindlichkeit des Menschen, die auf verschiedene Weise von der physischen und moralischen Begrenztheit und Gebrechlichkeit des Menschen geprägt ist. Gerade wegen der Art und des Bereichs, in denen sich die Liebe kundtut, wird sie in der Sprache der Bibel auch als »Erbarmen« bezeichnet.
Christus offenbart Gott, der Vater ist, der »Liebe ist«, wie sich der heilige Johannes in seinem ersten Brief ausdrücken wird;<ref>{{#ifeq: 1. Brief des Johannes | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 1 Joh|1 Joh|1. Brief des Johannes}}|{{#if: 1 Joh |1 Joh|1. Brief des Johannes}}}} 4{{#if:8.16|,8.16}} Joh%204{{#if:8.16|,8.16}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Joh%204{{#if:8.16|,8.16}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> er offenbart Gott, der »voll Erbarmen« ist, wie wir beim heiligen Paulus lesen.<ref>{{#ifeq: Brief des Apostels Paulus an die Epheser | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Eph|Eph|Brief des Apostels Paulus an die Epheser}}|{{#if: Eph |Eph|Brief des Apostels Paulus an die Epheser}}}} 2{{#if:4|,4}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Diese Wahrheit ist nicht so sehr Gegenstand einer Belehrung, sondern in erster Linie eine Wirklichkeit, die uns durch Christus gegenwärtig wird. Den Vater als Liebe und Erbarmen gegenwärtig zu machen, ist für ihn die grundlegende Verwirklichung seiner Sendung als Messias; das bestätigen die Worte, die er in der Synagoge von Nazaret gesprochen hat und dann vor seinen Jüngern und vor den Boten Johannes' des Täufers.
Im Rahmen dieser Bekundung der Gegenwart Gottes als Vater, Liebe und Erbarmen macht Jesus das Erbarmen zu einem der Hauptthemen seiner Lehrtätigkeit. Wie gewöhnlich, spricht er auch hier vor allem »in Gleichnissen«, da diese das eigentliche Wesen der Dinge besser zum Ausdruck bringen. Es genügt, in diesem Zusammenhang an die Gleichnisse vom verlorenen Sohn<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 15{{#if:11-32|,11-32}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> oder vom barmherzigen Samariter<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 10{{#if:30-37|,30-37}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> oder auch - als Gegensatz dazu - an das Gleichnis vom unbarmherzigen Diener<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Matthäus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Mt|Mt|Evangelium nach Matthäus}}|{{#if: Mt |Mt|Evangelium nach Matthäus}}}} 18{{#if:23-35|,23-35}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> zu erinnern. Zahlreich sind die Abschnitte in der Unterweisung Christi, welche die erbarmende Liebe unter immer neuen Gesichtspunkten schildern. Halten wir uns nur den guten Hirten vor Augen auf der Suche nach seinem verlorenen Schaf<ref> {{#ifeq: Evangelium nach Matthäus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Mt|Mt|Evangelium nach Matthäus}}|{{#if: Mt |Mt|Evangelium nach Matthäus}}}} 18{{#if:12-14|,12-14}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 15{{#if:3-7|,3-7}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> oder die Frau, welche das ganze Haus durchkehrt, um die verlorene Drachme zu finden.<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 15{{#if:8-10|,8-10}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Diese Themen der Lehre Christi werden besonders vom Evangelisten Lukas behandelt, dessen Evangelium den Ehrennamen »Evangelium des Erbarmens« bekam.
Bei dieser unserer Betrachtung der Verkündigung Jesu tut sich ein entscheidendes Problem auf: die Bedeutung der Ausdrücke und der Inhalt der Begriffe, vor allem der Begriffsinhalt von »Erbarmen« (im Verhältnis zu dem von »Liebe«). Das Erfassen dieser Inhalte ist der Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit des Erbarmens. Und gerade darauf kommt es uns am meisten an. Bevor wir uns allerdings im folgenden Abschnitt unserer Erwägungen diesem Punkt zuwenden und die einzelnen Wortbedeutungen und schließlich den Begriffsinhalt von »Erbarmen« zu klären suchen, ist noch eine Feststellung notwendig: nämlich dass Christus beim Offenbaren der erbarmenden Liebe Gottes gleichzeitig von den Menschen forderte, sich in ihrem Leben ebenfalls von Liebe und Erbarmen leiten zu lassen. Diese Forderung gehört wesenhaft zur messianischen Botschaft und stellt den Kern des evangelischen Ethos dar. Der Meister bringt sie zum Ausdruck sowohl in der Form des Gebotes, das er als »das wichtigste und erste«<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Matthäus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Mt|Mt|Evangelium nach Matthäus}}|{{#if: Mt |Mt|Evangelium nach Matthäus}}}} 22{{#if:38|,38}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> bezeichnet, wie auch in der Form einer Seligpreisung, wenn er in der Bergpredigt ausruft: »Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden«.<ref> {{#ifeq: Evangelium nach Matthäus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Mt|Mt|Evangelium nach Matthäus}}|{{#if: Mt |Mt|Evangelium nach Matthäus}}}} 5{{#if:7|,7}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref>
Der messianischen Botschaft über das Erbarmen eignet somit eine besondere göttlich - menschliche Dimension. Christus wird in Erfüllung der messianischen Prophetien die Inkarnation jener Liebe, welche mit besonderer Eindringlichkeit in ihrer Zuwendung zu den Leidenden, den Unglücklichen und den Sündern sichtbar wird; er macht so den Vater, den Gott »voll Erbarmen«, gegenwärtig und in größerer Fülle offenbar. Dabei wird er für die Menschen zugleich Modell der erbarmenden Liebe zum Nächsten und verkündet so durch die Taten noch mehr als durch seine Worte den Aufruf zum Erbarmen, der eines der wesentlichen Elemente des evangelischen Ethos ist. Es geht hier nicht nur um die Befolgung eines Gebotes oder einer sittlichen Norm, sondern um die Erfüllung einer Grundvoraussetzung dafür, dass Gott dem Menschen sein Erbarmen erweisen kann: »Die Barmherzigen... werden Erbarmen finden«.
III. DAS ALTE TESTAMENT
4. Der Begriff »Erbarmen« im Alten Testament
Der Begriff »Erbarmen« hat im Alten Testament seine lange und reiche Geschichte. Wir müssen auf sie zurückgreifen, damit das von Christus geoffenbarte Erbarmen in größerer Fülle aufleuchten kann. Als er dieses Erbarmen durch Wort und Tat offenbarte, wandte er sich an Menschen, die nicht nur das Wort Erbarmen kannten, sondern auch als Gottesvolk des Alten Bundes im Lauf einer mehrhundertjährigen Geschichte das Erbarmen Gottes auf besondere Weise erfahren hatten. Diese Erfahrung war sowohl sozial und gemeinschaftlich als auch individuell und innerlich.
Israel war ja das Volk des Bundes mit Gott - eines oft gebrochenen Bundes. Wenn es sich seiner Untreue bewusst wurde - im Lauf der Geschichte Israels fehlte es nicht an Propheten und anderen, welche dieses Bewusstsein weckten - , rief es das Erbarmen an. Die Bücher des Alten Testamentes bringen uns dafür Zeugnisse zur Genüge. Als besonders wichtige Tatsachen und Texte seien angeführt: der Beginn der Geschichte der Richter,<ref>Vgl. {{#ifeq: Buch der Richter | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ri|Ri|Buch der Richter}}|{{#if: Ri |Ri|Buch der Richter}}}} 3{{#if:7-9|,7-9}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> das Gebet Salomos bei der Einweihung des Tempels,<ref> Vgl. {{#ifeq: Vorlage:1 Kön (Bibel) | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 1 Kön|1 Kön|Vorlage:1 Kön (Bibel)}}|{{#if: 1 Kön |[[Vorlage:1 Kön (Bibel)|1 Kön]]|[[Vorlage:1 Kön (Bibel)]]}}}} 8{{#if:22-53|,22-53}} Kön%208{{#if:22-53|,22-53}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Kön%208{{#if:22-53|,22-53}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> ein Teil der Weissagungen Michas,<ref>Vgl. {{#ifeq: Buch Micha | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Mi|Mi|Buch Micha}}|{{#if: Mi |Mi|Buch Micha}}}} 7{{#if:18.20|,18.20}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> die trostvollen Zusicherungen bei Jesaja,<ref>Vgl. {{#ifeq: Jesaja | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jes|Jes|Jesaja}}|{{#if: Jes |Jes|Jesaja}}}} 1{{#if:18|,18}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Jesaja | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jes|Jes|Jesaja}}|{{#if: Jes |Jes|Jesaja}}}} 51{{#if:4-16|,4-16}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> das flehende Gebet der Juden in der Verbannung,<ref>Vgl. {{#ifeq: Baruch | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Bar|Bar|Baruch}}|{{#if: Bar |Bar|Baruch}}}} 2{{#if:11|,11}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }} bis {{#ifeq: Baruch | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Bar|Bar|Baruch}}|{{#if: Bar |Bar|Baruch}}}} 3{{#if:8|,8}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> die Erneuerung des Bundes nach der Rückkehr aus dem Exil.<ref>Vgl. {{#ifeq: Nehemia | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Neh|Neh|Nehemia}}|{{#if: Neh |Neh|Nehemia}}}} 9{{#if:|,{{{3}}}}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref>
Es ist bedeutsam, dass die Propheten in ihrer Verkündigung das Erbarmen, auf das sie wegen der Sünden des Volkes oft zu sprechen kommen, mit dem eindrucksvollen Bild der Liebe Gottes in Verbindung bringen. Der Herr liebt Israel mit der Liebe einer besonderen Erwählung, ähnlich der Liebe eines Bräutigams;<ref>Vgl. z. B. {{#ifeq: Hosea | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Hos|Hos|Hosea}}|{{#if: Hos |Hos|Hosea}}}} 2{{#if:21-25|,21-25}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }} und 15; {{#ifeq: Jesaja | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jes|Jes|Jesaja}}|{{#if: Jes |Jes|Jesaja}}}} 54{{#if:6-8|,6-8}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> deshalb verzeiht er immer wieder seine Schuld, ja seinen Treubruch und Verrat. Findet er Buße und echte Bekehrung, nimmt er sein Volk wieder neu in Gnaden an.<ref>Vgl. {{#ifeq: Jeremia | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jer|Jer|Jeremia}}|{{#if: Jer |Jer|Jeremia}}}} 31{{#if:20|,20}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Ezechiel | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ez|Ez|Ezechiel}}|{{#if: Ez |Ez|Ezechiel}}}} 39{{#if:25-29|,25-29}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Bei den Propheten bedeutet Erbarmen eine besondere Kraft der Liebe, die stärker ist als die Sünde und Untreue des auserwählten Volkes.
In diesem weitgespannten »sozialen« Zusammenhang tritt das Erbarmen als entsprechendes Gegenüber der inneren Erfahrung der einzelnen Personen auf, die sich in Schuld verstrickt haben oder Leiden und Unglück aller Art ausgesetzt sind. Sowohl das physische als auch das moralische Übel oder die Sünde veranlassen die Söhne und Töchter Israels, sich an den Herrn zu wenden und sein Erbarmen anzurufen. In solcher Weise - im Wissen um die Schwere seiner Schuld - wendet sich David in ihn.ref>Vgl. {{#ifeq: 2. Buch Samuel | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 2 Sam|2 Sam|2. Buch Samuel}}|{{#if: 2 Sam |2 Sam|2. Buch Samuel}}}} 11{{#if:|,{{{3}}}}} Sam%2011{{#if:|,}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Sam%2011{{#if:|,}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: 2. Buch Samuel | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 2 Sam|2 Sam|2. Buch Samuel}}|{{#if: 2 Sam |2 Sam|2. Buch Samuel}}}} 12{{#if:|,{{{3}}}}} Sam%2012{{#if:|,}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Sam%2012{{#if:|,}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: 2. Buch Samuel | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 2 Sam|2 Sam|2. Buch Samuel}}|{{#if: 2 Sam |2 Sam|2. Buch Samuel}}}} 24{{#if:10|,10}} Sam%2024{{#if:10|,10}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Sam%2024{{#if:10|,10}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> An ihn wendet sich nach seinem Aufbegehren auch Ijob in seinem entsetzlichen Unglück;<ref>Ijob passirn.</ref> an ihn wendet sich Ester im Bewusstsein der tödlichen Gefahr, die ihr Volk bedroht.<ref>{{#ifeq: Buch Ester | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Est|Est|Buch Ester}}|{{#if: Est |Est|Buch Ester}}}} 4{{#if:17k ff.|,17k ff.}} ff.|,17k ff.}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">ff.|,17k ff.}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}</ref> In den Büchern des Alten Testaments finden wir noch weitere Beispiele dieser Art.<ref>Vgl. z.B. {{#ifeq: Nehemia | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Neh|Neh|Nehemia}}|{{#if: Neh |Neh|Nehemia}}}} 9{{#if:30-32|,30-32}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Buch Tobit | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Tob|Tob|Buch Tobit}}|{{#if: Tob |Tob|Buch Tobit}}}} 3{{#if:2 f.|,2 f.}} f.|,2 f.}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">f.|,2 f.}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }} 11 f.; {{#ifeq: Buch Tobit | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Tob|Tob|Buch Tobit}}|{{#if: Tob |Tob|Buch Tobit}}}} 8{{#if:16f.|,16f.}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: 1. Buch der Makkabäer | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 1 Makk|1 Makk|1. Buch der Makkabäer}}|{{#if: 1 Makk |1 Makk|1. Buch der Makkabäer}}}} 4{{#if:24|,24}} Makk%204{{#if:24|,24}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Makk%204{{#if:24|,24}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref>
Am Anfang dieser mannigfaltigen gemeinschaftlichen und persönlichen Überzeugung, wie sie vom ganzen Alten Testament im Laufe der Jahrhunderte bestätig wird, steht die grundlegende Erfahrung des auserwählten Volkes in der Zeit des Exodus: der Herr sah das Elend des versklavten Volkes, hörte seine Schreie, erkannte seine Bedrängnis und beschloß, es zu befreien.<ref>Vgl. {{#ifeq: Exodus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ex|Ex|Exodus}}|{{#if: Ex |Ex|Exodus}}}} 3{{#if:7f|,7f}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> In dieser Rettung durch den Herrn sieht der Prophet dessen Liebe und Mitleid am Werk.<ref>Vgl. {{#ifeq: Jesaja | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jes|Jes|Jesaja}}|{{#if: Jes |Jes|Jesaja}}}} 63{{#if:9|,9}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Hier hat die Sicherheit ihre Wurzeln, mit der das auserwählte Volk und jedes seiner Glieder auf Gottes Erbarmen baut, das man in jeder Bedrängnis anrufen kann.
Dazu kommt die Tatsache, dass das Elend des Menschen, seine »Erbärmlichkeit«, auch in seiner Sünde besteht. Das Bundesvolk kannte dieses Elend schon von den Zeiten des Exodus an, als es das goldene Kalb aufstellte. Über diesen Akt des Bundesbruches hat der Herr triumphiert, als er sich dem Mose feierlich als »ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Güte und Treue« kundtat.<ref>{{#ifeq: Exodus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ex|Ex|Exodus}}|{{#if: Ex |Ex|Exodus}}}} 34{{#if:6|,6}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> In dieser zentralen Offenbarung wird das auserwählte Volk und jedes seiner Mitglieder nach jedem Fall in Schuld immer wieder die Kraft und den Beweggrund finden, sich an den Herrn zu wenden, um ihn an das zu erinnern, was er selbst über sich geoffenbart hat,<ref>Vgl. {{#ifeq: Numeri | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Num|Num|Numeri}}|{{#if: Num |Num|Numeri}}}} 14{{#if:18|,18}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: 2. Buch der Chronik | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 2 Chr|2 Chr|2. Buch der Chronik}}|{{#if: 2 Chr |2 Chr|2. Buch der Chronik}}}} 30{{#if:9|,9}} Chr%2030{{#if:9|,9}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Chr%2030{{#if:9|,9}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Nehemia | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Neh|Neh|Nehemia}}|{{#if: Neh |Neh|Nehemia}}}} 9{{#if:17|,17}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Buch der Psalmen | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ps|Ps|Buch der Psalmen}}|{{#if: Ps |Ps|Buch der Psalmen}}}} 86{{#if:(85), 15|,(85), 15}} 15|,(85), 15}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">15|,(85), 15}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Buch der Weisheit | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Weish|Weish|Buch der Weisheit}}|{{#if: Weish |Weish|Buch der Weisheit}}}} 15{{#if:1|,1}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Buch Jesus Sirach | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Sir|Sir|Buch Jesus Sirach}}|{{#if: Sir |Sir|Buch Jesus Sirach}}}} 2{{#if:11|,11}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Buch Joel | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Joel|Joel|Buch Joel}}|{{#if: Joel |Joel|Buch Joel}}}} 2{{#if:13|,13}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> und seine Vergebung zu erflehen.
So hat der Herr in seinen Taten und Worten seinem erwählten Volk schon von der Schwelle seiner Geschichte an handelnd und sprechend sein Erbarmen geoffenbart, und dieses Volk hat sich im weiteren Verlauf seiner Geschichte im Unglück wie beim Bewußtwerden seiner Schuld immer wieder dem Gott der Erbarmungen anvertraut. Alle Färbungen der Liebe zeigen sich im Erbarmen des Herrn gegen die Seinen: er ist ihr Vater,<ref>Vgl. {{#ifeq: Jesaja | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jes|Jes|Jesaja}}|{{#if: Jes |Jes|Jesaja}}}} 63{{#if:16|,16}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> weshalb Israel sein erstgeborener Sohn ist;<ref>Vgl. {{#ifeq: Exodus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ex|Ex|Exodus}}|{{#if: Ex |Ex|Exodus}}}} 4{{#if:22|,22}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> er ist auch der Bräutigam jener, der vom Propheten ein neuer Name verkündet wird: ruhama, »Wohlgeliebte«, weil ihr Erbarmen widerfahren soll.<ref> Vgl. {{#ifeq: Hosea | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Hos|Hos|Hosea}}|{{#if: Hos |Hos|Hosea}}}} 2{{#if:3|,3}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref>
Auch wenn der Herr, durch die Treulosigkeit seines Volkes erbittert, beschließt, es fallen zu lassen, ist seine Zärtlichkeit und seine großherzige Liebe zu den Seinen immer noch stark genug, um ihn seinen Zorn vergessen zu lassen.<ref>Vgl. {{#ifeq: Hosea | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Hos|Hos|Hosea}}|{{#if: Hos |Hos|Hosea}}}} 11{{#if:7-9|,7-9}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Jeremia | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jer|Jer|Jeremia}}|{{#if: Jer |Jer|Jeremia}}}} 31{{#if:20|,20}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Jesaja | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jes|Jes|Jesaja}}|{{#if: Jes |Jes|Jesaja}}}} 54{{#if:7f|,7f}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> So ist es verständlich, dass dann die Psalmisten, sobald sie das höchste Loblied auf den Herrn anstimmen wollen, den Gott der Liebe besingen, den Gott der Zärtlichkeit, des Erbarmens und der Treue.<ref>{{#ifeq: Buch der Psalmen | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ps|Ps|Buch der Psalmen}}|{{#if: Ps |Ps|Buch der Psalmen}}}} 103{{#if:|,{{{3}}}}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}(102) und 145(144).</ref>
Aus all dem folgt, dass das Erbarmen nicht nur zum Gottesbegriff gehört, sondern das Leben des ganzen Volkes Israel und seiner einzelnen Söhne und Töchter kennzeichnet; es ist der Inhalt der innigen Beziehung zu ihrem Herrn, der Inhalt ihres Gesprächs mit ihm. Gerade in dieser Hinsicht wird das Erbarmen in den einzelnen Büchern des Alten Testaments mit einer Fülle von Ausdrücken beschrieben. Es wäre vielleicht schwierig, in diesen Büchern eine rein theoretische Antwort auf die Frage zu suchen, was das Erbarmen als solches ist. Nichtsdestoweniger sagt die in ihnen verwendete Terminologie schon sehr viel darüber aus.<ref>Die Bücher des Alten Testaments bedienen sich, um den Begriff »Erbarmen« auszudrücken, vor allem zweier Wörter, die verschiedene semantische Nuancen aufweisen. Da ist vor allem das Wort hesed, das eine tief verwurzelte Haltung von Güte bezeichnet. Wenn sich diese zwischen zwei Menschen entwickelt, sind sie nicht nur einander wohlwollend gesinnt, sondern auch einander treu, und zwar aufgrund einer inneren Verpflichtung, also auch aufgrund einer Treue zu sich selbst. Wenn hesed auch »Gnade« oder »Liebe« bedeutet, dann eben aufgrund dieser Treue. Die Tatsache, dass die besagte Verpflichtung nicht nur moralischer, sondern fast rechtlicher Art ist ändert daran nichts. Wenn im Alten Testament der Ausdruck hesed auf den Herrn bezogen wird, geschieht das immer im Zusammenhang mit dem Bund, den Gott mit Israel geschlossen hat. Dieser Bund war von seiten Gottes eine Gabe und ein Gnadenerweis für Israel. Dennoch bekam hesed - weil sich Gott um des geschlossenen Bundes willen verpflichtet hatte diesen einzuhalten - in gewissem Sinn rechtlichen Charakter. Die rechtliche Verpflichtung von seiten Gottes trat außer Kraft wenn Israel den Bund brach und dessen Bedingungen mißachtete. Doch gerade dann enthüllte hesed, nun keine rechtliche Verpflichtung mehr, seinen tiefsten Sinn in seiner anfänglichen Bedeutung: Liebe, die schenkt; Liebe, die stärker ist als der Verrat; Gnade, die stärker ist als die Sünde.
Diese Treue zur untreuen »Tochter meines Volkes« (vgl. Klgl 4, 3. 6) ist letzten Endes von seiten Gottes Treue zu sich selbst. Das ergibt sich klar vor allem aus der häufigen Wiederkehr des Wortpaares hesed we'emet (= Gnade und Treue), das man als Hendiadyoin betrachten könnte (vgl. z. B. {{#ifeq: Exodus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ex|Ex|Exodus}}|{{#if: Ex |Ex|Exodus}}}} 34{{#if:6|,6}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: 2. Buch Samuel | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 2 Sam|2 Sam|2. Buch Samuel}}|{{#if: 2 Sam |2 Sam|2. Buch Samuel}}}} 2{{#if:6|,6}} Sam%202{{#if:6|,6}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Sam%202{{#if:6|,6}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: 2. Buch Samuel | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 2 Sam|2 Sam|2. Buch Samuel}}|{{#if: 2 Sam |2 Sam|2. Buch Samuel}}}} 5{{#if:20|,20}} Sam%205{{#if:20|,20}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Sam%205{{#if:20|,20}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Buch der Psalmen | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ps|Ps|Buch der Psalmen}}|{{#if: Ps |Ps|Buch der Psalmen}}}} 25(24){{#if:10|,10}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; 40(39), 11 f.- 85(84), 11; 138 (137), 2; {{#ifeq: Buch Micha | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Mi|Mi|Buch Micha}}|{{#if: Mi |Mi|Buch Micha}}}} 7{{#if:20|,20}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}).
»Nicht euretwegen handle ich, Haus Israel sondern um meines heiligen Namens willen« ({{#ifeq: Ezechiel | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ez|Ez|Ezechiel}}|{{#if: Ez |Ez|Ezechiel}}}} 36{{#if:22|,22}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}). Wenngleich also auch Israel, schuldbeladen durch den Bundesbruch, auf Gottes hesed keinen rechtlichen Anspruch hat, so darf und muss es doch weiter hin darauf hoffen und vertrauen, da der Gott des Bundes wahrhaft »seiner Liebe verantwortlich« ist. Frucht einer solchen Liebe sind die Verzeihung, die Wiederaufnahme in die Beziehung der Huld und Gnade und die Erneuerung des inneren Bundes.
Das zweite Wort, das in der Terminologie des Alten Testaments zur Bezeichnung des Erbarmens dient, ist rahamim. Es hat eine andere Nuance als hesed. Während letzteres die Treue zu sich selbst und die »Verantwortung der eigenen Liebe gegenüber« (in gewisser Hinsicht männliche Charakterzüge) hervorhebt, lässt rahamim schon von der Wortwurzel her die Mutterliebe anklingen (rehem = Mutterschoß). Der tiefsten und ursprünglichsten Verbundenheit, ja Einheit der Mutter mit dem Kind entspringt eine besondere Beziehung zu ihm, eine besondere Liebe. Diese Liebe kann man als völlig ungeschuldet bezeichnen, ist sie doch nicht Lohn für ein Verdienst; insofern stellt sie eine innere Notwendigkeit dar, einen »Zwang« des Herzens. Sie ist eine gleichsam »weibliche« Variante der männlichen Treue zu sich selbst, wie sie in hesed anklingt. Auf diesem psychologischen Hintergrund entfaltet sich rahamim in eine ganze Reihe von Gefühlen, so etwa Güte und Zärtlichkeit, Geduld und Verständnis, das heißt Bereitschaft zur Verzeihung.
Das Alte Testament schreibt dem Herrn eben diese Charakterzüge zu, wenn es auf ihn den Ausdruck rahamim anwendet. So lesen wir bei Jesaja: »Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen, eine Mutter ihren eigenen Sohn? Und selbst, wenn sie ihr Kind vergessen würde: Ich vergesse dich nicht« (Jes 49, 15). Diese Liebe, die dank der geheimnisvollen Kraft der Mutterschaft treu und unüberwindlich ist, wird in den alttestamentlichen Texten verschiedenartig ausgedrückt: als Rettung aus Gefahren, insbesonders von Feinden, als Vergebung der Sünden - der Einzelnen und des ganzen Volkes Israel - und schließlich als die Entschlossenheit, die (endzeitliche) Verheißung und Hoffnung trotz aller menschlichen Untreue zu erfüllen, wie wir bei Hosea lesen: »Ich will ihre Untreue heilen und sie in Großmut wieder lieben« ({{#ifeq: Hosea | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Hos|Hos|Hosea}}|{{#if: Hos |Hos|Hosea}}}} 14{{#if:5|,5}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}).
In der Terminologie des Alten Testamentes finden wir noch andere Ausdrücke, die sich in verschiedener Weise auf den selben Grundinhalt beziehen. Die beiden vorhin erwähnten verdienen jedoch besondere Aufmerksamkeit. In ihnen tritt klar der ursprüngliche anthropomorphe Aspekt hervor: die Verfasser der biblischen Schriften verwenden, um das göttliche Erbarmen zu beschreiben, Ausdrücke, die dem Bewusstsein und der Erfahrung ihrer Zeitgenossen entsprechen. Die griechische Terminologie der Septuaginta-Ubersetzung ist weniger reich als die hebräische und bietet daher nicht alle semantischen Nuancen, die den Originaltext kennzeichnen. Auf jeden Fall baut das Neue Testament auf dem Reichtum und der Tiefe auf, die bereits dem Alten eigen waren.
Auf diese Weise erben wir vom Alten Testament - gleichsam in einer besonderen Synthese - nicht nur den Reichtum der Ausdrücke dieser Bücher zur Beschreibung des göttlichen Erbarmens, sondern auch eine spezifische, selbstverständlich anthropomorphe »Psychologie« Gottes: das Bild seiner sich sorgenden Liebe, die sich angesichts des Übels - insbesondere der Sünde des Menschen und des Volkes - als Erbarmen kundtut. Dieses Bild besteht aus dem eher allgemeinen Inhalt des Verbums hanan, aber auch aus dem von hesed und von rahamim. Das Wort hanan drückt etwas Umfassenderes aus: den Erweis der Gnade, worin gleichsam eine ständige Bereitschaft zu Hochherzigkeit, Güte und Milde eingeschlossen ist.
Außer diesen grundlegenden semantischen Elementen schließt der Begriff des Erbarmens im Alten Testament auch den Bedeutungsgehalt des Wortes hamal ein, das wörtlich »(den besiegten Feind) verschonen« bedeutet, aber auch »Verzeihen und Mitleid bezeugen«, und infolgedessen Vergebung und Nachlaß der Schuld. Auch das Wort hus drückt Verzeihen und Mitleid aus, aber vor allem in gefühlsmäßigem Sinn. Diese Ausdrücke treten in den biblischen Texten seltener zur Bezeichnung des Erbarmens auf. Außerdem ist das bereits erwähnte Wort 'emet hervorzuheben das in erster Linie »Solidität, Sicherheit« bedeutet (im Griechischen der Septuaginta: »Wahrheit«) und dann »Treue«, so dass es sich mit dem semantischen Inhalt des Wortes hesed zu verbinden scheint.</ref>
Das Alte Testament bedient sich beim Preis des göttlichen Erbarmens vieler bedeutungsverwandter Ausdrücke; sie unterscheiden sich durch die Eigenheit ihres jeweiligen Inhaltes, streben jedoch sozusagen von verschiedenen Richtungen aus einem einzigen Grundinhalt zu, um dessen übersteigenden Reichtum zum Ausdruck und dem Menschen unter verschiedenen Gesichtspunkten näher zu bringen. Das Alte Testament ermutigt die von Unglück Betroffenen, vor allem die Schuldbeladenen - wie auch das ganze Volk Israel, das den Bund mit Gott geschlossen hatte - , das Erbarmen anzurufen und mit ihm zu rechnen; es wird in Zeiten des Falls und der Mutlosigkeit ins Bewusstsein gerufen. Und sooft es sich im Leben des Volkes oder des einzelnen zeigt und verwirklicht, wird es dann Gegenstand von Dank und Lobpreis.
Auf diese Weise wird das Erbarmen in gewisser Hinsicht der göttlichen Gerechtigkeit gegenübergestellt und erweist sich in vielen Fällen nicht nur als stärker, sondern auch als tiefer. Schon in der Lehre des Alten Testamentes ist die Gerechtigkeit zwar eine echte Tugend im Menschen und in Gott die transzendente Vollkommenheit, wird jedoch von der »Größe« der Liebe überragt, insofern diese ursprünglicher und grundlegender ist. Die Liebe motiviert sozusagen die Gerechtigkeit, und die Gerechtigkeit dient letztlich der Liebe. Der Vorrang und die Erhabenheit der Liebe gegenüber der Gerechtigkeit (das ist bezeichnend für die ganze Offenbarung) kommen gerade im Erbarmen zum Ausdruck. Das war den Psalmisten und Propheten so klar, dass sogar das Wort Gerechtigkeit selbst allmählich das vom Herrn gewirkte Heil und sein Erbarmen bedeutete.<ref>{{#ifeq: Buch der Psalmen | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ps|Ps|Buch der Psalmen}}|{{#if: Ps |Ps|Buch der Psalmen}}}} 40{{#if:11|,11}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}, {{#ifeq: Buch der Psalmen | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ps|Ps|Buch der Psalmen}}|{{#if: Ps |Ps|Buch der Psalmen}}}} 98{{#if:2f|,2f}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.; {{#ifeq: Jesaja | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jes|Jes|Jesaja}}|{{#if: Jes |Jes|Jesaja}}}} 45{{#if:21|,21}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Jesaja | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jes|Jes|Jesaja}}|{{#if: Jes |Jes|Jesaja}}}} 51{{#if:5.8|,5.8}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Jesaja | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jes|Jes|Jesaja}}|{{#if: Jes |Jes|Jesaja}}}} 56{{#if:1|,1}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Das Erbarmen unterscheidet sich von der Gerechtigkeit, steht jedoch nicht im Widerspruch zu ihr, wenn wir, wie es eben das Alte Testament tut, in der Geschichte des Menschen die Gegenwart Gottes anerkennen, der sich schon als Schöpfer seinem Geschöpf in besonderer Liebe verbunden hat. Die Liebe schließt von ihrem Wesen her Haß und Übelwünschen dem gegenüber aus, dem sie sich einmal zum Geschenk gemacht hat: Nihil odisti eorum quae fecisti, »du... verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast«.<ref>{{#ifeq: Buch der Weisheit | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Weish|Weish|Buch der Weisheit}}|{{#if: Weish |Weish|Buch der Weisheit}}}} 11{{#if:24|,24}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Diese Worte weisen auf das tiefe Fundament der Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Erbarmen in Gott - in seiner Zuwendung zum Menschen und zur Welt. Sie bedeuten, dass wir die belebenden Wurzeln und die innigsten Motive dieses Verhältnisses suchen und zum »Anfang«, auf das Schöpfungsgeheimnis selbst zurückgehen müssen. Schon im Alten Bund verheißen diese Worte die volle Offenbarung Gottes, der »Liebe ist«.<ref>{{#ifeq: 1. Brief des Johannes | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 1 Joh|1 Joh|1. Brief des Johannes}}|{{#if: 1 Joh |1 Joh|1. Brief des Johannes}}}} 4{{#if:8.16|,8.16}} Joh%204{{#if:8.16|,8.16}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Joh%204{{#if:8.16|,8.16}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref>
Mit dem Geheimnis der Schöpfung ist das Geheimnis der Erwählung verbunden, das in besonderer Weise die Geschichte jenes Volkes geprägt hat, dessen geistlicher Vater Abraham kraft seines Glaubens ist. Durch dieses Volk, dessen Weg entlang der Geschichte des Alten sowie des Neuen Bundes führt, richtet sich das Geheimnis der Erwählung an jeden Menschen, an die ganze Menschheitsfamilie. »Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt«.<ref>{{#ifeq: Jeremia | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jer|Jer|Jeremia}}|{{#if: Jer |Jer|Jeremia}}}} 31{{#if:3|,3}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> »Auch wenn die Berge von ihrem Platz weichen... - meine Gnade wird nie von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken«.<ref>{{#ifeq: Jesaja | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jes|Jes|Jesaja}}|{{#if: Jes |Jes|Jesaja}}}} 54{{#if:10|,10}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Diese Wahrheit, einst Israel verkündet, trägt in sich die Perspektive der ganzen Geschichte des Menschen: eine Perspektive, die zugleich zeitlich und endzeitlich ist.<ref>{{#ifeq: Buch Jona | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jona|Jona|Buch Jona}}|{{#if: Jona |Jona|Buch Jona}}}} 4{{#if:2. 11|,2. 11}} 11|,2. 11}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">11|,2. 11}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Buch der Psalmen | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Ps|Ps|Buch der Psalmen}}|{{#if: Ps |Ps|Buch der Psalmen}}}} 145{{#if:9|,9}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Buch Jesus Sirach | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Sir|Sir|Buch Jesus Sirach}}|{{#if: Sir |Sir|Buch Jesus Sirach}}}} 18{{#if:8-14|,8-14}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Buch der Weisheit | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Weish|Weish|Buch der Weisheit}}|{{#if: Weish |Weish|Buch der Weisheit}}}} 11{{#if:23|,23}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}-12, 1.</ref> Christus offenbart den Vater in der gleichen Perspektive einer schon vorbereiteten Hörerschaft, wie die Schriften des Alten Testaments an vielen Stellen beweisen. Beim Abschluss dieses Offenbarens am Vorabend seines Todes spricht er zum Apostel Philippus die denkwürdigen Worte: »Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt...? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«.<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Johannes | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Joh|Joh|Evangelium nach Johannes}}|{{#if: Joh |Joh|Evangelium nach Johannes}}}} 14{{#if:9|,9}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref>
IV. DAS GLEICHNIS VOM VERLORENEN SOHN
5. Der Vergleich
Schon an der Schwelle zum Neuen Testament wird im Evangelium des heiligen Lukas eine einzigartige Entsprechung zwischen zwei Beschreibungen des göttlichen Erbarmens hörbar, in der die gesamte Tradition des Alten Testamentes machtvoll widerhallt. Hier finden die semantischen Inhalte der differenzierten Terminologie der alttestamentlichen Bücher ihren Niederschlag. Wir sehen Maria, die das Haus des Zacharias betritt und aus ganzer Seele den Herrn preist für »sein Erbarmen von Geschlecht zu Geschlecht über denen, die ihn fürchten«. Gleich darauf erwähnt sie Gottes Huld für Israel und rühmt die Erwählung Israels, »das Erbarmen«, an das er, sein Erwähler, eh und je »denkt«.<ref> In beiden Fällen handelt es sich um hesed, also um die Treue Gottes zur eigenen Liebe gegenüber seinem Volk, um die Treue zu den Verheißungen, die eben in der Mutterschaft der Gottesmutter ihre endgültige Erfüllung finden werden (vgl. {{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 1{{#if:49-54|,49-54}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}).</ref> Später, im selben Haus, lobpreist bei der Geburt Johannes' des Täufers dessen Vater Zacharias den Gott Israels und verherrlicht sein »Erbarmen mit unseren Vätern«, und dass er »seines heiligen Bundes gedachte«.<ref>Vgl. {{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 1{{#if:72|,72}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}. - Auch in diesem Fall handelt es sich um Erbarmen im Sinn von hesed, während in den folgenden Sätzen, in denen Zacharias von der »barmherzigen Liebe unseres Gottes« spricht, eindeutig die zweite Bedeutung, die von rahamim (lateinische Übersetzung: viscera misericordiae), zum Ausdruck gebracht wird, welche das göttliche Erbarmen eher mit der mütterlichen Liebe identifiziert.</ref>
In der Lehre Christi wird das vom Alten Testament übernommene Bild vereinfacht und zugleich vertieft. Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der Parabel vom verlorenen Sohn,<ref>Vgl. {{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 15{{#if:11-32|,11-32}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> wo das Wesen des göttlichen Erbarmens besonders deutlich aufleuchtet (wenn auch das Wort »Erbarmen« im Urtext nicht vorkommt). Dazu trägt nicht so sehr, wie in den alttestamentlichen Büchern, die Terminologie bei, sondern vielmehr die Analogie, der Vergleich, der es möglich macht, das Geheimnis des Erbarmens vollständiger zu erfassen, das sich wie ein tiefes Drama zwischen der Liebe des Vaters und der Verlorenheit und Sünde des Sohnes ereignet.
Dieser Sohn, der vom Vater das ihm zustehende Erbteil erhält und von zuhause weggeht, um es in einem fernen Land mit seinem »zügellosen Leben« zu verschleudern, ist in gewisser Hinsicht der Mensch aller Zeiten, angefangen von dem, der als erster das Erbteil der Gnade und der Gerechtigkeit des Urstandes verlor. Die Analogie ist hier sehr weitgespannt. Die Parabel bezieht sich indirekt auf jeden Bruch des Liebesbundes, auf jeden Verlust der Gnade, auf jede Sünde. In dieser Analogie wird weniger die Untreue des Volkes Israel hervorgehoben, als dies in der Tradition der Propheten der Fall war, obwohl auch sie mitgemeint sein kann. Als dieser Sohn »alles durchgebracht hatte, ging es ihm sehr schlecht«, um so mehr als »in dem Land«, in das er sich nach Verlassen des väterlichen Hauses begeben hatte, »eine große Hungersnot ausgebrochen war«. In dieser Lage »hätte er gerne seinen Hunger gestillt«, ganz gleich womit, sogar »mit den Futterschoten, die die Schweine fraßen«, welche er für »einen Bürger des Landes« auf dem Feld hütete. Aber selbst das wurde ihm verweigert.
Die Analogie verlagert sich eindeutig auf das Innere des Menschen. Das Vermögen, welches der Sohn vom Vater empfangen hatte, war eine Quelle materieller Güter; aber wichtiger als diese Güter war seine Würde als Sohn im Haus des Vaters. Die Lage, in der er sich nach dem Verlust der materiellen Güter vorfand, musste ihm den Verlust dieser Würde zum Bewusstsein bringen. Früher, als er vom Vater sein Erbteil verlangte, um fortzugehen, hatte er daran nicht gedacht. Anscheinend denkt er auch jetzt noch nicht daran, wenn er zu sich selbst sagt: »Wieviele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen, und ich komme hier vor Hunger um«. Er mißt sich mit dem Maß der Güter, die er verloren hat, die er nicht mehr »besitzt«, während die Tagelöhner im Haus seines Vaters sie »besitzen«. Aus seinen Worten spricht vor allem seine Ausrichtung auf die materiellen Güter. Nichtsdestoweniger verbirgt sich unter ihrer Oberfläche das Drama der verlorenen Würde, das Wissen um die leichtsinnig zerstörte Sohnschaft.
So fasst er denn den Entschluss: »Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner«.<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 15{{#if:18 f|,18 f}} f|,18 f}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">f|,18 f}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Diese Worte rücken das Kernproblem vollends ins Licht. Der materielle Engpaß, in den der verlorene Sohn durch seine Leichtfertigkeit und seine Sünde geraten war, hatte in ihm den Sinn für seine - jetzt verlorene - Würde zum Reifen gebracht. Sein Entschluß, in das väterliche Haus zurückzukehren und den Vater um Aufnahme zu bitten - nicht aufgrund der Rechte eines Sohnes, sondern als Tagelöhner - , scheint äußerlich durch den Hunger und das Elend veranlaßt, in die er gefallen war; diesen Beweggrund durchdringt jedoch das Wissen um einen viel tieferen Verlust: ein Tagelöhner im Haus des eigenen Vaters zu sein, ist sicher eine große Demütigung und Schande. Dennoch ist der verlorene Sohn bereit, diese Demütigung und Schande auf sich zu nehmen. Er ist sich klar darüber, dass er kein anderes Recht mehr hat als das, im Haus des Vaters Tagelöhner zu sein. Er faßt seinen Entschluß im vollen Bewusstsein dessen, was er verdient hat und worauf er nach den Normen der Gerechtigkeit noch Anspruch erheben kann. Gerade diese Überlegung beweist, dass in der Tiefe des Gewissens des verlorenen Sohnes der Sinn für die verlorene Würde auftaucht, für jene Würde, die dem Verhältnis des Sohnes zum Vater entspringt. Mit diesem Entschluß macht er sich auf den Weg.
In der Parabel vom verlorenen Sohn wird kein einziges Mal das Wort »Gerechtigkeit« verwendet; gleiches gilt - im Urtext - für das Wort »Erbarmen«. Aber das Verhältnis der Gerechtigkeit zur Liebe, die sich als Erbarmen kundtut, ist dem Inhalt der evangelischen Parabel in großer Genauigkeit eingeschrieben. Sie macht deutlich, dass die Liebe zum Erbarmen wird, wenn es gilt, die - genaue und oft zu enge - Norm der Gerechtigkeit zu überschreiten. Nachdem der verlorene Sohn das vom Vater erhaltene Vermögen aufgebraucht hat und ins väterliche Haus zurückgekehrt ist, kann er nur beanspruchen, sich seinen Lebensunterhalt als Tagelöhner verdienen zu dürfen und eventuell nach und nach zu einem gewissen materiellen Besitz zu kommen, der in seiner Größe aber vielleicht nie mehr an den heranreichen wird, den er verschleudert hat. Mehr kann er nicht beanspruchen in der Ordnung der Gerechtigkeit, umso weniger, als er nicht nur den ihm zustehenden Vermögensanteil vergeudet, sondern durch sein ganzes Verhalten auch den Vater verletzt und beleidigt hat. Dieses Verhalten, das ihn nach seinem eigenen Urteil die Würde eines Sohnes gekostet hat, konnte ja dem Vater nicht gleichgültig sein; es musste ihm Schmerz bereiten und ihn in gewisser Hinsicht auch mit hineinziehen. Und doch, letzten Endes ging es um den eigenen Sohn, und diese Beziehung konnte durch keinerlei Verhalten gestört oder getroffen werden. Der verlorene Sohn ist sich dessen bewusst, und gerade dieses Wissen lässt ihn den Verlust seiner Würde klar erkennen und den Platz richtig einschätzen, der ihm im Haus des Vaters noch zustehen konnte.
6. Die Betonung der menschlichen Würde
Dieses klar gezeichnete Bild von der inneren Verfassung des verlorenen Sohnes erlaubt es uns, genau zu erfassen, worin das göttliche Erbarmen besteht. Zweifellos enthüllt uns die Gestalt des Vaters in dieser einfachen, aber eindringlichen Analogie Gott als Vater. Das Verhalten des Vaters im Gleichnis, seine ganze Handlungsweise, in der seine innere Haltung sichtbar wird, lässt uns die einzelnen Linien der alttestamentlichen Sicht des Erbarmens in einer völlig neuen, ganz einfachen und tiefen Synthese wiederfinden. Der Vater des verlorenen Sohnes ist seiner Vaterschaft treu, ist der Liebe treu, mit der er seit jeher seinen Sohn beschenkt hat. Diese Treue kommt im Gleichnis nicht nur in der sofortigen Bereitschaft zum Ausdruck, mit der er den heimkehrenden Sohn, der das Vermögen verschleudert hat, aufnimmt; sie kommt noch mehr in der überströmenden, großzügigen Freude über den heimgekehrten Verschwender zum Ausdruck, deren Ausmaß sogar den Widerspruch und Neid des älteren Bruders hervorruft, der sich nie vom Vater abgewendet und sein Haus nicht verlassen hatte.
Die Treue des Vaters zu sich selbst - ein von dem alttestamentlichen Ausdruck »hesed« her bereits bekannter Wesenszug - wird in ergreifender Wärme beschrieben: »Der Vater sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn«.<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 15{{#if:20|,20}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Dieses Tun ist sicher von einer tiefen Zuneigung bestimmt, die auch seine dem Sohn erwiesene Großzügigkeit erklärt, über die der ältere dann so in Zorn gerät. Die Gründe für diesen bewegten Empfang liegen jedoch tiefer: der Vater weiß sehr wohl, dass ein grundlegendes Gut gerettet ist - das Mensch-sein seines Sohnes. Mag dieser auch das Vermögen verschleudert haben, sein Mensch-sein ist heil geblieben. Ja, es wurde sozusagen wiedergefunden. Das bezeugen die Worte des Vaters an den älteren Sohn: »Jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern, denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden«.<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 15{{#if:32|,32}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Im selben 15. Kapitel des Lukasevangeliums lesen wir das Gleichnis vom verlorenen Schaf<ref>Vgl. {{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 15{{#if:3-6|,3-6}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> und anschließend von der verlorenen Drachme.<ref>Vgl. {{#ifeq: Evangelium nach Lukas | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Lk|Lk|Evangelium nach Lukas}}|{{#if: Lk |Lk|Evangelium nach Lukas}}}} 15{{#if:8 f|,8 f}} f|,8 f}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">f|,8 f}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Jedes Mal wird die gleiche Freude hervorgehoben, die wir beim verlorenen Sohn finden. Die Treue des Vaters zu sich selbst ist voll und ganz auf das Mensch - sein, auf die Würde des verlorenen Sohnes ausgerichtet. So erklärt sich vor allem seine bewegte Freude im Augenblick der Heimkehr.
Man kann also sagen, dass die Liebe zum Sohn, die Liebe, die aus dem Wesen der Vaterschaft fließt, den Vater in einem bestimmten Sinn dazu verpflichtet, sich um die Würde des Sohnes zu sorgen. Diese Sorge ist der Maßstab seiner Liebe, wie der heilige Paulus schreibt: »Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig... Sie sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach... Sie freut sich an der Wahrheit. ... Sie hofft alles, hält allem stand« und »hört niemals auf«.<ref>{{#ifeq: 1. Brief des Paulus an die Korinther | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 1 Kor|1 Kor|1. Brief des Paulus an die Korinther}}|{{#if: 1 Kor |1 Kor|1. Brief des Paulus an die Korinther}}}} 13{{#if:4-8|,4-8}} Kor%2013{{#if:4-8|,4-8}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Kor%2013{{#if:4-8|,4-8}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Das Erbarmen - wie es Christus im Gleichnis vom verlorenen Sohn darstellt - hat die innere Form jener Liebe, die im Neuen Testament agápe genannt wird. Solche Liebe ist fähig, sich über jeden verlorenen Sohn zu beugen, über jedes menschliche Elend, vor allem über das moralische Elend: die Sünde. Wenn das geschieht, fühlt sich der, dem das Erbarmen zuteil wird, nicht gedemütigt, sondern gleichsam wiedergefunden und »aufgewertet«. Der Vater lässt ihn in erster Linie spüren, wie groß seine Freude ist, dass er »wiedergefunden wurde« und »wieder lebt«. Diese Freude weist auf ein unverletztes Gut hin: ein Sohn hört nie auf, in Wahrheit Sohn seines Vaters zu sein, selbst dann nicht, wenn er sich von ihm trennt; sie weist darüber hinaus auf ein wiedergefundenes Gut hin: im Fall des verlorenen Sohnes die Rückkehr zur Wahrheit über sich selbst.
Was sich im Verhältnis des Vaters zum Sohn im Gleichnis Christi ereignet, lässt sich nicht »von außen her« werten. Unsere Vorurteile in bezug auf das Erbarmen sind größtenteils das Ergebnis einer rein äußerlichen Wertung. Entsprechend einer solchen Wertung sehen wir manchmal im Erbarmen vor allem ein Verhältnis der Ungleichheit zwischen dem, der es schenkt, und dem, der es empfängt. Infolgedessen sind wir bereit, den Schluß zu ziehen, das Erbarmen demütige den, der es empfängt, es verletze die Würde des Menschen. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn beweist uns, dass es in Wirklichkeit anders ist: die Beziehung des Erbarmens beruht auf der gemeinsamen Erfahrung jenes Gutes, das der Mensch ist, auf der gemeinsamen Erfahrung der ihm eigenen Würde. Diese gemeinsame Erfahrung führt dazu, dass der verlorene Sohn sich und seine Taten in der vollen Wahrheit zu sehen beginnt (dieses Sehen in Wahrheit ist echte Demut) und seinem Vater gerade dadurch besonderers lieb wird, der in so leuchtender Klarheit das Gute sieht, das dank einer geheimnisvollen Ausstrahlung der Wahrheit und der Liebe geschehen ist, dass er alle Schandtaten des Sohnes gleichsam vergisst.
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn bringt auf einfache, aber tiefe Weise die Wirklichkeit der Bekehrung zum Ausdruck. Sie ist das konkreteste Zeugnis für das Wirken der Liebe und die Gegenwart des Erbarmens in der Welt des Menschen. Die wahre und eigentliche Bedeutung von Erbarmen beschränkt sich nicht auf den - noch so tiefgehenden und mitfühlenden - Blick auf das moralische, physische oder materielle Übel: das Erbarmen zeigt sich wahrhaft und eigentlich, wenn es wieder aufwertet, fördert und aus allen Formen des Übels in der Welt und im Menschen das Gute zieht. So betrachtet, stellt es den Grundinhalt der messianischen Botschaft Christi dar und den eigentlichen Impuls seiner Mission. So wurde es auch von seinen Jüngern und Anhängern verstanden und geübt. In ihren Herzen und in ihrem Wirken offenbarte es sich unaufhörlich als ein besonders schöpferischer Erweis der Liebe, die »sich vom Bösen nicht besiegen lässt, sondern das Böse durch das Gute besiegt«.<ref>Vgl. {{#ifeq: Vorlage:Röm (Bibel) | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Röm|Röm|Vorlage:Röm (Bibel)}}|{{#if: Röm |[[Vorlage:Röm (Bibel)|Röm]]|[[Vorlage:Röm (Bibel)]]}}}} 12{{#if:21|,21}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Das wahre Antlitz des Erbarmens muss sich immer neu enthüllen. Unsere Zeit bedarf seiner, trotz vielfacher Vorurteile, ganz besonders.
V. DAS PASCHAMYSTERIUM
7. Das Erbarmen wird in Kreuz und Auferstehung offenbar
Die messianische Verkündigung Christi und sein Wirken unter den Menschen finden ihren Abschluss in Kreuz und Auferstehung. Wir müssen tief in dieses letzte Geschehen eindringen - das vor allem in der Sprache des Konzils das Paschamysterium genannt wird - , wenn wir der Wahrheit vom Erbarmen, wie sie in der Geschichte unseres Heils geoffenbart wurde, entsprechen wollen. An diesem Punkt unserer Überlegungen ist es angebracht, uns noch eingehender dem Inhalt der Enzyklika Redemptor Hominis zuzuwenden. Denn wenn auch die Wirklichkeit der Erlösung in ihrer menschlichen Dimension die unerhörte Größe des Menschen enthüllt, qui talem ac tantum meruit habere Redemptorem,<ref>..., »dem ein solcher, so großer Erlöser beschieden war«. Vgl Liturgie der Osternacht: »Exsultet«.</ref> so erlaubt uns doch die göttliche Dimension der Erlösung, auf eine sozusagen unüberbietbar empirische und »historische« Weise zugleich die Tiefe jener Liebe zu enthüllen, die nicht einmal vor dem außerordentlichen Opfer des Sohnes zurückweicht, um der Treue des Schöpfers und Vaters zu den Menschen gerecht zu werden, die nach seinem Bild geschaffen und vom »Anfang« an in diesem Sohn zur Gnade und Herrlichkeit berufen sind.
Die Ereignisse des Karfreitags und noch vorher das Gebet in Getsemani stellen im Verlauf der Offenbarung der Liebe und des Erbarmens in der messianischen Sendung Christi einen radikalen Umschwung dar. Er, der »umherzog, Gutes zu tun«<ref>{{#ifeq: Apostelgeschichte | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Apg|Apg|Apostelgeschichte}}|{{#if: Apg |Apg|Apostelgeschichte}}}} 10{{#if:38|,38}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> und »alle Krankheiten und Leiden zu heilen«,<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Matthäus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Mt|Mt|Evangelium nach Matthäus}}|{{#if: Mt |Mt|Evangelium nach Matthäus}}}} 9{{#if:35|,35}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> scheint jetzt selbst das größte Erbarmen zu verdienen und das Erbarmen anzurufen, während er gefangengenommen, beschimpft, verurteilt, gegeißelt, mit Dornen gekrönt und ans Kreuz genagelt wird, wo er unter unbeschreiblichen Qualen seinen Geist aufgibt.<ref>Vgl. {{#ifeq: Evangelium nach Markus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Mk|Mk|Evangelium nach Markus}}|{{#if: Mk |Mk|Evangelium nach Markus}}}} 15{{#if:37|,37}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Evangelium nach Johannes | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Joh|Joh|Evangelium nach Johannes}}|{{#if: Joh |Joh|Evangelium nach Johannes}}}} 19{{#if:30|,30}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Gerade in diesen Stunden würde er ganz besonders das Erbarmen der Menschen, denen er Gutes erwiesen hat, verdienen, und es wird ihm nicht zuteil. Nicht einmal jenen, die ihm am nächsten sind, gelingt es, ihn zu beschützen und den Händen seiner Verfolger zu entreißen. In diesem letzten Abschnitt seines messianischen Dienstes erfüllen sich an Christus die Worte der Propheten, vor allem die Weissagungen Jesajas über den Gottesknecht: »Durch seine Wunden sind wir geheilt«<ref>{{#ifeq: Jesaja | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Jes|Jes|Jesaja}}|{{#if: Jes |Jes|Jesaja}}}} 53{{#if:5|,5}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref>
Christus wendet sich als Mensch, der im Ölgarten und auf Golgota wirklich und auf entsetzliche Art leidet, an den Vater, an jenen Vater, dessen Liebe er den Menschen verkündet und dessen Erbarmen er mit all seinem Tun bezeugt hat. Gerade ihm bleibt jedoch das furchtbare Erleiden des Todes am Kreuz nicht erspart: »Den, der keine Sünde kannte, hat (Gott) für uns zur Sünde gemacht«,<ref>{{#ifeq: 2. Brief des Paulus an die Korinther | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: 2 Kor|2 Kor|2. Brief des Paulus an die Korinther}}|{{#if: 2 Kor |2 Kor|2. Brief des Paulus an die Korinther}}}} 5{{#if:21|,21}} Kor%205{{#if:21|,21}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Kor%205{{#if:21|,21}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> wird später der heilige Paulus schreiben und so die ganze Tiefe des Kreuzesgeheimnisses und die göttliche Dimension der Erlösungswirklichkeit in wenigen Worten zusammenfassen. Gerade diese Erlösung ist die letzte und endgültige Offenbarung der Heiligkeit Gottes, der die absolute Fülle der Vollkommenheit ist: Fülle der Gerechtigkeit und der Liebe, weil die Gerechtigkeit auf der Liebe gründet, von ihr ausgeht und ihr zustrebt. Im Leiden und Tod Christi - in der Tatsache, dass der Vater seinen Sohn nicht verschonte, sondern ihn »für uns zur Sünde gemacht hat«<ref>Ebd.</ref> - kommt die absolute Gerechtigkeit zum Ausdruck, insofern wegen der Sünden der Menschheit Christus Leiden und Kreuz erduldet. Das ist geradezu ein »Übermaß« der Gerechtigkeit, denn die Sünde des Menschen wird »aufgewogen« durch das Opfer des Gott - Menschen. Diese Gerechtigkeit wahrhaft göttlichen »Maßes« entspringt ganz der Liebe, der Liebe des Vaters und des Sohnes, und bringt von ihrem Wesen her Früchte in der Liebe. Diese göttliche Gerechtigkeit, wie sie das Kreuz Christi offenbart, ist eben insofern »nach dem Maße« Gottes, als sie Ursprung und Erfüllung in der Liebe hat und Früchte des Heils hervorbringt. Die göttliche Dimension der Ertösung beschränkt sich nicht auf das Gericht über die Sünde, sondern sie erneuert in der Liebe jene schöpferische Kraft im Menschen, die ihm wieder die von Gott kommende Fülle des Lebens und der Heiligkeit zugänglich macht. Auf diese Weise beinhaltet die Erlösung die Offenbarung des Erbarmens in seiner Vollendung.
Das Paschamysterium ist der Gipfelpunkt der Offenbarung und Verwirklichung des Erbarmens, das den Menschen zu rechtfertigen und die Gerechtigkeit wiederherzustellen vermag im Sinne der Heilsordnung, die Gott vom Anbeginn her im Menschen und durch ihn in der Welt wollte. Der leidende Christus spricht den Menschen, und nicht nur den Gläubigen, besonders an. Auch der Ungläubige kann in ihm die überzeugende Solidarität mit dem Schicksal des Menschen sowie die harmonische Vollendung einer selbstlosen Hingabe an die Sache des Menschen, an die Wahrheit und Liebe entdecken. Die göttliche Dimension des Paschageheimnisses reicht jedoch noch tiefer. Das auf Golgota errichtete Kreuz, an dem Christus sein letztes Zwiegespräch mit dem Vater führt, erwächst aus dem innersten Kern jener Liebe, die dem nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffenen Menschen gemäß dem ewigen Plan Gottes geschenkt worden ist. Gott, wie Christus ihn geoffenbart hat, bleibt nicht nur als Schöpfer und letzter Seinsgrund in enger Verbindung mit der Welt. Er ist auch Vater: mit dem Menschen, den er in der sichtbaren Welt ins Dasein gerufen hat, verbinden ihn Bande, welche die des Erschaffens an Tiefe übertreffen. Es sind dies die Bande der Liebe, die nicht nur das Gute hervorbringt, sondern am Leben Gottes selbst, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, teilhaben lässt. Wer liebt, den drängt es ja, sich selbst zum Geschenk zu machen.
Das Kreuz Christi auf Golgota steht am Weg jenes admirabile commercium, jener wunderbaren Selbstmitteilung Gottes an den Menschen, die zugleich die Einladung an den Menschen in sich schließt, sich und mit sich die ganze sichtbare Welt Gott hinzugeben und so an seinem Leben teilzuhaben; als angenommener Sohn der Wahrheit und Liebe in Gott und aus Gott teilhaft zu werden. Am Weg der ewigen Erwählung des Menschen zur Würde eines angenommenen Sohnes Gottes steht in der Geschichte das Kreuz Christi, des eingeborenen Sohnes, der als »Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott«<ref>Nizänisch-konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis.</ref> gekommen ist, um ein letztes Zeugnis abzulegen für den wunderbaren Bund Gottes mit der Menschheit, Gottes mit dem Menschen - mit jedem Menschen. Dieser Bund, der so alt ist wie der Mensch und auf das Geheimnis der Erschaffung selbst zurückgeht, der mehrmals mit dem einen auserwählten Volk erneuert wurde, ist gleichermaßen der neue und endgültige Bund, der auf Golgota geschlossen wurde und nicht auf ein einziges Volk, auf Israel, beschränkt ist, sondern allen und einem jeden offensteht.
Was sagt uns also das Kreuz Christi, welches in einem bestimmten Sinn das letzte Wort seiner Botschaft und Mission als Messias ist? Und doch ist es nicht das letzte Wort des Bundes - Gottes dieses wird im Morgengrauen jenes Tages gesprochen, an dem zunächst die Frauen und dann die Apostel zum Grab des gekreuzigten Herrn kommen, es leer vorfinden und zum ersten Mal vernehmen: »Er ist auferstanden!«. Sie werden es weitersagen und Zeugen des Auferstandenen sein. Dennoch ist auch in dieser Verherrlichung des Sohnes Gottes das Kreuz weiterhin gegenwärtig, welches - durch das gesamte messianische Zeugnis des Menschen-Sohnes, der an ihm den Tod erlitten hat - unaufhörlich vom göttlichen Vater spricht, der seiner ewigen Liebe zum Menschen unverbrüchlich treu bleibt, der »die Welt so sehr geliebt hat« - und somit den Menschen in ihr - , »dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat«.<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Johannes | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Joh|Joh|Evangelium nach Johannes}}|{{#if: Joh |Joh|Evangelium nach Johannes}}}} 3{{#if:16|,16}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> An den gekreuzigten Sohn glauben, heißt »den Vater sehen«,<ref>Vgl. {{#ifeq: Evangelium nach Johannes | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Joh|Joh|Evangelium nach Johannes}}|{{#if: Joh |Joh|Evangelium nach Johannes}}}} 14{{#if:9|,9}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> heißt glauben, dass die Liebe in der Welt gegenwärtig ist und dass sie mächtiger ist als jedwedes Übel, in das der Mensch, die Menschheit, die Welt verstrickt sind. An diese Liebe glauben, heißt, an das Erbarmen glauben. Dieses ist ja die unerlässliche Dimension der Liebe, ist sozusagen ihr zweiter Name und zugleich die spezifische Art, wie sie sich zeigt und vollzieht angesichts der Wirklichkeit des Übels in der Welt, das den Menschen trifft und bedrängt, sich auch in sein Herz einschleicht und ihn »ins Verderben der Hölle stürzen kann«.<ref>{{#ifeq: Evangelium nach Matthäus | Dives in misericordia (Wortlaut) |{{#if: Mt|Mt|Evangelium nach Matthäus}}|{{#if: Mt |Mt|Evangelium nach Matthäus}}}} 10{{#if:28|,28}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref>
[Fortsetzung folgt]
Anmerkungen
<references />