Totum amoris est

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28. Dezember 2022
Totum amoris est

von Papst
Franziskus
28. Dezember 2022
anlässlich des 400. Todestages des heiligen Franz von Sales

(Quelle: Vatikanseite- ohne Anmerkungen).
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


 

»Alles gehört der Liebe«. [1] In diesen seinen Worten können wir das geistliche Erbe des heiligen Franz von Sales zusammenfassen, der vor vierhundert Jahren, am 28. Dezember 1622, in Lyon verstarb. Er war etwas über fünfzig Jahre alt und seit zwanzig Jahren Bischof und „verbannter“ Fürst von Genf. Er war im Anschluss an seinen letzten diplomatischen Auftrag nach Lyon gekommen. Der Herzog von Savoyen hatte ihn gebeten, Kardinal Moritz von Savoyen nach Avignon zu begleiten. Gemeinsam sollten sie dem jungen König Ludwig XIII. die Ehre erweisen, der sich nach einem siegreichen Feldzug in Südfrankreich auf dem Rückweg nach Paris über das Rhonetal befand. Der müde und gesundheitlich angeschlagene Franz hatte seine Reise lediglich aus einem Geist des Dienens angetreten. »Wenn es zu Ihrem Dienst nicht sehr nützlich wäre, dass ich diese Reise unternehme, hätte ich sicherlich viele gute und handfeste Gründe, darauf zu verzichten; aber wenn es Ihnen zu Diensten ist, werde ich mich, tot oder lebendig, nicht verweigern, sondern ich werde selber gehen oder mich tragen lassen«. [2] Dies war sein Temperament. Als er schließlich in Lyon ankam, nahm er im Kloster der Visitantinnen im Gärtnerhaus Quartier, um nicht zu viel Unruhe zu stiften und zugleich, um freier zu sein, jeden zu treffen, der es wünschte.

Schon seit geraumer Zeit beeindruckten ihn die »schwächlichen Größen des Hoflebens« [3] nicht mehr und so verbrachte er auch seine letzten Tage damit, sein Hirtenamt in einer Abfolge von Terminen auszuüben: Beichten, Gespräche, Vorträge, Predigten und die letzten, nie ausbleibenden Briefe geistlicher Freundschaft. Der tiefe Grund für diesen ganz von Gott erfüllten Lebensstil war ihm im Laufe der Zeit immer klarer geworden, und er hatte ihn in seiner berühmten Abhandlung über die Gottesliebe einfach und präzise formuliert: »Sobald der Mensch ein wenig aufmerksam an Gott denkt, fühlt sein Herz eine gewisse beglückende Erregung, was beweist, dass Gott der Gott des menschlichen Herzens ist«. [4] Dies ist die Synthese seines Denkens. Die Gotteserfahrung ist eine Erkenntnis des menschlichen Herzens. Es handelt sich nicht um ein Gedankenkonstrukt, sondern um ein Erkennen voller Staunen und Dankbarkeit, das aus der Offenbarung Gottes resultiert. Im Herzen und durch das Herz findet jener feine und intensive Prozess statt, durch den der Mensch Gott und zugleich sich selbst erkennt, den eigenen Ursprung und die eigene Tiefe, die eigene Erfüllung im Ruf zur Liebe. Er entdeckt, dass der Glaube keine blinde Bewegung ist, sondern in erster Linie eine Haltung des Herzens. Durch ihn vertraut sich der Mensch einer Wahrheit an, die seinem Gewissen wie eine „sanfte Gemütsbewegung“ erscheint, die in der Lage ist, ein entsprechendes und unabdingbares „Wohl-Wollen“ für jede geschaffene Wirklichkeit zu wecken, wie er gern sagte.

So betrachtet versteht man, dass es für den heiligen Franz von Sales keinen besseren Ort gab, um Gott zu finden und anderen bei der Suche nach ihm zu helfen, als im Herzen einer jeder Frau und eines jeden Mannes seiner Zeit. Er hatte dies gelernt, indem er sich selbst von frühester Jugend an mit großer Aufmerksamkeit beobachtete und das menschliche Herz ergründete.

Mit dem innigen Gefühl eines von Gott durchdrungenen Alltags hatte er bei der letzten Begegnung in jenen Tagen in Lyon seinen Visitantinnen den Satz hinterlassen, mit dem er in ihnen die Erinnerung an ihn künftig zu besiegeln wünschte: »Mit den beiden Worten: Nichts verlangen – nichts abschlagen, habe ich euch alles gesagt«. [5] Damit ist jedoch nicht eine Übung des reinen Voluntarismus gemeint, »ein Wille ohne Demut«, [6] jene subtile Versuchung auf dem Weg zur Heiligkeit, die diese mit der Rechtfertigung aus eigenen Kräften verwechselt, mit der Überhöhung des menschlichen Willens und des eigenen Könnens, »das […] sich in eine egozentrische und elitäre Selbstgefälligkeit, ohne wahre Liebe« [7] übersetzt. Ebenso wenig handelte es sich dabei um einen reinen Quietismus, ein passives unbeteiligtes Befolgen einer Lehre ohne Fleisch und ohne Geschichte. [8] Dieser oben genannte Satz kam vielmehr aus der Betrachtung des Lebens des menschgewordenen Sohnes Gottes. Es war am 26. Dezember und der Heilige sprach zu den Schwestern, die gerade das Weihnachtsgeheimnis begingen: »Schaut auf das Jesulein in der Krippe. Es erträgt Ungemach und Kälte und alles, was der himmlische Vater zulässt. Es weist aber auch die kleinen Erleichterungen, die seine Mutter ihm verschafft, nicht ab. Haben wir je gelesen, dass es seine Händchen nach der Mutterbrust verlangend ausgestreckt? Alles hat es der Sorge und Fürsorge seiner Mutter überlassen. Auch wir sollen nichts verlangen – nichts abschlagen, sondern alles, was Gott schickt, annehmen, Ungemach und Kälte«. [9] Es bewegt, wie bedacht er darauf ist, die Sorge um das Menschliche als unerlässlich anzuerkennen. In der Schule der Menschwerdung hatte er also gelernt, die Geschichte zu verstehen und sich vertrauensvoll auf sie einzulassen.

Das Kriterium der Liebe

Durch die Erfahrung hatte er die Sehnsucht als die Wurzel eines jeden wahren geistlichen Lebens und zugleich als den Ort seiner Verfälschung erkannt. Aus diesem Grund hatte er, der stark aus der geistlichen Tradition schöpfte, die ihm vorausgegangen war, verstanden, wie wichtig es ist, das Verlangen in einer ständigen Unterscheidungsübung unaufhörlich zu prüfen. Das entscheidende Kriterium für seine Bewertung hatte er in der Liebe gefunden. Bei eben jenem letzten Besuch in Lyon, am Stephanstag, zwei Tage vor seinem Tod, sagte er: »Wie ich schon vorhin sagte, nicht die Größe der Arbeit ist es, die Gottes Wohlgefallen erregt, sondern die Liebe, mit der wir sie ausführen […] Ich gehe noch einen Schritt weiter: Ein Mensch erduldet mit einer Unze Liebe den Martertod für Gott. Gewiss, ein großes Verdienst, denn niemand kann mehr geben als sein Leben. Ein anderer Mensch erträgt einen Nasenstüber mit zwei Unzen Liebe. Er hat viel mehr Verdienst, denn die Liebe gibt den Dingen ihren Wert«. [10]

Überraschend konkret beschreibt er im weiteren Verlauf das schwierige Verhältnis zwischen Kontemplation und Aktion: »Ihr wisst, dass das beschauliche Leben wertvoller ist als das tätige Leben. Ist aber im tätigen Leben eine innigere Vereinigung mit Gott vorhanden, dann ist es kostbarer als das beschauliche. Eine Küchenschwester steht bei den Kochtöpfen am offenen Feuer; sie liebt Gott inniger und tiefer als eine andere, die sich der Beschauung hingibt. Das materielle Feuer schadet nicht ihrer Liebe, ja es hilft ihr im Gegenteil, Gott noch wohlgefälliger zu sein. Es ist gar nicht so selten, dass man bei einer Arbeit mit Gott ebenso vereint ist wie in der Einsamkeit. Ich kann nur immer wieder das eine sagen: Wo mehr Liebe, da mehr Vollkommenheit«. [11] Das ist die eigentliche Frage, die jede nutzlose Starre oder Selbstbezogenheit schwungvoll überwindet: sich in jedem Moment, bei jeder Entscheidung, in jeder Lebenslage zu fragen, wo sich die größere Liebe findet. Es ist kein Zufall, dass der heilige Franz von Sales von Johannes Paul II. »Lehrer der göttlichen Liebe« [12] genannt worden ist, nicht nur, weil er eine große Abhandlung darüber geschrieben hat, sondern vor allem, weil er ihr Zeuge gewesen ist. Andererseits können auch seine Schriften nicht als eine am grünen Tisch verfasste Theorie betrachtet werden, weit entfernt von den Sorgen der einfachen Menschen. Seine Lehre ist vielmehr aus einem aufmerksamen Hören auf die Erfahrung hervorgegangen. Er hat lediglich das in eine Lehre umgewandelt, was er mit Scharfsinn und vom Geist erleuchtet in seinem einzigartigen und innovativen pastoralen Wirken gelebt und verstanden hat. Eine Synthese dieser Vorgehensweise findet sich im Vorwort derselben Abhandlung über die Gottesliebe: »Alles gehört der Liebe, alles liegt in der Liebe, alles ist für die Liebe, alles ist aus Liebe in der heiligen Kirche«. [13]

Die Jahre der ersten Prägung: das Abenteuer, sich in Gott zu erkennen

Franz wurde am 21. August 1567 im Schloss von Sales in der Nähe von Thorens als Sohn von François de Nouvelles, des Herren von Boisy, und Françoise de Sionnaz geboren. »Sein Leben spielte sich im Übergang zwischen zwei Jahrhunderten ab, dem 16. und dem 17., er nahm das Beste der Lehren und kulturellen Errungenschaften des ausgehenden Jahrhunderts in sich auf und versöhnte das humanistische Erbe mit dem Streben nach dem Absoluten, das den mystischen Strömungen zu eigen war«. [14]

Nach der anfänglichen kulturellen Bildung, zunächst am Kolleg von La Roche-sur-Foron und dann an jenem von Annecy, kam er nach Paris an das neu gegründete Jesuitenkolleg Clermont. In der Hauptstadt des durch die Religionskriege verwüsteten Königreichs Frankreich erlebte er ganz aus der Nähe das Drama zweier aufeinander folgender tiefer innerer Krisen, die sein Leben unauslöschlich prägen sollten. Jenes inbrünstige Gebet in der Kirche St. Étienne-des-Grès vor der Schwarzen Madonna von Paris entzündete in seinem Herzen inmitten der Dunkelheit eine Flamme, die für immer in ihm lebendig bleiben sollte als Schlüssel für das Verständnis seiner eigenen Erfahrung und der anderer. »Was auch kommen mag, Herr, in dessen Hand alles gelegt ist und dessen Wege alle Gerechtigkeit und Wahrheit sind, […] ich will dich wenigstens in diesem Leben lieben […] ich werde immer auf deine Barmherzigkeit hoffen und werde stets dein Lob vermehren. […] Herr Jesus, du wirst immer meine Hoffnung und mein Heil im Land der Lebenden sein«. [15]

So hatte er es in seinem Heft aufgezeichnet und wieder zur Ruhe gefunden. Diese Erfahrung wird mit ihren Beunruhigungen und Fragen für ihn immer erleuchtend bleiben und ihm einen einzigartigen Zugang zum Geheimnis der Beziehung Gottes zum Menschen eröffnen. Dies wird ihm helfen, dem Leben der anderen zuzuhören und mit feinem Unterscheidungssinn die innere Haltung zu erkennen, die das Denken mit dem Fühlen verbindet und die Vernunft mit den Affekten und die den „Gott des menschlichen Herzens“ beim Namen nennt. Auf diese Weise lief Franz nicht Gefahr, seiner persönlichen Erfahrung einen theoretischen Wert beizumessen und sie zu verabsolutieren; aber etwas Außergewöhnliches, eine Frucht der Gnade wurde ihm zuteil: Er hatte gelernt, in Gott seine eigenen Erfahrungen und die der anderen zu verstehen.

Obwohl er nie den Anspruch erhob, ein echtes theologisches System zu entwickeln, war seine Reflexion über das geistliche Leben unbestreitbar von herausragendem theologischen Wert. Bei ihm treten die wesentlichen Züge des Theologietreibens hervor, bei dem zwei Dimensionen nie vergessen werden dürfen. Die erste ist das geistliche Leben, denn nur im demütigen und beständigen Gebet, in der Offenheit für den Heiligen Geist, kann man das Wort Gottes verstehen und zum Ausdruck bringen. Theologe wird man im Schmelztiegel des Gebets! Die zweite Dimension ist das kirchliche Leben: in der Kirche und mit der Kirche fühlen. Auch die Theologie hat unter der individualistischen Kultur gelitten, aber der christliche Theologe erarbeitet seine Gedanken, indem er in die Gemeinschaft eingebettet ist und in ihr das Brot des Wortes bricht. [16] Das Denken des Franz von Sales geht aus genau diesen beiden konstitutiven Zügen hervor, am Rand der Kontoversen damaliger theologischer Schulen, aber mit großem Respekt vor ihnen.

Die Entdeckung einer neuen Welt

Nach Abschluss seiner humanistischen Studien widmete er sich der Rechtswissenschaft an der Universität Padua. Bei seiner Rückkehr nach Annecy hatte er trotz des Widerstands seines Vaters bereits seine grundsätzliche Lebensentscheidung getroffen. Am 18. Dezember 1593 wurde er zum Priester geweiht, und Anfang September des darauffolgenden Jahres wurde er auf Einladung des Bischofs Claude de Granier zu einer schwierigen Mission im Chablais berufen, einem zur Diözese Annecy gehörenden Gebiet calvinistischen Bekenntnisses, das im Wirrwarr von Kriegen und Friedensverträgen erneut unter die Kontrolle des Herzogtums Savoyen geraten war. Es waren dichte und dramatische Jahre. Hier entdeckte er neben mancher starren Unnachgiebigkeit, die ihm später zu denken geben sollte, seine Gaben als Vermittler und Mann des Dialogs. Er erwies sich auch als Erfinder neuer und gewagter pastoraler Methoden, wie die berühmten „Flugblätter“, die überall aufgehängt und sogar unter den Haustüren hindurchgeschoben wurden.

Im Jahr 1602 kehrte er nach Paris zurück, um im Auftrag von Granier und auf genaue Anweisung des Apostolischen Stuhls eine heikle diplomatische Mission zu erfüllen, nachdem sich die politisch-religiösen Verhältnisse im Gebiet des Bistums Genf zum wiederholten Mal geändert hatten. Trotz der guten Absichten des Königs von Frankreich scheiterte die Mission. Er selbst schrieb an Papst Clemens VIII.: »So war ich gezwungen, nach vollen neun Monaten zurückzukehren, und habe kaum etwas erreicht«. [17] Dennoch erwies sich diese Mission für ihn und für die Kirche als ein unerwarteter Reichtum in menschlicher, kultureller und religiöser Hinsicht. In der freien Zeit, die die diplomatischen Verhandlungen zuließen, predigte Franz in Gegenwart des Königs und des französischen Hofes, knüpfte wichtige Beziehungen und tauchte vor allem ganz und gar in den geistlichen und kulturellen Aufschwung der modernen Hauptstadt des Königreichs ein.

Dort hatte sich alles verändert und war dabei, sich weiter zu verändern. Er selbst ließ sich berühren und hinterfragen von den großen Problemen, die in der Welt auftauchten, von der neuen Art, sie zu betrachten, und von der überraschenden spirituellen Suche, die entstanden war, sowie von den noch nie dagewesenen Fragen, die sich daraus ergaben. Kurzum, er erkannte diesen wirklichen „Epochenübergang“, auf den man notwendigerweise in alter und neuer Sprache antworten musste. Es war sicher nicht das erste Mal, dass er glühenden Christen begegnete, aber es ging hier um etwas anderes. Das war nicht das von den Religionskriegen verwüstete Paris, das er während seiner Ausbildungsjahre gesehen hatte, und auch nicht der erbitterte, in den Gebieten des Chablais geführte Kampf. Es war eine unerwartete Wirklichkeit: Eine Menge »von Heiligen, von wahren Heiligen, zahlreich und überall«. [18] Da gab es Menschen von Kultur, Sorbonne-Professoren, Vertreter der Institutionen, Prinzen und Prinzessinnen, Diener und Dienerinnen, Ordensmänner und Ordensfrauen. Eine auf vielfältige Weise nach Gott dürstende Welt.

Diesen Personen zu begegnen und ihre Fragen zu erkennen, war eine der bedeutendsten Fügungen seines Lebens. Scheinbar nutzlose und erfolglose Tage wurden auf diese Weise zu einer unvergleichlichen Schule, um die Stimmungen der Zeit verstehen zu lernen, ohne sich ihnen anzubiedern. Der geschickte und unermüdliche Streiter verwandelte sich durch die Gnade in einen feinsinnigen Interpreten der Zeit und außergewöhnlichen Seelenführer. Sein pastorales Wirken, seine großen Werke (die Anleitung zum geistlichen Leben und die Abhandlung über die Gottesliebe), die Tausende von Briefen geistlicher Freundschaft, die daraus hervorgehen sollten und innerhalb wie außerhalb von Klostermauern an Mönche und Nonnen, an Hofherren und -damen sowie an einfache Menschen geschickt wurden, die Begegnung mit Johanna Franziska von Chantal und selbst die Gründung des Ordens von der Heimsuchung Mariens im Jahr 1610 würden ohne diese innere Wende unverständlich bleiben. Evangelium und Kultur gingen also eine fruchtbare Verbindung ein, aus der die Eingebung einer wirklichen Methode hervorging, die zur Reife gelangt war und eine nachhaltige und reiche Ernte versprach.

In einem der allerersten Briefe der geistlichen Begleitung und Freundschaft, den er an eine der Gemeinschaften schickte, die er in Paris besucht hatte, spricht Franz von Sales, wenn auch mit tiefer Demut, von „seiner Methode“, die sich von anderen unterscheidet, im Hinblick auf eine echte Reform. Es ist eine Methode, die auf Härte verzichtet und ganz und gar auf die Würde und die Fähigkeit einer frommen Seele baut, trotz ihrer Schwächen: »Ich frage mich, ob es nicht noch ein anderes Hindernis für Eure Reform gibt. Vielleicht haben jene, die diese Reform vorgeschlagen haben, die Wunde zu rauh aufgerissen. […] Ich lobe ihre Methode, wenn sie auch nicht die meine ist, vor allem nicht bei Seelen mit guter Verfassung, wie Ihr es seid. Ich glaube, dass es besser ist, Euch einfach das Übel zu zeigen und Euch dann das glühende Eisen in die Hand zu drücken, damit Ihr selbst das Übel ausbrennt. Jedenfalls soll Euch das nicht von einer Reform abhalten«. [19] In diesen Worten scheint jene Sichtweise durch, die den salesianischen Optimismus berühmt gemacht und in der Geschichte der Spiritualität ihren nachhaltigen Abdruck hinterlassen hat, um dann immer wieder zur Blüte zu gelangen, wie zweihundert Jahre später im Fall von Don Bosco.

Wieder zurück in Annecy wurde er am 8. Dezember desselben Jahres 1602 zum Bischof geweiht. Der Einfluss seines bischöflichen Dienstes auf das damalige Europa und die folgenden Jahrhunderte scheint immens gewesen zu sein. »Er ist Apostel, Prediger, Schriftsteller, Mann der Tat und des Gebets; darum bemüht, die Ideale des Konzils von Trient umzusetzen; beteiligt an der Auseinandersetzung und am Dialog mit den Protestanten, wobei er jenseits der notwendigen theologischen Diskussion immer mehr die Wirkkraft der persönlichen Beziehung und der Liebe erfährt. Er war auch mit diplomatischen Missionen auf europäischer Ebene sowie mit sozialen Aufgaben zur Vermittlung und zur Versöhnung betraut«. [20] Vor allem ist er ein Interpret des Epochenwechsels und Seelenführer in einer Zeit, die auf neue Art nach Gott dürstet.

Die Liebe tut alles für ihre Kinder

Um 1620/1621, also bereits gegen Ende seines Lebens, richtete Franz an einen Priester seiner Diözese Worte, die seine Sicht auf die damalige Zeit erhellen können. Er ermutigte ihn, seinem Wunsch zu folgen und sich der Abfassung neuartiger Texte zu widmen, welche in der Lage waren, die neuen Fragen aufzugreifen und deren Notwendigkeit zu erkennen. »Aber, mein Gott, ich muss Ihnen sagen, die Erkenntnis der Launen der Welt lässt mich leidenschaftlich wünschen, die göttliche Güte möge irgendeinen ihrer Diener anregen, nach dem Geschmack dieser armseligen Welt zu schreiben«. [21] Der Grund für diese Ermutigung lag in seiner eigenen Sicht auf die Zeit: »Die Welt ist so empfindlich, dass man sie künftig nur mit parfümierten Handschuhen anzufassen wagen darf, ihre Wunden nur mit Zibethpflaster verbinden. Was aber wichtig ist: Warum sollen die Menschen geheilt und wozu sollen sie gerettet werden? Unsere Königin, die Liebe, tut alles für ihre Kinder«. [22] Diese Einstellung ist nicht selbstverständlich und auch keine endgültige Kapitulation angesichts einer Niederlage. Es war vielmehr die Einsicht eines sich vollziehenden Wandels und der ganz evangeliumsgemäßen Notwendigkeit, zu verstehen, wie man ihn gestalten kann.

Im Übrigen hatte er dasselbe Bewusstsein zur Reife und zum Ausdruck gebracht, als er im Vorwort der Abhandlung über die Gottesliebe einführend schrieb: »Natürlich berücksichtigte ich die Geistesverfassung unserer Zeit. Ich musste es tun; es ist sehr wichtig zu wissen, in welcher Zeit man schreibt«. [23] Um das Wohlwollen des Lesers bittend beteuerte er dann: »Findest du den Stil dieser Schrift verschieden von dem der „Philothea“ und fällt es dir auf, dass beide Schriften abweichen von der Art, in der die „Verteidigung der Kreuzesfahne“ abgefasst ist, so bedenke, dass man in 19 Jahren vieles lernt und verlernt, dass die Sprache des Krieges anders ist als die des Friedens und dass man anders mit Anfängern als mit alten Gefährten spricht«. [24] Doch wo soll man angesichts dieses Wandels anfangen? Nicht weit entfernt von eben der Geschichte Gottes mit den Menschen. Daraus ergibt sich die eigentliche Absicht seiner Abhandlung: »Ich habe nur daran gedacht, einfach und schlicht, ungekünstelt und ungeschminkt die Geschichte der Entstehung, des Fortschritts und Verfalls der göttlichen Liebe, ihrer Werke, Eigenschaften, Vorzüge und Erhabenheit zu beschreiben«. [25]

Die Fragen eines Epochenübergangs

Anlässlich seines vierhundertsten Todestages habe ich mir Gedanken über Franz von Sales’ Vermächtnis für unsere Zeit gemacht und dabei seine Flexibilität und seine Fähigkeit, Visionen zu entwickeln, als erhellend empfunden. Teilweise als Geschenk Gottes, teilweise als Ergebnis seiner persönlichen Natur und auch als Ergebnis seiner beständigen Achtsamkeit für das Erlebte, hatte er den Wandel der Zeiten klar wahrgenommen. Er selbst hätte nie gedacht, darin eine solche Gelegenheit zum Verkünden des Evangeliums erkennen zu können. Das Wort Gottes, das er von Jugend an geliebt hatte, war in der Lage, sich seinen Weg zu bahnen und neue, unvorstellbare Horizonte in einer Welt zu eröffnen, die sich in einem raschen Wandel befand.

Das ist es, was uns als wesentliche Aufgabe auch in diesem unserem Epochenübergang erwartet: eine nicht selbstbezogene Kirche, frei von jeder Verweltlichung, aber in der Lage, sich in der Welt zurechtzufinden, das Leben der Menschen zu teilen, gemeinsam unterwegs zu sein, zuzuhören und aufzunehmen. [26] Das hat Franz von Sales getan, indem er mit Hilfe der Gnade seine Zeit verstand. So lädt er uns ein, Abstand zu nehmen von einer übermäßigen Sorge um uns selbst, um die Strukturen, um das gesellschaftliche Erscheinungsbild und uns vielmehr zu fragen, welches die konkreten Bedürfnisse und die geistlichen Erwartungen unseres Volkes sind. [27] Daher ist es auch heute wichtig, einige seiner grundlegenden Entscheidungen erneut zu bedenken, um den Wandel mit der Weisheit des Evangeliums zu durchdringen.

Die Brise und die Flügel

Die erste dieser Entscheidungen bestand darin, die glückliche Beziehung zwischen Gott und dem Menschen erneut zu betrachten und einem jeden in seiner besonderen Situation noch einmal anzutragen. Letztlich ist der eigentliche Grund und das konkrete Anliegen seiner Abhandlung ja gerade, seinen Zeitgenossen die Faszination der Gottesliebe zu verdeutlichen. »Welches sind nun die Bande, womit die göttliche Vorsehung unsere Herzen gewöhnlich an sich zieht?«. [28] Ausgehend von der Bibelstelle Hosea 11,4 [29] definiert er diese gewöhnlichen Mittel als »menschliche Bande« und »Fesseln der Liebe und Freundschaft«. »Gewiss, […] Gott zieht uns nicht mit eisernen Fesseln an sich wie Stiere oder Büffel, sondern er wirbt um uns, er lockt uns liebevoll an sich durch zarte und heilige Einsprechungen. Das sind Bande Adams und der Menschlichkeit, sie entsprechen der Beschaffenheit des menschlichen Herzens, das von Natur aus frei ist«. [30] Durch diese Bande hat Gott sein Volk aus der Sklaverei befreit, indem er es lehrte, zu gehen, und indem er es an der Hand hielt, wie es ein Vater oder eine Mutter mit dem eigenen Kind tut. Kein äußerer Zwang also, keine despotische und willkürliche Macht, keine Gewalt. Vielmehr die überzeugende Form einer Einladung, die die Freiheit des Menschen nicht anrührt. »Die Gnade«, fährt er fort und denkt dabei sicher an zahllose Lebensgeschichten, denen er begegnet ist, »besitzt Kräfte, nicht um von unseren Herzen etwas zu erzwingen, sondern um sie liebevoll anzulocken. Ihr wohnt heilige Gewalt inne, uns nicht zu vergewaltigen, sondern unsere Freiheit zu einer liebenden zu gestalten. Sie wirkt kraftvoll, aber zugleich so mild, dass unser Wille unter ihrer so machtvollen Tätigkeit nicht erdrückt wird. Sie drängt uns, unterdrückt aber nicht unser freies Handeln, so dass wir, bei all ihrem kraftvollen Wirken, ihren Regungen zustimmen oder widerstehen können, wie es uns gefällt«. [31]

Zuvor hatte er diese Beziehung mithilfe des kuriosen Beispiels des „Apodus“ beschrieben: »Aristoteles spricht (Hist. an. 1,1) von gewissen Vögeln, er nennt sie „Apoden“ oder „Fußlose“, deren Beine so kurz und deren Füße so schwach sind, dass sie sich ihrer nicht bedienen können; es ist, wie wenn sie überhaupt keine hätten. Sinken diese Vögel einmal zur Erde herab, so bleiben sie dort wie gefangen liegen und sind nicht imstande, sich zum Flug zu erheben. Da sie Beine und Füße nicht gebrauchen können, vermögen sie sich nicht in die Luft zu erheben. Sie kauern am Boden und gehen zugrunde, falls nicht ein günstiger Wind ihrem Unvermögen zu Hilfe kommt, sie erfasst und in die Luft hinaufwirbelt, wie er es auch sonst noch mit anderem macht. Wenn sie dann dem Antrieb und dem Schwung, den ihnen der Wind gibt, entsprechen und ihre Flügel gebrauchen, dann hilft ihnen der Wind noch weiter und treibt sie immer mehr zum Flug voran«. [32] So ist der Mensch: Von Gott zum Fliegen und zur Entfaltung seines vollen Potentials in der Berufung zur Liebe geschaffen, läuft er Gefahr, unfähig zu werden zum Flug anzuheben, wenn er zu Boden fällt und nicht bereit ist, seine Flügel wieder für die Brise des Geistes zu öffnen.

Hier ist also die „Form“, in der die Gnade Gottes sich an die Menschen richtet: Es ist jene der kostbaren und sehr menschlichen Bande Adams. Gottes Macht ist immer und uneingeschränkt dazu in der Lage, den Menschen wieder in den Flug zurückzuversetzen und doch sorgt seine Sanftmut dafür, dass die freie Zustimmung dazu nicht eingeschränkt oder nutzlos ist. Es ist am Menschen, sich zu erheben oder sich nicht zu erheben. Obwohl die Gnade ihn ohne sein Zutun bei seinem Erwachen berührt hat, will sie doch nicht, dass der Mensch sich ohne seine eigene Einwilligung erhebt. So kommt er zu seiner abschließenden Überlegung: »Theotimus, die Gnadenanregungen kommen uns zuvor und machen sich bemerkbar, ehe wir noch an sie denken können; haben wir jedoch einmal ihre Gegenwart gefühlt, so steht es bei uns, ihnen beizustimmen, mitzuwirken und ihnen zu folgen oder ihnen die Zustimmung zu verweigern und sie abzuweisen. Ohne unser Zutun machen sie sich uns fühlbar, aber unsere Einwilligung bewirken sie nicht ohne unser Zutun«. [33] Deshalb handelt es sich bei der Beziehung zu Gott immer um eine Erfahrung des Beschenktwerdens, die die Tiefe der Liebe des Vaters bezeugt.

Diese Gnade macht den Menschen jedoch niemals passiv. Sie führt zum Verständnis, dass die Liebe Gottes radikal allem vorausgeht und dass sein erstes Geschenk darin besteht, dass man sich aus eben seiner Liebe empfängt. Jeder Mensch hat jedoch die Pflicht, an der eigenen Verwirklichung mitzuwirken, indem er seine Flügel vertrauensvoll für die Brise Gottes öffnet. Hier sehen wir einen wichtigen Aspekt unserer menschlichen Berufung: »Im Schöpfungsbericht der Genesis befiehlt Gott Adam und Eva, fruchtbar zu sein. Die Menschheit hat den Auftrag, die Schöpfung zu verwandeln, aufzubauen und sich untertan zu machen in dem positiven Sinn, aus ihr und mit ihr zu erschaffen. Was kommen wird, hängt nicht von einem unsichtbaren Mechanismus ab, einer Zukunft, in der die Menschheit ein passiver Beobachter wäre. Nein, wir sind Akteure, wir sind – wenn ich das Wort etwas dehnen darf – Mit- Schöpfer«. [34] Dies ist, was Franz von Sales gut verstanden und in seinem Dienst als Seelenführer weiterzugeben versucht hat.

Wahre Frömmigkeit

Eine zweite wichtige Entscheidung war jene, die Frömmigkeit thematisiert zu haben. Auch in diesem Fall hatte der Epochenwechsel, wie in unseren Tagen, nicht wenige Fragen zu diesem Thema aufgeworfen. Insbesondere zwei Aspekte sollten auch heute verstanden und neu verbreitet werden. Der erste betrifft die Idee der Frömmigkeit selbst, der zweite ihre universale und populäre Wesensart. So geht es auch am Anfang der Philothea an erster Stelle darum, anzugeben, was mit Frömmigkeit gemeint ist: »Deshalb musst du zunächst wissen, was die Tugend der Frömmigkeit ist. Es gibt nur eine wahre Frömmigkeit, an falschen und irrigen Spielarten dagegen eine ganze Reihe. Wenn du die echte nicht kennst, kannst du dich leicht verirren und einer unbrauchbaren, abergläubischen nachlaufen«. [35]

Die Beschreibung der falschen Frömmigkeit durch Franz von Sales ist köstlich und bleibt immer aktuell. Unschwer können wir uns in dieser Beschreibung wiederfinden, die eine probate Spitze gesunden Humors enthält: »Wer gern fastet, hält sich für fromm, weil er fastet, obgleich sein Herz voll Rachsucht ist. Vor lauter Mäßigkeit wagt er nicht, seine Zunge mit Wein, ja nicht einmal mit Wasser zu benetzen, aber er schrickt nicht davor zurück, sie in das Blut seiner Mitmenschen zu tauchen durch Verleumdung und üble Nachrede. – Ein anderer hält sich für fromm, weil er täglich eine Menge Gebete heruntersagt, obwohl er nachher seiner Zunge alle Freiheit lässt für Schimpfworte, böse und beleidigende Reden gegen Hausgenossen und Nachbarn. – Der eine entnimmt seiner Geldbörse gern Almosen für die Armen, aber er kann aus seinem Herzen nicht die Liebe hervorbringen, seinen Feinden zu verzeihen. – Der andere verzeiht wohl seinen Feinden, seine Gläubiger befriedigt er aber nur, wenn ihn das Gericht dazu zwingt«. [36] Dies sind offensichtlich Laster und Schwierigkeiten aller Zeiten, auch der heutigen, und der Heilige schließt: »Gewöhnlich hält man alle diese Menschen für fromm, sie sind es aber keineswegs«. [37]

Die Neuheit und die Wahrheit der Frömmigkeit sind hingegen anderswo zu finden, nämlich in einer tief mit dem göttlichen Leben in uns verbundenen Wurzel. Auf diese Weise setzt »die wahre und lebendige Frömmigkeit […] die Gottesliebe voraus; ja sie ist nichts anderes als wahre Gottesliebe. Freilich nicht irgendeine Liebe zu Gott«. [38] In seiner glühenden Vorstellung ist Frömmigkeit »mit einem Wort: […] nichts anderes als Gewandtheit und Lebendigkeit im geistlichen Leben. Sie lässt die Liebe in uns oder uns in der Liebe tätig werden mit rascher Bereitschaft und Freude«. [39] Deshalb steht sie nicht neben der Liebe, sondern ist eine Ausprägung von ihr und zugleich führt sie zu ihr. Sie ist wie eine Flamme im Verhältnis zum Feuer: Sie belebt seine Intensität, ohne seine Beschaffenheit zu verändern. »So unterscheidet sich die Frömmigkeit von der Gottesliebe nicht anders, als die Flamme vom Feuer. Wenn das geistliche Feuer der Liebe hohe Flammen schlägt, dann heißt es Frömmigkeit. Die Frömmigkeit fügt zum Feuer der Liebe nur die lodernde Flamme froher Bereitschaft hinzu, Entschlossenheit und Sorgfalt nicht nur in der Beobachtung der göttlichen Gebote, sondern auch der himmlischen Ratschläge und Einsprechungen«. [40] Eine so verstandene Frömmigkeit hat nichts Abstraktes. Sie ist vielmehr ein Lebensstil, eine Art und Weise, das konkrete tägliche Leben zu leben. Sie nimmt die kleinen Dinge des Alltags auf und deutet sie, Essen und Kleidung, Arbeit und Freizeit, Liebe und Elternschaft, das Achten auf berufliche Pflichten; kurzum, sie erleuchtet die Berufung eines jeden.

Hier erkennt man die Verwurzelung der Frömmigkeit im Volk, wovon gleich die ersten Zeilen der Philothea sprechen: »Die vor mir über die Frömmigkeit schrieben, hatten fast ausnahmslos Leser im Auge, die ein Leben fern von weltlichen Geschäften führten, oder solche, die sie zur Weltflucht bewegen wollten. Ich dagegen will gerade jenen helfen, die in der Stadt, im Haushalt oder bei Hof leben und durch ihren Stand notwendigerweise oft mit anderen zusammenkommen«. [41] Aus diesem Grund irrt sich gewaltig, wer die Frömmigkeit in irgendeinen geschützten und reservierten Bereich verbannen möchte. Vielmehr ist sie etwas, das allen gehört und für alle da ist, wo immer wir sind, und jeder kann sie entsprechend seiner eigenen Berufung ausüben. Wie der heilige Paul VI. anlässlich des vierhundertsten Geburtstages des heiligen Franz von Sales schrieb, »ist die Heiligkeit nicht das Vorrecht der einen oder anderen Klasse, sondern an alle Christen ergeht die dringende Aufforderung: „Mein Freund, rück weiter hinauf“ ( Lk 14,10); alle sind gehalten, den Berg Gottes zu besteigen, wenn auch nicht alle auf demselben Weg. „Der Herr, der Handwerker, der Kellner, der Fürst, die Witwe, die junge Frau, die Braut müssen ihre Frömmigkeit anders praktizieren. Mehr noch, die Ausübung der Frömmigkeit muss an die Stärken, die Tätigkeiten und die Pflichten jedes Einzelnen angepasst werden“«. [42] Die säkulare Stadt zu durchqueren und dabei die Innerlichkeit zu bewahren, den Wunsch nach Vollkommenheit mit jeder Lebenslage zu verbinden und eine Mitte wiederzuentdecken, die sich nicht von der Welt abgrenzt, sondern lehrt, sie zu bewohnen, sie zu schätzen, aber auch zu lernen, den richtigen Abstand von ihr zu nehmen: Das war seine Absicht, und es ist nach wie vor eine wertvolle Lehre für jede Frau und jeden Mann unserer Zeit.

Das ist das Konzilsthema der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit: »Mit so reichen Mitteln zum Heile ausgerüstet, sind alle Christgläubigen in allen Verhältnissen und in jedem Stand je auf ihrem Wege vom Herrn berufen zu der Vollkommenheit in Heiligkeit, in der der Vater selbst vollkommen ist«. [43] „Je auf ihrem Wege“. »Es geht also nicht darum, den Mut zu verlieren, wenn man Modelle der Heiligkeit betrachtet, die einem unerreichbar erscheinen«. [44] Die Mutter Kirche stellt sie uns vor Augen, nicht damit wir versuchen, sie zu kopieren, sondern damit sie uns ermutigen, den einzigartigen und besonderen Weg zu gehen, den der Herr für uns vorgesehen hat. »Worauf es ankommt, ist, dass jeder Gläubige seinen eigenen Weg erkennt und sein Bestes zum Vorschein bringt, das, was Gott so persönlich in ihn hineingelegt hat (vgl. 1 Kor 12,7)«. [45]

Die Ekstase des Lebens

All dies veranlasste den heiligen Bischof, das christliche Leben in seiner Gesamtheit als »Ekstase der Tat und des Lebens« [46] zu betrachten. Es geht dabei nicht um eine einfache Flucht oder einen Rückzug in die Innerlichkeit, geschweige denn um einen traurigen und grauen Gehorsam. Wir wissen, dass diese Gefahr immer im Glaubensleben besteht. Denn »es gibt Christen, deren Lebensart wie eine Fastenzeit ohne Ostern erscheint. [...] Ich verstehe die Menschen, die wegen der schweren Nöte, unter denen sie zu leiden haben, zur Traurigkeit neigen, doch nach und nach muss man zulassen, dass die Glaubensfreude zu erwachen beginnt, wie eine geheime, aber feste Zuversicht, auch mitten in den schlimmsten Ängsten«. [47]

Die Freude erwachen zu lassen, genau darum geht es Franz von Sales in seiner Beschreibung der „Ekstase der Tat und des Lebens“. Dank ihr leben wir »dann nicht nur ein gesittetes, rechtschaffenes und christliches Leben, sondern ein übernatürliches, geistliches, Gott hingegebenes und ekstatisches, d. h. ein Leben, das in jeder Hinsicht außerhalb und über unserer naturhaften Beschaffenheit steht«. [48] Hier befinden wir uns auf den zentralen und leuchtendsten Seiten seiner Abhandlung. Die Ekstase ist das glückliche Übermaß des christlichen Lebens, das über das Mittelmaß des reinen Befolgens hinausgeht: »Nicht stehlen, nicht lügen, keine Unkeuschheit treiben, zu Gott beten, nicht sinnlos schwören, seinen Vater lieben und ehren, nicht töten, – das heißt entsprechend der natürlichen Vernunft leben. Aber all sein Hab und Gut aufgeben, die Armut lieben, sie die ganz holde Herrin nennen und sich ihr gegenüber auch so verhalten, Schmach und Schimpf, Verachtung, Verfolgung und Martyrium als Seligkeit und Glück ansehen, vollkommene Keuschheit bewahren, – und schließlich inmitten der Welt und in diesem sterblichen Dasein ein Leben ständigen Verzichtes, ständiger Entsagung und Selbstverleugnung führen, gegen alle Meinungen und Behauptungen der Welt und gegen den Strom schwimmen, – das heißt nicht mehr menschlich, sondern übermenschlich leben, das ist nicht in uns leben, sondern außer uns und über uns. Da aber niemand so über sich selbst hinausgehen kann, wenn ihn nicht der ewige Vater zieht ( Joh 6,44), so muss diese Art zu leben eine ständige Entrückung, eine fortwährende Ekstase der Tat und des Wirkens sein«. [49]

Es ist ein Leben, das die Quellen der Freude wiederentdeckt hat, gegen all sein Vertrocknen, gegen die Versuchung der Selbstbezogenheit. In der Tat, »die große Gefahr der Welt von heute mit ihrem vielfältigen und erdrückenden Konsumangebot ist eine individualistische Traurigkeit, die aus einem bequemen, begehrlichen Herzen hervorgeht, aus der krankhaften Suche nach oberflächlichen Vergnügungen, aus einer abgeschotteten Geisteshaltung. Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließt, gibt es keinen Raum mehr für die anderen, finden die Armen keinen Einlass mehr, hört man nicht mehr die Stimme Gottes, genießt man nicht mehr die innige Freude über seine Liebe, regt sich nicht die Begeisterung, das Gute zu tun. Auch die Gläubigen laufen nachweislich und fortwährend diese Gefahr. Viele erliegen ihr und werden zu gereizten, unzufriedenen, empfindungslosen Menschen«. [50]

Zu dieser Beschreibung der „Ekstase der Tat und des Lebens“ fügt Franz schließlich zwei auch für unsere Zeit wichtige Klarstellungen hinzu. Die erste betrifft ein wirksames Kriterium, das hilft, die Wahrheit eben dieses Lebensstils zu erkennen. Die zweite betrifft deren tiefe Quelle. Hinsichtlich des Kriteriums für die Unterscheidung stellt er fest, dass die Ekstase zwar einerseits ein wirkliches Aus-sich-selbst-Hinausgehen mit sich bringt, andererseits aber kein Aufgeben des Lebens bedeutet. Es ist wichtig, dies nie zu vergessen, um gefährliche Abwege zu vermeiden. Mit anderen Worten: Wer meint, sich Gott zu nähern, aber nicht die Nächstenliebe lebt, täuscht sich und die anderen.

Wir finden hier dasselbe Kriterium, das er auf die Qualität der wahren Frömmigkeit angewandt hatte. »Sieht man also einen Menschen, der im Gebet entrückt ist, so dass er über sich hinaustritt und sich zu Gott erhebt, aber kein ekstatisches, d. h. Gott hingegebenes, höheres Leben führt, […] besonders [durch] dauernde Liebe, – glaube mir, Theotimus, dann sind diese Entrückungen sehr zweifelhaft und gefährlich«. Sehr deutlich fällt seine Schlussfolgerung aus: »Was mag es denn einer Seele nützen, in Gott durch das Gebet entrückt zu sein, wenn sie in ihrem Verhalten und Leben von irdischen, niedrigen und naturhaften Affekten mitgerissen wird? Über sich im Gebet und unter sich im Leben und Wirken, engelhaft in der Betrachtung und tierhaft im Verhalten sein […]. Das ist mit einem Wort ein sicheres Zeichen, dass solche Entrückungen und Ekstasen nur Blendwerk und Irreführung des bösen Feindes sind«.[51] Das ist im Wesentlichen das, woran schon Paulus die Korinther im Hohelied der Liebe erinnerte: »Wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib opferte, um mich zu rühmen, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts« (1 Kor 13,2-3).

Für Franz von Sales ist das christliche Leben daher nie ohne Ekstase, und dennoch ist die Ekstase ohne Leben nicht echt. Ein Leben ohne Ekstase läuft nämlich Gefahr, sich auf einen matten Gehorsam zu reduzieren, auf ein Evangelium, das seine Freude vergessen hat. Auf der anderen Seite setzt sich eine Ekstase ohne Leben leicht der Illusion und Täuschung des Bösen aus. Die großen Gegensätze des christlichen Lebens lassen sich nicht ineinander auflösen. Wenn überhaupt, erhält der eine den anderen in seiner Echtheit. So gibt es Wahrheit nicht ohne Gerechtigkeit, Wohlgefallen nicht ohne Verantwortung, Spontaneität nicht ohne Gesetz, und umgekehrt.

Was hingegen den tiefen Ursprung dieser Ekstase betrifft, so verbindet Franz von Sales sie weise mit der Liebe, die der menschgewordene Sohn offenbart hat. Einerseits ist »die Liebe die erste Wirklichkeit und der Urgrund unseres frommen und geistlichen Lebens. Durch sie leben, empfinden und erregen wir uns« und andererseits ist »unser geistliches Leben […] so, wie unsere Affektregungen sind«, da beides stimmt, ist klar, dass »ein Herz ohne Regung und ohne Affekte […] keine Liebe« hat, wie auch, dass »es kein liebendes Herz, das ohne Affektregungen wäre«, gibt. [52]Aber die Quelle dieser Liebe, die das Herz anzieht, ist das Leben Jesu Christi. »Nichts drängt das Herz des Menschen mehr als die Liebe« und der Höhepunkt dieses Drängens ist, dass »Jesus Christus […] für uns gestorben [ist]. Er hat uns durch seinen Tod das Leben geschenkt. Wir leben nur, weil er gestorben ist. Er ist für uns, unseretwegen und in uns gestorben«. [53]

Dieser Hinweis ist bewegend und er zeigt neben einer erleuchteten und nicht selbstverständlichen Sicht der Beziehung zwischen Gott und Mensch auch das enge emotionale Band, das den heiligen Bischof mit Jesus verband. Die Wahrheit der Ekstase des Lebens und des Tuns ist keine allgemeine, sondern jene, die sich in der Form der Liebe Jesu zeigt, die am Kreuz ihren Höhepunkt erreicht. Diese Liebe hebt die Existenz nicht auf, sondern lässt sie in einer außergewöhnlichen Weise erstrahlen.

Aus diesem Grund beschreibt der heilige Franz von Sales den Kalvarienberg schließlich mit einem sehr schönen Bild als den »Berg der Liebenden«. [54] Dort und nur dort wird verständlich, dass »man das Leben nicht ohne die Liebe und nicht die Liebe ohne den Tod des Erlösers haben [kann]. Im Übrigen ist alles entweder ewiger Tod oder ewige Liebe und die ganze christliche Weisheit besteht darin, gut zwischen diesen beiden zu wählen«. [55] So kann er seine Abhandlung mit einem Verweis auf den Schluss einer Rede des heiligen Augustinus über die Liebe beschließen: »Was ist treuer als die Liebe? Nicht dem Vergänglichen, sondern dem Ewigen treu. Sie erträgt alles im gegenwärtigen Leben, weil sie alles über das zukünftige Leben glaubt: Sie erträgt alles, was uns hier zum Ertragen gegeben ist, weil sie auf alles hofft, was ihr dort verheißen ist. Sie hat zu Recht nie ein Ende. Praktiziert deshalb die Liebe und tragt Früchte der Gerechtigkeit, indem ihr auf heilige Weise mit ihr umgeht. Und wenn ihr, zu ihrem Lob, noch andere Dinge findet, die ich euch jetzt nicht gesagt habe, dann soll man es an eurem Lebenswandel erkennen«. [56]

Das ist es, was durch das Leben des heiligen Bischofs von Annecy aufscheint und – nochmals – einem jeden von uns als Erbe übergeben ist. Der vierhundertste Jahrestag seiner Geburt in den Himmel helfe uns dessen treu zu gedenken. Auf seine Fürsprache gieße der Herr die Gaben des Heiligen Geistes reichlich auf dem Weg des heiligen und gläubigen Gottesvolkes aus.

Rom, Sankt Johannes im Lateran, am 28. Dezember 2022.
Franziskus