Diskussion:Adolphe Tanquerey: Grundriss der aszetischen und mystischen Theologie

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Es folgt der zweite Teil, der nach der Korrektur evtl. noch im Artikel erscheinen kann:

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ZWEITES KAPITEL.

erweist. " I I n der EntrÜckung nun findet die geistliche Verlobung statt. Gewiss ist das eine zarte Aufmerksamkeit von seiten Gottes. Behielte nämlich die Seele den Gebrauch ihrer Sinne, so verlöre sie vielleicht das Leben in diesem nahen .Schauen der göttlichen Majestät 2. Ist die Entrückung vorÜber, so .bleibt der Wille wie trunken und kann sich nur noch mit Gott beschäftigen. Mit Abscheu vor irdischen Dingen erfÜllt, ist die Seele von unersättlichem Verlangen nach Busswerken durchdrungen, so dass sie in Klagen ausbricht, wenn sie nichts leidet 3.

1460. c) Auf die Entrückung folgt der Aufjlug des Geistes, der in seinem Ungestüm den Geist vom Körper loszutrennen scheint und dem nichts widerstehen kann.

" Die Seele ", sagt die h1. Therese., " glaubt ganz und gar in eine andere Gegend versetzt zu sein, in ein Land, das ganz verschieden ist von dem, das wir bewohnen. Sie erblickt dort neues Licht und sehr viele andere Dinge, die sich von denen hienieden so stark unterscheiden, dass sie sich dieselben niemals hätte vorstellen können, wÜrde sie darauf auch ihr ganzes Leben \Verwendet haben. Zuweilen fÜhlt sie sich in einem einzigen Augenblicke über so viele Dinge gleichzeitig unterrichtet, dass sie selbst durch langjährige Arbeit mit, Hilfe der Phantasie und des Verstandes nicht den tausendsten Teil davon hätte hervorbringen können."

3. HAUPTWIRKUNGEN DER EKSTATISCHEN VEREINIGUNG.

1461. A) Die Wirkung, die alle anderen in sich begreift, ist die grosse Heiligkeit des Lebens, selbst bis zum Heroismus. Das ist so wahr, dass, wo sie fehlt, die Ekstase verdächtig ist.

So bemerkt der h1. Franz v. Sales S : "Sieht man daher jemanden, der während des Gebetes Verzückungen hat ... , in seinem Leben jedoch keine Ekstase aufweist, d. h. sich nicht durch ein tiefinnerliches, Gottvereintes Leben auszeichnet, durch Verleugnung weltlicher Begierden und Abtötung

, Vie, 20. Kap. S. 246. - z Cltdteau, 6. Dem. 4· Kap. S. 199· 3 fbid. S. 207-208. - 4 Chdteau, 5. Kap. S. 214.

SAm. de Die", 7. B. 7. K.

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der Willensäusserungen und natürlichen Neigungen, durch innere Dem.ut, Einfalt, Sanftmut, vor allem aber durch beständige Ubung der Nächstenliebe, glaube nur, Theotimus, dann sind alle diese Verzückungen sehr zweifelhaft und gefährlich. Das sind Verzlickungen, die zur Verwunderung, nicht aber zur Heiligung der Menschen geeignet sind. "

1462. B) Die Haupttugenden, die die ekstatische Verzückung hervorbringt, sind : I) Vollkommene Losschälung von den Geschöpfen. Gott lässt die Seele gleichsam den höchsten Punkt einer Festung besteigen. Von dort aus erkennt sie klar und deutlich die Nichtigkeit aller irdischen Dinge. Daher will sie nunmehr allem Eigenwillen entsagen, ja, sie möchte womöglich auf ihren freien Willen verzichten. 2) Unermesslicher Schmerz über die begangC1len SÜnden. Nicht die Furcht vor der Hölle betrübt sie, wohl aber die Furcht, Gott zu beleidigen. 3) Häufiges, liebendes Schauen der hl. lWenschheit unseres Herrn und Heilandes, ferner, der allerseligsten J ungfrau. Und wie genussreich ist dieser Verkehr mit Jesus und Maria! Das heilige Schauen der Phantasie und des Geistes geschieht öfter und vollendet die Loslösung der Seele und versenkt sie in ihr Nichts. 4) Endlich bewundernswerte Geduld, um tapfer die neuen passiven Prüfungen zu ertragen, die Gott ihr schickt, was man Läuterung der Liebe nennt.

Von Sehnsucht nach Gottes Anschauung verzehrt, fühlt sich die Seele wie von einem Feuerpfeile durchbohrt. Sie schreit vor Schmerz laut auf, weil sie von dem getrennt ist, dem einzig und allein ihre Liebe gehört. Ein wahres Martyn'lt1lZ setzt dann ein. Ein Martyrium der Seele und des Leibes, begleitet von dem glühenden Wunsche zu sterben, um nie von dem Geliebten der Seele getrennt zu werden. Ein Martyrium, das zuweilen von berauschenden Wonnen unterbrochen wird. Wir werden das noch besser verstehen, haben wir erst in die zweite Nacht des hl. J oh. v. Kreuz, in die Nacht des Geistes, Einblick gewonnen.

11. Die Nacht des Geistes.

1463. Durch die Läuterung der ersten Nacht war die Seele auf die Freuden der Ruhe, der Vereini-

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ZWEITES KAPITEL.

gung und der Ekstase vorbereitet worden. Ehe ihr jedoch die reineren und dauernderen Freuden der geistlichen Vermählung zuteil werden, bedarf sie einer tiefgehenderen und grÜndlicheren Läuterung, die gewöhnlich im Verlaufe der ekstatischen Vereinigung stattfindet. Wir legen dar: 1. die BegrÜndung, 2. die harten Prüfungen und 3. die glückiz"chen Wirkungen.

I. BEGRÜNDUNG ZUR NACHT DES GEISTES.

1464. Um mit Gott auf so innige und andauernde Weise vereinigt zu werden, wie das in der umwandelnden Vereinigung oder geistlichen Vermählung geschieht, muss die Seele von den letzten ihr anhaftenden Unvollkommenheiten befreit werden. Nun aber handelt es sich nach der Lehre des h1. Joh. v. Kreuz I um zweierlei Unvollkommenheiten: gewolmheitsmässige und wirkliche.

A) Zu den ersten gehören zwei : a) unvollkommene Neigungen und Gewohnheiten. Es sind diese gleichsam im Geiste haften gebliebene Wurzeln, und zwar dort, wohin die Läuterung der Sinne nicht dringen konnte, z. B. etwas zu rege Freundschaften. Sie mÜssen daher entwurzelt werden. b) eine gewisse Schwäche des Geistes, hebetudo mentis, durch die Zerstreuungen und Ergiessen des Geistes nach aussen eintreten können. Solche Fehler sind aber mit vollkommener Vereinigung unhaltbar.

B) An wirklichen Unvollkommenheiten gibt es auch zweierlei : a) einen gewissen Hochmut, ein eitles Selbstgefallen, das aus den reichlich empfangenen Tröstungen hervorgeht. Diese Gesinnung kann manchmal zu Täuschungen führen, so dass falsche Erscheinungen und Prophezeiungen für echte gehalten werden. b) eine zu grosse Kühnheit,

, D.:nkle Nacht, 2. B. 2. K.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG.

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die im Verkehr mit Gott die ehrerbietige Furcht, die HÜterin aller Tugenden, ausser acht lässt.

Solche Neigungen mÜssen deshalb sowohl geläutert als auch verbessert werden, und um uns dabei zu helfen, schickt Gott uns die Prüfungen der zweiten Nacht.

2. PRÜFUNGEN DER NACHT DES GEISTES.

1465. Zwecks Läuterung und Besserung der Seele lässt Gott den Verstand in Finsternis, den Willen in Trockenheit, das Gedächtnis ohne Erinnerung'en und das Empfinden in Schmerz und Angst versenkt. Gott vollzieht diese Läuterung durch das Licht der eingegossenen Beschauung-, sagt der h1. J oh. v. Kreuz I, ein an sich sehr helles Licht, das aber der Seele ihrer Unwissenheit und Beflecktheit wegen dunkel und leideifÜllt scheint.

A) Leiden des Verstandes. a) Das lebhafte, reine Licht der Beschauung blendet die Augen unseres Verstandes, der zu schwach und zu befleckt ist, um es ertragen zu können. Wie kranke Augen durch helles, glänzendes Licht geblendet werden, wird unsere noch kränkelnde Seele durch das göttliche Licht gequält und gleichsam gelähmt, so dass der Tod ihr Befreiung bedeuten würde.

b) Dieser Schmerz wird durch Zusammentreffen des Göttlichen und des lVfenscltlichen in ein und derselben Seele erhöht. Des Göttlichen, d. h. die läuternde Beschauung dringt mit aller Macht in sie, und zwar zu ihrer Erneuerung, Vervollkommnung und Vergöttlichung. Des Menschlichen, d. h. die Seele selbst, mit ihren Fehlern, erhält einen Eindruck von Vernichtung, innerem Sterben, das sich vollziehen muss, damit sie zur Auferstehung gelange.

c) Zu diesem Schmerze gesellt sich die klare Erkenntnis ihrer Armut und ihres Elends. Der empfindende Teil der S~ele ist in Trockenheit versenkt. Der intellektuelle in Finsternis. Sie erlebt somit den beklemmenden Eindruck eines Menschen, der ohne Stütze in der Luft schwebt. Zuweilen

, Dunkle Nacht, 2. B. 5. K.

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glaubt sie, die Hölle sich öffnen zu sehen, um sie auf ewig zu verschlingen. Freilich sind das alles nur bildliche Ausdrücke, aber sie schildern die Wirkungen dieses Lichtes. Es zeigt einerseits die Grösse und Heiligkeit Gottes, andererseits das Nichts und das Elend des Menschen.

1466. B) Unaussprechlich sind ebenfalls die Leiden des Willens: a) Die Seele sieht sich jeglichen Glückes beraubt und ist Überzeugt, es bleibe immer so. Selbst ihr FÜhrer kann sie nicht trösten.

b) Damit sie dieser PrÜfung nicht erliege, sendet ihr Gott erleichternde Zwischen pausen. Dann geniesst sie sÜssen Frieden in Liebe und Vertrautheit mit Gott. Aber auf solche Augenblicke folgen neue Angriffe, bei denen sie glaubt, Gott liebe sie nicht, sie sei gerechterweise von ihm verlassen. Das ist die Pein innerer Verlassenheit.

c) In diesem Zustande ist das Gebet ein Ding der Unmöglichkeit. Betet die Seele trotzdem, so geschieht es mit einer solchen Trockenheit, dass es ihr scheint, als erhöre es Gott nicht. In manchen Fällen kann sie sich nicht einmal um ihr zeitliches \.Vohl kÜmmern, da ihr Gedächtnis so oft versagt. Es ist ein Unterbinden der Kräfte, das sich auf die natürlichen Handlungen erstreckt.

Kurz, es ist eine Art HOlle durch den Schmerz, den man empfindet und eine Art Fegfeuer durch die Läuterung-, die sich als Frucht ergibt.

3. GLÜCKLICHE WIRKUNGEN DER LÄUTERUNG DES GEISTES.

1467. A) Diese Wirkungen werden vom hl. J oh.

v. Kreuz I auf folgende Weise zusammengefasst:

" Sie verdunkelt den Geist, um ihm Licht über alle Dinge mitzuteilen. Sie erniedrigt ihn und lässt ihn sein Elend erkennen, um ihn zu erheben und zu befreien. Sie m,acht ihn arm und beraubt ihn allen Besitzes und aller natürlichen Liebe, um ihn zu befähigen, die SÜssigkeit aller Güter auf

, Nacht, 2. B. 9. K.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 1015

göttliche Weise zu verkosten." Um diese Wirkungen zu erklären, bedient sich der Heilige des Vergleiches von einem in einen Glutofen geworfenen, feuchten Stück Holz (Siehe

N. 1422).

1468. B) Er führt sie dann auf vier Hauptpunkte zurück: a) GlÜhende Gottesliebe. Seit Beginn dieser Nacht besass sie jene Liebe im erhabeneren Teile der Seele, und zwar ohne es zu wissen. Es kommt aber der Augenblick, da Gott sie ihrer Liebe sich bewusst werden lässt. Dann ist die Seele bereit, alles zu wagen, alles zu tun, um ihm zu gefallen.

b) HellstJ'altlendes Licht: dieses Licht zeigte ihr anfangs nur ihr Elend und war peinval!. Sobald aber die Unvollkommenheiten durch Zerknirschung weggeschafft sind, zeigt es die Schätze, in deren Besitz die Seele gelangen wird, und dadurch wird es trostval!.

c) Ein starkes GefÜhl der Sicherheit. Dieses Licht schützt nämlich die Seele vor dem Hochmut, dem Haupthindernis des Seelenheils. Es zeigt ihr, wie Gott selbst sie führt und wie das von ihm geschickte Leiden vorteilhafter ist als irgend eine Freude. Es flösst endlich ihrem Willen den festen Vorsatz ein, nichts zu tun, was Gott beleidigen könnte, und nichts zu unterlassen, was zu seiner Ehre beitragen wÜrde.

d) vVunderbare Kraft, um die zehn Stufen der göttlichen Liebe zu ersteigen, die vom h1. J oh. v. Kreuz I vortrefflich geschildert werden. Man betrachte sie eingehend und mache sich so einen Begriff von den wunderbaren Aufstiegen, die zur umwandelnden Vereinigung führen.

§ IV. Die umwandelnde Vereinigung oder geistliche Vermählung.

1469. Nach so vielen Läuterungen gelangt die Seele endlich zur stillen und dauernden Vereini-

, Nacht, 2. B., 19., 22. K.

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ZWEITES KAPITEL.

gung, die als umwandelnde Vereinigung bezeichnet wird und das letzte Ziel der mystischen Vereinigung' die unmittelbare Vorbereitung auf die selige Anschauung, zu sein scheint.

Wir legen dar: I. deren Wesen, 2. deren Wirkungen.

1. Wesen der umwandelnden Vereinigung.

Hervorzuheben sind : I. ihre Hauptmerkmale,

2. die Beschreibung, die die hl. Therese davon gibt.

147 O. I. Ihre Hauptmerkmale sind Vertraut/leit, Ung-etrübtheit, Unlö"slichkeit.

A) Vertrautheit. Ebendeshalb, weil bei dieser Vereinigung innigere Vertrautheit herrscht als bei den andern, heisst sie geistliche Vermählung. Zwischen Vermählten gibt es kein Geheimnis mehr: zwei Leben sind in eins verschmolzen. Derart ist nun die zwischen Gott und der Seele bestehende Vereinigung. Die h1. Therese erklärt sie mittels eines Vergleiches 1 : "Wie das Wasser, das vom Himmel in einen Bach fällt... und sich derart mit ihm vermischt, dass man beide nicht mehr trennen noch unterscheiden kann."

B) UngetrÜbtheit. In diesem Zustande gibt es weder Ekstasen noch Verzückungen, oder wenigstens höchst selten. Das waren Schwäche- und Ohnmachtszustände, oie fast ganz verschwunden sind, um einem stillen, friedlichen Seelenzustande Platz zu machen, ganz wie zwei Vermählte, die von nun an ihrer gegenseitigen Liebe sicher sind.

C) Ulllö"sbarkeit : andere Vereinigungen waren nur vorÜbergehend. Diese wird ihrem Wesen nach dauernd, wie es bei der christlichen Ehe der Fall ist.

1471. Zieht diese Unlösbarkeit die Unfähigkeit, zu sündigen, nach sich? Darüber herrscht zwischen dem hl. Johannes v. Kreuz und der hl. Therese Meinungsverschiedenheit.

, Chdteau, 7. Dem., chap. II, p. 287.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG.

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Ersterer glaubt, die Seele sei dann in der Gnade bestätigt. " Meiner Ansicht nach kann die Seele niemals diesen Zustand erreichen, ohne gleichzeitig in der Gnade befestigt zu werden ... Sie hat deshalb in Zukunft weder Versuchungen noch Verwirrungen n~)Ch Kummer zu fürchten und vergisst alle ihre Sorgen und Angste. " , Die hl. Therese äussert sich bei weitel1l nicht so bestimmt. 2 "J edesmal, wenn ich sage, die Seele sei in Sicherheit, so ist darunter zu verstehen: solange die göttliche Majestät sie in der Hand hält und nicht von ihr beleidigt wird. Ich jedenfalls weiss und kann es nicht bezweifeln, dass die betreffende Person, obschon sie diesen Zustand erreicht hat und seit Jahren darin verharrt, sich nicht in Sicherheit glaubt." Uns will scheinen, der Ausspruch der hl. Therese entspreche mehr der theologischen Ansicht. Diese lehrt, die Gnade der endlichen Beharrlichkeit könne nicht verdient werden. Um ganz sicher zu sein, seine Seele zu retten, bedÜrfte man daher einer besonderen Offenbarung, die sich nicht nur auf den gegenwärtigen Gnadenzustand, sondern auch auf die Beharrlichkeit in diesem Zustande bis zum Tode bezöge. 3

1472. 2. Die Beschreibung der h1. Therese enthält zwei Erscheinungen, die des Heilandes und die der Heiligsten Dreifaltigkeit.

A) Jesus selbst führt die Seele durch eine zweifache Vision in diese letzte Wohnung ein: durch das Schauen der Phantasie und des Intellektes.

a) In einem bildhaften Gesichte, das nach der h1. Kommunion stattfand, erschien er ihr 4" in wunderbarer Verklärung, Schönheit und Majestät, so wie er nach der Auferstehung war. "

"Er sagte ihr, es sei an der Zeit, seine Interessen zu den ihrigen zu machen. Er würde für ihre Angelegenheiten Sorge tragen ... " "Künftighin sollst du für meine Ehre sorgen, nicht nur, weil ich dein Schöpfer bin, dein König, dein Gott, sondern auch weil du meine wahre Braut bist. Meine Ehre ist die deine, und deine Ehre ist meine." 5

b) Dann kommt das geistige Schauen: " Was Gott dann eier Seele in einem Moment mitteilt, ist ein

, Cantique spirituel, strophe XXII.

2 Chdteau, 7. Dem. ch. Ir, p. 290-291.

3 Zuweilen vollzieht sich die geistliche Vermählung unter besonderen Zeremonien: Austausch von Ringen, Gesang der Engel u. s. w. Nach dem Beispiel der hl. Therese befassen wir uns nicht mit Nebensächlichem. 4 C!lIlteau, ibid., p. 284. - S Relation XXV, t. Ir des CEuvres, p. 246.

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so grosses Geheimnis, eine so erhabene Gnade und versenkt die Seele in so unaussprechliche 'vVonnen, dass ich nicht weiss, womit ich sie vergleichen sol!. Nur das sage ich: in einem Augenblicke geruht der Herr, ihr die Seligkeit des Himmels zu offenbaren. und die 'Weise, in der er es tut, Übertrifft an Erhabenheit die aller Gesichte und aller geistigen GenÜsse. Das einzige, was sich sagen lässt, ist dieses: die Seele, oder vielmehr der Geist der Seele wird, soweit sich das beurteilen lässt, eins mit Gott. " 1

1473. B) Vision der Heiligsten Dreifaltigkeit.

Ist die Seele erst einmal zu dieser Wohnung zugelassen, so offenbaren sich ihr die drei Personen der Heiligsten Dreifaltigkeit in einem geistigen Schauen durch eine gewisse Darstellung der Wahrheit und inmitten einer Flamme, die einer strahlenden Wolke gleicht und direkt auf ihren Geist zukommt. Die drei göttlichen Personen offenbaren sich als voneinander verschieden. Durch ein der Seele mitgeteiltes, wunderbares Begreifen erkennt diese mit absoluter Sicherheit, dass alle drei ein und dieselbe Substanz, ein und dieselbe Macht, ein und dasselbe 'vVissen und ein Gott sind .

• , Was wir demnach durch den Glauben annehmen, erfasst die Seele, kann man sagen, hier im Schauen. Und dennoch sieht man nichts, weder mit den Augen des Leibes, noch mit denen der Seele, denn es handelt sich hier nicht um ein bildhaftes Gesicht. Dann teilen sich die göttlichen Personen alle drei der Seele mit, sprechen mit ihr und enthüllen ihr den Sinn jener Stelle des Evangeliums, da der göttliche Meister verkündet, er werde mit dem Vater und dem HI. Geiste \Vohnung nehmen in der Seele, die ihn liebt und seine Gebote hält. 0 Gott! Wie so ganz anders ist es doch, diese Worte zu hören, sie auch zu glauben, oder auf dem von mir soeben bezeichneten Wege zu erfassen, wie sie wirklich 7vahr sind. 2 Diese Seele ist von täglich wachsendem Staunen erfÜllt, weil es ihr scheint, die drei göttlichen Personen haben sie seither

, Clldteau, ibid., p. 286.

2 Man beachte diese Ausdrücke, die den gewaltigen Unterschied zei. gen, der zwischen einem einfachen GIßubensakte und der durch Beschauung verliehenen Erkenntnis oder Uberzeugung besteht.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG.

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nicht mehr verlassen. Auf die bereits angegebene Weise erkennt sie deutlich, dass sie in ihr weilen. Tief in ihrer Seele fÜhlt sie die Gegenwart der göttlichen Gesellscbaft wie in einem jähen Abgrunde, den sie aus Mangel an Gelehrsamkeit nicht näher beschreiben kann." ,

Ir. Wi1'kungen der umwandelnden Vereinigung. 1474. Eine so innige und abgrundtiefe Vereinigung muss wunderbare Heiligungswirkungen hervorbringen. Mit einem \Vorte : die Seele wird derart umgewandelt, dass sie sich selbst verg-z'sst und nur noch an Gott und sez'ne Eitre denkt. Daher :

1. Heilige Hz'ngabe in Gottes Hand, und zwar bis zur höchsten I ndifferenz gegen alles, was nicht Gott ist. In der ekstatischen Vereinigung verlangte sie nach dem Tode, um sich mit dem Geliebten zu vereinigen. Jetzt ist sie gleichgiltig in bezug auf Leben und Tod, wird Gott nur verherrlicht: " Ihre einzige Sorge ist, Gott immer mehr zu gefallen, Gelegenheiten und Mittel zu finden, um ihm ihre Liebe zu beweisen. Das ist ja der Zweck des innerlichen Gebetes und auch die geistliche Vermählung ist dazu bestimmt, fortwährend gute Werke zu verrichten. " 2

1475. 2. Ein überaus grosses Verla1:Zgen nach Leiden, jedoch ohne Unruhe und in vollkommener Ubereinstimmung mit dem Willen Gottes:

,,\Vill Gott, dass sie leiden, so sind sie damit einverstanden. Will er es nicht, betrÜben sie sich nicht. Sind sie die Zielscheibe von Verfolgungen, so empfinden sie lebhafte Freude darÜber und bewahren tieferen Frieden als vordem. Nicht im geringsten fühlen sie Groll gegen jene, die ihnen Böses tun oder ihnen solches zufüg'en möchten. Doch was sage ich? Sie lieben sie sogar besonders." 3

1476. 3. Innere vVunsclzlosigkeit und Unbekümmert/uit : " Kurzum, sie fÜhlen sich nicht mehr zu

, Clditeau, 6. Dem., chap. I., p. 279-281. 2 Cluiteau, I. c., p. 308. - 3 Ibid., p. 295.

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den Tröstungen hingezogen ... Ihr einziges Streben ist darauf gerichtet, allein zu sein oder am geistlichen Fortschritt des Nächsten zu arbeiten. Weder Trockenheiten noch innere Leiden belästigen sie. Immer sind sie besorgt, den lieben Heiland mit Liebe zu umgeben. Nie möchten sie aufhören, ihn zu preisen. " I

1477. 4. Au.fhi/ren der Verzückungen. " Ist die Seele einmal dort angelangt, hat sie keine Verzükkungen mehr, oder nur höchst selten. Dann sind es nicht mehr Entrückungen oder Geistesaufflüge wie die, von denen ich sprach. Ausserdem geschieht es auch fast nie vor Zeugen, was ihr ehemals etwas ganz Gewohntes war." 2 Nun ist also Frieden, vollständige Ungetrübtheit,'" In diesem Tempel Gottes, in dieser ihm angehörenden Wohnung, geniessen sich einzig und allein Gott und die Seele in tiefstem Schweigen. " 3

1478. 5. Glühender, aber gut gezügelter Eifer .für die Heiligung der Seelen. Es genügt nicht, in solch süsser Ruhe zu verbleiben. Man muss handeln, gute Werke tun, leiden, Gottes und des Nächsten Sklave sein, am Fortschritt in den Tugenden, besonders in der Demut, arbeiten. Nicht wachsen bedeutet nämlich abnehmen. Gleichzeitig das Amt von Maria und Martha versehen, das heisst Vollkommenheit. Man kann am Seelenheil anderer mitwirken, ohne das Kloster zu verlassen. Ohne der ganzen Welt \\1ohltäter sein zu wollen, kann man jenen Gutes erweisen, mit denen man lebt.

" Das aber wird um so verdienstlicher sein, weil ihr dazu verpflichtet seid. Glaubet ihr, es sei etwas Geringes, durch tiefe Demut, den Geist der Abtötung, der Aufopferung, durch aufmerksame Geschwisterliebe und durch eure Liebe zum Heiland in der Umwelt das himmlische Fener zu entfachen und ein fortwährender Ansporn zur Tugend zu werden? Im Gegenteil, ihr werdet einen herrlichen Lohn empfangen und

1 Chateau, 1. c., p. 296. - 2 Ibid., p. 300. - 3 Ibid., p. 299.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 1021

dem göttlichen Meister einen sehr wohlgefälligen Dienst leisten. " 1

Vor allem aber müssen diese Werke aus Liebe geschehen. "Der Herr schaut weniger auf die Grösse unserer Werke als auf die Liebe, mit der wir sie verrichten. " 2

1479. Zum Schlusse fordert die Heilige ihre Mitschwestern auf, in diese Wohnungen einzugehen, .falls es dem Burgherrn gefällt, sie darin einzu.führen, aber den Eingang nicht erzwingen zu wollen.

" Erfahret ihr daher von seiner Seite Widerstand, so rate ich euch, versuchet nicht, weiter vorzudringen. Ihr würdet ihn so sehr erzürnen, dass er euch den Zugang für immer verschliessen würde. Er liebt überaus die Demut. Haltet ihr euch für unwürdig, selbst zur dritten Wohnung zugelassen zu werden, so wird euch bald der Eingang zllr fÜnften offen stehen. Suchet dann diese recht oft auf und dient ihm recht eifrig, so dass er euch vielleicht selbst in sein Privatgemach Zulass gewähren wird. "3

ZUSAMMENFASSUNG DES ZWEITEN KAPITELS.

1480. Nach Besprechung der vier grossen Phasen der Beschauung mit ihren abwechselnden schmerzlichen Prüfungen und berauschenden Freuden scheint uns der von uns gegebene Sinn der eingegossenen Beschauung bestätigt zu sein, nämlich die .fortschreitende Besitzergreifung der Seele durch Gott, und zwar Jllit deren.freier Zustimmung.

I. Allmählich bemächtigt sich Gott ganz und gar der beschaulichen Seele : zuerst des Willens im Ruhen. Dann aller inneren Krä.fte in der vollen Vereinigung. Ferner, der inneren Fähigkeiten und der äusseren Sinne in der Ekstase. Und schliesslich der ganzen Seele, nicht mehr in vorübergehender, sondern in dauernder 'Weise, in der geistlichen Vermählung.

Erfasst aber Gott die Seele, so tut er es, um Licht und Liebe über sie zu ergiessen, um ihr seine

1 Ibid., p. 313-314. - 2 Ibid., p. 314. - 3 Cluiteau, Epilogue, 316-317.

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ZWEITES KAPITEL.

Vollkommenheiten mitzuteilen. a) Dieses Licht ist anfangs schwach und es ist schmerzhaft, solange die Seele noch nicht genügend geläutert ist. Es wird aber stärker und trostvoller, obschon wegen der Schwäche unseres Geistes stets mit Finsternis vermengt. Es macht einen starken Eindruck, weil es von Gott kOlllmt und der Seele El/ahrltngs'U!isseJlsclza.ft vermittelt, einerseits in bezug auf Gottes unendliche Grösse, Güte und Schönheit, andererseits in bezug auf die Kleinheit, Nichtigkeit und Armseligkeit des Geschöpfes. b) Die der beschaulichen Seele verliehene Liebe ist glühend, grossmütig und opferwillig : in Selbstvergessenheit wünscht man, sich für den Geliebten hinzuopfern.

1481. 2. Dieser gi/ttlichen Besitzergreifung gibt die Seele ihre .freie Zustimmung. Frei und.freudlg· liefert sie sich Gott aus, und zwar durch tiefste Demut, durch Kreuzesliebe um Gottes und Jesu willen, d. h. durch heilige Hingabe. So läutert sie sich immer mehr von ihren Unvollkommenheiten, 'l'ereinigt sich mit Gott und wandelt sielt in i/zn UlIl, so dass so vollständig wie möglich der sehnliche \Vunsch des Heilandes verwirklicht wird: " Ut et ipsi in nobis unU1ll sinto " I

So ist die wahre Mystik. Sie muss vom .falschen Mystizismus oder Quietismus unterschieden werden.

ANHANG: DER FALSCHE MYSTIZISMUS ODER QUIETISMUS.

1482. Neben den echten Mystikern, deren Lehre wir soeben darlegten, fanden sich zuweilen .falsche Mystiker. Unter verschiedenen Namen verdrehten sie den Sinn des passiven Zustandes und fielen in Lehrirrtümer, die Gefahren fÜr die Sitten bargen: so die Montanisten, die Begharden. 2 Der verbrei-

'loh. XVJI, 2I.

2 P. POURRAT, La spiritualitl ckn!tienne, t. I. S. 97-99, I04-I07;

t. 1I, S. 320-321, 327-328.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG.

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teste Irrtum aber war der Quietismus. Er stellte sich in drei verschiedenen Formen dar: I. der grobe Quietismus von Molinos ; 2. der gemilderte und vergeistigte von Fenelon; 3. die halbquietistischen Strebungen.

1. DER QUIETISMUS DES MOLINOS 1.

1483. Michael de Molinos wurde 1640 in Spanien geboren, brachte jedoch den grössten Teil seines Lebens in Rom zu. Hier verbreitete er in zwei Werken, die viel Erfolg hatten, seine Irrlehren : Der "Geistliche Wegweiser" und " das Gebet der Ruhe".

Sein Grundirrtum lag in der Behauptung, die Vollkommenheit bestehe in vollständiger Passivität der Seele, in einem fortgesetzten Akte der Beschauung und der Liebe. Sei dieser erst einmal gesetzt, enthebe er die Seele aller anderen Akte, sogar des Widerstandes gegen die Versuchungen : "Lassen u'ir Gott machen", ist sein Wahlspruch.

1484. Um die einzelnen Irrtümer deutlicher hervortreten zu lassen, stellen wir in zwei Spalten die katholisclte LeJtre den Abirrungen des Molinos gegenüber:

Katholische Lehre:

1. Es gibt einen passiven Zustand, da Gott durch seine wirkende Gnade in uns tätig ist. Gewöhnlich jedoch erreicht man ihn erst nach langer Übung der Tugenden und der Betrachtung.

2. Der Akt der Beschauung dauert nur ganz kurze Zeit, obschon der sich daraus ergebende Seelenzustand mehrere Tage dauern kann.

Irrtümer des Molinos :

Es gibt nur einen Weg, den inneren Weg oder Weg der passiven Beschauung, zu dem man aus sich selbst mit der gewöhnlichen Gnade gelangen kann. Man muss daher sofort diesen passiven Weg einschlagen und so die Leidenschaften vernichten.

Der Akt der Beschauung kann jahrelang dauern, ja das ganze Leben hindurch, auch während des Schlafens, ohne von neuem beginnen zu mÜssen.

Da die Beschauung nicht aufhört, enthebt sie die Seele aller bestimmtem Tugend-

3. Die Beschauung enthält zwar in vorzÜglicher Weise die Akte aller christlichen

, P. DUDON, Le Quietiste espagnol Michel Molinos, Paris, 1921.

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ZWEITES KAPITEL.

Katholische Lehre:

Tugenden, aber enthebt uns nicht der Pflicht, ausserhalb der Beschauung wirkliche Akte dieser Tugenden zu setzen.

Irrtümer des MoHnos: akte, die nur fÜr Anfänger sind, z. B. Akte des Glaubens, der Hoffnung, der Gottesverehrung, der Abtötung. Sie enthebt auch der Beichte

u. s. w.

Es ist eine Unvollkommenheit, an J esus Christus und seine Geheimnisse zu denken. Man muss sich in die göttliche Wesenheit versenken, und das genügt: wer sich Bilder oder irgendwelcher Ideen bedient, betet Gott nicht im Geiste und in der Wahrheit an.

I m Zustande der Beschauung muss uns alles gleichgültig sein, sogar die eigene Heiligung, das eigene Heil. Auch die Hoffnung soll darangegeben werden, damit die Liebe selbstlos sei.

4· Der Hauptgegenstand der Beschauung ist Gott selbst, J esus an zweiter Stelle. Ausserhalb des beschaulichen Aktes besteht die Pflicht, an J esus Ch ristus, den notwendigen Mittler zu denken und durch ihn zu Gott zu gehen.

s· Heilige Hingabe an Gott ist eine sehr vollkommene Tugend. Sie darf sich aber nicht bis zur GleichgÜltigkeit in beZllg auf das ewige Heil steigern: im Gegenteil, man soll nach diesem verlangen, es erhoffen und erflehen.

6. Es kann geschehen, dass bei den inneren PrÜfungen Phantasie und GefÜhl in grosse Verwirrung geraten, während sich die Seele in ihrem Innersten tiefen Friedens erfreut. Der Wille jedoch muss immer den Versuchungen widerstehen.

Man bekÜmmere sich nicht um den Widerstand bei Versuchungen. Die unzÜchtigsten Vorstellungen, die sich daraus ergebenden Akte sind nicht schuldbar, weil sie ein Werk des Teufels sind. Das sind passive PrÜfungen, wie sogar die Heiligen sie durchmachten. Man hÜte sich

wohl, sie zu beichten. So gelangt man zur vollkommenen Reinheit und zur innigen Vereinigung mit Gott '.

Nach Darlegung der echten katholischen Lehre sind wir der Widerlegung dieser Irrlehre enthoben. Aber die Geschichte des Quietismus führt zu dieser Schlussfolgerung:

1 Um zu sehen, wie weit Molinos gegangen ist, lese man nur die aus seinen Büchern und seinen Erklärungen entnommenen Sätze, die von Innozens XI. verurteilt wurden. (Dekret v, 28. Aug. u. Constit. Crelestis Pastor v. 19· Nov. 1687.) Denziger, Enchiridion, N. 1221-1288.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG.

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Will man zu früh zur Beschauung gelangen oder sich selbst darin einfültren, ehe man die Leidenschaften abgetötet und die christlichen Tugenden geÜbt hat, so fällt man um so tiefer, je höher man hinauf wollte. " Qui veut faire l'alll{e fait la bete, " sagt der Franzose. 1

. 2. DER GEMILDERTE QUIETISMUS FENELON'S.2

1485. Der Quietismus des Molinos wurde in gemdssigter Form und ohne die unsittlichen Folgerungen, die sein U rheber daraus gezogen hatte, von Mme Guyon wieder aufgenommen. Diese war in noch jungen Jahren Witwe geworden und gab sich mit vollem Eifer einer Einbildungs- und GefÜhlsfrömmigkeit hin, die sie den Weg der reinen Liebe nannte. Für ihre Ansichten gewann sie zunächst den Barnabiten P. Lacombe. Dann bis zu einem gewissen Grade Fenelon selbst. In" L'Explication des maximes des Saints sur la vie interieure" (1697) formulierte er einen gemilderten Quietismus, durch den er die Lehre von der reinen Liebe in helles Licht zu setzen suchte. Er nannte sie" die reine christliche Liebe, die ohne Beimengung eines selbstsÜchtigen Beweggrundes besteht. "

Alle in diesem Buche enthaltenen Irrtümer können nach dem Urteil von Bossuet auf folgende vier Sätze zurÜckgefÜhrt werden: 1) "Es gibt in diesem Leben einen Gewohnheitszustand der reinen Liebe, worin das Verlangen nach dem ewigen Heile nicht mehr Raum findet. 2) In den letzten PrÜfungen des inneren Lepens kann eine Seele zur unbesiegbaren und wohlerwogenen Uberzeugung gebracht wer.den, sie sei gerechterweise von Gott verworfen. Aus dieser Uberzeugung heraus könne sie dann ihre ewige GlÜckseligkeit unbedingt zum Opfer bringen. 3) Im Zustande der reinen Liebe verhält sich ßie Seele gegen ihre eigene Vollkommenheit und gegen die Ubung der Tugenden gleichgÜltig. 4) In gewissen Zuständen verlieren die beschaulichen Seelen das deutliche, fÜhlbare und Überdachte Schauen J esu Christi." 3

1486. Gewiss birgt der Quietismus dieser Art weniger Gefahren als der des Molinos. Aber die vier Sätze sind falsch und könnten zu verhängnisvollen Folgerungen führen.

1 Wir D~utsche würden sagen: " Hochmut kommt vor dem Fall. " (Anm. d. Ubers.)

2 FENELON, Maximes des Saints, neue Ausgabe v. A. Chtfrel, 19II. - GOSSELIN, (Euvres de Fenelon, t. IV. - L. CROVSLE, Bossuet et Fenelon, 1894. - HUVELlN, Bossltet, Fenelon, le quietisme. - A. LARGENT, Fenelon, (Dict. de Theo!., t. V., co!. 2138-2169.)

3 Im Enchiridion v. Denzinger, I327-1349, finden sich die von Innozenz XII. verurteilten Sätze Fene1on' s.

N° 683. - 33

]026

ZWEITES KAPITEL.

I) Falsch ist, auf Erden gäbe es einen gewohnheitsmCls gen Zustand reiner Liebe mit Ausschluss der Hqffmmg. 1\ Recht nämlich sagt der 5. Artikel von Issy' : " ... in jedl Stande, wenn auch nicht in jedem Augenblick, ist jed Christ verpflichtet, sein ewiges Heil ausdrücklich zu woll( zu wünschen und zu erflehen, und zwar wie eine von G( gewollte Sache, die auch wir nach seinem Willen zu sein Ehre verlangen sollen." - Wahr ist allerdings, dass 1 vollkommenen Seelen das Verlangen nach der ewigen Seli

-keit oft durch die Liebe geboten wird und dass es Momet gibt, wo sie nicht ausdrÜcklich an ihr Heil denken.

2) Der zweite Satz ist ebenso falsch. Wohl gibt es Heilil' die in dem niedrigeren Teile ihrer Seele den lebhaftest Eindruck hatten, al~. wären sie verworfen. Das aber w keine u,ohlerwogene Uberzeugung des ho'heren Teils der See Einige haben zwar ihr Heil bedingterweise zum Opfer gebrae! das war jedoch kein unbedingtes Opfer.

3) Es ist ferner ebenso unricbtig, zu behaupten, im Zustan( der reinen Liebe verhalte sich die Seele gleichgÜltig ihrer Vo kommenheit und den TugendÜbungen gegenÜber. Im Gege teil, wir sahen ja, wie die hl. Therese, selbst in den höchst! Graden von Vollkommenheit, immer wieder die Sorge fÜr d( Fortschritt und die grundlegenden Tugenden anempfiehlt.

4) Falsch ist endlich, in den vollkommenen ZustClnden gel der klare Blick fÜr J esus Christus verloren. Wir erwähnt( bereits, dass die hl. Therese in der umwandelnden Verein gung Gesichte der hl. Menschheit J esu Christi hatte. Richtl ist, dass man in gewissen vorÜbergehenden Momenten nie! ausdrücklich an ihn denkt.

3· HALBQUIETISTISCHE STREBUNGEN. 2

1487. In gewissen sonst vorzÜglichen AndachtsbÜcher finden sich zuweilen mehr oder minder quietistische Strebur - gen, die zu Missbräuchen fÜhren können, falls sie fÜr ?Ziel aussergewöhnliche Seelen als Richtlinien benützt würden.

Der sich in diese BÜcher einschleichende HaujJtirrtUi ist dieser: man scheint allen Seelen, selbst den wenig fortg< schrittenenen, Stimmungen der Passi7!l'tat einflössen zu wo len, die in Wirklichkeit nur fÜr den Einigungsweg sind. Ma

< will zu schnell zur Vereinjachungdes inneren Lebens schreite und vergisst, dass für die meisten Seelen diese Vereinfachun

1 Diese Artikel wurden im Semir,ar v. Issy verfasst als Ergebnis dE Besprechungen zwischen Bossuet, N oailles, Bischof von Chii1on, Fene10n u. Tronson (1694-1695).

2 P. JOSE, Etudes relig., 20. Dez. 1897, S. 804. - MGR. A. FARGEi Phbz. mystiques, S. 174-184.

DIE EINOEGOSSENE BESCHAUUNG.

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erst nutzbringend sein kann, nachdem sie der diskursiven ßetraclltzmg, der eingelienderen Gewi.lse1Zseryorschung und der Ausübung sittlicher Tu,r;enden sich beflissen haben. Es ist das eine Ausschreitung von etwas an und für sich Gutem: im Bestreben, die Seelen so rasch als möglich zur Vollkommenheit zu führen, überspringt man die Zwischenstrecken und schlägt schon zu Anfang Mittel vor, die sich nur fÜr fortgeschrittene Seelen eignen.

1488. a) Unter dem Vorwande also, die selbstlose Liebe zu begÜnstigen, gewährt man der christlichen HoJJnulZK nicht den ihr gebÜhrenden Platz. Es wird angenommen, das Verlangen nach ewiger GlÜckseligkeit sei nur nebensächlich, die Ehre Gottes sei alles. In. Wirklichkeit sind aber die Ehre Gottes und die ewige GlÜckseligkeit innig miteinander verbunden: denn durch die Erkenntnis und die Liebe Gottes fördert man seine Ehre und gleichzeitig besteht unser GlÜck in dieser Erkenntnis und Liebe. Anstatt die zwei Bestandteile zu trennen, Süll man sie vielmehr verbinden und zeigen, wie sie sich gegenseitig ergänzen und im Einklang zueinander stehen. Bei getrennter Erwägung der beiden ist jedoch zu beachten, die Ehre Gottes sei das wichtigste.

b) Man legt auch zuweilen zuviel Nachdruck auf die passive Seite der Frömmigkeit: Gott in uns wirken lassen, von ihm auf den Armengetragen ~lJerden, ohne hinzuzufügen, dass Gott das im allge~!!inen erst tut, nachdem man sich lange Zeit hindurch den Ubungen aktiver Frömmigkeit hingegeben hat.

c) Bei Besprechung der Mittel zur Heiligung schlägt man fast ausschliesslich die dem Einigungswege zugehörigen vor: man kritisiert z. B. die methodische und eingeschaclztelte Betrachtung, wie man sie nennt; die ins einzelne gehenden Vorsätze, wodurch, wie man sagt, die Einheit des inneren Lebens durchbrochen wird. Ferner, die auf einzelnes g-erichleten Gewissenseryorsc1lungen, die man durch einen einfachen Rückblick ersetzen möchte. Dab'ei vergisst man aber, dass Anfänger im allgemeinen nur durch das methodische, innerliche Gebet zum innerlichen Gebet der Einfalt gelangen. Ebenso, dass bei ihnen die Allgemeinvorsätze, Gott aus ganzem Herzen zu lieben, der g~naueren Bestimmtheit bedÜrfen. Ferner, dass sie zur Erkenntnis ihrer' Fehler, sowie zu deren Besserung, aufs einzelne eingehen müssen. Nur zu sehr liegt die Gefahr nahe, sich mit einem oberflächlichen Blick ins Innere zufrieden zu geben, wobei ihre Leidenschaften und Schwächen ruhig weiterbestehen können.

Mit einem Wort, man vergisst zu oft, dass mehrere Wegstrecken zurÜckgelegt werden mÜssen, ehe die Seele zur Vereinigung mit Gott und ?um passiven Zustand gelangt.

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DRITTES KAPITEL.

DRITTES KAPITEL.

Aussergewöhnliche mystische Vorgänge. 1489. Im Geleit der Beschauung treten oft aussergewö'hnliche Vorgänge, Gesichte, Offenbarungen u. dgl. auf, die wir bei der Besprechung der Beschauung unberücksichtigt gelassen haben. Da der böse Feind die göttlichen Werke nachäfft, gibt es zuweilen auch teuflische Phänomene, sowohl bei den echten als den falschen Mystikern. Wir besprechen nun nacheinander die göttlichen und die teuflischen Vorgänge.

r. ABSCHNITT. AUSSERGEWÖHNLICHE MYSTISCHE VORGÄNGE GÖTTLICHEN URSPRUNGS. I

Es gibt zweierlei Vorgänge dieser Art : die der intellektuellen und die der psycho- physiologischen Ordnung.

§ 1. Intellektuelle Vorgänge göttlichen Ursprungs.

Sie lassen sich auf zwei Hauptvorgänge zurückführen : Privatoffenbarungen und gratis verliehene Gnaden.

r. Privatoffenbarungen.

Wir legen dar : 1. deren Wesen / 2. die Richten zur Unterscheidung der echten von den .falschen Offen barungen.

1 STE THERESE, Vie, ch, xxv-xxx, Chaleau de l'ame, 6e Demeure, et alibi p'lssim. - S. JOANNES ASTA CRUCE, 1. II, ch, XX1-XXX et alibi passim. - ALVAREZ DE PAZ, op. eil., t, III., 1ib. V., P. IV., de discrelione spiriluum. - M. GODINJ<:Z, Praxis Iheot. mysi., lib. X. _ BENEDICTUS XIV, De Bealijicat., lib. IV, P. I. - RlBET, La myslique divine, t. II. - A. POULAIN, Graas d'oraison, eh. XX-XXI1I. _ A. SAUDREAU. L'ttal myslique, ed. 1921, ch. XVII-XXI. _ P. GARRIGOU-LAGRANGE, Perf. el contemplation, t. II, p. 536-562. - MGH. A. FARGES, PMn. mysliques, II. Partie.

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1029

1. WESEN DER PRIVATOFFENBARUNGEN.

1490. A) Unterschied zwischen besonderen und allgemeinen Offenbarungen. Im allgemeinen versteht man unter göttlicher Offenbarung eine von Gott gemachte, übernatürliche Kundgebung einer verborgenen Wahrheit. Geschieht diese Kundgebung zum TlVoltle der ganzen Kirche, so ist es eine allgemeine Offenbarung. Findet sie nur zum besonderen Nutzen der davon Begünstigten statt, so heisst sie Privatoffenbarung. Hier ist nur von dieser letzteren die Rede.

Zu allen Zeiten hat es besondere Offenbarungen gegeben. Die Hl. Schrift und die Heiligsprechungsprozesse liefern uns Beispiele dafür. Solche Revelationen gehören nicht zum katholischen Glaubensgut. Dieses nämlich stützt sich e.i,nzig auf das, was in der Heiligen Schrift und der Uberlieferung niedergelegt und der heiligen Kirche zur Auslegung anvertraut ist. Die Gläubigen sind also nicht verpflichtet, den Privatoffenbarungen Glauben zu schenken. Werden sie von der Kirche gutgeheissen, so begreift das nicht eine Verpflichtung zu glauben, sondern die Kirche, sagt Benedikt XIV., gestattet nur deren Veröffentlichung zur Belehrung und Erbauung der Gläubigen : die ihnen zu gebende Beistimmung ist daher kein katholischer Glaubensakt, sondern ein menschlicher, der sich auf Wahrscheinlichkez't und.fromme GlaubwÜl'digkeit gründet I. Ohne Billigung der kirchlichen Behörden dürfen keine Privatoffenbarungen veröffentlicht werden. 2

Dennoch sind viele Theologen der Meinung, die Offenbarungen dÜrften von jenen, die sie erhalten, und jenen, [ur

1 De servo Dei beatil, 1. II, C. 32, N. II. : "Siquidem hisce revelationibus ta1iter approbatis, licet non debeatur nec possit adlliberi assensus jidei catholic(J!, debetur tamen assensus fidei humanaJ juxta prudentire regulas, juxta quas nempe tales reve1ationes sunt probabiles pieque c1'edibiles ".

o Dekret Urbans VIII, 13. März 1625; K1emens IX, 23. Mai 1668.

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DRITTES KAPITEL,

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die sie eine Kundgebung des göttlichen Willens sind, wahrem Glauben aufgenommen werden, sobald sie gewisse Beweise ihrer Echtheit besitzen.

1491. B) Wie die Offenbarungen gescheh Sie geschehen auf drei verschiedene Weisen: du Viszonen (Gesichte), iibenzatiirliche Wor/e,giittlic.

EI/ass twerdett.

a) Gesichte sind Übernatürliche Wahrnehmt gen eines dem Menschen natürlicherweise unsicl baren Gegenstandes. Offenbarungen heissen sie n1 wenn sie verborgene Wahrheiten enthüllen. Es gi deren drei Arten : sinnfällige, bz'ldhafte oder rei gelstige Gesichte.

r) Die simifälligen oder leiblichett Visionen, aue Erschel'nullgen genannt, sind Gesichte, bei dene die Sinne eine objektive Wirklichkeit wahrnehmel die natÜrlicherweise dem Menschen unsichtbar is Der wahrgenommene Gegenstand braucht nicht ei aus Fleisch und Knochen bestehender Körper z sein. Eine sinnfällige oder leuchtende Gestalt genÜgl

So wird allgemein mit dem hl. Thomas angenommen, di. persiin!ichen Erscheinungen des Heilandes seien seit seine Himmelfahrt äusserst selten gewesen. Er erscheint als{ meistens in sinnfälliger Gestalt, die aber nicht wirklich seir Leib ist. Sein Erscheinen in der hl. Eucharistie lässt siclJ auf zweierlei Weise erklären, sagt der hl. Thomas, entwedel durch einen wunderbaren Eindruck auf die Gesichtsorgane (das trifft zu, wenn er einem Menschen allein erscheint), oder durch Bildung einer wirklichen sinnfälligen Luftgestalt, die aber vom Leibe des Heilandes verschieden ist. Denn, fügt er bei, der Leib des Erlösers kann in seiner eigenen Gestalt nur an einem einzigen Orte gesehen werden: " Corpus Christi 11071, potest in propria specie viderz' nisi in uno !oco in quo definitive continetur". '

Was von Christus gesagt wird, gilt auch von der allerseligsten Jungfrau. Erschien sie in Lourdes, so blieb ihr Leih im

v e s t 1

1

1 Sumo theol., rrr., q. 76, a, 8. Das geht auch aus dem Zeugnisse der h1. Therese hervor, Re/at. XIII, CEuvres, t. Ir, p. 234: .. Aus gewissen Dingen, die er mir sagte, Wurde mir begreiflich, dass er seit seiner Himmelfahrt nicht wieder zur E,,<ie kam, um sich den Menschen mitzuteilen, ausser im allerheiligsten Altarssakrament H.

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1031

Himmel, und an dem Orle der Erscheinung war nur eine sinnfällige Gestalt, die ihre ZÜge trug. So erklärt sich, dass sie bald unter dieser, bald unler jener Gestalt erscheint.

1492.2) Bildhafte oder Phantasiegesz'clzte werden von Gott oder den Engeln in dem Einbildungsvermögen hervorgebracht, und zwar sowohl in wachendem als in schlafendem Zustande. So erscheint ein Engel mehrmals dem hl. J oseph im Schlafe, und die hl. Therese erzählt von mehreren bildhaften Gesichten der hl. Menschheit des Heilandes, die sie im wachenden Zustande erhielt. 10ft findet sich im Geleit dieser Gesichte ein intellektuelles Schauen, däs deren Bedeutung erklärt 2. Zuweilen werden auch in der Vision ferne Gegenden durchstreift : das sind dann meistens bildhafte Gesichte.

1493. 3) In den intellektuellen Gesichten erfasst der Geist ohne sinnfällige Gestalten eine vVahrheit des geistlichen Lebens: derart war die Vision der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, die der hl. Therese zuteil ward und die wir N. I473 berichteten. Solche Gesichte entstehen entweder durch berez'ts erworbene Begriffe, die aber von Gott eingeordnet oder richtiggestellt werden, oder eingegossene Gestaltm, die besser als die erworbenen Begriffe die göttlichen Dinge darstellen. Bisweilen sind sie dunkel und bekunden nur die Gegenwart des Gegenstandes. 3 Dann wieder sind sie deutlich, aber rlauern nur einen Moment : es sind gleichsam einen tiefen Eindruck hinterlassende Intuitionen. 4

Es gibt Gesichte, die gleichzeitig zwei oder drei Merkmale tragen. So war das Gesicht des hl. Paulus auf dem Wege nach Damaskus gleichzeitig sz'nn.fällzg, er sah das aufblitzende Licht, bild/ta.ft, die Züge des Ananias wurden seiner Phantasie vorgestellt, und geistig, er erkannte Gottes Willen in bezug auf ihn.

1 Vie, ch. XXVIII. - 2 Vie, ch. XXIX.

3 Vie, ch. XXVII, p. 336. - 4 Cltateau, 6. Dem" eb, X, p. 262.

1032

DRITTES KAPITEL.

1494. b) Übernatürliche Worte sind Kundgebungen des göttlichen Gedankens. die den äusseren Sinnen, den inneren Sinnen oder unmittelbar dem Verstande vernehmbar sind. Sie heissen Izörbar, wenn es in den Ohren erklingende, wunderbarerweise hervorgebrachte Vibrationen sind. Ez'ngebildet, wenn das Phantasievermögen sie vernimmt. Geistig, wenn sie sich unmittelbar an den Verstand wenden I.

1495. c) Göttliches Erfasstwerden besteht in wonnigen, inneren Gefühlen, die dem Willen durch eine Art göttlichen Kontakt eingeprägt werden und von hellleuchtendem Lichte für den Verstand begleitet sind.

Es sind deren zweierlei zu unterscheiden: diel{e7IJiHmlichen, göttlichen Berührungen und die substanziellen, göttlichen BerÜhrungen. Diese treffen zwar auch den Willen, sind aber so tiefgehend, dass sie in der Substanz selbst der Seele erzeugt zu sein scheinen. Daher die Ausdrucksweise der Mystiker, die behaupten, einen Kontakt von Substanz zu Subztanz empfunden zu haben. In Wirklichkeit wirken diese Berührungen auf die iiusserste Spitze des 'l'Villens und Verstandes ein, da nämlich, wo diese Fähigkeiten sich in die S':!elensubstanz einwurzeln. Dennoch sind es nach der Lehre des hl. Thomas die Fähigkeiten und nicht die Substanz, die diese EindrÜcke wahrnehmen 2. Diese äusserste Spitze des Willens wird von den Mystikern der Gipfel des Geistes oder der Gipfel des Willens, auch die Tiefe der Seele genannt.

1496. C) Verhalten in bezug auf solche aussergewöhnliche Gnaden. Einstimmig lehren die grossen Mystiker, man solle diese aussergewölznlichen Gnaden weder verlangen noch erbitten. Sie gehören ja nicht zu den notwendigen Mitteln, um zur Vereinigung mit Gott zu gelangen. Infolge unserer bösen Neigungen sind es sogar zuweilen eher Hindernisse für die Vereinigung mit Gott. Das weist insbeson-

1 Der hl. J oh. v. Kreuz behandelt ausführlich die drei Arten von übernatürlichen Worten, aujeinanderjolgende. jormelle, substanzielle, La Montt!e du Carmel, 1. II., ch. XXVI-XXIX.

2 S. THoM., Ia Ure, q. II3, a, 8. De Veritate, q. 28, a. 3. Cfr. GARRIGOU-LAGRANGE, oP. cit., t. 1I, p. 560.

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1033 dere der hl. J ohannes v. Kreuz nach. Dieses Verlangen nach Offenbarungen, so behauptet er, trübt die Reinheit des Glaubens, entwickelt eine zu Täuschungen führende gefährliche Wissbegier, verwikkelt den Geist in eitle Hirngespinste, bekundet oft Mangel an Demut und Mangel an Ergebenheit gegen den Erlöser, der uns in den Allgemeinoffenbarungen alles gab, was wir zum Heile brauchen.

Daher wendet er sich denn auch mit stärkstem Nachdruck gegen jene unklugen SeelenfÜhrer, die solches Verlangen nach Gesichten begÜnstigen. "Sie ermutigen die Seelen ", sagt er, "sich auf diese oder jene Weise mit solchen Visionen zu befassen. Infolgedessen wandeln die Seelen aber nicht mehr im reinen, vollkommenen Glaubensgeiste. Anstatt sie nun zu erbauen und im Glauben zu bestärken, lassen sich die Beichtväter zu langen Gesprächen Über die Gesichte herbei. So geben sie den Seelen zu verstehen, dass die Gesichte ihnen gefallen und dass sie der Sache eine grosse Bedeutung- beilegen, und die Seelen verhalten sich dementsprechend. Ihren EindrÜcken gänzlich ausgeliefert, lassen sie sich nicht mehr vom Glauben leiten, sind vom Sinnlichen nicht mehr frei, entblösst, losgelöst ... 'vVo bleibt die Demut dieser Seele, sobald sie darin ein besonderes Gut zu finden meint, ja sich vielleicht sogar einbildet, Gott schätze sie in besonderer 'Weise? ... Diese Seelen, die Gegenstand göttlicher Mitteilungen zu sein scheinen, werden dann von den Beichtvätern ausgenÜtzt, gebeten, als Zwischenhändler zu dienen, um von Gott dies oder jenes ZU erfahren, sei es in bezug auf sie selbst oder auf andere. Und solche Seelen sind albern genug, derartige Dienstleistungen zu versprechen ... In \Vahrheit gefällt das Gott nicht. Es ist ihm in keiner Weise erwÜnscht" '.

Übrigens sind bei solchen Gesichten viele Täuschungen möglich. Darum bedarf es einiger Regeln, um die wahren Gesichte von den falschen zu unterscheiden.

2. REGELN ZUR UNTERSCHEIDUNG DER OFFENBARUNGEN.

1497. Zur richtigen Unterscheidung der wahren Offenbarungen und zur Erkenntnis des darin sich

I La M01llte du CarIlId, 1. 1I, eh. XVI.

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DRITTES KAPITEL.

einschleichenden Menschlichen gilt es, möglichst genaue Regeln aufzustellen. Diese Regeln betreffen die Person, die Offenbarungen erhält, den Gegenstand, auf den sie sich beziehen, die Wirkungen, die sie hervorbring-en, die Zeichen, die sie begleiten.

A) Regeln betniffs der durch Ojftnbarunge1l begiinst(r;ten Person.

1498. Allerdings kann Gott, wem er will, Offenbarungen zuteil werden lassen, auch Sündern. FÜr gewohnlich aber sucht er sich dazu Seelen aus, die nicht nur eifrig, sondern bereits zum 1IZ)'stiselten Zustande erhoben sind. Doch selbst zur Auslegung der wahren Offenbarungen ist es notwendig, die guten und schlechten Eigenschaften jeper Personen zu kennen, die Offenbarungen erhalten zu haben glauben. Dazu bedarf es aber der Erforschung ihrer natürlichert und Übernatürlichen Veranlagung.

a) Natürliche Eigenschaften: I) Bezüglich des Temperamentes. Sind es Menschen mit seelischem Gleichgewicht oder mit Psycho-Neurose oder Hysterie behaftet? Es ist nämlich klar, dass in letzterem Falle Grund vorliegen würde, den angeblichen Offenbarungen misstrauisch zu begegnen, da solche Naturen Halluzinationen zugänglich sind.

2) Handelt es sich in geistiger Hinsicht um Menschen mit gesundem Verstand und geradem Urteil oder um solche mit überschwenglicher Phantasie, die mit äusserer Empfindsamkeit verbunden ist? Um einen gebildeten oder einen unwissenden Menschen? \Vo hat er Unterricht genossen? Ist sein Geist nicht durch Krankheit oder langes Fasten geschwächt?

3) Ist der Betreffende in sittlicher Hinsicht vollkommen aufrichtig oder vielleicht gewohnt, die Wahrheit auszuschmücken oder manchmal sogar Erfundenes fÜr wahr auszugeben? Hat er einen ruhigen oder leidenschaftlichen Charakter?

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1035

Die Lösung aller dieser Fragen beweist freilich nicht das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Offenbarung, verhilft jedoch sehr zur richtigen Bewertung des von den Sehenden Bezeugten.

14'99. b) Bezüglich der übernatürlichen Eigenschaften ist zu untersuchen, ob die betreffende Person: I) mit solider, lang erprobter Tugend oder nur mit mehr oder minder fühlbarem Eifer durchdrungen ist. 2) Ob sie au.frichtige Demut besitzt, oder im Gegenteil sich gern vordrängt, aller Welt ihre Gnadengaben erzählt. Wahre Demut ist der PrÜfstein der Heiligkeit. Fehlt sie, so ist das ein sehr schlimmes Zeichen. 3) Ob sie ihrem Seelenführer die erhaltenen Offenbarungen kundgibt, anstatt sie anderen Menschen mitzuteilen, und ob sie dessen Ratschläge gelehrig befolgt. 4) Ob sie bereits die passiven Prü.fungen und die ersten Grade' der Beschauung erfahren hat. Besonders, ob sie in ihrem Leben Ekstasen hat, d. h. die Tugenden heroisch übt. Im allgemeinen werden nämlich von Gott solche Gesichte vollkommenen Seelen vorbehalten.

1500. Wohl zu beachten ist dieses: das Vorhandensein der erwähnten Eigenschaften beweist nicht das Stattfinden einer Offenbarung, lässt aber das Zeugnis der Begnadigten glaubwÜrdiger erscheinen, Ihr Fehlen beweist nichts gegen die Offenbarung, macht jedoch das Auftreten einer solchen wenig wahrscheinlich.

Die auf diese Weise erhaltenen Aufschlüsse erleichtern es ausserdem, Lügen und Täuschungen der vorgeblichen Seherinnen aufzudecken. Es gibt deren nämlich, die aus Hochmut oder um sich Geltung zu verschaffen, willkürlich Ekstasen und Visionen simulieren. I Andere wieder, und deren

1 Derart war besonders MagdaZena v. Kreuze, eine Franziskanerin in Cordova, im 16. ] ahrh. Sie hatte sich als Kind dem Teufel verschrieben,

1036

DRITTES KAPITEL.

Zahl ist grösser, täuschen sich selbst dank ihrer lebhaften Einbildungskraft und halten ihre eigenen Gedanken für Gesichte oder innerlich vernommenen Worte. I

B) Regeln in bezug altf den Gef5enstand der Offinbarltngen.

1501. Auf diesen Punkt besonders soll die ganze Aufmerksamkeit gerichtet werden, denn jeder dem Glauben oder den guten Sitten widersprechenden Offenbarung muss man unerbittlich ablehnend gegenüberstehen. Das ist die einstimmige Lehre aller Gottesgelehrten, die sich auf das Wort des Völkerapostels stÜtzt: " V/enn auch wir oder ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündigte als wir euch verkündigt haben, der sei verflucht! " 2 Gott kann sich ja nicht widersprechen, noch Dinge offenbaren, die der Lehre seiner Kirche entgegengesetzt sind. Daher folgen einige Regeln, an die wir bei dieser Gelegenheit erinnern wollen.

a) Als unecht muss jede Privatoffenbarung angesehen werden, die im Widerspruch zu einer Glaubenswahrheit steht,' dieser Art sind z. B. die angeblichen spiritistischen Offenbarungen, die viele unserer Dogmen, insbesondere die Ewigkeit der Höllenstrafen, leugnen. - Dasselbe gilt für solche, die der einstimmigen Lehre der Väter und Gottesgelehrten widersprechen, da sie den Vertretern

tmt im Alter von 17 Jahren ins Kloster und war dreimal Abtissin ihres Klosters. Mit Hilfe des bösen Feindes simulierte sie alle mystischen Phänomene, Ekstasen, Erhebungen, Stigmata, Offenbarungen und Prophezeiungen, die mehrmals eintrafen. Als sie sich dem Tode nahe glaubte, gestand sie alles ein, widerrief es, wurde exorziert und in ein anderes Kloster ihres Ordens versetzt. Vgl. POULAIN, Graces d'oraison. XXI.

, Die hl. Therese spricht öfter davon: " Es gibt Menschen - ich habe deren nicht nur drei oder vier, sonclern eine grosse Zflh1 gekannt, - die infolge der Schwäche ihrer Phantasie oder der Tätigkeit ihres Vorstellungsvermögens oder ich weiss nicht, aus welch anderem Grunde, derart voller Hirngespinste und Phantastereien sind, dass sie glauben, tfltsächlich alles zu sehen, was sie sich einbilden. " (Chateau, 6. Dem. eh. IX, p, 253.) - 2 Galat. I, 8.

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1037 des gewöhnlichen Lehramtes der Kirche widersprechen.

Kommt eine zwi$chen den Theologen strittige Meinung in Frage, so halte man jede Offenbarung fÜr verdächtig, die sich anmassen wÜrde, die Lösung zu bringen, z. B. die Kontroverse zwischen Thomisten und Molinisten zu entscheiden. Es ist Gott nicht eigen, zu derartigen Frag'en Stellung zu nehmen.

1502. b) Zu verwerfen ist auch jede Vision, die den Gesetzen der Sz'tte oder des Anstandes zuwider wäre " z. B. Erscheinungen von unbekleideten, menschlichen Gestalten, gemeine oder unzüchtige Reden, genaue oder ins einzelne gehende Beschreibungen von schändlichen Lastern, wodurch die Schamhaftigkeit verletzt wÜrde. [ Gott macht nur zum Wohle der Seelen Offenbarungen. Er kann also gewiss nicht Urheber jener sein, die der Sünde Vorschub leisten.

Nach demselben Grundsatz sind alle Erscheinungen verdächtig, bei denen weder \VÜrde noch ZurÜckhaltung gewahrt werden, um so mehr solche, die zum Lachen reizen. Dieser Zug kennzeichnet menschliche oder teufliche Schwindeleien. Derart waren die Kundgebungen auf dem Friedhof von St. Medard.

c) Als von Gott kommend können auch jene Aufträge oder Bitten nicht angesehen werden, die unter BerÜcksichtigung der Vorsehungsgesetze und der gewöhnlich von Gott gewirkten Wunder unmiJgliclt verwirklicht werden können,' Gott nämlich verlangt nichts Unmögliches. 2

1 So gewann Mitte des 19. Jahrh. eine Seherin, namens Cantianille, das Vertrauen eines frommen Bischofs. Dieser veröffentlichte eine angebliche Offenbarung, die eine schauderhafte Sittenschilderung der Priester seiner Diözese enthielt. Bald darauf musste er auf den Bischofsstuhl verzichten. (POULAIN, op. eit. Ch. XXII). Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Veröffentlichung des" Secret de Afilanie" verboten

wurde.

2 So wird aus dem Leben der h1. Katharina v. Bologna berichtet, der

Teufel sei ihr öfter in der Gestalt des Gekreuzigten erschienen und habe ihr unter dem Vorwande der Vollkommenheit unmögliche Dinge befohlen, um sie in Verzweiflung zu stürzen. (Vita altem, cap. 11. 10-13. B~!landisten, 9, März.)

1038

DRITTES KAPITEL.

C) Regeln betre!1' der durclt Offinbartmgen erzeugten Wirkungen.

1503. Der Baum wird nach den Früchten beurteilt. Die Offenbarungen lassen sich also nach den Wirkungen, die sie in der Seele erzeugen, beurteilen.

a) Nach dem hl. Ignatius und der hl. Therese erzeugt das göttliche Schauen anfangs ein Gefühl des Staunens und der Furcht, auf das bald ein tiefes und andauerndes Gefülz! des Friedens, der Freude und der Sicherheit .folgt. Das Gegenteil ist der Fall bei teuflischen Gesichten; anfangs mögen sie Freude verursachen, aber bald folgt darauf Verwirrung, Traurigkeit und Entmutigung " dadurch nämlich bringt der Teufel die Seelen zum Falle.

1504. b) Wahre Revclationen befestigen die Seele in den Tugenden der Demut, des Gehorsams, der Geduld und der Gleichförmigkeit mit dem göttlichen \Villen. Die unechten erzeugen Hochmut, Vermessenheit, Ungehorsam.

Hören wir die h1. Therese 1 : "Diese Gnade fiihrt im höchsten Grade Beschiimu1Z1j und Demut mit sich, während die Einwirkung des Teufels ganz widerstrebende Wirkungen zurÜckliesse. Sie kommt offenbar von Gott... die also bevorzugte Seele befindet sich in der absoluten Unmöglichkeit, darin ein ihr zu eigen gehöriges Gut zu sehen: ihr ist es klar, es sei eine Gabe Gottes ... Die Schätze mit denen diese Gnade die Seele bereichert, und die inneren Wirkungen, die sie hervorruft, lassen nicht zu, dass sie in Melancholie verfällt. Auch der Teufel könnte nicht ein so hohes Gut verschaffen. Die Seele empfände nicht solch tiefen Frielfen, solch andauerndes Verlangen, Gott zu gefallen, solch grosse Verachtung alles dessen, 'was nicht zu ihm fÜhrt. "

1505. c) Hier drängt sich die Frage auf, ob man wC!Jhl Zeichen zur Bestätigung der Privatoffenbarun-

1 CI,ateau, 6, Dem" eh. VIII. S. 242-243.

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1039 gen verlangen darf. a) Ist die Sache von Bedeutung, so möge man es tun, aber demütig und bedingungsweise. Gott nämlich braucht nicht notwendigerweise durch W uncler die Echtheit dieser Gesichte zu beweisen. b) Bittet man Gott um ein Zeichen, so tut man gut, ihm die Wahl davon zu überlassen. Der gute Pfarrer von Lourdes liess die Erscheinung bitten, mitten im Winter einen wilden Rosenstock blühen zu lassen. Dieses Zeichen wurde nicht gewährt, aber die makellose Jungfrau Jiess zur Heilung von Leib und Seele eine wunderbare Quelle entspringen. c) Ist das erbetene Wunder einwandfrei festgestellt worden, ebenso wie seine Beziehung zur Erscheinung, so ist dadurch ein wahrer überzeugungskräftiger Beweis gegeben.

D) Regeln zur Untersclleidung des Echten vom Unechten in den Privatojftnbarungen.

1'506. Eine Offenbarung kann, im Grunde genommen, echt und dennoch mit nebensächlichen Irrtümern vermischt sein. Ohne Grund häuft Gott nicht die Wunder und behebt nicht die Vorurteile oder Irrtümer, die dem Geiste der Schauenden anhaften mögen: sein Zweck ist ihr seelisches Wohl, nicht ihre intellektuelle Bildung. Bei Besprechung der hauptsächlichsten Ursachen von Irrtümern, die sich in einigen Privatoffenbarungen finden, werden wir das besser begreifen.

a) Eine erste Ursache ist die Vermengung menschlz'cher Tätigkeit mit dem übernatürlichen Wirken Gottes, besonders, wo Geist und Phantasie von grosser Lebhaftigkeit sind.

r) So finden sich in den Privatoffenbarungen die Zeitirr.zimer betreffs der physischen oder IlistiJriscllen Wissenschaften. Die hl. Franziska Romana behauptet, zwischen dem Sternenhimmel und dem Feuerhimmel einen Kristallhimme1 gesehen zu haben und schreibt die blaue Farbe des Firmaments dem Sternenhimmel zu. Maria von Agreda glaubte durch eine Offenbarung erfahren zu haben, dieser Kristallhimme1 habe

1040

DRITTES KAPITEL.

sich im Augenblick der hl. Menschwerdung in elf Teile gespalten. '

2) Es finden sich darin auch die Gedanken und zuweilen die Vorurteile oder Pläne der Seelenführer von Sehenden. Auf das Zeugnis ihrer Seelenführer hin glaubte die hl. Coletta zu sehen, dass die hl. Anna dreimal vermählt war llnd sie nun mit ihrer zahlreichen Familie besuchte. Z Heilige Dominikanerinnen und Franziskanerinnen drücken sich in ihren Visionen der besonderen Einrichtung ihres Ordens entsprechend aus. 3

3) Auch histon"sche Irrtümer schleichen sich manchmal in Offenbarungen ein : Gott offenbart für gewöhnlich nicht genaue Einzelheiten aus dem Leben des Heilandes oder der allerseligsten Jungfrau, wenn sie der Frömmigkeit nur wenig Stoff bieten. Mehrere Seherinnen aber verwechselten, was sie durch Offenbarungen erfuhren, mit dem, was sie durch fromme Betrachtungen gewannen und gaben Einzelheiten, Zahlen und Daten an, die im Widerspruch zu historischen Urkunden oder anderen Offenbarungen stehen. So stehen sich in den verschiedenen Berichten über das Leiden Christi manche in den Gesichten erzählte Einzelheiten kontradiktorisch gegenüber (z. B. betreffs der Zahl von den Schlägen, die J esus bei der Geisselung erhielt), oder stehen im Gegensatz zu den hervorragendsten Geschichtsschreibern. 4

1507. b) Eine Privatoffenbarung kann falsch ausgelegt werden.

z. B. Die hl. Jungfrau von Orleans hatte illre Stimmen gefragt, ob sie verbrannt würde. Die,e antworteten ihr, sie solle sich auf den Heiland verlassen, er würde ihr beistehen und sie durch einen herrlichen Sieg befreien. Und nun meinte sie, dieser Sieg sei ihre Befreiung aus der Gefangenschaft. In Wirklichkeit bedeutete er ihr Martyrium und ihren Einzug in den Himmel. - Der hl. Norbert hatte erklärt, er wisse durch Offenbarung, und zwar ganz sicher, der Anticlzrist werde zur Zeit der noch lebenden Generation (XII. Jahrh.) erscheinen. Vom hl. Bernhard gedrängt, sagte er, jedenfalls werde er nicht eher sterben als biS er eine allgemeine Kirchenver-

, La eilt mystique, part. II. N. 122. Diese Stelle ist in der frz. Übersetzung weggelassen.

2 BOLLANDISTEN, 25. Mai. S. 247.

3 Benedikt XLV. (De beatijic., 1. !Ir, c. LII!, N. 16) bezweifelt eine Ekstase der hl. Kathar. v. Siena, in der die seligste Jungfrau ihr gesagt hätte, sie sei nicht ohne I'vlake1.

4 BOLLANDISTEN, I3. Jan. Vorrede zum Lehen der seI. Veronica

v. Binasco. S. ALPH. DE LIGUORI, Horloge de la Passion,

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1041

folgung gesehen haben würde.' - Der hJ. Vinzenz Ferrier hatte das le/zie Gericht als bald bevorstehend angekÜndigt und schien diese Vorhersagung durch Wunder zu bestä-

tigen.2

1508. c) Eine Offenbarung kann unbewusst von dem Schauenden selbst in dem Augenblicke verändert werden, da er sie zu erklären versucht, oder noch öfter durch die für ihn sie schriftlich

Niederlegenden.

Die h1. Brigitta selbst gibt zu, sie habe an ihren Offenbarungen zuweilen gearbeitet, um sie besser zu erklären 3. Diese Erklärungen sind aber nicht immer frei von Irrtümern. Man weiss heute, wie die Aufzeichnungen der an Maria v. Agreda, Katharina Emmerich und Marie Lataste ergangenen Offenbarungen von denen, die sie niederschrieben, bearbeitet wurden und zwar so dass es schwer ist, die ursprüngliche Form zu erkennen 4.

Aus allen diesen Gründen muss bei Untersuchung der Offenbarungen mit äusserster Klugheit vorgegangen werden.

SCHLUSS : VERHALTEN IN BEZUG AUF PRIVATOFFENBARUNGEN.

1509. a) Uns steht nichts besser an, als die weise Zunickhaltung der hl. Kirche und der Heiligen nachzuaJmzen. Die Kirche aber nimmt Revelationen erst an, wenn sie gut und einwandfrei festgestellt sind, und selbst dann verpflichtet sie die Gläubigen nicht, sie für wahr zu halten. Handelt es sich um Einsetzung eines Festes oder um eine äusserliche Stiftung,

, S. BERNARD, Lettr" LVI.

2 P. FAGES. O. p .. in" Histoire de S. V. Ferrier" erklärt sie als eine

bedingte Prophezeiung, wie jene des J onas über Ninive und dass der Welt Rettung kam eben infolge der zahlreichen Bekehrungen, die der

Heilige bewirkte.

3 Revel. suppltfllZ. eh. XLIX.

4 rn CEtlvres de Marie l.ataste fand man zwischen den Offenbarungen

wörtlich übersetzte Stellen aus der Summa des M. Thoma5.

1042

DRITTES KAPITEL.

so lässt sie ausserdem lange Jahre verstreichen, und erst nach reiflichem Erwägen und Untersuchen, sowohl der Sache selbst, wie in ihren Beziehungen zum Dogma und zur Liturgie, spricht sie ihre Entscheidung aus.

Die seI. Juliana von Lüttich, die Gott als Werkzeug zur Einsetzung des Fronleichnamsfestes erwählt hatte, unterbreitete erst 22 Jahre nach ihren ersten Visionen den Plan den Theologen. Wieder vergingen 16 Jahre, ehe der Bischof von LÜttich das Fest fÜr seine Diözese einsetzte, und erst 6 Jahre nach dem Tode der Seligen fÜhrte es Papst Urban IV. fur die ganze Kirche ein. (1264). Ebenso wurde das Herz-Jesu Fest erst lange nach den Offenbarungen, die der hl. Margarita-Maria gemacht worden waren, gutgeheissen, und zwar aus GrÜnden, die von den Offenbarungen selbst unabhängig waren.

Es 'liegt darin für uns eine Lehre, die wir uns zunutze machen sollen.

1510. b) Mit Gewissheit ist also über das Vorhandensein einer Privatoffenbarung erst dann zu urteilen, wenn überzeugende Beweise da sind, Beweise, wie Benedikt XIV. sie in seinem Buche über die Heiligsprechungen anführt. Im allgemeinen begnüge man sich nicht mit einem Beweise, sondern verlange deren mehrere, auch frage man sich, ob sie kumulativ und konvergzerend sind, ob sie sich gegenseitig bestätigen : je grässer ihre Zahl, desto grässer wird die Sicherheit sein.

1511. c) Werden einem Seelen führer Revelationen anvertraut, so hüte er sich wohl, Bewunderung zu bekunden: dadurch würden die Schauenden sofort ermutigt, diese Visionen für echt zu halten und vielleicht sich deswegen etwas einzubilden. Im Gegenteil, er äussere sich in dem Sinne, solche Dinge seien viel weniger wichtig als die Übung der Tugenden; man verfalle dabei leicht der Täuschung, man müsse derartigem misstrauen, und anfangs verwelfe er sie lieber, anstatt daran zu glauben.

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1043

N ach diesem Grundsatze handelten die Heiligen. Die hl. Therese schreibt folgendes' : "Mögen es kranke oder gesunde Seelen sein, man tut immer gut, Misstrauen zu zeigen, bis man ganz sicher ist, was für ein Geist einwirkt. Darum sage ich, in den Anfängen ist es immer am besten, sich zu widersetzen. Kommen diese Einwirkungen von Gott, so werden sie um so sicherer fortdauern, denn in der Prüfung werden sie stärker, statt abzunehmen: Das ist eine Tatsache. Andererseits vermeide man, die Seele zu ängstigen oder in Verwirrung zu bringen, denn sie kann nichts dagegen tun". Der hl. J oh. v. Kreuz äussert sich noch energischer. Er zählt die sechs Hauptmissstände auf, die entstehen wÜrden, wenn man solchen Visionen leichten Glauben schenkte. Dann fÜgt er hinzu: " Nichts ist dem Teufel wohlgefälliger als eine Seele, die nach Offenbarungen gierig verlangt. So nämlich wird ihm alle Leichtigkeit geboten, IrrtÜmer einzuträufeln und den Glauben zu schwächen. Somit ist die Seele dann meistens Übe~spanntheiten und schweren Versuchungen ausgesetzt 2.

1512. d) Immerhin soll der Seelenführer jene, die Offenbarungen zu erhalten glauben, mit Sanftmut behandeln. Dadurch gewinnt er ihr Vertrauen, erfährt die Einzelheiten genauer und ist nach reiflicher Überlegung dann in der Lage, ein Urteil zu fällen. Befinden sie sich in einer Illusion, so wird die Macht seiner Autorität um so stärker sein, sie zu erleuchten und zur Wahrheit zurückzu-

führen.

Diesen Rat gibt auch der hl. Joh. v. Kreuz, trotz seiner Strenge in bezug auf Visionen : "Wir betonten mit nachdrÜcklicher Strenge die Notwendigkeit, sich von Gesichten und Offenbarungen loszumachen, und fÜgten bei, die Beichtväter sollten die Seele davon abwenden und durchaus keine Gespräche darÜber mit ihnen führen. Das soll aber I)icht heissen, sie hätten hart mit den Seelen zu verfahren und diesbezÜgliche Eröffnungen verächtlich abzuweisen. So wÜrde jedem Vertrauen ein Riegel vorgeschoben, die Seelen wÜrden sich um so mehr verschliessen, kein Wort mehr darüber verlieren, und es könnte nur Elend daraus entstehen" 3.

, Chateau, 6. Dem .. eh. UI, P. 186.

2 Montle du Cal'met, 1. U, eh. X, p. 97, 2. ed. Hoorlla>!l't. Das ganze

Kapitel ist zu lesen.

31bid.,2. B., 22. Kap .. S. 170.

1044

DRITTES KAPITEL.

1513. e) Handelt es sich um eine Einrichtung oder äusserliche Stiftung', so hüte sich der Seelenführer, dazu Mut zu machen, ohne zuvor sorgfältig im Lichte der übernatürlichen Klugheit die Gründe für und gegen die Sache geprüft zu haben.

So pflegten es die Heiligen stets zu tun: Trotz ihrer vielen Revelationen wollte die hl. Therese nicht, dass ihre Seelenführer sich in ihren Entscheidungen einzig von den ihr gewährten Visionen leiten liessen. Als ihr der göttliche Meister seinen Wunsch geoffenbart hatte, das reformierte Kloster von Avila von ihr gegrÜndet zu sehen, unterbreitete sie demÜtig diesen Plan ihrem Seelenflihrer. Da dieser mit seiner Zustimmung zögerte, holte sie sich Rat beim hl. Petrus v. Alcantara, beim hl. Franz Borgia und beim hl. Ludwig Bertrand '.

Die Schauenden selbst aber brauchen nur einer Regel zu folgen : sie müssen ihre Offenbarungen einem klugen SeleenfÜhrer bekanntgeben, dann demütig und in allem der Richte folgen, die er ihnen anweist. Das ist das sicherste Mittel, nicht irre zu gehen.

11. Unverdient verliehene Gnaden 2.

1514. Die soeben besprochenen Offenbarungen werden hauptsächlich zum persönlichen Nutzen verliehen. Unverdient verliehene Gnaden besonders zum Nutzen anderer. Es sind nämlich aussergewiiJtnliche und vorÜbergehende, freie Gaben, die unmittelbar zum Wohle der anderen verliehen werden, obgleich sie mittelbar der eigenen Heiligung dienen können. Der hl. Paulus erwähnt sie unter dem Namen Charismen. In der Epistel an die Korinther unterscheidet er deren neun, die alle von demselben Geiste ausgehen ':

1515. I) Das Wort der Weisheit, ser1120 sapientice, mit Hilfe dessen aus den Glaubenswahrheiten, die als Grundsätze aufgefasst werden, Folgerungen zur Bereicherung des Dogmas gezogen werden.

, I-listoire de SIe Thlrese par une Carmelite, eh. XII.

2 F. PRAT, La thtfologie de St Paul. t. 1., S. 150-157,498'503. P. GARRIGOu-LAGRANGE, op. cit. t. 11. S. 536-537.

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1045

2) Das Wort der Wissetlschaft, sermo scientitE, das zur Erklärung der Glaubenswahrheiten die menschlichen Wissenschaften nutzbar macht.

3) Die Gabe des Glaubens, nicht die Tugend als solche, sondern eine eigene Gewissheit, die Wunderwerke zu erzeugen vermag.

4) Die Gabe der Heilungen, gratia sanitatu1ll, also einfach das Vermögen, Kranke zu heilen.

5) Die lVfaclzt, Wunder zu wirken, um dadurch eine göttliche Offenbarung zu bestätigen.

6) Die Gabe der Weissa/?ung oder die Gabe, im Namen Gottes zu lehren und nötigenfalls seine Lehre durch Weissagungen zu bestätigen.

7) Die Untersclteidun,g der Geister oder eine eingegossene Gabe, Geheimnisse des Herzens zu erraten und den guten Geist vom bösen zu unterscheiden.

8) Die Gabe der Sprachen, beim hl. Paulus die Gabe, mit gewisser Begeisterung in fremder Sprache zu beten; nach den Theologen die Gabe, mehrere Sprachen zu sprechen.

9) Die Gabe der Auslegutlf{ oder die Fähigkeit, die soeben erwähnten fremdsprachigen Worte auszulegen '.

Der sehr richtigen Bemerkung des hl. Paulus und des h1. Thomas gemäss, sind alle diese Charismen viel minderwertiger als die Liebe und die heiligmachende Gnade.

§ II. Psycho-physiologische Vorgänge.

1516. Mit diesem Namen werden Vorgänge bezeichnet, die gleichzeitig auf Leib und Seele wirken und mehr oder weniger mit der bereits N. 1454 besprochenen Ekstase zusammenhängen. Die wichtigsten solcher Vorgänge sind: I. Erhebung,. 2. LicJttausstrahlungen,. 3. Wohlgeruch verbreitende Ausstra/zlungen; 4. Nahrungsenthaltung; 5. Stigmatisation.

'Man lese den Abschnitt. in welchem der HL. THOMAS diese verschiedenen Gnaden zusammenstellt (ra IIre, q. III, a. 4.), wo er beweist, von welchem Nutzen sie für den Glaubensprediger sind: I) um ihm volle Einsicht in göttliche Dinge zu gewähren; 2) um seine Predigt

durch Wunder zu bekräftigen; 3) um das Wort Gottes mit grösserer Wirksamkeit zu verkünden.

1046

DRITTES KAPITEL.

I. Die Erhebung ( Levitation)

1517. Kraft des Wunders der Levitation ist der Körper über den Boden erhoben und schwebt ohne irgendwelche natürliche Stütze in der Luft. Man nennt das emporstrebende Ekstase (Verzückung). Zuweilen erreicht der Körper im Schweben bedeutende Höhen. Das ist der ekstatische Aufllug. Andere Male wieder scheint er zu eilen, ohne den Boden zu berühren: das ist das ekstatische Wandeln.

Im Leben mehrerer Heiligen finden sich zahlreiche Erhebungen aufgezeicbnet, sowohl nach den Berichten der Bollandisten, als auch im Brevier. So z. B. beim hl. Paul vom Kreuz, am 28. April. Beim hl. Philipp v. Neri, am 26. Mai. Beim hl. Stephan von Ungarn, am 2. September. Beim hl. J osef v. Cupertino, am 18. Sept. Beim hl. Petrus v. Alcantara, am 19. Okt. Einer der berÜhmtesten ist der hl. J osef v. Cupertino. Dieser sah eines Tages, dass einige Arbeiter in grosser Verlegenheit waren, um ein sehr schweres Missionskreuz aufzurichten. Da erhob er sich in die Lüfte, erfasste das Kreuz und senkte es mÜhelos in das dafür bestimmte Loch ein.

Diesem Phänomen kann das einer ungewöhnlichen Schwere beigezählt werden. Es besteht darin, dass man selbst durch äussersten Kraftaufwand nicht emporgehoben werden kann.

1518. Die Rationalisten versuchten, diesen Vorgang auf natürliche Weise zu erklären, und zwar durch tiefes Einatmen der Luft in die Lungen, durch unbekannte psychische Kräfte, durch Dazwischenkunft getrennter Geister oder Seelen : Sie finden eben keine annehmbare Erklärung. Wieviel weiser ist das Vorgehen Benedikts XIV.! Zunächst fragt er, ob die Tatsache einwandfrei festgestellt sei, damit Betrug ausgeschlossen sei. Darauf erklärt er: r) Die sicher festgestellte Erllebung lässt sich auf natürliche Weise nicht erklären. 2) Sie übersteigt jedoch nicht Engels- und Teufelskräfte, die Körper emporheben können. 3) Bei den Heiligen ist dieses Wunder gleichsam eine Antizipation der den verklärten Leibern eigenen Gabe der BeJlendzgkeit I.

, De beatificat. 1. III, c. XLIX.

...

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1047

11. Lichtausstrahlungen 1.

1519. Im Geleit der Ekstase finden sich manchmal Lichtphänomene : bald wird die Stirn von einem Lichtkranze gekrönt, bald erscheint der ganze Körper von Licht umgeben.

Auch hier fassen wir die Lehre Benedikts XIV. 2 kurz zusammen. Vor allem ist die Sache mit allen ihren Umständen wohl zu untersuchen, damit man erkenne, ob das Leuchten nicht auf natürliche 'vVeise zu erklären sei.

Insbesondere frage man sich: I) ob das Phänomen am hellen Tage oder während der Nacht sich zeige, und ob in letzterem Falle das Licht heller als jedes andere sei. 2) Ob es ein blosser Funken, ähnlich dem elektrischen, sei oder ob das Lichtphänomen bettächtliche Zeit dauere und sich öfter erneuere. 3) Ob es während einer religiösen Handlung erscheine, z. B. während einer Ekstase, einer Predigt, eines Gebetes. 4) Ob Gnadenwirkungen, andauernde Bekehrungen etc. dadurch erfolgen. 5) Ob die Person, von der aus das Licht erstrahlt, tugendhaft, heiligmässig sei.

Erst nach reiflicher Prüfung aller dieser Einzelheiten lassen sich Folgerungen betreffs des übernatürlichen Charakters dieser Tatsachen ableiten. Auch hier ist es eine Art Vorausnahme (Antizipation) des Lichtglanzes, in dem die verklärten Leiber

erstrahlen werden. .

I I I. Woltlgeruclz verbreitende Ausströmungen.

1520. Gott lässt zuweilen zu, dass die Leiber der Heiligen während ihres Lebens oder nach ihrem Tode Wohlgerüche von sich geben, gleichsam als Symbol des Wohlgerucltes der von ihnen geübten

Tugenden.

So entströmten manchmal den Wundmalen des hl. Franz

v. Assisi liebliche Wohlgerüche. Beim Tode der hl. Therese

, RIBET, La Mystique, rl. P., eh. xxrx. MGR FARGES, op. cit., 11. P., eh. rn, a. 3·

2 De be"tiftcat. 1. IV, 1. P., c. XXVI, n, 8-3°'

1048

DRITTES KAPITEI~

wurde das Wasser, womit ihr Leib gewaschen wurde, wohlriechend. Neun Monate hindurch entströmte ihrem Grabe ein geheimnisvoller Wohlgeruch. Als ihr Leib aus der Erde emporgehoben wurde, entquoll ihren Gliedern ein wohlrie::hendes 01 '. Noch viele andere ähnliche Tatsachen werden berichtet.

Benedikt XIV. weist auf die Richtlinien zur Feststellung des Wunders hin. Es soll untersucht werden: I) ob der liebliche Wohlgeruch andauere; 2) ob er durch nichts am Leibe oder im Erdreich zu erklären sei; 3) ob durch den Gebrauch des ~em heiligen Körper entquellenden Wassers oder Oles einige Wunder geschahen 2.

IV. Andauernde Nahrungsenthaltung.

1521. Besonders unter den Stigmatisierten gibt es Heilige, die mehrere Jahre hindurch keine andere Speise zu sich nahmen als die hl. Kommunion.

Dr. Imbert-Goubeyre nennt insbesondere einige hervorragende Fälle 3 : "Die seI. Angela v. Foligno nahm während zwölf Jahre keine Nahrung zu sich. Die hl. Katharina v. Siena ungefähr acht Jahre lang. Die seI. Elisabeth v. Rente über fünfzehn Jahre. Die hl. Lidwina achtundzwanzig Jahre. Die seI. Katharina v. Racconigi zehn Jahre lang; in unseren Tagen: Rosa Andriani achtundzwanzig Jahre ... Luise Lateau vierzehn Jahre lang."

Bei den Nachforschungen über Phänomene dieser Art zeigt die Kirche grosse Strenge und fordert während längerer Zeit ununterbrochene Beaufsichtigung durch zahlreiche Zeugen, deren Scharfblick etwaige Betrügereien nicht entgehell würden. 4 Sie haben zu untersuchen, ob die Enthaltung von Nahrung vollständig sei, sich also auf Getränke wie auf feste Nahrung erstrecke, ob sie andauere und

I Dieses \Vunder wurde beim Heiligsprechungsprozess sorgfaltig untersucht, und die damit Beauftragten kamen zum Schluss, dass nichts dasselbe natürlicherweise erklären könne. (BOLLANDISTEN, 15. Okt., B. LV., S. 368, N. II32).

Z De beatificat, 1. IV, P. r, c. XXXI, N. 19'28. 3 La stigmatisation. t. Il, S. 183.

4 BENED. XIV, op. cit. 1. IV, P. I, c. XXVII.

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1049 ob die betreffende Person sich weiter ihren Beschäftigungen hingebe.

Diesem Phänomen verwandt ist die Enthaltung vom ScMafe. So z. B. schlief der hl. Petrus v. Alcantara nachts nur anderthalb Stunden, und das in einer Zeitdauer von vierzig Jahren. Die h1. Katharina v. Ricci schlief jede Woche nur eine Stunde.

V. Die Stigmatisation.

1522. I. Wesen und Ursprung. Dieses Phänomen besteht in einer Art Einprägung der h1. Wunden des Erlösers auf Füsse, Hände, Seite und Stirn: die Wundmale erscheinen von selbst, ohne durch irgend eine äussere Verletzung hervorgerufen zu sein. Es entfliesst ihnen zu bestimmten Zeiten unverdorbenes Blut.

Der erste, der bekanntlich die hl. Wundmale erhielt, war der hl. Franz v. Assisi : in einer erhabenen VerzÜckung auf dem Alvernerberg, am 17. September 1222, sah er einen Seraph, der ihm das Bild des Gekreuzigten entgegenhielt und ihm die hl. Wundmale einprägte. Bis zu seinem Tode bewahrte er die Stigmata, aus denen rotes Blut floss. Sein Versuch, dieses Wunder geheim zu halten, gelang ihm nur teilweise. Bei seinem Tode, 12. Oktober 1226, wurde es allgemein bekannt. - Seither trat der Fall oft auf. Dr. Imbert zählt deren 321, darunter 41 bei Männern; 62 Stigmatisierte wurden heilig gesprochen.

1523. Es scheint erwiesen, dass die Stigmatisation nur bei den Ekstatischen vorkommt, und dass ihr sehr lzeftiges, pltysz'sclzes und moralisches Leiden sowohl vorausgeht, als auch mit ihr verbunden ist, wodurch die auf diese \\leise begnadigte Person dem leidenden Heiland gleichförmig wird. Das Fehlen solcher Leiden wäre ein schlimmes Zeichen, denn die Wundmale sind nur dass Sinnbild der Vereinigung mit dem gekreuzigten Gott und der Teilnahme an seinem Martyrium.

Das Vorhandensein der Stigmata wird durch so zahlreiche Zeugnisse bewiesen, dass sogar die Un-

1050

DRITTES KAPITEL .

. gläubigen nichts gegen sie vorbringen können. Aber sie versuchen, sie natürlich zu erklären. So behaupten sie, manche Medien seien mit solch ausnehmender E~.pfindsamkeit begabt, dass man bei ihnen durch Uberreizung der Phantasie ein den Wundmalen ähnliches Blutschwitzen bewirken könne. In Wirklichkeit unterscheiden sich die wenigen, erreichten Ergebnisse durchaus von dem, was bei den Stigmatisierten auffällt.

1524. 2. Kennzeichen zur Unterscheidung der Stigmata. Die Stigmatisation muss wohl unterschieden werden von den bei gewissen Menschen künstlich erzeugten Phänomenen. Darum achte man auf alle Umstände, die die echten Wundmale kennzeichnen.

r) Die Stigmata befinden sich an denselben Stellen, an denen J esus die fünf 'Wunden erhielt, während das Blutausschwitzen der Hypnotisierten nicht in gleicher \Veise örtlich beschränkt ist.

2) Im allgemeinen findet die Erneuerung der Wunden und Schmerzen der Stigmatisierten an den Tagen oder zu den Zeiten statt, welche an das Leiden des Erlösers erinnern, wie zum Beispiel am Freitage oder an einem Feste des Herrn.

3) Diese Wunden eitern nicht: es fliesst reines Blut aus ihnen. Hingegen führt die geringste natürliche Verletzung anderer Körperteile Eiterung herbei, auch bei den Stigmatisierten. Trotz Anwendung der Üblichen Heilmittel sc/zliessen sich die Wunden nichlund bleiben zuweilen dreissig, ja vierzig Jahre fortbestehen.

4) Sie erzeugen reichliche BlutergÜsse: das wäre am ersten Tage, an dem sie entstehen, wohl begreiflich, wird aber für die folgenden Tage ganz unerklärlich. Die Stigmata befinden sich gewöhnlich an der Oberfläche, weit entfernt von Blutgefässen, und dennoch entfliessen ihnen ganze Ströme von Blut!

. 5) Endlich und, was besonders bemerkenswert ist, die

Stigmata finden sich nur bei solchen, die in heroischer Weise . die Tu/{enden ÜbelZ und besonders eine grosse Kreuzesliebe besitzen.

Wie die Erforschung aller dieser Umstände hinreichend beweist, handelt es sich hier nicht um

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1051

einen gewöhnlichen pathologischen FalL Hier ist eine freie, verständige Ursache tätig, die auf die Stigmatisierten einwirkt, um sie dem gekreuzigten Gott gleichförmig zu machen.

SCHLUSS : UNTERSCHIEDE ZWISCHEN DIESEN PHÄNOMENEN UND DEN KRANKHAFTEN E~ SCIIEINUNGEN.

1525. Die mit der Ekstase zusammenhängenden Vorgänge sind so sicher erwiesen, dass die Positivisten sie nicht leugnen können. Sie versuchen nur, sie gewissen krankhaften Erscheinungen anzugleichen, die der PsycllO-Nevrose, namentlich jedoch der Hysterie entstammen. Einige sehen darin sogar eine Form des Tllalmsinns. - Zweifellos sind die Heiligen, wie andere Menschen auch, der Krankheit unterworfen. Aber darum handelt es sich hier nicht. Die Frage ist die: erscheinen sie uns, trotz ihrer Krankheiten, als geistig gesund und in seelischem Gleichgewicht? In diesem Punkte nun finden sich so wesentliche Unterschiede zwischen den mystiselzen Erscheinungen und den PsyellO-Nev1'osen, dass ein ehrlicher Mensch sie nicht unbeachtet lassen kann, sondern folgern muss, eine Angleichung sei unmöglich. 1 Diese Unterschiede sind besonders vorhanden: I. in der betreffenden Person " 2. in der Verschiedenartigloeit der P häno1l1ene / 3. in den Ergebtlissen.

1526. I. Unterschiede bezüglich der Person.

Beim Vergleiche der von Psycho- N evrose befallenen Kranken mit den Ekstatischen erscheinen die ersteren ohne physisches und moralisches

, Dieser Unterschied wird von Ungläubigen, wie M. DE MONTMoRAND, Psychologie des Mystiques, 1920, hell beleuchtet. Doch auch er schreibt diese Phänomene der Halluzination zu. - Zum Wirlerlegen jener Theorien vgl. A. Huc, Nlvrose et mysticisme, Rev. de PllilosoplzÜ (P. Pcillaube j. Juli, August 1912, S. 5, 128. - MGR A. F ARGES, op. ci!. S. 322-585.

1052

DRITTES KAPITEL.

Gleicltgewicltt, während die letzteren, wenigstens in moralischer Hinsicht, vollkommen equilibriert sind.

A) Erstere besitzen kein inneres Gleichgewicht, weder in geistiger noch in physischer Hinsicht.

Es lässt sich bei ihnen Abnahme sowohl der intellektuellen Tätigkeit wie der Willensstärke feststellen: ihr Bewusstsein ist getrÜbt oder aufgehoben, ihre Aufmerksamkeit lässt nach, ihr Verstand verarmt, ihr Gedächtnis zerfällt so sehr, dass man an eine Teilung der Persönlichkeit glauben könnte. Im Geiste verbleibt nur noch eine kleine Anzahl von fixen Ideen. Daher ein dem Wahnsinn naher gewisser Monoideismus. Gleichzeitig wird der Wille geschwächt. Die GemÜtserregungen nehmen Überhand. Man wird zum Spielball seiner Launen oder der EinflÜsse eines höheren Willens, man gehört sich selbst nicht mehr an. Also Schwächung, Verminderung der Persönlichkeit, der geistigen und sittlichen Kräfte. '

1527. B) Ganz das Gegenteil trifft bei den Mystikern zu. Ihr Verstand nimmt zu, ihr Wille wird stärker. Sie erhalten die Fähigkeit, die grössten Unternehmen auszudenken und zu verwirklichen. Wir konnten beobachten, wie sie sich neue Kenntnisse erwarben in bezug auf Gott und dessen Eigenschaften, in bezug auf die Dog'men und sich selbst. Freilich vermögen sie nicht alles, was sie sehen, zu schildern. Aber in aller Aufrichtigkeit erklären sie, in wenigen Augenblicken der Beschauung mehr gelern~. zu haben als durch langes Lesen. Und diese Uberzeugung bewah.rheitet sich durch merklichen Fortschritt in der Ubung der heldenmütigsten Tugenden. Sie erscheinen tatsächlich demütiger, liebevoller, ergebener in Gottes V/illen, selbst inmitten härtester Prüfungen, und erfreuen sich eines unerschütterlichen Friedens, stets ungestörter, innerer Ruhe. Wie ist das doch weitab von den leidenschaftlichen Erregungen und Bewegungen der Hysteriker!

, Das ist die kurze Zuzammenfassung der charakteristischen Merkmale nach P. J ANET, L'automatisme psychologique, 11. T., 3-4 Kap.

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1053 1528. 2. Unterschiede bezüglich der Phänomene. Es gibt nicht weniger Unterschiede bezüglich der Art und Weise wie die Phänomene sich zeigen.

A) Nichts Traurigeres, Herzzerreissenderes als die hysterischen Krisen.

I) Die erste Phase ist wie ein leichter epileptischer Anfall, unterscheidet sich aber davon doch durch das Gefiihl einer im Halse aufsteigenden Kugel, was eigentlich nur ein Anschwellen des Halses mit Erstickungsgefühl ist, und durch eine Art hörbares Pfeifen. 2) Die zwdte Phase besteht aus ungeordneten, starken Bewegungen, Windungen, namentlich kreisförmigen, des ganzen Körpers. 3) Als dritte zeigt sich leidenschaflich erregtes Benehmen, das Angst, Eifersucht, Geilheit bekundet, je nach den augenblicklichen, heftigen Vorstellungen und Bildern. 4) Schliesslich löst sich da3 Ganze in Wein-oder Lachkrämpfen auf. Es vollzieht sich die Entspannung. - Nach solchen Krisen fühlen sich die davon Betroffenen ermÜdet, erschöpft und von allerhand Unpässlichkeiten belästigt.

B) Auch hier welcher Unterschied bei den Ekstatikern! Keine krampfartigen Zuckungen, keine gewaltigen Erregungen: alles ist Ruhe, ist Entrükkung einer mit Gott innig verbundenen Seele, so dass Zeugen der Ekstase, wie z. B. jene, die Bernadette zur Zeit ihrer Visionen in Massabielle beobachteten, nicht umhin konnten, ihrer Bewunderung Ausdruck zu geben. Anstatt erschöpft zu werden, sammelt der Körper in der Ekstase neue Kräfte, wie die hl. Therese ausdrücklich bemerkt (N. 1456).

1529. 3. Unterschiede seitens Wirkungen. In beiden Fällen sind die Wir/oungen sehr verschieden.

A) Bei den Hysterikern wird bei häufigerem Auftreten der geschilderten Szenen die GleichgewicJttsstb"rung der Fähigkeiten immer ä1~E{er : Verstellung, Lüge, Verrohung, unzüchtiges Treiben sind erfahrungsgemäss das Ergebnis bei diesen unglücklichen Opfern.

B) Bei den Mystikern hingegen ist beständige Zunahme an Intelligenz, Gottesliebe, Aufopferung

1054

DRITTES KAPITEL.

im Dienste des Nächsten. Bietet sich ihnen Gelegenheit zu guten Werken, zu Gründungen, so entfalten sie praktischen Sinn, klaren und sicheren Geist, energischen Willen, so dass ein glücklicher Erfolg nicht ausbleibt.

Vor ihrem Tode hatte die hl. Therese, ungeachtet sehr vieler Schwierigkeiten, 16 Klöster fÜr Frauen und 14 für Männer gegründet. Die hl. Coletta gründete 13 Klöster und in sehr vielen Ordenshäusern stellte sie die Ordnung wieder her. Madame Acarie, von ihrem 16. Lebensjahre an ekstatisch, war 30 Jahre lang verheiratet, erzog 6 Kinder, rettete das durch Unvorsichtigkeiten ihres Gatten bedrohte Vermögen und trug als \Vitwe zur EinfÜhrung des Karmeliterordens in Frankreich bei. Die hl. Katharina v. Siena, die im Alter von 32 Jahren starb, konnte lange Zeit weder lesen noch schreiben. Dennoch spielte sie bei den Ereignissen ihrer Zeit, und zumal bei der RÜckkehr der Päpste nach Rom, eine so wichtige Rolle, dass ein Geschichtsschreiber der jÜngsten Zeit sie einen Staatsmann und zwar einen bedeutenden Staatsmann nannte. '

vVie ersichtlich bestehen daher zwischen den Hysterikern und den Stigmatisierten so grosse Unterschiede, dass eine Assimilation der beiden allen Regeln wissenschaftlicher Untersuchung Hohn spräche.

1530·4· Einwendung. Dennoch bleibt eine letzte Schwie. rigkeit zu lösen: mit Ribot behaupten einige, die Ekstase sei eine Beschränkung auf dem Gebiete des Gewissens und laufe schliesslich auf einen affiktiven Monoideismus hinaus, da ja die Mystiker nichts anderes mehr im Sinne hätten als innige Vereinigung mit Gott. - Um auf diese scheinbare Schwierigkeit zu antworten, kann man einen zweifachen Monoideismus unterscheiden : der eine ist zersetzmd und wirkt durch Fälschung des Urteils auflösend auf die Persönlichkeit. Dieser Art ist die fixe Selbstmordidee, die das Nichts als das höchste Gut anstrebt. Der andere hingegen ist einordnender Monoideismus, der zwar in der Seele einen Hauptgedanken vorherrschen lässt und auf diesen alle anderen Gedanken zurÜckfÜhrt, aber ohne sie zu fälschen. Dieser Monoideismus nun wirkt durchaus nicht auflösend auf die Persönlichkeit, sondern stärkt sie vielmehr. Gerade weil die grossen Politiker beständig einen ganz bestimmten Gedanken verfolgen, auf

, EM. GEBHART, Rev. Iiebdomadaire, 16 März 1907.

AUSSERGEWÖI-INL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1055

den sie alle ihre Pläne konzentrieren, vollbringen sie Grosses, sobald ihre Idee die richtige ist.

Nun aber ist das gewiss bei den Mystikern der FalL Sie haben eine vorherrschende Idee, den beständigen Gedanken, vor allem ihr letztes Ziel zu erreichen, nämlich die innige Vereinigung mit Gott, dem Urquell allen Glückes und aller Vollkommenheit. Alle ihre anderen Gedanken, alle ihre Gefühle, alle ihre Kräfte führen sie darauf zurück. Und diese Idee ist vollkommen richtig. Sie wirkt nicht auflösend, im Gegenteil, alle Gedanken und Handlungen verbindet sie, indem sie alle auf jenes einzige Ziel richtet, das allein uns Glück und Vollkommenheit schenken kann. Das ist der Grund, weshalb die Heiligen, selbst vom menschlichen Standpunkte aus, sehr tätige Menschen sind. Mit vortrefflichem praktischen Sinn, Energie und Beharrlichkeit ausgestattet, ersinnen sie Grosses und führen es zu glücklichem Ende. Sogar den Ungläubigen fiel dies schon auf, wie wir bereits erwähnten (N. 43).

Seien wir also gerecht und geben wir zu, dass die Mystiker sowohl hervorragende Menschen als auch Heilige sind.

2. ABSCHNITT. PHÄNOMENE TEUFLISCHEN URSPRUNGES 1.

1531. In seiner heissen Begierde, das göttliche Wirken in der Seele der Heiligen nachzuahmen, bemÜht sich auch der Teufel, seine Herrschaft oder vielmehr seine Tyrannei über die Menschen geltend zu machen. Bald belagert er die Seele, sozusagen, von aussen und ruft in ihr schreckliche Versuchungen wach, bald nimmt er W olmung im Leibe und

I DEL RIO, Disquisitiones 1JZa,~icce. 1600. THYREUS,De locis illfeslis; De spirit""", apparitioniblts .. De datmolliacis, 1699. RIBET, Mystique divine, t. III. A. POULAIN, op. eil. eh. xxrv, § 6·8. A. SAUDREAU, L'Htat "'yslique, eh. XX II-XX!II.

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DRITTES KAPITEL.

bewegt ihn nach Willkür, als wäre er dessen Herr, um so die Seele in Verwirrung zu stürzen. Ersteres ist die Anfechtungsplage (obsessio), letzteres die Besessenheit (possessio).

Betreffs der Einwirkungen ~es bösen Geistes muss man sich vor doppelter Ubertreibung hüten : manche Menschen schreiben ihm alle Übel zu, die uns treffen. Dabei übersieht man aber die krankhaften Zustände, die ohne irgend welche teuflische Einwirkung in uns sein können, ferner, die aus der dreifachen Begierlichkeit hervorgehenden bösen Neigungen. Man vergisst, dass durch diese natürlichen Ursachen viele Versuchungen ihre Erklärungen finden können. Es gibt aber auch andere, die niemals und in keinem Falle die Dazwischenkunft des Teufels zugeben wollen. Sie vergessen, was die H1. Schrift und die Überlieferung von der Aktion des Teufels sagen. Die richtige Mitte wird sein, als Phänomene des Teufels nur jene anzusehen, die ihrer Aussergewöhnlichkeit oder der Gesamtheit der Umstände halber auf Einwirkung des bösen Geistes zurückzuführen sind.

Von der Anfechtungsplage und der Besessenheit wollen wir nacheinander handeln.

§ I. Die Obsession.

1532. 1. Ihr Wesen. Die Obsession ist eigentlich eine Reihenfolge von Versuchungen, die an Heftigkeit und langer Dauer die gewöhnlichen Versuchungen übertreffen. Sie ist äusserlich, wenn sie durch Erscheinungen auf die äusseren Sinne wirkt. Innerlich, wenn sie Eindrücke im Innern zurücklässt. Selten ist sie rein äusserlich, da ja der Teufel auf die äusseren Sinne nur einwirkt, um leichter die Seele zu verwirren. Es gibt jedoch Heilige, die unerschütterlichen Seelenfrieden bewahren, obschon sie äusserlich durch allerhand Phantome geplagt werden.

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1057 1533. 1. Der Teufel kann auf alle äusseren Sinne einwirken:

a) Auf den Gesichtssinn: bald erscheint er in abstossender Gestalt, um die Menschen zu erschrecken und von der Übung der Tugend abzubringen, wie er es bei der ehrw. M. Agnes de Langeac' und vielen anderen tat. Bald in verlockender Gestalt, um zur SÜnde zu reizen, wie der hl. Alfons Rodriguez es oft erfuhr 2.

b) Auf den Gehörsinn : er lässt gotteslästerliche oder unzüchtige Worte oder Lieder hören, wie es im Leben der seI. Margarete v. Cortona erzählt wird 3. Oder aber er sucht durch grossen Lärm Schrecken einzuflössen, wie dies zuweilen der hl. Magdalene v. Pazzi und dem hl. Pfarrer v. Ars widerfuhr 4.

c) Auf den Gefnhlssi?Z1z : dies geschieht auf zweifache Art.

Er versetzt Schläge und bringt Wunden bei, wie das in den Heiligsprechungsurkunden der hl. Katharina v. Siena, eies hl. Franz Xaver und im Leben der hl. Therese zu lesen ist 5. Dann wieder will er durch U marrnungen zum Bösen verleiten, wie der hl. Alfons Rodriguez aus seinem eignen Leben erzählt 6.

P. Schram 7 bemerkt richtig, in manchen Fällen seien diese Erscheinung~n einfache Halluzinationen, die in nervöser Uberreizung ihre Ursache haben. Aber auch dann sind es furchtbare Versuchungen.

1534.2. Der Teufel wirkt auch auf die inneren Sinne, auf die Einbildungskraft und auf das Gedächtnis ebenso wie auf die Leidenschaftm ein, um sie zu erregen. Gleichsam wider Willen wird die Seele von lästigen, qualvollen Vorstellungen bestürmt, die trotz energischer Anstrengungen nicht weichen wollen. Sie fühlt sich gleichsam zur Beute geworden heftiger Zornesaufwallungen, Verzweiflungsängste, instinktiver Abneigungsregungen oder

'M. DE LANTAGES, Vie de I" Vb,. Ar. Agnes, ed. Lucot, 1863. 1. T.,

X. Kap.

2 P. POULAIN, op. cit. 24. Kap., N. 94.

3 Bollandisten, 22. Febr., t. vr, S. 340, N. 178. 4 A. MONNIN, Le eure d'A1'S, 3. B.. 2. Kap.

5 Vie par une Carmelite, t. II, 27. Kap.

6 P. POULAIN, /. eil. -·7 Instit. Ilzeol. myslicee, § 219.

N° 683. - 34

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DRITTES KAPITEL.

auch gefährlicher Zärtlichkeitsgefühle, die durch nichts gerechtfertigt erscheinen. Zuweilen freilich ist es schwer zu entscheiden, ob es sich um wahre Obsession oder Anfechtung von seiten des bösen Geistes handelt. Treten solche Versuchungen jedoch plötzlich, heftig und beharrlich auf und lassen sie sich dabei nicht natürlich begrüllden, so kann man darin eine dem Teufel zuzusprechende Tätigkeit erkennen. Im Zweifel hole man sich bei einem christlichen Arzte Rat. Er möge untersuchen, ob diese eigenartigen Vorgänge nicht vielleicht mit einem krankhaften Zustande in Verbindung stehen, den vernünftige Hygiene verbessern kann.

1535. II. Verhalten des Seelenführers. Mit grösster Klugheit soll er wahrhaft väterliche Güte verbinden.

a) Gewiss soll er nicht ohne starke Beweise an wirkliche Obsession glauben. Ob jedoch die heftigen und beharrlichen Versuchungen auf teuflische Anfechtungen zurückzuführen seien oder nicht, immer möge er mit den auf diese Weise geplagten Beichtkindern aufrichtiges Mitleid haben und ihnen weise Ratschläge erteilen, um ihnen zu helfen. Insbesondere soll er sie an das erinnern, was wir über die Versuchung und die Art und \iVeise, ihr zu widerstehen, sagten (N. 902-918), sowie über besondere Heilmittel gegen die Anfechtung des Teufels. (N. 223-224).

b) Ist unter der Heftigkeit der Versuchung irgend etwas in Unordnung geraten, aber ohne Zustimmung des Willens, so erinnere er daran, ohne Zustimmung gebe es keine Sünde. Im Zweifel wird sein Urteil bei gewöhnlich gut gesinnten Menschen dahin lauten, dass wenigstens keine schwere Sünde

vorlag. .

c) Bei eifrig-en Seelen frage sich der Seelenführer, ob diese beharrlichen Versuchungen nicht vielleicht

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1039

zu den passiven Prüfungen gehören, die wir schon N. 1426 beschrieben. In diesem Falle erteile er ihnen Ratschläge, die ihrem Seelenzustande entsprechen.

1536. d) Ist für die teuflische Obsession moralische Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit vorhanden, so wende man im stillen die vom Römischen Rituale vorgeschriebenen Exorzismen an oder deren verkÜrzte Formen. In diesem Fall tut man gut, der betreffenden Person nicht vorher zu sagen, dass man sie zu exorzieren beabsichtige, wenn man befürchten müsste, sie könnte dadurch in grosse Aufregung geraten. Es genÜgt der Hinweis, man werde ein von der Kirche gutgeheissenes Gebet über sie sprechen. Die .feierlichen Exorzismen aber dÜrfen nur mit Erlaubnis des Ordinariates angewendet werden, und zwar unter Beobachtung der bei Besessenheit notwendigen Vorsichtsmassregeln, Über die wir demnächst sprechen werden.

§ 11. Die Besessenheit '.

Wir legen dar : 1. deren Wesen __ 2. die vom Rituale vorgeschriebenen Heilmittel.

I. Wesen der Besessenheit.

1537. 1. Ihre wesentlichen Bestandteile.

Zweierlei gehört zur Besessenheit: die Gegenwart des Teufels im Körper des Besessenen und die Herrschaft, die er über diesen Körper ausübt, und durch ihn über die Seele. Der letzte Punkt bedarf der Erklärung. Der Teufel ist nicht auf dieselbe Weise wie die Seele mit dem Leibe verbunden. In bezug auf die Seele ist er nur ein äusserlicher Beweger und nur durch Vermittlung des von ihm bewohnten Leibes wirkt er auf sie ein. Auf die Glieder des Leibes kann er unmittelbar einwirken und von ihnen allerhand Bewegungen ausführen lassen. Mittelbar wirkt er auf die Fähigkeiten ein, und zwar in dem Masse, als sie bezüglich ihrer Tätigkeit vom Körper abhängen.

, Ausser den bereits erwähnten Schriftstellern siehe MGR. W AFFELAERT, beim Worte Possession in Dict. d·Apologtftique.

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Bei den Besessenen lassen sich zwei verschiedene Zustände unterscheiden : Krisis und Ru/te. Die Krisis ist wie eine Art heftiger Anfall, bei dem der böse Geist seine tyrannische Herrschaft zeigt, denn er versetzt den Leib in fieberhafte Aufregung, die sich in Zuckungen, WutausbrÜchen, gottlosen und gotteslästerlichen Worten äussel't. Die Betroffenen verlieren, wie es scheint, jegliches Gefühl für das, was in ihnen vorgeht. Haben sie das volle Bewusstsein wiedererlangt, so wissen sie nicht mehr, was sie gesprochen oder getan, besser gesagt, was der Teufel durch sie vollführte. Nur zu Anfang verspüren sie das gewaltsame Eindringen des bösen Geistes in sie. Dann scheinen sie das Bewusstsein zu verlieren.

1538. Dennoch gibt es Ausnahmen von dieser Regel.

P. Surin, der den Teufel aus den Ursulinen von Loudun austrieb, wurde dabei selbst von Besessenheit befallen, behielt jedoch volles Bewusstsein dessen, was in ihm vorging '. Er schilderte, wie seine Seele sich teilte, wie sie einerseits den teuflischen Einwirkungen offen stand, andererseits dem Wal- , ten Gottes gänzlich anheimgestellt war. Und wie er betete, während sein Leib sich auf der Erde herumwälzte. " Mein Zustand ", fÜgte er hinzu, "war derart, dass ich nur bei sehr wenigen Handlungen frei war. Wollte ich sprechen, so weigerte sich meine Zunge. Während der hl. Messe wurde ich plötzlich gezwungen, innezuhalten. Bei Tisch konnte ich die Speisen nicht zum Munde führen. Wollte ich beichten, so entschwanden die SÜnden meinem Gedächtnisse. Ich fÜhlte, wie der Teufel bei mir ein- und ausging, als wäre er in seinem eigenen Hause, ganz wie ihm beliebte".

1539. In den Zwischenzeiten der Ruhe verrät nichts die Gegenwart des bösen Geistes : Man könnte glauben, er habe sich zurückgezogen. Zuweilen jedoch zeigt er, dass er noch da sei, und zwar durch eine Art chronisches Leiden, dem die Kunst der Ärzte ratlos gegenübersteht.

Oft ist ein einziger Mensch von mehreren Teufeln besessen, was deren Schwäche beweist.

, Brief vom 3. Mai 1635 an P. d' Attichy.

AUSSERGEWÖHNL. MYSTISCHE VORGÄNGE. 1061 Im allgemeinen fallen nur Sünder der Besessenheit anheim. Es gibt jedoch Ausnahmen, wie der Fall von P. Surin beweist.

1540. 2. Anzeichen von Besessenheit. Es gibt Nervenleiden, auf einen Punkt gerichtete Wahnvorstellungen (Monom?;nien) oder Fälle geistiger Umnachtung, deren Ausserungen der teuflischen Besessenheit ähnlich sind. Es ist daher von Wichtigkeit, die Kennzeichen zu ihrer Unterscheidung von diesen krankhaften Erscheinungen näher anzugeben.

N ach dem Riimischen Rituale I gibt es drei Hauptmerkmale, an denen man Besessenheit erkennen kann : "eine unbekannte Sprache sprechen, nämlich mehrere Wörter derselben gebrauchen oder den verstehen, der sie spricht; ferne oder verborgene Dinge offenbaren; Kräfte zeigen, die die natürlichen des betreffenden Alters oder Standes übersteigen. - Sind diese oder ähnliche Anzeichen in grosser Menge vorhanden, so deuten sie stark auf Besessenheit hin. " Ein Wort zur Erläuterung dieser Zeichen.

a) Der Gebrauch unbekannter Sprachen. Um dies festzustellen, muss genau untersucht werden, ob die betreffende Person nicht frÜher Gelegenheit hatte, einige Wörter dieser Sprache zu erlernen, ferner, ob sie nur einige auswendig gelernte Sätze hersagt oder tatsächlich eine ihr gänzlich unbekannte Sprache redet und versteht. 2

b) Die Ojftnbdrul1/! verborgener Dinge, die durch natürliche Mittel unerklärlich ist. Auch hier ist genaueste Untersuchung anzustellen: ob z. B. bei fernliegenden Dingen die betreffende Person sich nicht durch Brief oder Telegramm oder andere natÜrliche Mittel Kenntnis verschaffen konnte. Bei zukÜnftigen. Dingen ist abzuwarten, ob sie in der angekÜndigten

I De exorciza71dis obsessis a dcemonio.

2 Es werden wirkliche Fälle von krankhafter Überspanntheit berichtet, in denen dcm Gedächtnis verloren gegangene Sprachen wieder zugeführt werden oder wenigstens Bruchstücke von solchen, die man gehört hatte. So wiederholte die Magd eines Pfarrers griechische und hebräische Texte, die sie ihren Herrn hatte lesen hören. - Das Rituale sagt deshalb sehr weise : "ignota lingua loqui pluribus verbis vel loquentem intelligere ...

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DRITTES KAPITEL.

Weise eintreffen und ob sie genau genug angegeben wurden, um nicht Raum für Zweideutigkeit zu lassen. Man halte daher nichts auf jene unbestimmten Vorhersagungen, die grosse Unglücksfälle mit darauffolgenden glÜcklichen Ergebnissen verkünden, dann nämlich wäre es allzu leicht, den Ruf eines Propheten zu erlangen. Ist die Tatsache ordnung'sgemäss festgestellt, so bleibt noch die Frage zu beantworten, ob diese Über die Natur hinausgehende Kenntnis vom guten oder vom bösen Geiste herrührt. Das nun geschehe nach den Regeln für die Unterscheidung der Geister. Und endlich, ob von einem bösen Geiste, der zurzeit in der besessenen Person gegenwärtig ist.

c) Die Entfaltung von Kräften, die die natürlichen Kräfte des Besessenen weit übersteigen, wobei dessen Alter, "TilIenskraft, krankhafter Zustand u. s. w. zu berücksichtigen sind. In manchen Fällen von Überreizung nämlich können die Kräfte verdoppelt werden. Das Wunder der Levitation ist, wie wir bereits sagten, aussernatürlich. Unter BerÜcksichtigung der Umstände kann man es in bestimmten Fällen nicht Gott oder seinen Engeln zuschreiben, sondern muss es daher als Zeichen teuflischer Dazwischenkunft gelten lassen.

1541. Zu diesen Anzeichen kommen noch jene, die sich aus den bei der Anwendung von Exorzismen oder bei dem Gebrauch von heiligen Gegenständen eintretenden Wirkungen ergeben, namentlich, wenn der Gebrauch ohne Wz'ssen des als besessen im Verdacht stehenden Menschen geschieht. Manche z. B. geraten bei der Berührung mit einem geweihten Gegenstand oder bei liturgischen Gebeten, die über sie gesprochen werden, in unbeschreibliche Wutzustände und stossen abscheuliche Gotteslästerungen aus. Dieses Anzeichen gibt aber nur dann Gewissheit, wenn es ohne Wz'ssen der Betreffenden vorgeht. Haben sie nämlich Kenntnis davon, so können sie in Wut geraten, entweder aus Abscheu vor allem Religiösen oder nur zum Schein.·

Wirkliche Besessenheit zu erkennen, ist also nicht leicht. Man kann daher nicht vorsichtig genug sein, ehe man sich diesbezüglich äussert.

1542. 3. Unterschiede zwischen Besessenheit und nervösen Störungen. Die Versuche, die an

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Nervenleidend~n vorgenommen wurden, zeigten eine gewisse Ahnlichkeit zwischen diesen krankhaften Zuständen und dem äusseren Verhalten Besessener. I Darüber braucht man sich nicht zu wundern: der böse Feind kann ebensowohl Nervenkrankheiten als auch äussere, eigenartige Erscheinungen (Phänomene) bewirken, die den der N evrosen analog sind. Es ist das ein Grund mehr zur grössten Vorsicht in der Beurteilung der vorgeblichen Fälle von Besessenheit.

Solche Ähnlichkeiten beziehen sich aber einzig auf die äusserlicJten Bewegungen, die an und für sich zum Beweise von Besessenheit nicht genügen. Nervenkranke, die unbekannte Sprachen reden, Herzensgeheimnisse offenbaren oder die Zukunft genau und sicher voraussagen, haben sich bis jetzt noch nicht gefunden. Das aber sind die wahren Anzeichen, wie bereits gesagt wurde. Fehlen sie alle, so hat man Grund zu glauben, dass einfache Nevrose vorliege. Täuschten sich die Exorzisten manchmal, so lag der Grund darin, dass sie sich nicht an die im Rituale vorgeschriebenen Regeln hielten. Zur Vermeidung aller solcher Irrtümer tut man gut, den Fall nicht nur .. von Geistlichen, sondern auch von christlichen Arzten untersuchen zu lassen.

1543. So erzählt P. Debreyne, der vor seinem Eintritt bei den Trappisten Arzt gewesen, er habe eine weibliche G~.nossen schaft in Behandlung gehabt, deren Zustand grosse Ahnlichkeit mit dem der Ursulinen von Loudun aufwies. Alle Mitglieder wurden binnen kurzer Zeit durch hygienische Mittel geheilt, besonders durch emsige, abwechslungsreiche Handarbeit. 2

Vor allem misstraue man epidemischer Besessenheit: ein wirklicher Fall von Besessenheit kann nämlich bei denen,

, J. M. CHARCOT ET RrcHER, Les dbnoniaques dans l'arl. - BouRNEVILLE ET REGNARD, L'Icollograplzie de la Salptfriere. - RICHER, Eludes cliniques sur la grande hysterie.

2 Essai de thiol. morale. eh. IV, ed. refondue par le Dr. Ferrand, 1884. p. IV, eh. LI!, § 2.

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die davon Zeugen sind, einen äusser/ich der Besessenheit ähnlichen, nervösen Zustand herbeiführen. Das beste Mittel zur Vermeidung von derartiger Ansteckung besteht darin, die davon Befallenen in andere Umgebung zu bringen und auf diese Weise von dort ZLI entfernen, wo sie diesen nervösen Anfall sich zuzogen.

I I. Heilmittel gege1l Besessen/zeit.

Allgemein gesagt, ist Heilmittel dagegen alles das, was die Einwirkung des bösen Feindes auf den Menschen schwächen kann, was die Seele läutert und den Willen gegen teuflische Anfechtungen stählt. Im besondern sind es die Austreibungen.

1544. 1. Allgemeinheilmittel. Es sind jene anzuwenden, die bei der Behandlung der Versuchungen von seiten des bösen Geistes N. 223-224 schon besprochen wurden.

A) Eines der wirksamsten ist die Rez'nigung der Seele durch eine gute Bez'chte, besonders eine Genemlbezdzte. Die daraus sich ergebende Verdemütigung und Heiligung treibt den stolzen, unreinen Geist in die Flucht. Das Rituale rät ausserdem Fasten, Gebet und Empfang der hl. Kommunion. I Je reiner und sich selbst abgestorbener eine Seele ist, desto schwerer macht sie es dem Teufel, sie zu fassen. Durch die hl. Kommunion nehmen wir den in uns auf, der den Satan besiegte. Indessen darf die hl. Kommunion nur zu Zeiten der Ruhe empfangen werden.

B) Grossen Einfluss üben auch die Sakramentalien und gewez'hte Gegenstände aus, und zwar wegen der von der Kirche bei ihrer V\Teihe gesprochenen Gebete. Die hl. Therese setzte grosses Vertrauen auf das Weilzwasser. Dieses Vertrauen ist

, " Admoneatur obsessus, si mente et corpore valeat. ut pro se oret Deum ac jejunet et sacra confessione et communione srepius ad arbi· trium sacerdotis se communiat. " (Rituale, De exorciz. obsessis).

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begründet, da die Kirche an das Weihwasser die Macht knüpft, Teufel ausZlltreiben. 1 Es muss jedoch mit lebendigem Glauben, Demut und Vertrauen gebraucht werden.

C) Das Kruzifix, das hl. Kreuzzeichen und besonders authentische Reliquien des wahren Kreuzes sind dem durch das Kreuz überwundenen, bösen Geiste immer furchtbar: " et quz' in lz'gno vincebat, in lz'gno quoque vz·nceretur. "2 Aus demselben Grunde fürchtet der böse Geist ausserordentlich die Anrufung des heiligsten Namens Jesus. Nach den Verheissungen des göttlichen Meisters selbst ist diesem Namen eine wunderbare Macht eigen, den Teufel in die Flucht zu schlagen. 3

1545.2. Die Exorzismen oder Teufelaustreibungen. J esus Christus hinterliess seiner Kirche die Gewalt, Teufel auszutreiben. Schon in frühester Zeit wurde daher das Amt der Exorzisten eingesetzt und diesen die Vollmacht übertragen, den Besessenen, seien es Katechumenen oder Getaufte, die Hände aufzulegen. Später wurden dazu eigene Gebetsformeln verfasst. Da das Amt des Exorzisten jedoch schwer auzuüben' ist und viel Wissenschaft voraussetzt, ebenso wie Tugend und Taktgefühl, ist es heutzutage eine gebundene Gewalt und kannfez'erlieh nur von Priestern ausgeübt werden, die eigens zu diesem Zwecke vom Ordinariat bestimmt werden. Gehez'me Exorzz'smen dürfen jedoch die Priester anwenden und sich dabei der Kirchengebete oder anderer Formeln bedienen. Selbst den Laien ist es

1 " Ut fias aqua exorcizata ad eftugendam omnern potestatem inimiciet ipsUIll inimicum eradicare et explantare valeas cum angelis suis apostaticis ..... (Rituale, Ordo ad fac. aquam benedictam).

2 Präfation vom hl. Kreuze.

3 Mark, XVI, 17. - Der h1. Alfons Rodriguez hatte die Gewohnheit, zur Zeit schwerer Versuchungen ein grosses Kreuzzeichen zu machen und dem Versucher zu befehlen, sich niederzuwerfen und Jesus anzubeten. und zwar weil der h1. Paulus sagt: "Auf dass im Namen Jesll sich jedes Knie beuge im Himmel auf Erden und unter der Erde" (Phil. II, 10.) Und das trieb den bösen Geist in die Flucht.

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erlaubt, sich dieser Gebete zu bedienen, aber nicht im Namen der Kirche. I

1546. Das Rituale schreibt vor, wie dabei zu verfahren ist und erteilt den Exorzisten sehr weise Ratschläge. Wir erinnern hier nur an die wichtigsten. Ist man nach Feststellung der Besessenheit beauftragt worden, die Exorzismen vorzunehmen, so soll man:

r) durch eine demütige und aufrichtige Beichte auf diese furchtbare Amtsbetätigung sich vorbereiten, damit nicht der Teufel den Exorzisten ihre SÜnden vorwerfen könne. Ferner durch Fasten und Gebet, denn manche Teufel weichen durch keine anderen Mittel. 2

2) in eine Kirche oder Kapelle sich begeben, wo fÜr gewöhnlich die Exorzismen vorzunehmen sind, wenn nicht aus wichtigen GrÜnden zu diesem Zweck ein Privathaus vorzuziehen ist. Jedenfalls bleibe der Exorzist niemals allein mit dem Besessenen, sondern in seiner Begleitung seien fromme, gewichtige Zeug-en, stark genug, um den Patienten in seinen Krisen zu meistern. Bei weiblichen Personen sollen zu diesem Zwecke Matronen von erprobter Klugheit und Tugend gegenwärtig sein. Der Priester selbst aber verhalte sich möglichst bescheiden und reserviert.

1547. 3) Nach Verrichtung der vorgeschriebenen Gebete schreite der Exorzist zum Verhör. Die Fragen stelle er kraft seiner Gewalt. Er beschränke sich auf solche Fragen, die nützlich und vom Rituale angeraten sind : über Zahl und Name der die Person beherrschenden Geister, Über die Zeit und die Beweggründe ihres Eindringens. Man befehle dem Teufel, zu erklären, wann er ausfahren werde und an welchem Zeichen man sein Weichen erkennen könne. Man drohe ihm bei hartnäckigem Widerstande mit vermehrten Qualen, die im Verhältnisse zu seinem Widerstande stehen wÜrden. Zu diesem Zwecke verdopple man die Beschwörungen, die ihn mehr zu reizen scheinen, die Anrufungen der heiligsten Namen J esu und Mariä, die Kreuzzeichen und Besprengungen mit Weihwasser. Man zwinge ihn auch, sich vor dem allerheiligsten Altarssakrament, dem Kruzifix oder Heiligenreliquien niederzuwerfen. - Mit grosser Sorgfalt vermeide man alles Geschwätz, alles Scherzen oder mÜssiges Fragen

'LEHMKUHL. Theol. moralis, t. II, n. 574. Ausg. 1910. 2 Mark, IX, 28.

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macht der böse Geist bissige oder zum Lachen reizende Bemerkungen, ergeht er sich in Abschweifungen, so gebiete man ihm voller Würde und Autorität zu schweigen.

1548. 4) Den Zeugen, die Übrigens wenig zahlreich sein sollen " gestatte man nicht, Fragen zu stellen. Sie sollen sich schweigend und gesammelt verhalten und in Vereinigung mit Jenem beten, der die Teufel austreibt.

5) Trotz der ihn umkleidenden Gewalt soll der Exorzist den bösen Geist nicht an einen bestimmten Ort verbannen. Er beschränke sich darauf, ihn auszutreiben µnd Überlasse dessen Los der göttlichen Gerechtigkeit. Die Exorzismen sind mehrere Stunden hindurch fortzusetzen, ja sogar, mit Ausnahme einiger Pausen, mehrere Tage lang, bis der Teufel ausfährt oder wenigstens sich bereit erklärt, zu weichen.

6) Ist die Befreiung zweifellos festgestellt, so bete der Exorzist zu Gott, er. möge dem bösen Geiste verbieten, jemals in den Leib zurÜckzukehren, den zu verlassen er gezwungen wurde. Nach einem Dankgebet fordere der Exorzist den Befreiten auf, Gott zu preisen und in Zukunft jede Sünde zu meiden, um nicht wieder unter die Herrschaft des Teufels zu fallen.

SCHLUSS.

1549. Diese aussergewöhnlichen Erscheinungen göttlichen oder diabolischen Ursprungs zeigen einerseits Gottes barmherzige Güte gegen seine bevorzugten Freunde : diesen gewährt er neben unsagbaren Leiden, wie bei der Stig-matisation, hervorragende Gnaden als Vorbedeutung und Vorspiel der im Himmel zuerwartenden Glorie. Andererseits zeigen sie elen Neid und Hass des Teufels, der ebenfalls seine tyrannische Macht über die Menschen geltend machen will : darum drängt er sie in aussergewöhnlicher Weise zum Bösen, verfolgt sie, sobald sie widerstehen und Gottes Reich verbreiten. Darum quält er durch Besessenheit einige, die ihm zum Opfer fallen.

l "Circnmstantes qui pauei esse debent, adnloneat ne ... iPSl Illterrogent obsessum, sed potius humiliter et enixe Deum pro eo precentur. " (Rituale, 1. c.) - Vielleicht war das Fehlen gegen diese Regel der Grund, weshalb die Exorzismen von Loudun sich so lange hinziehen mussten. nicht ohne einige missliche Zwischenfälle.

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VIERTES KAPITEL.

Auf Erden gibt es also die zwei vom hl. Augustinus so treffend geschilderten Städte, die zwei Lager, die zwei Fahnen, von den der h1. Ignatius spricht. Echte Christen sind darüber nicht im Zweifel. Je mehr sie sich Gott hingeben, desto eher entgehen sie der Herrschaft des Teufels. Erlaubt Gott, dass sie geprüft werden, so geschieht es zu ihrem Besten. Selbst mitten in Angst und Not dürfen sie voller Vertrauen sagen : "Sz' Deus pro nobis, quis contra nos? I ... Quis ut Deus?

VIERTES KAPITEL

Streitfragen 2.

1550. Bisher legten wir die in den verschiedenen Geistesschulen allg-emein angenommen.~ Lehre dar. Unsere Leser konnten dabei die Uberzeugung gewinnen, diese Lehre genüge völlig, um Seelen zu führen und zur höchsten Vollkommenheit zu erheben. Den Fortschritt in der Heiligkeit wollte Gott ja nicht an die Lösung der frei umstrittenen Fragen knüpfen. Dennoch ist es nun an der Zeit, in knapper Form die Hauptstreitpunkte zusammenzustellen. Wir wollen es so unpartez'z'sch wie möglich tun, zwar nicht, um die voneinander abweichenden Meinungen auszusöhnen (was unmöglich ist), wohl aber, um eine Annäherung zwischen den gemässigten Vertretern der verschiedenen Schulen zu versuchen.

1551. Ursachen dieser Meinungsverschiedenheiten. Zunächst ein Wort über die hauptsächlichen Ursachen.

, Röm. VIII. 31.

2 A. SAUDREAU. L'ltat mystique, eh. IX, XI, xrv nebst Anhang.

A. POULAIN, Gdices d'oraiso1l, IOC ed. avee rntrod. du P, Bainvel. MGR. LEJEUNE, art. Contemplation du Dict. de Theol. MG~. FARGES, PIz'nom. Myst. et Controv. de la Presse. P. JORET, La contemplation mystique. P. GARRIG.ou-LAGRANGE, Po/ect. et cOlltemplation.

STREITFRAGEN.

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I) Die erste liegt gewiss in der Schwierigkeit und dem Dunkel der umstrittenen Fragen selbst. Es ist nämlich keine leichte Sache, in Gottes Geheimpläne betreffs der allgemeneinen Berufung der Getauften zur eingegossenen Beschallung einzudringen oder das Wesen selbst dieses geheimnisvollen Aktes zu bestimmen. Den Hauptanteil trägt ja Gott, die Seele aber ist mehr passiv als aktiv und empfängt Licht und Liebe, doch ohne Verlust ihrer Freiheit. Da darf es nicht Wunder nehmen, dass von den Schriftstellern, die sich von diesen Vorgängen Rechenschaft zu geben suchen, nicht immer dieselben Erklärungen abgegeben werden.

2) Eine weitere Ursache findet sich in der Verschiedenheit der Methoden. Wie wir N. 28 sagten, bemühen sich alle Schulen, die beiden Verfahren, das experimentelle oder erfahrungsmässige und das deduktive oder durch Herleitung erlangte zu verbinden. Während aber die einen mehr die Elfahrung herbeiziehen, stützen sich die andern mehr auf das folgernde Schliessen. Daher Untetschiede in den Ergebnissen: aus der auffallend gcringm Zahl VOll beschaulichen Seelen gelangen die einen zu der Ansicht, alle seien nicht zur Beschauung berufen. Aus der Erkenntnis, dass uns allen ein zum Erlangen der Beschauung genügender, übernatürlicher 01ganismus eignet, folgern die andern, es gäbe nur wenige Beschauliche, weil nur wenige Seelen grossmütig genug seien, um die für die Beschauung notwendigen Opfer zu bringen.

1552. 3) Diese Meinungsverschiedenheit wird noch durch Charakter, Erziehung und Lebensweise verstärkt. Einige Naturen sind der Beschauung mehr fähig als andere. Wird nun diese Fähigkeit durch Erziehung und Lebensführung stärker entwickelt, so ist man natürlicherweise geneigt, die Beschauung für etwas Normales zu halten. Andere, mehr aktive Naturen, die in ihren Veranlagungen

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VIERTES KAPITEL.

und Beschäftigungen mehr Hindernisse zur Beschauung . finden, kommen leicht zum Schlusse, es sei diese ein aussergewöhnlicher Zustand.

4) Nicht zu vergessen ist endlich, dass die philosophischen und theologischen Systeme, denen man sich betreffs der Erkenntnis und der Liebe, der wirksamen und hinreichenden Gnade angeschlossen hat, in der mystischen Theologie ihren Widerhall finden. Gibt man z. B. mit den Thomisten die Wirksamkeit der Gnade aus sielt zu, so ist man geneigter, im passiven Zustande die Fortsetzung des aktiven zu sehen, da man ja schon in diesem unter der wirksamen Anregung der Gnade tätig ist.

Man wundere sich also nicht über Meinungsverschiedenheit über so heikle Punkte. Jeder wähle deshalb frei das ihm am besten begründet erscheinende Lehrsystem.

Die hauptsächlichsten,gegenwärtigen Streitfragen lassen sich auf drei zurückführen. Sie beziehen sich:

1. auf das T4Tesen der eingegossenen Beschauung;

2. auf die allgemeine Berufung zu dieser; 3. auf die normale Zeit ihres Beginns.

§ I. Der Streit über das Wesen der Beschauung.

1553. Alle Welt gibt zu, die eingegossene oder mystische Beschauung sei eine freie Gabe Gottes, die uns in passiven Zustand versetze und uns eine von uns nur anzunehmende Erkenntnis und Liebe Gottes verleihe. Aber worin besteht diese Erkenntnis? Offenbar unterscheidet sie sich von der mit Hilfe des Glaubenslichtes zu erwerbenden Erkenntnis. Sie ist, wie alle zugeben, Eifahrungserkenntnis oder teilweise solche (quasi-experimentell) siehe N. 1393. Ist sie unmittelbar, ohne Zwischenvorstellung, oder ist sie mittelbar, d. h. mit entweder erworbenen oder eingegossenen Gestalten? Diesbezüglich gibt es zwei Systeme.

. STREITFRAGEN.

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1554. I. Die Theorie von der unmittelbaren Erkenntnis. Diese Ansicht stützt sich auf die Autorität des Pseudo-Dionysius, der Schule von St.-Viktor und der flämischen Mystiker. Sie nimmt an, die eingegossene Beschauung sei unmittelbares, wenn auch dunkles und unklares Eifassen oder Erkennen oder Schauen Gottes. Als unmittelbare Erkenntnis unterscheidet sie sich von der gewöhnlichen Glaubenserkenntnis. Als dunkle Erkenntnis ist sie von der seligen Anschauung verschieden. In der Art und Weise der Darlegung gibt es Schattierungen.

So z. B. meint P. Poulain " gestützt auf die Theorie der geistigen Sinne, die beschauliche Seele fÜhle Gottes Nähe unmittelbar: " Während dieser Vereinigung, die noch nicht die erhabenste ist, gleichen wir einem Menschen, der in völlig dunklem Raume schweigend neben einem seiner Freunde weilt. Er sieht ihn also nicht, hört ihn nicht, aber er fÜJtlt seine Nähe, weil seine Hand in der des Freundes ruht. So bleibt er bei ihm, denkt an ihn und liebt ihn ".

1555. P. Marichal stellt zunächst fest, dass die Mystiker in den Zuständen erhabener Beschauung von dem Vorhandensein einer Intuition Gottes und der unteilbaren Dreifaltigkeit sprechen. Er meint: " Erhabene Beschauung begreife in sich etwas Neues, das von den normalen Tätigkeiten und von der gewöhnlichen Gnade der Beschaffenheit nach verschieden ist ... die aktive, nicht symbolische, Vorstellung Gottes der Seele g'egenÜber, samt ihrem psychologischen Korrelativ: unmittelbares Erkennen Gottes durch die Seele"'. Und er fügt hinzu: "Dieses erscheint nicht gar so seltsam, wenn man annimmt, (was er vorher dargelegt hat), dass die Intuition des Seins sozusagen der Mittelpunkt der Perspektive in der Lehre von der menschlichen Seele ist".

Diese Theorie wird von P. Picard vervollkommnet 3 : Er legt dar, vom natÜrlichen Gesichtspunkte aus sei ein wenn auch verworrenes und dunkles, jedoch unmittelbares Erfassen (Intuition) Gottes nicht unmöglich, ist erst einmal durch schlagende Beweise das Dasein Gottes nachgewiesen. Diese Theorie wendet er alsdann auf die mystische Beschauung

I Graces d'oraison, eh. VI, n. 16 .

• La mystique chretienne, in der Revue de Philosopltie, 1912, t. XXX, S.878.

3 La sais;e immediate de Dieu dan,' les etats mystiques, 1923.

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VIERTES KAPITEL.

an, Dieser Gott, dessen Gegenwart sich in der Tiefe der Seele deutlich bemerkbar macht, bemächtigt sich bald der letzteren durch inniges Umschlingen derselben vermöge ihrer erkennenden Fähigkeiten, die er im Schweigen, in Bewunderung und Frieden auf sich gerichtet hält. Bald erfasst er gebieterisch ihren Willen und ihre affektiven Fähigkeiten ... Erfährt die Seele ihr Erfasstwerden von Gott mehr ihren Erkenntnisfähigkeiten nach, so ist dies das innerliche Gebet der Sammlung. FÜhlt sie sich mehr ihren Willens- und GemÜtskräften nach erfasst, so befindet sie sich im innerlichen Gebet der Ruhe". Dann zeigt der Verfasser, wie die Seele in den höheren Graden der Beschauung Fortschritte macht, je nachdem Gott die Kraft seiner Umarmung verstärkt, ihr un bedingtere, ausschliesslichere, eindringendere Herrschaft verleiht.

Zum ~chlusse fÜgt er bei, diese Theorie habe nichts mit dem Ontologismus zu tun, weil sie behauptet, der Begriff des Seins rÜhre von der Vorstellung des endlichen Wesens her, er sei analog und warte den Beweis vom Dasein Gottes ab, ehe er auf Gott angewendet werde ... Sie verwirft das Sc/zauen Gottes/ unser endlicher, unvollkommener Geist ist es, der mit Hilfe seiner endlichen, unvolkommenen Akte alle von ihm erkannten Wahrheiten erfasst. Übrigens ist diese Intuition ihrem \Vesen nach unklar und dunkel.

1556. 2. Mittelbare Erkenntnis. Der allgemein angenommenen Ansicht nach bleibt die Erkenntnis des Beschauenden, mag sie auch noch so vollkommen sein, eine 1'tlittelbare und zugleich dunkle und u,nldare, obschon quasz"-expe1'l'mentale Erkenntnis. In den ersten Graden begnügt sich Gott damit, auf unsere schon vorhandenen Begriffe sein Licht zu werfen, das Lz'cht der Gaben: bald wird unsere Aufmerksamkeit in auffallender Weise auf irgend einen Gedanken gelenkt, bald werden wir durch eine Schlussfolgerung aus zwei Prämissen (Vordersätzen) lebhaft ergriffen (N. I 390). In den höheren Zuständen, wie z. B. bei der ekstatischen Vereinigung, legt Gott neue Vorstellungsgestaltp1Z in. .-l~ See'le, wodurc11 die göttlichen Wahrheiten viel fasslicher dargestellt werden als durc~ unser eigen~s Vorstellungsvermögen. Dann geschIeht es, dass dIe Seele bei der Wahrnehmung von Wahrheiten, die ihr bis dahin unbekannt waren, in VerzÜckung

STREITFRAG EN.

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gerät. Da sie diese Wahrheiten verkostet und geniesst, erhält sie davon auch gewissermassen Eifahrung'Skenntnis. Somit bleibt diese Erkenntnis vom Glauben abhängig, ist aber viel lebendiger und besonders vielmehr von Liebe durclzdrungen als die gewöhnliche Erkenntnis. Was sie von ihr unterscheidet, ist ihr Hervorgehen aus göttlicher Tätigkeit; die Seele empfängt sie von Gott, empfängt Erkenntnis und Liebe zugleich und braucht dem Wirken Gottes, das in ihr so kostbare Gaben erzeugt, nur zuzustimmen.

1557. Dieser Lehre, die wir schon im zweiten Kapitel darlegten, schliessen wir uns an. Unserer Meinung nach wahrt sie den wesentlichen Unterschied besser zwischen der Beschauung, die mittelbar und dunkel bleibt, per speculum et in a:nigmate, und der seligen Anschauung, die unmittelbar und klar ist. Dabei hüten wir uns aber wohl, jene als des Ontologismus verdächtig zu beschuldigen, die der Ansicht bezÜglich unmittelbarer Intuition Wahrscheinlichkeit zusprechen, solange sie betonen, auch solches Schauen sei verworren und dunkel; die ferner das Grundprinzip des Ontologismus verwerfen und der Behauptung zustimmen, der Geist erhebe sich, nur von den Geschöpfen ausgehend, zu Gott. I

Mehrere Mystiker bedienen sich allerdings einer kÜhnen Sprache. Sie erweckt zuers.t den Anschein, als wären sie in unmittelbarer BerÜhrung mit der göttlichen Substanz, als seien sie Gottes ansichtig. Bei eingehenderer PrÜfung des Textes jedoch scheint es, dass diese Worte Wirkungen bedeuten, die Gott in der Seele hervorrief. 2 Dank der Gabe der

, Diese Beschuldigung wäre besonders jenen gegenÜber ungerechtfertigt, die wie MGR FARGES (Phln. myst, , S. 95 ff. und Reponses aux Contnruerses, Kap. V-XII) zugeben, die Beschauung geschehe von der ersten Stufe an mittels eingegossener Eindrucksgestaltcll (esptees z'tnpresseJ infuses); sie nennen sie unmittelbar, weil die Eindrucksgestalt nicht ist id quod videtur, noch id in quo videtur, sondern id quo res ipsa videtur, Solche Anschanungsweise mag man abfällig beurteilen, doch als Ontologismus darf sie nicht angesehen werden,

2 Zum leichteren Verständnis solcher Sprache lese mall die von

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VIERTES KAPITEL.

Weisheit geniessen wir die von Gott in die Seele gelegten Früchte der Liebe, der Freude, des inneren Friedens: daher der Name "göttliche GenÜsse ", den die hl. Therese dem innerlichen Gebet der Ruhe gibt. Durch die giittlichen BerÜhrungen scheint den Mystikern sogar die Substanz ihrer Seele erfasst zu werden, so tief ist der durch die göttliche Liebe hervorgebrachte Eindruck! Erörtern sie aber näher ihre EindrÜcke, so kommt das von ihnen Geschilderte auf die Wirkungen einer innigen und grossmÜtigen Liebe heraus. Gebrauchen sie daher so starke AusdrÜcke, so muss man das der Armut der menschlichen Ausdrucksweise zuschreiben, die EindrÜcke der Gnade zu schildern, die in ihrer Seele hervorgerufen worden waren.

§ 11. Die allgemeine Berufung zur Beschauung.

1558. Es handelt sich hier nicht um den bereits besprochenen (N. 1406) individuellen und bevorstehenden Ruf zur eingegossenen Beschauung. In diesem Punkte sind alle einig und stimmen der Lehre Taulers und des hl. J oh. v. Kreuz bei. Gegenwärtig sprechen wir von dem enifernten, g'enügenden, allgemeinen Ruf. Mit anderen Worten : Sind alle im Stande der Gnade befindlichen Seelen, allgemein gesprochen, in enifernter, genÜgender Tf:'.eise zur eingegosseneJZ BescllaUUtzg berufen? Uber diesen bestimmten Punkt werden zwei entgegengesetzte Lösungen gegeben, die, grösstenteils wenigstens, von dem verschiedenen Begriffe bezüglich der Beschauung herkommen.

1559. I. Mit verschiedenen kleinen Abweichungen voneinander nehmen heute sehr viele Schriftsteller an, es bestehe entfernte, genÜgende, allgemeine Berufung. Sie gehören verschiedenen Orden an. Es sind Dominikaner', Benediktiner 2, Franzi-

P. POULAIN gesammelten TextsteIlen, Graces d'oraison, Kap. V.VI, nebst den von ihm gegebenen Anslegnngen und denen entgegengesetzten Sinnes von M. A. SAUDREAU, L'Etat mystique, Anhang Ir.

I Die PP. Arintero, Garrigou-Lagrange, lore!, Janvier, u. a. 2 Dom Louismet, Dom. Huyben, u. a.

STREITFRAGEN.

1075

skaner" Karmeliter 2, Jesuiten 3, Eudisten 4. Auch aus dem Weltklerus 5 zählt man einige. Zeitschriften, insbesondere" La Vie spirituelle" wurden zur Unterstützung und Verbreitung dieser Ansicht gegründet. - P. Garrigou-Lagrange tritt mit aller Kraft für diese These ein und versucht festzustellen, dass das mystische Leben die regelrechte Entwicklung des inneren Lebens sei und dass folglich alle im Gnadenzustande befindlichen Seelen dazu berufen seien. Seine Beweisgründe sind kurz folgende :

a) Das Grundprinzip des mystischen Lebens ist dasselbe wie das des gewöhnlichen inneren Lebens: die heiligmachende Gnade oder die Gnade der Tugenden und Gaben. Diese Gaben nun wachsen mit der Liebe. Zur vollen Entwicklung gelangt, wirken sie in uns ihrer übermenschlichen Weise nach und versetzen uns in den passiven oder mystischen Zustand. Die Grundlage des inneren Lebens enthält somit im Keime das mystische Leben, das hienieden gleichsam die Blüte des übernatürlichen Lebens ist.

1560. b) Im fortschreitenden innerlichen Leben wird die Läuterung der Seele erst durch die passiven Reinigungen vollendet. Diese letzten Läuterungen gehören aber der mystischen Ordnung an. Folglich kann das innerliche Leben vollendeten Fortschritt erst im mystischen Leben erreichen.

c) Das innerliche Leben sowohl wie das mystische haben das gleiche Ziel, nämlich die vollkommenste Verfassung, um sofort nach dem Tode, ohne Fegfeuer, das Licht der Glorie zu erhalten. Die vollkommene Verfassung aber, um gleich nach dem letzten Atemzuge der beseligenden Anschauung teilhaftig zu werden, kann nur die intensive Liebe einer vollkommen geläuterten Seele sein, verbunden mit dem sehnlichen Verlan;:en, Gott zu sei/auen. Das nun geschieht in der mystischen Vereinigung, namentlich in der umwandelnden

, p, Ludwig de Besse,

2 p, Thtodor de S. loseph, Essai sur l"oraisofl selon l'eeote carmtli-

taine, 1923. - Man beachte jedoch seine Einschränknngen, S, 128.

3 L. Puters, Vers ['union divine par les E.r:ercices de S. Ignace, 1924 • • p, Lamballe, La contemplation,

5 M. A. Saudreau, L 'Ami du Clerg!, u. a m.

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VIERTES KAPITEL.

Vereinigung. Diese ist also hienieden der Gipfel in der Entwicklung des Gnadenlebens. " ,

1561. 2. Die Theorie der besonderen und umgrenzten Berufung. Dennoch erscheinen die oben erwähnten Beweisgründe nicht allen überzeugend. Eine grosse Anzahl geistlicher Schriftsteller hält dafür, die eingegossene Beschauung sei eine frei verliehene Gabe, die Gott nicht allen Seelen gewährt und die übrigens zur Erlangutlg der Heiligkeit nicltt notwendig sei. So denken viele Mitglieder der Gesellschaft J esu, wie z. B. die PP. Billot, de Maumigny, Poulain, Bainvel, J. de Guibert. Ferner die Unbeschuhten Karmeliter, wie P. Marie J oseph du Sacre-Cceur. Ausserhalb der Schulen, wie z. B. Mgr Lejeune und Mgr Farges. Wir fassen ihre Beweisgründe hier kurz zusammen. 2

a) Gewiss macht die vorausgehende Lehre den Eindruck eines herrlichen theologischen Baues. Jedoch mehrere der Steine dieses Gebäudes scheinen nicht gleichmässig fest zu sein. So ist nicht erwiesen, dass die Siebenzahl der Gaben sieben verschiedenen eingegossenen habitus entspricht und nicht vielmehr sieben Ordnungen verschiedener Gnaden, auf deren Empfang Verstand und Wille, jeder durch einen einzigen habitus vorbereitet werden. Und wäre das auch erwiesen, so bliebe ausserdem noch zu beweisen, dass die Gaben der \\leisheit und des Verstandes ihre Tätigkeit wirklich nur in der Beschauung völlig ausüben können und nicht auch in der Aufnahme von Gnaden an Licht, die nicht notwendigerweise diese besondere Form des innerlichen Gebetes mit sich bringen : eine Sache, die auch nicht ausserhalb der Streitfrage zu liegen scheint. 3

, p, GARRIGOu·LAGRANGE, op. cit" S. 450,

2 Diese Beweisgründe finden sich zusammengestellt Von P. R. DE MAUMIGNY, Pratique de l'oraisoll11lentale. t. II, Ve p, - MGR FARGES, Phtfrtomenes myst, , Ie p" Kap, IV. - Controverses de la Presse, eh, IV, - J, DE GUlBERT, Rev. d'Asc, et de Mystique, Janv. 1924, S, 25-32. - 3 J, DE GUlBERT, I. ät" S. 26.

STREITFRAGEN.

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Ebensowenig ist erwiesen, dass die Gaben stets ihrer zibermenscJzlichen Weise gemäss sich betätigen. L. Billot' ist der Meinung, jene Gaben wirken auf zweifache Weise: bald auf gewöhnliche, dann passen sie sich unserer menschlichen Handlungsweise an, bald auf aussergewöhnliche Weise, in diesem Falle bewirken sie in uns die eingegossene Beschauung.

1562. b) Die passiven PrÜfungen scheinen freilich das mächtigste Läuterungsmittel fÜr die Seele zu sein, da sie dabei ein wahres Fegfeuer durchzumachen hat. Aber in diesem Tränentale findet sich ja soviel Gelegenheit zum Leiden und zur Abtötung. \Väre es da nicht möglich, durch sanfte Ergebung in den Willen Gottes und durch positive Abtötungen, die unter der Leitung des Hl. Geistes und eines klugen SeelenfÜhrers geschehen, das Fegfeuer hier auf Erden abzubÜssen? Ist es erwiesen, dass die Gnaden der Beschauung die einzige Form von Gnaden der Auserwählung sind? Alle Welt gibt zu, dass es Seelen gibt, die noch nicht zur eingegossenen Beschauung erhoben, doch vollkommener sind als andere, denen Gott aus freier Wahl die Beschauung verleiht, eben um sie zu heiligen (N. 1407). Sind die ersteren aber vollkommener, so sind sie eben dadurch geläuterter. Im Augenblicke des Todes kann daher ihre Läuterung vollendet sein.

e) Es ist sehr wahr, das Ziel des innerlichen wie des mystischen Lebens ist unsere Vorbereitung auf die beseligende Anschauung, und die beste Vorbereitung besteht fÜr gewisse Seelen in der umwandelnden Vereinigung. Aber ist es die einzige? Manche Seelen bleiben beim diskursiven und affektiven innerlichen Gebet und üRen dabei die heroischen Tugenden in vorbildlicher Weise. Ausserlich und in den Augen derer, die sie grÜndlich kennen, erscheinen sie ebenso tugendhaft, ja sogar tugendhafter als andere Seelen, die beschaulich sind. Ist es nachgewiesen, dass die Gaben des Hl. Geistes nicht in hervorragender Weise wirken in den Tausenden von Stossgebeten, die gewisse Seelen verrichten, während sie ihren täglichen Beschäftigungen obliegen? Ebenso in der beharrlichen, ÜbernatÜrlichen Hingabe an ihre Berufspflichten, deren eintönige Gleichförmigkeit wahren Heldenmut erfordert? Befragt man jedoch solche Menschen, so findet sich bei ihnen keine Spur von eigentlicher, wenigstens gewohnheitsmässiger Beschaullng. - Muss man da nicht eingestehen, dass Gott nicht alle Seelen auf den gleichen Wegen fÜhre? Ja, er passt seine Gnaden dem Charackter, der Erziehung, der von der Vorsehung bestimmten Lage eines jeden

1 De virtutibus infilsis, th, VIII.

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VIERTES KAPITEL.

an. Wohl verlangt er von jeder Seele vollkommene FÜgsamkeit den Einsprechungen des Hl. Geistes gegenÜber, behält sich aber vor, sit durch verschiedene Mittel zu heiligen.

1563. 3. Versuch zur Ausgleichung. Bei Erwägung der beiderseitigen Gründe schien uns eine Annäherung zwischen beiden Meinungen nicht unmöglich.

A) Zunächst sind die gemeinsamen Punkte festzustellen, worin die gemässigten Vertreter jeder Ansicht einig sind:

a) Beschauliche Seelen aller Temperamente und aller Stände hat es immer gegeben und kann es geben. Tatsä{hli{h jedoch gibt es Naturen und Lebensweisen, die mehr als andere zur eingegossenen Beschauung bifähigt oder geeignet sind. Die Beschauung ist eben eine frei verliehene Gabe, die Gott gewährt, wem er will und wann er es will, N. 1387. Auch passt Gott seine Gnaden für gewöhnlich den Naturanlagen und Amtspflichten eines jeden an.

b) Beschauung ist nicht Heiligkeit, aber eines der wirksamsten Mittel zu deren Erlangung : besteht ja doch die Heiligkeit in der Liebe, der innigen, steten Vereinigung mit Gott. Um zu dieser Vereinigung zu gelangen, ist nun die Beschauung zwar an si{h der abgekürzte Weg, aber nicht der einzige. Auch kann es nicht-beschauliche Seelen geben, die "in der Tugend, in der wahren Liebe weiter fortgeschritten sein können als andere, die schneller die eingegossene Beschauung empfingen." 1

C) In der Taufe erhielten wir alle einen übernatürlz"chen Organismus (heiligmachende Gllade, Tugenden und Gaben); ist dieser zur vollen Entwi{klung gereift, so führt er regeireclzt zur Beschauung, insofern er uns jene Ges{hmeidigkeit und Lenksamkeit verleiht, die es Gott ermöglichen, uns in den

x P. GARRIGOu-LAGRANGE, op. cil., t. II, p. 78.

STREITFRAGEN.

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passiven Zustand zu versetzen, wann er will und so, wie er es will. Tatsächlich gibt es aber Seelen, die ohne irgendwelches Verschulden ihrerseits hienieden nicht zur Beschauung gelangen I.

1564. B) In diesen wichtigen Punkten herrscht Übereinstimmung. Trotzdem aber bleiben noch manche Meinungsverschiedenheiten. Unserer Ansicht nach sind sie in den Tendenzen begründet, die dem mystischen Zustande mehr oder minder günstig sind, sowie in der mehr oder weniger gewöhnlichen oder ausserg-ewöhlichen Eigenart, die diesem Zustande zugeschrieben wird. In aller Bescheidenheit legen wir unsere Lösung vor : sie enthält zwei Behauptungen: a) die eing-egossene Beschauung ist an sich ein normaÜ!s Fortschreiten des christlichen Lebens. b) dennoch scheinen tatsächlich nicht alle im Stande der Gnade befindlichen Seelen zu solcher Beschauung samt umwandelnder Vereinigung berufen zu sein.

a) Abgesehen von den aussergewöhlichen mystischen V Qrgängen, die manchmal im Geleit der eingegossenen Beschauung auftreten, ist diese nichts Vvunderbares, Anormales, sondern ergibt sich aus zwei Ursachen : der Pßeg-e des übernatürlichen Lebens, zumal der Gaben des Hl. Geistes, N. 1355, und einer wirkenden Gnade, die aber auch nicht den Stempel des Wunderbaren trägt. Wir sagten bereits, die Eingiessung neuer Intellektsgestalten sei für die ersten Grade der Beschauung nicht notwendig. (N. 1390). - Mit dem Karmeliterkongress von Madrid kann man sogar beifügen, die Beschauung sei mt sich der vollkommenste Vereinigungszustand

, Das kann, sagt P. GARIUGou-LAGRANGE, an der ungünstigen Umwelt liegen, an einem Mangel an Leitung, aber auch an der physischen Beschaffenheit. In dieser Hinsicht ist es gut, sich mit J. Maritain zu erinnern, dass nach Ansicht mehrerer Thomisten, wie Bannez, Joh. a S. Thoma, ferner der Karmeliter von Salamanca, selbst nie Eigenschaften des Temperamentes, in gewissem Sinne, beim Auserwählten eine Wirkung der Auserwählung sind. (Op. cit. t. 1I, S. (75).)

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VIERTES KAPITEL.

zwischen Gott und der Seele, der hienieden erreicht werden kann, das höchste Ideal, und für die zur lnystichen Vereinigung mit Gott berufenen Seelen gleichsam die letzte Etappe des christlichen Lebens, der gewöhnliche Weg zur Heiligkeit und zur gewohnheitsmässig heldenmütig geübten Tugend 1. Dieses scheint wohl die überlieferte Lehre zu sein, so wie sie sich bei den mystischen Schriftstellern, angefangen von Thomas v. Alexandrien bis zum hl. Franz v. Sales, vorfindet.

1565. b) Aus diesen Voraussetzungen folgt jedoch nicht notwendigerweise, alle Seelen im Gnadenzustande seien wirklich, wenn auch nur entfernt, zur umwandelnden Vereinigung berufen. So gut wie es im Himmel sehr verschiedene Grade von Glorie gibt, "stella enim a stella differt in daritate," 2 ebenso gibt es auf Erden sehr verschiedene Grade von Heiligkeit, für die die Seelen schon in diesem Leben berufen sind. Gott aber ist frei in der Austeilung seiner Gaben und weiss sein Wirken der Natur, der Erziehung und der Lebensweise eines jeden anzupassen. Er kann daher die Seelen auf verscftiedenen Wegen zu dem ihnen bestimmten Grade von Heiligkeit erheben.

Jenen, die durch ihr tatkräftiges Naturell und ihre sie mehr in Anspruch nehmenden Beschäftigungen eher zum Handeln als zum Beschauen geschaffen zu sein scheinen, verleiht er Gnaden, um besonders die aktiven Gaben zu üben: solche Seelen leben dann in inniger, bleibender Vereinigung mit Gott, häufen sogar zuweilen ihre Stossgebete in einem Masse, das die menschlichen Kräfte zu übersteigen scheint, und erfüllen vor allem unter den Augen Gottes und aus Liebe zu ihm mit heroischer

, Congrh wrmllitain, 1923, Th. V, - Der Kongress vermied es, sich üQer die Frage der Allgemeinberufung zur Beschauung auszusprechen, wahrscheinlich, weil er diesen Punkt für zweifelhaft hielt.

2/ Kor., XV, 41.

I

STREITFRAGEN.

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Standhaftigkeit die tausend kleinen, täglichen Pflichten, in beständiger Treue gegen die Einsprechungen der Gnade. So erreichen sie den ihnen von Gott bestimmten Grad von Heiligkeit, und zwar ohne den Beistand der eingegossenen Beschauung, wenigstens nicht gewohnheitsmässig, an sich zu erfahren. Sie befinden sich auf dem einfachen Einigung-swege, wie wir ihn N. 13°3 u. ff. beschrieben.

Man mag freilich sagen, das seien AusnaJl11un und der normale Weg zur Heiligkeit sei die Beschauung '. Sind aber diese Ausnahmen zaftlreiclz, mÜssten sie dann nicht in der schwierigen Frage der entfernten Berufung berücksichtigt werden, da ja Naturanlagen und Standespflichten zur Lösung der Berufsfrage wesentlich beitragen?

Im Grunde genommen, ist mehr wirkliche Übereinstimmung da, als die Verschiedenheit der Ausdrucksweise anzudeuten scheint. Von ihrem abstrakten undfor11lalen Gesichtspunkte aus, nehmen die einen zahlreiche Ausnahmen von der Allgemeinberufung an, halten aber an dem Grundsatze der Allgemeinheit fest. Andere stellen sich auf den praktischen Boden der Tatsachen und ziehen vor, einfach zu erklären, der Ruf sei nicht allgemein, wenn auch die Beschauung eine normale Entfaltung des christlichen Lebens sei.

1566. c) Die von uns vorgeschlagene Lösung stützt sich, wie uns scheint, auf die überlieferte LeIne, I) Einerseits wird die Beschauung von fast allen Schriftstellern seit Klemens v. Alexandrien bis zum hl. Franz. v. Sales als die normale Krönung des inneren Lebens angesehen 2. Andererseits wird die Frage der Allgemeinberufung zur Beschauung von

, P. GARRIGOu-LAGRANGE, op. cit, t. H, S. (71-79).

, Viele U rkunder. hierüber findet man in folgenden Werken: HONORE DE STE MARIE, Tradition des Peres et des auteurs ecc/tfsiastiques sur la contemplatioll. A. SAUDREAU, La Vie d'union aDieu, 3, Ausg, 1921. p, GARRIGOu-LAGRANGE, op, cit. t. II, S. 662-740. P. POURRAT, La Spiritualiti chrttienne. Jedoch die kritisch-historische Sichtung dieser Dokumente, und zwar von dem besonderen Gesichtspunkte der Allgemeinberufnng zur Beschanung aus, ist noch nicht geschehen.

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VIERTES KAPITEL.

sehr wenigen unter ihnen ausdrücklich untersucht. Die es tun, wenden sich meistens nur an auserwählte Seelen, die in beschaulichen oder wenigstens sehr eifrigen Klostergemeinschaften lebten. Behaupten sie also, alle oder fast alle könnten zur Quelle lebendigen Wassers (Beschauung) gelangen, so gilt das eben für die Mitglieder der betreffenden Genossenschaft, aber nicht für alle Seelen im Gnadenzustande. Hingegen wird vom 17. Jahrhundert an, als man anfing, genauer bezeichnete Wege zu beschreiten, bei einer grossen Zahl von Schriftstellern ein eigener Ruf zur eingegossenen Beschauung gefordert, ja viele behaupten geradezu, zur Heiligkeit könne man ohne jene Beschauung gelangen 1.

Es ist also nicht statthaft, die beiden Fragen zu vermengen : die Beschauung kann als die normale Entfaltung des geistlichen Lebens aufgefasst werden, ohne dass man behauptet, alle Seelen, die im Stande der Gnade sich befinden, seien zur umwandelnden Vereinigung berufen.

1567. Es sei noch bemerkt, dass die Erwerbung der Heiligkeit und die Leitung der danach strebenden Seelen nicht von der Lösung des äusserst schwierigen Problems abhängen. Besteht man nachdrücklich auf der Pflege der Gaben des HI. Geistes ebenso wie auf der vollkommenen Entäusserung seiner selbst und auf der Loslösung von den Geschöpfen, leitet man die Seelen allmählich zum innerlichen Gebet der Einfalt an, lehrt man sie, auf die Stimme Gottes hören und seinen Einspre-

, Diese Lösung gibt, scheint uns, DOM V. LEHODEY, Voies de l'oraisoll, 3, Teil, 13, Kap, ; Le saint Abandon, 3. T" 14. Kap, Ebenso MGR, WAFFELAERT, R. A. M. Januar 1923, S. 31, sowie in seinen verschiedenen Werken. Ferner die Ecole carmtlitaine und jene, die einen einigermassen andauernden Zustand erworbener Beschauung annehmen, Sie nähert sich der von P. M, DE LA TAILLE, L'oraison contemp!ative, wie auch der von M. J. MARITAIN, Vie spirituelle, März 1923, vorgeschlagenen Lösung, die sich gleichfalls in dem Werke von p, GARRIGOU, t. lI, S. (58-71) wiederfindet.

STREITFRAGEN.

1083

chungen folgen, so bringt man sie auf den Weg, der zur Beschauung führt. Alles übrige ist dann Gottes Sache. Er allein kann die Seelen erfassen und sie, wie die hl. Therese sagt, in's Nest setzen, d. h. in die beschauliche Ruhe.

§ III. Der Augenblick des Beginns der Beschauung.

1568. Die meisten Geisteslehrer glauben, die eingegossene Beschauung gehöre zum Einigungswege. Wir schliessen uns dieser Meinung an. In aussergewöhnlichen Fällen freilich erhebt Gott auch minder vollkommene Seelen zur Beschauung, eben um sie wirksamer zu vervollkommnen (N. I 407). Das ist aber nicht sein gewohntes Vorgehen.

Manche hervorragende Schriftsteller, wie P. Garrigou-Lagrange, versetzen jedoch die Läuterung der Sinne und das innerliche Gebet der Ruhe in den Erleuchtungsweg. Sie stützen sich dabei auf den hl. J oh. v. Kreuz, der in seiner "Dunklen Nacht" schreibt : "Die passive Läuterung der Sinne ist allgemein. Sie vollzieht sich bei einer grossen Zahl von Anfängern. Die Fortschreitenden oder Fortgescllrittenen befinden sich auf dem Erleuchtung-swege. Dort nährt und stärkt Gott die Seele durch die eingegossene Beschauung." 1 Diese Stelle ist uns ~~hon lange bekannt, aber mit H. Hoornaert 2, dem Ubersetzer des grossen Mystikers, legen wir sie anders aus. In seinen verschiedenen Werken spricht der hl. J oh. v. Kreuz nur immer von der eingegossenen Beschauung. In ihr nun gibt es Anfänger, Fortschreitende und Vollkommene: Anfänger sind für ihn jene, die bald in die passZ7/e Läuterung der Sinne eingehen. Deshalb spricht er von ihnen schon im ersten Kapitel der Dunklen Naclzt.

, Dunkle Nacht,!. B., 8. Kap. und 14. Kap. , Anmerkung znr Nuit obscure, S, 5-6.

1084 VIERTES KAPITEL. - STREITFRAGEN.

Fortgeschrittene sind jene, die zur eingegossenen Beschauung, der Ruhe und ziollen Vereinigung zugelassen worden sind. Vollkommme jene, die die Nacht des Geistes durchgemacht haben und in der ekstatischen Vereinigung oder der umwandelnden Vereinigung sind. Der Gesichtspunkt ist also ein verschiedener.

1569. Da librigens in einem Grundriss der didaktische Gesichtspunkt vorwiegen soll, ist es von Wichtigkeit, alles, was sicl: auf die verschiedenen Arten der Beschauung bezieht, zusammenzustellen, damit auf diese Weise deren Wesen und verschiedenen Stufen deutlicher hervortreten. Darum schien es uns geraten, die allgemein angenommene Einteilung beizubehalten. Wir beeilen uns jedoch hinzuzufÜgen, dass Gott, dessen Wege ebenso vielfältig als wunderbar sinti, nicht immer sich in den von uns versuchsweise aufgestellten logischen Rahmen bewegt. Für den Seelenführer ist das Wichtigste, den Antrieben der Gnade Folge zu leisten, nicht aber ihnen vorauszugehen.

1570. Zum Schluss wollen wir darum beifügen, was L'Amz' du ClergiI sagt:" Was in der Theorie so lebhaft umstritten wird, ist kein Hindernis für die Gewissheit über eine bestimmte Anzahl wesentlicher, praktischer Regeln. Um sich die Heilkräfte einer Pflanze zunutze zu machen, ist die Kenntnis ihrer Gattung und ihres wissenschaftlichen Namens nicht schlechthin unerlässlich. Ebenso verhält es sich mit der Beschauung : betreffs ihrer U mgrenzung und der ihr in theologischen Einorclnungen zuzuweisenden Stelle herrscht keine Ubereinstimmung... Die technischen und theoretischen Ergebnisse brauchen jedoch nicht abgewartet zu werden. Das Ziel, dem die auserwählten und grossmütigen Seelen zuwandern, ist unseren Mitbrüdern hinlänglich bekannt. Auch wissen sie genug, um den Seelen zu Erreichung dieses Zieles zu verhelfen. "- Das nun wird noch mehr aus den Schlussfolgerungen einleuchten, die wir jetzt ziehen wollen.

'Ami du Clergt!, 8, Dez. 1921, S, 697,

3. BUCH. - SCHLUSSFOLGERUNG. 1085

SCHLUSSFOLGERUNG AUS DEM 3. BUCH:

DIE LEITUNG DER BESCHAULICHEN SEELEN.

Schon mehrmals haben wir im Verlaufe dieses Buches Richtlinien für solche Leitung angegeben. Nun gilt es, in übersichtlicher Zusammenstellung zu zeigen, welches Verfahren der Seelen führer einhalten muss, um die Seelen für die Beschauung vorzubereiten, sie mitten durch die dort anzutreffenden Klippen zu führen und sie wiederaufzurichten, falls sie das Unglück hätten, zu fallen.

1571. I. Hat der Seelenführer grossmütige Seelen zu leiten, so ist es seine Pflicltt, sie nach und nach auf den Einigungsweg und die Beschauung vorzubereiten. Zwei Auswüchse sind hierbei zu vermeiden: alle frommen Seelen unterschiedslos und rasch zur Beschauung treiben zu wollen. Sich einzubilden, es sei nutzlos, sich damit zu befassen.

1572. A) Um der ersten Klippe auszuweichen:

a) erinnere sich der Seelenführer, dass man an die Beschauung regelrecht erst dann denken kann, wenn das innerliche Gebet und die christlichen Tugenden bereits lange Zeit gepflegt worden sind. Zu den letzteren gehören Herzensreinheit, Losschälung von sich und den Geschöpfen, Demut, Gehorsam, Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes, ferner, Geist des Glaubens, Vertrauens und der Liebe.

Er gedenke der Lehre des hl. Bernhard' : Finden sich unter den Mönchen solche, die der Beschauung zugetan sind, so sind es nicht die Neulinge in der Tugend. Diese, erst vor kurzem der SÜnde abgestorben, mÜhen sich, seufzend und voll Furcht vor dem Gerichte Gottes, ihre noch frischen Wunden zu heilen. Jene aber, die nach langer Mitwirkung mit der Gnade nennenswerte Fortschritte in der Tugend machten, brauchen ihrem Geiste nicht immer wieder das

, In Ca1!tica sermo LVII, n. Ir. - Der Gedanke des Heiligen ist hier knapp zusammengefasst,

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3. BUCH.

betrÜbende Bild ihrer Sünden vorzuführen, sondern finden ihre Wonne darin, Tag und Nacht zu betrachten und das Gesetz Gottes auszuführen.

b) Sollte er hastiges, amllasselldes Verlangen nach Beschauung wahrnehmen, so trage er Sorge, es zu beschwichtigen. Er erinnere daran, dass man sich nicht hineindrängen kann und dass im übrigen den Süssigkeiten des innerlichen Gebetes gewöhnlich bittere PrÜfungen vorauszugehen pflegen.

c) Er hüte sich wohl, die fÜhlbaren Tröstungen der Anfänger oder selbst die geistlichen WonnegefÜhle der Fortschrei. tenden mit den himmlischen Genüssen zu verwechseln (N. 1439), und ehe er sich über das Eingehen in den passiven Zustand äussere, warte er das Erscheinen der von uns N. 1413.1416 dargelegten drei unterscheidenden Kennzeichen ab.

1573. B) Zur Umgehung der zweiten Klippe bedenke er, dass der in seinen Gaben allzeit freigebige Gott sich eifrigen und gelehrigen Seelen grossmütig mitteile.

a) Ohne direkt von der. Beschauung zu sprechen, ziehe er in den guten Seelen nicht nur die Tugenden gross, sondern auch die Andacht zum Hl. Geist: oft erwähne er das Wohnen des Geistes Gottes in der Seele, die Pflicht, oft an ihn zu denken, ihn anzubeten, seinen Einsprechungen Folge zu leisten, seine Gaben zu pflegen.

b) Nach und nach verhelfe er ihnen zu einem mehr affektiven innerlichen Gebet, rate ihnen zu längerem Verweilen bei den Akten der Gottesverehrung, der Liebe, der Hingabe ihrer selbst und ihres Willens an Gott. Er fordere sie auf, diese Akte im Laufe des Tages oft durch eine einfache Herzenserhebung zu ~iederholen, dabei aber auch ihre Standespfjichten und die Ubung der Tugenden nicht zu vernachlässigen. - Nimmt er dann wahr, dass sie gern schweigend unter Gottes Augen verweilen, um ihn anzuhören und seinen Willen zu erfÜllen, so ermutige er sie und belehre sie darÜber, wie ausgezeichnet und äusserst fruchtbringend dieses innerliche Gebet sei.

1574. 2. Sobald die Seele mystische Wege zu wandeln beginnt, beclarf der Seelen führer äusserster Klugheit, um sie inmitten der Trockenheiten und gijttliclten Wonnen zu leiten.

SCHLUSSFOLGERUNG.

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A) Während der passiven Prüfungen muss die Seele gegen Entmutigung und andere Versuchungen verwahrt werden, wie dies N. 1432-1434 angedeutet worden ist.

B) Während der lieblichen Beschauung kann man in geistliche Naschhaftigkeit oder in eitle Selbstgefälligkeit fallen.

a) Gegen den ersten Fehler wiederhole man sich unaufhörlich, Gott allein sei zu lieben, nicht aber die göttlichen Genüsse, Tröstungen seien nur ein Mittel, uns mit ihm zu vereinigen, ein Mittel, dem man bereitwillig' und von Herzen entsagen würde, sollte er es uns entziehen. Gott allein genÜgt!

b) Zuweilen sorgt Gott selbst dafÜr, die Regungen des Hochmutes nicht aufkommen zu lassen: in lebhaftester Weise prägt er der Seele das Gefühl ihres Nichts und ihres Elends ein und lässt sie klar einsehen, dass solche Gunsterweise reine Geschenke sind, deren man sich nicht rühmen darf. Wurden jedoch die Seelen noch nicht vollständig geläutert durch die Nacht desGeistes, so bedürfen sie, sagt die hl. Therese, fortwährender Ubung der Demut und Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes, N. 1447, 1474. Besonders müssen sie gegen das Verlangen nach Visionen, Offenbarungen und anderen aussergewöhnlichen Vorgängen gewappnet werden. Ein solches Verlangen ist niemals statthaft. Die Heiligen weisen es aus Demut mit aller Sorgfalt von sich ab. N. 1496.

1575. C) Es darf nicht vergessen werden, dass eine Ekstase, der nicht, wie der h1. Franz v. Sales sagt, eine Ekstase im Leben zur Seite steht, d. h. heroische Tugendübung, N. 146I, illusorisch ist. Es wäre eine schwere Täuschung, wollte man die Standespflichten vernachlässigen, um der Beschauung mehr Zeit zu widmen : P. Balthasar Alvarez, der zeitweilige Beichtvater der h1. Therese, sagt gerade heraus, man solle die Beschauung unterlassen, wenn es sich darum handelt, Berufspflichten zu erfüllen oder dem Nächsten zu Hilfe zu kommen. Er fügt hinzu, Gott verleihe einer Seele, die sich so abzutöten verstehe, in einer Stunde innerlichen Gebetes mehr Licht und Liebe, als einer anderen in mehreren Stunden 1.

I Vi. par le P. DUPONT, eh. XLI, XIII, Se diffieulte.

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3. BUCH.

1576. D) Eine noch grössere Illusion wäre es, sich einzubilden, die Beschauung verteilze das Vorrecht der Unjähigkeit, zu sündigtm. Wie die Geschichte beweist, fielen die falschen Mystiker, die wie die Begharden und die Quietisten, sich nicht für fähig hielten, Sünden zu begehen, den ärgsten Lastern zum Opfer. Immer wieder betont die hl. Therese die Notwendigkeit der Wachsamkeit, um die Sünde zu meiden, sollte man selbst schon die höchsten Stufen der Beschauung erreicht haben. Der hl. Philipp v. Neri pflegte zu sagen: " Mein Gott, traue nicht dem Philipp, sonst könnte er dich verraten!" Ohne besondere Gnade vermögen wir nämlich nicht lange auszuharren. Diese Gnade aber wird den Demütigen gewährt, die sich selbst misstrauen und ihr ganzes Vertrauen auf Gott setzen.

1577. 3. Die Möglichkeit, die für beschauliche Seelen Anlass zur Sünde böte, muss daher vorgesehen werden. Mehrere Ursachen können bei solchen Fällen mitspielen :

a) Die Seele war zur Beschauung erhoben worden, ehe sie genÜgende Herrschaft über ihre Leidenschaften erlangt hatte. Statt den Kampf kräftig fortzusetzen, entschlief sie in süsser Ruhe. Es entstanden heftige Versuchungen, Sie vertraute ZU sehr auf sich selbst und unterlag. Das Heilmittel heisst Zerknirschzmi{, RÜckkehr zu Gott mit reumütigem und gedemüc tigtem Herzen, lange und mÜhselige Busse: je erhabener die Höhe war, von der man herabfiel, desto demütigere und beharrlichere Anstrengungen müssen für den erneuten Aufstieg, um die Gipfel wieder zu erreichen, gemacht werden. Dem SeelenfÜhrer steht es zu, die Seele immer wieder mit GÜte und Festigkeit daran zu erinnern.

b) Es gibt beschauliche Seelen, die mutig gekämpft hatten, um ihre bösen Neigungen zu beherrschen. Es war ihnen dies auch gelungen. Nun aber bildeten sie sich ein, der Kampf sei zu Ende, verminderten ihre Anstrengungen, liessen es an Grossmut in ErfÜllung gewisser Pflichten fehlen, die sie weniger wichtig erachteten. Sie geraten in eine Art zunehmende Erschlaffung, die zur Lauheit führen kann. - Diese Bewegung nach rÜckwärts muss durchaus aufgehalten wer-

SCHLUSSFOLGERUNG.

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den: man ermahne sie, ihren Eifer um so mehr zu verdoppeln, je grossmutiger Gott sich gegen sie zeigt, da die geringsten Nachlässigkeiten der Freunde Gottes empfindliche Ver. letzungen fÜr Jenen sind, der ihnen seine Gnaden so freigebig schenkt. Man lese nur in der Selbstbiographie der hl. Margarita Maria, welch strenge VorwÜrfe J esus ihr macht, wie er ihre kleinsten Untreuen rügt: ihren Mangel an Ehrfurcht und Aufmerksamkeit zur Zeit des Offiziums lind der Betrachtung, den Mangel an Geradheit und Reinheit in ihren Absichten, die eitle Neugierde, die geringsten Verfehlungen gegen den Gehorsam, selbst wenn sie zwecks grösserer Strengheiten geschahen. Aus dem Geiste dieser Vorwürfe heraus suche man jene Seelen zum Eifer zurÜckzuführen.

1578. c) Andere erwarteten mit Sicherheit, nach den ersten passiven Prüfungen in der Beschauung nur Süssigkeit und himmlische Genüsse zu finden. In Wirklichkeit aber erhalten sie von Gott abwechselnd weiter Bangigkeitem und Freuden, wodurch sie auf wirksamere Weise zur Heiligung gelangen. Sie verlieren jedoch den Mut und sind nahe daran, der Erschlaffung und deren Folgen nachzugeben. - Als Hauptheilmittel präge man ihnen unaufhörlich die Kreuzesliebe ein, nicht zwar, weil das Kreuz an sich liebenswürdig ist, sondern weil es uns ] esus, dem Gekreuzigten, ähnlicher macht.

Übrigens ist das Kreuz, wie der hl. Pfarrer v. Ars' sagt, " das Geschenk, das Gott seinen Freunden macht. Man bete um Liebe zum Kreuz, dann wird es angenehm. Diese Erfahrung habe ich selbst gemacht. .. ach, ich hatte viele Kreuze, beinahe mehr als ich zu tragen vermochte! Da gab ich mich daran, Kreuzesliebe zu erflehen. Nun war ich glücklich. Wahrlich, dort allein findet sich das Glück. "

Was also der Seelenführer beschaulicher Seelen zu tun hat, ist, kurz zusammengefasst, dieses : er vertiefe sich in die Werke und Lebensbeschreibungen der Mystiker und bete um die Gabe des Rates, damit er zu diesen Seelen nicht anders spreche als unter Einwirkung des HI. Geistes.

, MONNIN, Le eure d'Ars, 3. B., 3. Kap.

N° 683. -3i)

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NACHTRAG.

NACHTRAG: DIE DREI WEGE UND DER LITURGISCHE KREIS 1.

1579. Nun sind die zur Vollkommenheit führenden drei \Nege oder Strecken durchwandelt. Es wird nicht ohne Nutzen sein, zu sehen, wie jedes Jahr die Kirche uns in der Litul;gie auffordert, das Werk unserer Heiligung neu zu beginnen und zu vervollkommnen, und zwar mit seinen drei Stufen : der Reinigung', der Erleuclztmzg und der Vereinigung mit Gott. Das geistliche Leben ist nämlich tatsächlich eine Reihenfolge beständig erneuter Anfänge. U!ld so erscheint denn jedes Jahr der liturgische Fe:itkreis, um uns zu neuen Anstrengungen anzutreiben.

In der Liturgie bezieht sich alles auf das Fleischgewordene Wort, den Mittler der Gottesverehrung ebenso wie der Erlösung. Nicht nur als Vorbild zur Nachahmung wird Christus uns dargestellt, sondern auch als Haupt eines mystischen Leibes. Als solches belebt er seine Glieder, damit die Tugenden, wie er sie durch sein Beispiel lehrte, von ihnen geÜbt werden. Jedes Fest, jeder liturgische Zeitraum erinnert uns also an irgend eine Tugend des Hdlandes und bringt uns die Gnaden, die Jesus uns erwarb. Unter seiner Mitwirkung sollen wir dann diese Tugenden in uns hervorbringen.

1580. Wie das liturgische Jahr den vier Jahreszeiten entspricht, so steht es auch im Einklang mit den vier Hauptphasen des geistlichen Lebens 2. Der Advent entspricht dem Reinigungsweg, die Weihnachtszeit mit Epiphanie deutet auf den Erleuclt-

, DOM GUERANGER, L'anntfe liturgique. DOM LEDUC u, DOM BAUDET, Catechisme liturgique. DOM FESTUGIERE, La liturgie mtllolique.

F. CAVALLERA, Asdtisme et Liturgie,

2 Obgleich im geistlichen Leben nur drei Wege unterschieden werden, 1st doch der Abstand zwischen den passiven Läulerungen \lod der lieblidzen Beschauung grass genug, um zwei Phasen des Einigungsweges annehmen zu können.

NACHTRAG.

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tungsweg und die Nachfolge Jesu durch Nacnahmung seiner Tugenden. Von Septuagesima an und während der Fastenzeit wird der Seele eine zweite, tiefere Läuterung nahegelegt. Die Ostl:rzeit ist dann ,der Einigungsweg, die Vereinigung mit dem auferstandenen Heiland, die durch die Himmelfahrt und die Herabkunft des Hl. Geistes ihre Vollendung findet. - In diesem Sinne soll der liturgische Festkreis kurz erklärt werden.

1581. I. Der Advent. Das Wort bedeutet Ankunft. Es ist eine Zeit der Vorbereitung auf das Kommen des Erlösers und als solche eine Zeit der Reinigung und der Busse.

Die Kirche fordert uns zur Betrachtung Über die dreifache Ankunft Jesu auf: sein Kommen auf die Welt, durch die Menschwerdung, sein Kommen in die Seelen durch die Gnade, sein Kommen am Ende der Zeiten, um seines Richteramtes zu walten. Auf das erste Kommen lenkt sie aber vor allem unsere Aufmerksamkeit. Sie gedenkt des sehnsÜchtigen Rufens der Patriarchen und Propheten, damit wir mit ihnen nach der Ankunft des verheissenen Befreiers verlangen, die Errichtung oder Befestigung seines Reiches in unseren Seelen herbeisehnen. Der Advent ist daher eine Zeit heiligot Sehnens und innigen Flehens, während der wir Gott bitten, den Tau seiner Gnade und besonders den Erlöser selbst zu uns herabsteigen zu lassen, Rorate, ca!li, desuper, et nubes pluant justztlll! Noch dringender wird dieses Gebet in den grosseIl Antiphonen: 0 Emmanuel, Rex gloria!, Oriens, etc. Wir werden dabei an die glorreichen Namen erinnert, womit die Propheten dem Messias entgegen jubelten. Ebenso an die HauptzÜge seiner Aufgabe, und wir verlangen um so mehr nach der Ankunft dessen, der allein unsere Not lindern kann,

1582. Der Advent ist aber auch eine Zeit der Busse. Die Kirche erinnert uns in dieser Zeit an das letzte Gericht: wir müssen uns darauf durch Sühneleistung flir unsere Sünden vorbereiten. Die Predigten des hl. J ohannes des Täufers mahnen uns, Busse zu tun und dem Erlöser den Weg zu bereiten: "Parate vialll Domini, rectas facite semitas ejzts. " , Ehemals bestand der Gebrauch, dreimal in der \Voche zu fasten. Noch jetzt ist er in manchen Ordensgenossenschaften. Gegenwärtig legt die Kirche ihren Kindern das Fasten nicht

Luk. UI, 4.

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NACHTRAG.

mehr auf, ermahnt si(i: aber, es durch andere Werke der Abtötung zu ersetzen. Um sie dessen eingedenk sein zu lassen, legt sie in dieser Zeit ein violettes Messgewand an, das ein Sinnbild der Trauer ist.

Zweifellos ist solch' heiliges, mit Bussübungen verbundenes Sehnen sehr förderlich zur Reinigung der Seele, die auf diese Weise auf das Reich J esu vorbereitet wird.

1583. 2. Die Weihnachtszeit ist angebrochen.

Das Wort erscheint in der Gebrechlichkeit des Fleisches, in den Reizen, aber auch den Schwächen des Kindes. Es fordert uns auf, ihm unsere Herzen zu öffnen, damit es als König darin herrsche und uns seine Gesinnungen und seine Tugenden mitteile. So beginnt der Erleuchtungsweg : von unseren Fehlern gereinigt, von der Sünde und den dazu führenden Ursachen losgelöst, werden wir immer mehr J esus einverleibt, wir erhalten Anteil an seinen Erniedrigungen, an seiner Demut, seinem Geltorsam, seiner Armut, die er bei seiner Geburt und deren Begleitumständen so herrlich übte. Er kam auf die Welt, um sie zu erlösen. Aber es finden sich nur einige Hirten und einige Weisen aus dem Morgenlande ein, die ihm ihre Huldigungen darbringen. Die Juden jedoch, sein von ihm auserwähltes Volk, wollen ihn nicht aufnehmen : "In propriq venit et sui eum non receperunt." I Er muss nach Agypten fliehen. Von dort zurück gekehrt, vergräbt er sich in einen kleinen Flecken in Galiläa. Daselbst weilt er nahezu dreissig Jahre, nimmt an Weisheit und Wissenschaft, wie auch an Alter zu, arbeitet mit seinen Händen wie ein einfacher Handwerker und gehorcht in allem Maria und J osef. Das nun ist das Schauspiel, das die Liturgie uns während der Zeit von Weihnachten und Epiphanie als nachzuahmmdes Beispiel vor Augen führt. Zugleich fordert sie uns auf, dem Gotteskind um so mehr in

, lok. I, 11.

NACHTRAG.

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tiefer Anbetung zu huldigen, je unscheinbarer seine äussere Gestalt ist, ferner, ihm zu danken und es zu lieven : " sic nos amantem quis non redamaret? "

1584. 3. Dem Freudengenuss der Vereinigung mit Gott muss aber eine neue Läuterung vorausgehen, die härter, einschneidender ist als die erste. Dazu finden wir Gelegenheit von Septuagesima an und in der Fastenzeit.

Mit Septuagesima beginnt eine Art Vorspiel der Fastenzeit. In den Texten der Hl. Schrift, die die Kirche uns unausgesetzt vor Augen hält, lesen wir den Bericht über den Fall des Menschen, die darauffolgenden Sünden, die Sintflut als deren Strafe, lesen das im Geiste der Sühne zugebrachte Leben der Patriarchen. Dann werden wir aufgefordert, in der Bitterkeit des Herzens unsere Sünden zu betrachten, sie aufrichtig zu verabscheuen, sie durch grossmütige Busse zu sühnen. Als Mittel dazu schlägt sie uns vor: I) Arbeit oder treue Erfüllung der Standespflichten, und zwar aus Liebe zu Gott :

"Üe et vos in vineam meam." 2) Kampf gegen die Leidenschaften. In der Epistel vergleicht sie uns mit Wettkämpfern, die um die Erlangung der Siegeskrone laufen oder fechten. Sie fordert uns auf, unseren Leib zu züchtigen und dienstbar zu machen. 3) Bereitwillige Annahme von Leiden und Prüfungen, die gerechterweise über uns verhängt werden, mit demütigem Gebet sie zunutze zu machen: " Circumdederunt me gemitus mortis ... et in tribulatione mea invocavi Dominum. " 1

1585. Zu diesen Mitteln treten in der Quadragesima noch Fasten, Abstinenz und Almosen, die zu siegreichem Kampfe gegen die Versuchungen verhelfen. Diese Werke verrichten wir in Vereinigung mit jesus, der sich vierzig Tage in der 'Wüste aufhielt, um dort an unserer Stelle Busse zu tUll, einwilligt,

, Introitus vom Sonntag Septuagesima.

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NACHTRAG.

daselbst versucht zu werden, um uns zu zeigen, wie wir dem Teufel widerstehen sollen. Belehrt uns ja die Präfation darüber, wie durch das Fasten die Unvollkommenheiten geschwächt, das Herz zu Gott erhoben, Tugenden und Verdienste vermehrt werden.

Der Vorgang auf Thabor, der am zweiten Sonntag erzählt wird, soll uns veranschaulichen, wie die Busse ihre Freuden hat, versteht man mit Gebet sie zu verbinden und die Augen zu Gott zu erheben, um bei ihm Beistand zu suchen: " Oculi 111ez" se111jJer ad D0111inu111, quia ijse eve!let de laqueo jedes 111eos." , Der Introitus vom 4. Sonntage erhält unsern Mut aufrecht, denn er lässt uns die himmlischen Freuden ahnen:

"La!lare jerusalem." Einen Vorgeschmack davon erhalten wir schon durch die hl. Kommunion, deren Vorbild die Brotvermehrung ist.

1586. Am Passionssonntage wird die Fahne des Kreuzes entfaltet: " Vexilla Regis prodeunt". Es ist das nackte Kreuz, denn zum Zeichen der Trauer und der Betrübnis wird das Bild des Gekreuzigten verhüllt. Lernen wir daraus, dass zu manchen Zeiten nur Prüfungen sichtbar sind, ohne dass man den geringsten Trost erfahre. Doch die Epistel des Tages soll uns trösten, sie zeigt uns unseren Hohepriester, der nach Hingabe seines Blutes in das Allerheiligste eingeht, und sie erinnert uns daran, dass das Kreuz, das Sinnbild des Todes, zur Quelle des Lebens wurde" ut unde mors oriebatur inde vita resurgeret. "

Von der Vergänglichkeit irdischer Ehrungen, auch der bestverdienten und von tiefsten Verclemütigungen, die ihnen folgen, spricht der Palmsonntag. Bald folgen ihm die schmerzhaften Geheimnisse. Der gequälten Seele entringt sich dann der Schmerzensschrei : " Deus Deus meus, respice in me : quare lIle dereliquisti?" 2 Es ist der Ruf J esu im Ölgarten wie auf Kalvaria. Es ist der Ruf der christlichen

, Introitus vom 3. Sonntag in der Fastenzeit. , Introitus am Palmsonntage.

.NACHTRAG.

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Seele, wenn sie durch innere Leiden oder Verleumdung heimgesucht wird. Doch in trostspendenden Worten weist uns die Epistel nachdrücklich auf die Vereinigung mit den inneren Gesinnungen Jesu hin, der bis zum Tode gehorsam war, ja bis zum Tode am Kreuze und dessen Lohn bald in solcher Erhöhung bestand, dass jedes Knie sich vor ihm beugt: haben wir teil an seinen Leiden, so werden wir auch an seinen Siegesehren Anteil haben, wie der hl. Paulus es sagt: "si tamen compati11lur ut et conglorificemur. " I

1587. 4. Auferstehung und Osterfestkreis erinnern uns an das glorreiche Leben J esu, das Sinnbild des Einigungsweges. Ist es ja doch ein mehr himmlisches als irdisches Leben: im Dienste seines Vaters hatte J esus beständig auf Erden geweilt, hatte gearbeitet, mit den Menschen verkehrt, das Predigtamt ausgeübt. Nach seiner Auferstehung trennt er sich mehr als je von allen äusserlichen Dingen, erscheint nur noch selten, um den Aposteln seine letzten Ermahnungen zu geben und kehrt zu seineill Vater zurück : "Apparens eis et loquens de regno Dei. " 2

Ähnlich diesem Vorbilde suchen die Seelen auf dem EinigulIgswege nun die Einsamkeit, um innig mit Gott zu verkehren. MÜssen sie ihrer Amtspflichten wegen mit den Menschen verkehren, so geschieht es in der Absicht, sie zu heiligen. Sie bemÜhen sich, dem vom hl. Paulus gezeichneten Ideal nahezukommen 3 : " Wenn ihr nun mit Christus auferstanden seid, so suchet, was droben ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt. Auf das, was droben ist, lasset euren Sinn gerichtet sein, nicht auf das, was auf Erden ist. Denn ihr seid gestorben und euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott."

Mit der Himmelfahrt ist eine noch höhere Stufe erreicht.

J esus weilt im Himmel zur Rechten seines Vaters und betet unaufhörlich für uns: noch fruchtbringender gestaltet sich dadurch sein Apostolat, weil er uns den Hl. Geist sendet, den Heiligmacher, der die Apostel und durch sie Millionen von

'Röm., VIII, 17. -' Aposte/geseh., I, 3. - 3 Kol .. III, 1-3.

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NACHTRAG~

Seelen umwandelt. Ebenso beten und opfern sich die beschaulichen Seelen fortwährend für das Heil ihrer Brüder, und auch ihr Apostelamt trägt Früchte, weil ihr Geist und ihr Herz bereits im Himmel wohnen.

1588. Pfingsten ist die Herabkunft des HI.

Geistes in jede einzelne Seele, um dort die in den Aposteln bewirkte wunderbare Umwandlung langsamer und verborgener zu vollziehen. Im Geheimnis der Allerheiligsten Dreifaltigkeit wird uns dann der Hauptgegenstand unseres Glaubens und unserer Religion, die bewirkende und vorbildliche Ursache unserer Heiligung, vor Augen gestellt. Fronleidlnams-und Herz-jesu-Fest erinnern uns immer wieder daran, dass J esus, der in der h1. Eucharistie die Schätze seines heiligsten Herzens offenbart, unsere Anbetung und Liebe verdiene und zugleich sich dort als Hauptgottesverehrer erweise. Durch ihn und in ihm vermögen auch wir, der anbetungswÜrdigen Dreifaltigkeit die gebührenden Huldigungen rlarzu bri ngen.

Die zahlreichen auf Pfingsten folgenden Sonntage veranschaulichen die vollständige Entfaltung des vom Hl. Geiste ins Leben gerufenen Werkes, nicht nur in der Kirche, sondern auch in jeder christlichen Seele und fordern uns daher auf, unter der Einwirkung des Hl. Geistes reichliche Früchte des Heiles hervorzubringen, und zwar bis ZU dem Tage, an welchem wir im Himmel uns mit jenem wieder vereinigen werden, der uns dorthin vorausging, um uns im Hause seines Vaters eine Wohnung zu bereiten.

1589. In diesen liturgischen Festkreis werden die Heiligen/este eingefÜgt. Ein mächtiger Antrieb für uns sind die Beispiele jener Menschen, die trotz aller Versuchungen und Hindernisse als wahre Glieder Christi seine Tugenden übten. Mit dem h1. Paulus sagen sie zu uns : "Seid meine Nachfolger, gleichwie ich Christi Nachfolger bin. "Imitatores mei estote sieltt et ego Cltristi." I Lesen wir im Brevier den Bericht über ihre heroischen Tugen-

, f. Kor., IV, 16.

NACHTRAG.

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den, so wiederholen wir das Wort des hl. Augustinus : " Tu non potcris quod isti, quod z'stce?"

Vor allem vergessen wir nicht, dass die Königin der Engel und Heiligen, die Mutter des Heilandes, in der Liturgie beständig ihrem Sohne beigesellt ist und dass wir den Sohn nicht verehren können, ohne seine Mutter zu ehren, zu lieben und ihr durch Nachahmung zu huldigen.

So werden wir im Verlaufe des liturgischen F estkreises, unter dem Beistande der allerseligsten Jungfrau und der Heiligen, innig verbunden mit dem Fleischgewordenen Worte, immer näher zu Gott gelangen.

1590. Um jedoch die von der Kirche uns gebotenen, reichlichen Mittel zur Heiligung recht zu benÜtzen, müssen wir uns mit den inneren Gesz'nnungen jesu ganz durchdringen. Zur Erweckung solcher Gesinnungen verhilft uns das schöne Gebet:" 0 jesu vivens in Marz·a." Besser als mit dessen kurzer Erklärung können wir dieses Buch nicht schliessen.

GEBET: 0 jESU VIVENS IN MARIA. I

o J esu vivens in Maria, veni et vive in famulis tuis,

o J esus, der du in Maria lebst, komm und lebe in meiner Seele,

durch deinen Geist der Heiligkeit,

durch die Fülle deiner Macht, durch die Vollkommenheit deiner Wege,

durch die Wahrheit deiner

Tugenden,

durch die Teilnahme an dei-

. nen Geheimnissen,

'siege in mir über alle feind-

liche Macht,

durch deinen Geist, zur Ehre deines Vaters.

in spiritu sanctitatis tUa!,

in plenitudine virtutis tUa!,

in perfectione viarum tuarum,

in veritate virtutum tuarum,

in communione mysteriorum tuorum,

dominare OInni adversa! potestati,

111 Spiritu tuo ad gloriam Patris.

1 ))ieses von P. DE CONDREN verfasste und von OLlER vervollständigte Gebet wird in den Seminarien von SI. ·Sulpice täglich

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NACHTRAG.

Drei Teile von ungleicher Länge lassen sich in diesem Gebete unterscheiden : im ersten wird gesagt, an wen sich diese Bitte riehtet. Im zweiten findet sich der Gegenstand dieser Bitte. Im dritten ihr Endzweek.

1591. I. An wen ist dieses Gebet gerichtet?

An jesus, der in Maria lebt, d. h. an das Fleisehgewordene Wort, an den Gottmenschen, der in der Einheit einer sei ben Person die göttliche und menschliche Natur zugleich besitzt, der für uns Verdz'enst-, V01bilds- und Lebens- Ursaehe unserer Heiligung ist (N. 132). Wir wenden uns an Ihn als lebend in Maria. Neun Monate lang weilte er ehemals lez'blz'eherwez'se in ihrem jungfräulichen Schoss, Von diesem Leben ist hier nicht die Rede. Es hörte mit der Geburt des Gotteskindes auf. Durch die h1. Kommunion schenkte er ihr seine sakramentale Gegenwart : diese aber hörte mit der letzten hl. Kommunion Mariä auf Erden auf. Er lebte und lebt noch in ihr mystiseherweise als Haupt des mystischen Leibes, dessen Glieder alle Christen sind. In Maria jedoch ist dieses Leben viel erhabener, weil sie im mystischen Leibe Christi die ehrenvollste Stelle einnimmt (N. 155-162). Er lebt in ihr durch seinen göttlz'ehen Geist, d. h. durch den Hl. Geist, den er seiner Mutter mitteilt. Und dieser Geist bewirkt in ihr ähnliche Gesinnungen wie in der menschlichen Seele Christi. Kraft der Verdienste und Gebete des Heilandes wird also Maria vom Hl. Geiste geheiligt und verherrlicht, wird J esus so ähnlich wie nur möglich gemacht, so dass sie als vollkommenste, lebende Nachbildung Christi erscheint : "Hcee est z'mago Chrz'stz'

- peifeetz'ssima quam ad vivum depz'nxz't Spirz'tus Sanctus. "

am Ende der Morgenbetrachtung verrichtet. Der EHRW. P. LlBERMANN hat einen schönen Kommentar dazu geliefert. (Lettres, t. lI, S. 506-522.)

NACHTRAG.

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Treffliche Worte sagt Olier ' darüber ; " Was Christus seiner Kirche ist, das ist er in vorzüglichster Weise seiner heiligsten Mutter. So ist er ihr innere Gottesfülle. Wie er sich für sie in eigenartigerer Weise als für die ganze Kirche hinopferte, so schenkt er ihr auch sein göttliches Leben in reichlicherem Masse als der ganzen Kirche. Er verleiht es ihr sogar aus Dankbarkeit, in Anerkennung des von ihr erhaltenen Lebens. Allen seinen Gliedern versprach er ja hundertfache Vergeltung [Ur jede hienieden ihm bewiesene Liebestat. Darum will er auch seiner Mutter das von ihrer Liebe und Frömmigkeit erhaltene menschliche Leben hundertfach vergelten. Und dieses Hundertfache ist das unendlich wertvolle, unschätzbare göttliche Leben ... Dieses Leben J esu in Maria muss darum in diesem Sinne aufgefasst werden : J esus Christus, unser Alles, lebt in der allerseligsten Jungfrau mit der Fülle göttlichen Lebens, sowohl jenes Lebens, das er von seinem Vater empfangen, als jenes anderen, das er den Menschen durch die Lebensaufgabe seiner Mutter erwarb und verdiente. In ihr lässt er alle Schätze seiner Reichtümer, den Glanz seiner Schönheit und die Wonnen des göttlichen Lebens hervortreten ... In ihr wohnt er mit seiner ganzen Machtvollkommenheit, in ihr wirkt er mit ganzer Ausdehnung seines göttlichen Geistes. Mit ihr ist er ein Herz und eine Seele, ein Leben." - Fortwährend findet dieses Leben durch ihn seine Ausbreitung in ihr, " er liebt in ihr, lobt in ihr, betet in ihr Gott, seinen Vater, an, als in einem würdigen Ersatz seines Herzens. In ihr breitet er sich aus und vervielfältigt sich mit Wonne. "2

1592. Jesus lebt in Maria mz't sez'ner Fülle, nicht nur, um sie zu heiligen, sondern um durch sie die anderen Glieder seines mystischen Leibes zu heiligen : ist sie ja, wir der hl. Bernhard sagt, ., der Kanal, durch den uns alle Verdienstgnaden ihres göttlichen Sohnes zufliessen : Totum nos habere voluz't per M an'am " (N. 161).

Es ist daher J esus sehr 7I!ohlgejällzg' und zugleich auch unserer Seele sehr zuträglich, uns an Jesus, der in Maria lebt, zu wenden. " Was gibt es wohl für J esus Christus Süsseres und Angenehmeres, als an diesem Orte seiner Wonnen, auf diesem Gnadenthrone, inmitten dieses verehrungswürdigen Glutofens heiliger Liebe zum Wohle aller Menschen aufgesucht zu werden? vVe1ch reichlichere

, J. J. OLlER, lettre CCCLXXXIII, t. II, p. 468, ed. 1885. o J. J. OLlER, fournle ehret., S. 395-396.

1100

NACHTRAG.

Gnaden- und Lebensquelle kann es geben als diesen Ort, wo Jesus, wie in der Lebensquelle aller Menschen und wie in der Nährmutter seiner Kirche lebt?"

Mit Recht können wir daher von Vertrauen e1:!üllt sein, wenn wir zu Jesus beten, der in Maria lebt.

1593. 2. Welches ist der Gegenstand dieses Gebetes? Das innere Leben mit allem, was dazu gehört. Das innere Leben als Teilnahme an jenem Leben, das Jesus seiner Mutter mitteilt, und dessen Mitteilung wir von seiner Güte auch fÜr uns erflehen.

A) Jesus, der in Maria lebt, ist der Quell dieses Lebens. Wir bitten ihn also demütig, er möge in uns eingehen und in uns leben, versprechen ihm auch, uns seinem Wirken bereitwillig zu überlassen : " Veni et vive z'n famulis tuis. "

a) Wie zu Maria kommt er zu uns durch seinen göttlichen Geist, durch die bleibende Gnade,' so oft diese sich in uns vermehrt, nimmt auch der Geist J esu in uns zu; so oft wir folglich einen übernatürlichen, verdienstlichen Akt verrichten, kommt dieser göttliche Geist zu uns und verähnlicht unsere Seele derjenigen J esu wie auch der Seele Mariä. Welch mächtiger Beweggrund, unsere verdienstlichen Akte aus Liebe zu Gott zu verrichten, zu vermehren und intensiver zu gestalten! (N. 236-248).

b) Er 111irkt in uns durch die beistehende Gnade, die er uns verdient hat und uns durch seinen göttlichen Geist mitteilt; er bewirkt in uns das Wollen und das Vollbringen: "operatur in nobis velle ef jJerjicere. " Er wird der Antrieb all' unserer Regungen, unserer inneren Gesinnungen, so dass unsere Handlungen ihren Ausgang einzig aus J esus nehmen, der uns sein eigenes Leben, seine Gesinnungen, seine Neigungen, seine WÜnsche mitteilt. Dann dürfen wir mit dem hl. Paulus sagen:" Ich lebe, doch nicht ich, sondern J esus lebt in mir."

c) Damit dem so sei, müssen wir uns als treue Diener, in famulis tuis, von ihm fUhren lassen und bei seiner Tätigkeit in uns mitwirken. Mit aller Aufrichtigkeit sollen wir wie die allerdemütigste Jungfrau sagen : "Siehe, ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach deinem Worte: "Ecce ancilla Domini, jiat mihi secundum verbum tuutn." Bleiben wir nur unseres Elendes und unserer Ohnmacht uns bewusst und folgen wir schnell auch den geringsten Einsprechungen

NACHTRAG.

llOl

der Gnade. Das ist für uns ehrenvolle Dienstbarkeit, "cui servire regnare est", eine Knechtschaft der Liebe, Unterwürfigkeit gegen Jenen, der uns zwar Herr, aber auch Vater und Freund ist und der uns nichts befiehlt, was nicht zum Wohle unserer Seele gereicht. Öffnen wir daher J esus und seinem göttlichen Geiste recht weit unsere Herzen, damit er darin herrsche, wie er im Herzen unserer Mutter unumschränkte Herrschaft besass!

1594. B) J esus ist der Quell aller Hez'lt'gkez't. Wir bitten ihn also, in uns zu leben und zu wirken : " in spiritu sanctitatis ture ", um uns seine innere Heiligkeit mitzuteilen.

In ihm ist eine zweifache Heiligkeit: die substanzielle oder wesentliche Heiligkeit, die aus seiner hypostatischen Vereinigung hervorgeht, und die mitgeteilte Heiligkeit, die einfach die erschaffene Gnade ist, (N. 105). Wir bitten ihn um Mitteilung dieser Heiligkeit. Es ist das zunächst Abscheu vor der Sünde und Trennung von allem, was dazu führen könnte, äusserstes Fernhalten der Geschöpfe und alles selbstischen Strebens. Es ist aber auch Anteilnahme am göttlichen Leben, innige Vereinigung mit den drei göttlichen Personen, eine Liebe zu Gott, die stärker als jede andere Liebe ist, kurz, positive Heiligkeit.

1595. Aus uns selbst aber sind wir unfähig, sie zu erwerben, darum flehen wir ihn an, zu uns zu kommen in der Fülle sez'ner Kraft oder seiner Gnade: " in plenitudine virtutis ture. " Und im Misstrauen bezÜglich möglicher Empörung unsererseits fÜgen wir noch mit der Kirche bei, er möge unsere aufrÜhrerischen Fähigkeiten seiner Herrschaft unterwerfen : "etz'am rebelIes ad te propz'tz'us eompelle voluntates. "

Wir erflehen somit eine wirksame Gnade, jene, die bei aller AchtU1lg unserer Freiheit auf die geheimen Triebfedern des Willens einwirkt, um diesen zur Einwilligung zu bewegen; eine Gnade, die nicht vor unserem instinktiven Widerwillen oder unserem törichten Widerstand Halt macht, sondern sanft und doch stark das Wollen und das Vollbringen in uns bewirkt.

1596. C) Ohne Naehahmung unseres göttlz'ehen Vorbildes kann aber die Heiligkeit nicht erworben

1102

NACHTRAG.

werden, darum bitten wir ihn, uns in der Vollkommenheit seiner Wege wandeln zu lassen: "in perfectione viarum tuarum ", d. h. uns sein Verhalten, sein Tun, seine äusseren und inneren Handlungen in ihrer ganzen Vollkommenheit nachahmen zu lassen. Mit andern Worten, wir bitten darum, lebendige Nachbilder J esu zu werden, ein anderer Christus, damit wir unsern JÜngern wie der h1. Paulus sagen können: " Seid meine ~ achfolger, wie ich ein Nachfolger Christi bin : z'mz'tatores mez' estote sz·eut et ego Chrz'sti. Ein hohes Ideal, so vollkommen, dass wir aus uns es nicht verwirklichen können! Doch Jesus wird unser Weg: " Ego sum via ", ein leuchtender, lebendiger vVeg, sozusagen ein wandelnder Weg, der uns nach sich zieht: "Et ego, eU1J1 exaltatus fuero a terra, omnia traham ad me ipsum. " I Wir wollen uns also fortreissen lassen von dir, 0 göttliches Vorbild. Wir wollen uns bemÜhen, ,deine Tugenden nachzuahmen.

j 5 9 7. D) Deshalb fÜgen wir hinzu: "in veritate virtutum tuarum." Die Tugenden, um die wir bitten, sind eehte, nicht scheinbare. Unter einem Anstrich von rein äÜsserlichen Tugenden verbergen 'manche Menschen heidnische, sinnliche, stolze Gesinnungen. Das entspricht nicht wahrer Heiligkeit. Was Jesus uns bringt, sind innere Tugenden, kreuzigende Tuge11den, wie Demut, Armut, Abtötung, vollkommene Lauterkeit des Geistes und des Hen:ens wie auch des Leibes. Mit Gott verez'nigende Tugenden, wie Glaubensgeist, Vertrauen und Liebe. Auf diese Weise wird die christliche Seele herangebildet und der Christ in einen andern Christus umgewandelt.

1598. E) Diese Tugenden hat Jesus hauptsächlich in seinen Gehez'17lnisSe1Z geübt und darum bitten wir, an der Gnade seiner Geheimnisse teilnehmen

'.loh. XII, 32.

NACHTRAG.

1103

zu dürfen: "in communione mysteriorum tuorum. " Freilich gehören alle Haupthandlungen des göttlichen Meisters zu diesen Geheimnissen, jedoch besonders die von Olier in seinem Caticlu'sme ehretien dargestellten sechs grossen Geheimnisse: Die Mensehwerdung, die> uns zur Entäusserung von jeglicher Eigenliebe auffordert, um uns in Vereinigung mit J esus ganz dem Vater zu weihen: "Eeee venio ut fadam, Deus, voluntatem tUa1Jl. " It reuzz'gung, Tod und Begräbnis J esu, die ebensoviele Stufen jener gälJzlichen Hingabe ausdrücken, wodurch wir die böse Natur zu kreuzigen, zu ertöten und auf immer zu begraben suchen. Auferstehung und Hz'mmeifahrt als Sinnbild vollkommener Losschälung vom Geschöpflichen und als Symbol des überirdischen Lebens, das wir zu fÜhren wünschen, um in den Himmel zu kommen.

1599. F) Selbstverständlich können wir zu solcher Vollkommenheit nur dann gelangen, wenn Jesus in uns kommt, um alle feindlz'dten Mäehte, nämlich das Fleisch, die Welt und den bösen Geist, zu beherrschen. " Dominare omni adversre potestati." Gegen die schweren Angriffe dieser drei Feinde müssen wir uns fortwährend verteidigen. Wir können diese Feinde, solange wir auf Erden weilen, nie ganz ausrotten. J esus aber hat sie besiegt. Er kann sie knebeln und unterjochen, indem er uns wirksame Gnaden verleiht, um diesen Gegnern Widerstand zu leisten.

1600. Gewiss wird er uns gern diese Gnade schenken, erklären wir ja, dass wir mit ihm ein und dasselbe Ziel und Ende verfolgen, nämlich die EItre sez'nes Vaters, die wir unter dem Einfluss des Bi. Geistes fördern wollen: " In spiritu tuo ad gloriam Patris. " Er kam in die Welt, um seinen Vater zu verherrlichen, " Ego hononjieo P atrem " __ so möge er denn sein Werk in uns vollenden, uns seine innere Heiligkeit mitteilen! Dann können auch wir mit

1104

NACHTRAG.

ihm und durch ihn diesen sei ben Vater verherrlichen und in unserer Umgebung zu seiner Verherrlichung beitragen. So werden wir dann in Wahrheit Glieder seines mystischen Leibes, echte Gottesverehrer sein:

J esus wird in unseren Herzen leben und herrschen zur grösseren Ehre der anbetungswürdigen Dreifaltigkeit.

Dieses Gebet ist daher ein Gesamtbegrif{ des geistlichen Lebens und eine kurze Zusammenfassung unseres Buches.

Gott preisend, schliessen wir es ab und fordern auch unsere Leser auf, mit uns den Gott der Liebe, den überaus liebreichen Vater zu preisen, der uns an seinem Leben teilnehmen lässt und uns in seinem Sohne die Fülle aller Segnungen verlieh.

BENEDICTUS DEUS ET PATER DOMINI NOSTRI JESU CHRISTI, QUI BENEDIXIT NOS IN OMNI BENEDICTIONE SPIRITUALI IN c.iELESTIBUS IN CHRISTO.

ENDE.

ANHANG.

1. Die Spirz'tuaNtät des Neuen Testamentes. I

Um unseren Lesern behilflich zu sein, die geistlichen Schätze, die im Neuen Testament enthalten sind, besser zu erfassen und sich ein klares Bild von ihnen zu machen, geben wir hier eine kurze Zusammenfassung der Spiritualität der Synoptiker, des hl. Paulus und des hl. johannes.

I. DIE SPIRITUALITÄT DER SYNOPTIKER.

Der Hauptgedanke der Lehre Christi in den Synoptikern ist der vom Reiche Gottes. Zum Verständnisse der damit verknüpften Spiritualität legen wir sein Wesen, seinen Aufbau und die Bedingungen dar, die zur Teilnahme an diesem Reiche erfüllt werden müssen.

A) Sein Wesen. Das Königreich, in welchem Gott regiert und welches J eSlls Christus verkündete, hat nichts Irdisches an sich, und das im Gegensatze zu den Meinungen der Juden. Es ist vielmehr rein geistig, dem Reiche Satans, des Anführers der bösen Engel, entgegengesetzt. a) Es bietet sich unter drei verschiedenen Formen dar: r) Bald ist es der Himmel oder das den Auserwählten vorbehaltene Königreich : " Venite, benedicli Patris mei, possidete paratum vobis ngnum a constitutione mundi" 2/2) bald ist es das innere Königreich, wie es schon auf Erden besteht, d. h. die Gnade, die Freundschaft und die göttliche Vaterschaft, die Gott anbietet und die von Menschen guten Willens angenommen wird. 3) Endlich ist es das iiussere Königreich, welches Gott gründet, um sein Werk auf Erden dauernd fortzusetzen 3. b) Diese drei Formen machen nur ein und dasselbe Königreich aus. Die äussere Kirche nämlich ist nur gegründet worden, um dem inneren Königreiche zu ermöglichen, sich in Frieden zu entwickeln und letzteres wieder ist, sozusagen, die Gesamtheit der Bedingungen, die das himmlische Königreich zugänglich machen.

1 P. POURRAT. S. S. La spiritualilt chrttienne, I. T., S. 1-15. 2 Matth. XXV, 34.

3 AD. TANQUEREY, Synopsis T"eol. fund. n. 608-6II. wO man zahl. reiche Textstellcn findet, um diese Behauptung zu begründen.

2*

ANHANG.

B) Sein Aufbau. Dieses Königreich hat ein Oberhaupt, das niemand anderes ist als Gott selbst '. Dieser Gott ist zugleich der Vater seiner Untertanen, nicht nur der Gesamtheit, wie im Alten Gesetz, sondern der Vater jeder Seele im einzelnen. Seine Gitte ist so gross, dass sie sich selbst auf die Bösen 2 erstreckt, solange sie auf Erden weilen. Seine Gerechtigkeit aber offenbart sich an den verhärteten Sündern, die zum Feuer der Hölle verurteilt werden 3.

Dieses Reich wurde von Jesus Christus auf Erden gegnillde!. J esus Christus, der Menschensohn und Sohn Gottes, ist auch unser König durch Geburtsreclzt, da er der Sohn und natürliche Erbe ist, der Einzige, der den Vater kennt, wie Gott ihn kennt. Ferner durch Erobenmgsrecltt, denn er kam zu retten, was verloren war und weil er für die Vergebung unserer Sünden sein Blut vergossen hat '. Er ist ein König voll Hingabe, der die Kleinen, Armen, Verlassenen liebt und dem verirrten Schäflein nacheilt, um es wieder in den Schafstall zurückzuführen. Ein König, der am Kreuze seinen Henkern verzeiht 5. Aber er ist auch der Richter über die Lebenden und die Toten. Am jüngsten Tage wird er die Guten von den Bösen trennen. Liebevoll wird er die Gerechten in sein endgültiges Reich aufnehmen, die Bösen jedoch zum Feuer der Hölle verurteilen 6.

Es gibt deshalb nichts Kostbareres auf Erden als dieses Königreich. Es ist die kostbare Perle, der verborgene Schatz, den man um jeden Preis erwerben muss.

C) Bedingungen, um in dieses Königreich einzugehen.

Um in dieses Reich zu gelangen, muss man Busse tun " die Taufe empfangen, an das Evangelium glauben und die Gebote halten ".

Um sich jedoch darin zu vervollkommnen, besteht das den Jüngern vorgehaltene Ideal darin, sich so viel als möglich der Vollkommenheit Gottes selbst zu nähern. Da wir seine Kinder sind, verpflichtet der Adel und so müssen wir uns möglichst den göttlichen Vollkommenheiten nähern :

"Estote ergo vos perjecti, sicut et Pater vester cce/estis perjectus est. "9

Zwei wesentliche Bedingunf en haben wir zu erfüllen, um dieses so vollkommene Ideal zu erreichen : Verzicht auf uns

, Mattlt. VI, 9-10; XXVI, 29.

2 Matt". V, 16.45. - 3 Matth. XXV, 41.

'Matth. XI, 27; XIV, 33; XVI, 16; XX, 28; XXV, 31, 34. 40. Luk.

X, 22; XIX. 10; XXII, 20; XXIII, 2. 3.

5 Mattk. IX, '3, 36; X, 6; XVIII, 12-24; XIX, 14; Mark. I1, 16; Luk. XI, 12, etc.

6 Mattk. XXV, 31-46. -, MattI,. IV, 17; Mark. r, 15; Luk. V, 32. Blvfark. XVI, MattI,. XXVIII, 19-:.0. - 9 Matth. V, 48.

ANHANG.

3*

selbst und die Geschöpfe, wodurch man sich von allem, was ein Hindernis für die Vereinigung mit Gott sein könnte, losmacht, und Liebe, durch die man sich Gott gänzlich schenkt, indem man Christus nachfolgt: " Si quis vult post me venire, abnefe! semetipsum, et tollat crucem suam quotidie et sequatur me.'"

a) Der Verzicht hat seine Grade. Bei allen muss er jene ungeordnete Liebe des eigenen Ich und der Geschöpfe ausschliessen, die Sünde ist, besonders aber die Todsünde, das absolute Hindernis, unser Ziel zu erreichen. Und das ist so wahr, dass wir, falls unser rechtes Auge uns ärgert, nicht zögern dürfen, es auszureissen : " Quod si oculus tuus dexter scandalzzat te, erue eum e! projice abs le." 2. Für diejenigen jedoch, die vollkommen sein wollen, soll der Verzicht viel vollständiger s('!in : er umfasst die Befolgung der evangelischen Räte, tatsächliche Armut, Trennung von den Angehörigen und vollkommene Keuschheit oder Enthaltsamkeit 3. Die, welche soweit nicht gehen wollen oder nicht können, sollen sich mit dem inneren Verzicht auf die Familie und auf die Güter dieser Welt begnügen: sie sollen sich im Geiste der Armut üben, ebenso in der inneren Losschälung von allem, was sich dem Reiche 'Gottes in unserer Seele entgegenstellt. Dadurch können sie einen hohen Grad von Heiligkeit erreichen ~.

Diese verschiedenen Grade zeigen sich in der Unterscheidung der Gebote und der Räte: Um in das Leben einzugehen, genügt es, die Gebote zu halten. Um jedoch vollkommen zu sein, muss man sein Hab und Gut verkaufen und den Erlös den Armen geben: " Si autem vis ad vitam ingredi serva mandata ... Si vis perfectus esse, vade, vende qua, habes et da pauperibus. " 5

Der vollkommene Verzicht geht bis zur Kreuzesliebe " "tollat crucem suam". Schliesslich liebt man das Kreuz, zwar nicht an und für sich, wohl aber wegen des göttlichen Gekreuzigten, dem man bis ans Ende folgt : "et sequatur me" Ja, man findet zuletzt sogar sein Glück im Kreuze :

Beatipauperes spiritu ... beati mites ... beati quipersecutionem patiuntur ... Beati estis cum maledixerint vobis. " 6

b) Der Verzicht ist aber nur ein Mittel zur Erlangung der Gottesliebe und der lVächstenliebe aus Liebe zu Gott. Die Liebe umfasst tatsächlich das ganze Gesetz : "In his duobus mandatis universa lex pendet et propheta:. " 7 Diese

, Luk. IX, 23. - 2 Matth. V, 29.

3 Mallh. XIX, 16-22; Luk: XIV, 25-27; ilfatt/l. XIX, U-12. 4 Matth. V, 1·12. - 5 Matt/,. XIX. 16-22.

6 ;}ratth. V, 3-12. - 7 Matth. XXII, 40.

4*

ANHANG.

Liebe bewirkt, dass man sich Gott hingibt aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und aus ganzem Gemüte : "Diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo et z'n tota anima tua et in tota mente tua ... Secundum autem simile est huic " Diliges proximum tuum sicut te zpsum.'" Es ist das wichtigste aller Gebote und fasst die ganze Vollkommenheit kurz zusammen.

I. Diese Liebe muss kindlich sein. Sie treibt uns an, unsern himmlischen Vater zu verherrliclten,' "Pater noster ... sanctificetur nomen tuum, adveniat re$'num tuum."· Und um ihn besser zu verherrlichen, regt sIe uns an, seine Gebote zu halten,' "jiat voluntas tua sicut t'n ccelo et t'n terra "". " non omnis qui didt mihi Domine, Domine, intrabit in regno crelorum, sed qui fadt voluntatem Patris met'. " 3

2. Sie muss voll Vertrauen sein. Der himmlische Vater nämlich sorgt ftir seine Kinder besser noch als ftir die Vögel des Himmels und für die Lilien des Feldes: " Nonne vos magis pluris estis t'llz's .?". Sdt mim pater vester quia ht's omnibus indigetis." 4 Dieses Vertrauen zeigt sich im Gebete, das nach dem Versprechen des göttlichen Mittlers alles erlangt, worum man bittet : "Petite et dabz'tur vobis,' qucerz'te et invenietis; pulsate et aperietur vobt's. Omnis enim qui petit, acdpz't, et qui qucerz't invenlt, et pulsanti aperietur. "5

3. Diese Liebe erwirkt Nächstenlt'ebe,' da wir alle Kinder desselben himmlischen Vaters sind, sind wir alle Geschwister :" Unus est magister vester, omnes autem vos fratres estis"6. Um zu dieser Tugend eine möglichst wirksame Anregung zu geben, erklärt der Heiland, am Tage des jüngsten Gerichtes werde er jeden, selbst dem geringsten seiner Brüder geleisteten Dienst als ihm persönlich erwiesen betrachten 7. ~omit identifiziert er sich mit seinen Gliedern. Lieben wir den Nächsten, so lieben wir den Heiland. Diese Liebe erstreckt sich bis auf unsere Feinde, die wir geduldig ertragen müssen, ftir die wir beten sollen und denen wir Gutes zu erweisen haben 8. Mit dieser Liebe muss daher Sanftmut und Demut verbunden sein, ähnlich der des göttlichen Vorbildes: ,. Disdte a me quia mz'tis sum et humt'lis corde. "9

Also Liebe und Entsagung heissen die beiden wesentlichen Bedingungen, um das Reich Gottes und die Vollkommenheit zu erlangen. Wir haben in der Tat gesehen, wie sie alle Tugenden umfassen. (N. 309 u. f.)

, Matth. XXII, 36-4°. - • Matth. VI, 9. 3 Matth. VII, 21. - 4 Matth. VI, 26.

5 Matth. VII, 7-8. - 6 Matth. XXIII, 8.

7 Matth. XXV, 40. - " Matth. V, 44- - 9 Malth. XI, 29.

ANHANG.

5*

2. DIE SPIRITUALITÄT DES HL. PAULUS '.

Der hl. Paulus kommt zu denselben Schlussfolgerungen, aber auf einem anderen Wege. Der Hauptgedanke ist nicht mehr das Reich Gottes, sondern der Plan Gottes, uns zu heiligen,' durch seinen Sohnjesus Christus, den er zum Haupte des Menschengeschlechtes gemacht, und dem alle einverleibt sein müssen, will Gott alle Menschen, Juden und Heiden, retten und heiligen. " Gelobt sei Gott und der Vater unseres Herrn J esu Christi, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen, mit himmlischen Gaben in Christo! ... in welchem wir die Erlösung haben durch sein Blut ... Und er hat ihn zum Haupte über die ganze Kirche gesetzt; welche sein Leib ist und die Vollendung dessen, der alles in allem vollendet." "Benedictus Deus et Pater Domini nostri jesu Christi, qui benedixit nos in omni benedictione spirituali in ca:lestibus in Christo! ... In quo habemus ndemptionem per sanguinem ejus ... et zpsum dedit caput supra omnem Ecclesiam, qua: est corpus ipsius et plenitudo ejus, qui omnia in omnibus adimpletur. "2

Von Ewigkeit her will uns Gott also heiligen und uns zu seinen Kindern machen. Aber ein Hindernis tritt in den Weg: die Sünde, die Erbsünde, die Adam, der Stammvater, beging und auf seine Nachkommen übertrug, und zwar mit der bösen Begierlichkeit, jenem Gesetze des Fleisches, das uns unter dem Gesetz der Sünde gefangen hält. Gott hat jedoch Mitleid mit dem Menschen : er sendet ihm einen Erlöser, einen Retter, seinen eigenen Sohn, J esus Christus, der das neue Haupt des Menschengeschlechtes sein wird und uns wiedererkaufen wird durch den Gehorsam, bis in den Tod, bis in den Tod am Kreuze. J esus soll also der Mittelpunkt unseres Lebens sein: " Mihi viven Christus est. " 3

Seine Verdienste und seine Genllgtuungen werden uns besonders durch die Taufe und die hl. Eucharistie zugewendet, Durch die Taufe werden wir wiedergeboren und Christus einverleibt. Sie macht aus uns neue Menschen, die unter der Leitung und Wirkung des hl. Geistes unaufhörlich gegen das Fleisch oder den alten Menschen kämpfen müssen. • Die hl. Eucharistie ermöglicht uns, am Tode und

, F. PRAT, S. J. La Thtfologie de S. Paul, t. I, 7. I920. S. 342-370;

t. II, 1912, S. 123 u. f. P. POURRAT. S. S. La spiritualilt ehrtftienne t. I, S. 25; J. DUPERRAY, Le Christ dans la vie ehr/tienne d'apres

S. Paul. Lyon, 1922.

2 Epltes. I. 3. 7, 22. Um eine Idee von den Grundlagen der Spiritualität des hl. Paulus zu bekommen, muss man das ganze Kapitel lesen.

3 Phil. 1,21. _. Röm. VI, 4; Epltes. VI, !I-17.

6*

ANHANG.

am Leben J esu Christi, sowie an seinen Gesinnungen und Tugenden in reichlicherem Masse teilzunehmen.'

Um jedoch mit Frucht diese hl. Sakramente zu empfangen, um das göttliche Leben, das sie uns mitteilen, zu pflegen, muss man im Geiste des Glaubens leben" "justus ex fide vivit. "2 Man muss sein ganzes Vertrauen auf Gott und J esus Christus setzen, namentlich aber christliche Nächstenliebe üben, die die erhabenste aller Tugenden ist; sie wird uns bis in den Himmel begleiten 3, auf Erden aber setzt sie die Kreuzigung der verdorbenen Natur voraus. 4

Diese Aszese ist in einem Ausdruck enthalten, den der Völkerapostel oft gebraucht. Man muss sich immer mehr Christo ei/wer/eiben und deshalb den alten Menschen mit seinen bösen Neigungen ablegen und den neuen Menschen mit seinen Tugenden anziehen: "exspoliantes vos veterem hOlllinem cum actibus suz's, et induentes novum eum, qui renovatur in agnitionem seczmdum imaginem "jus qui creavit t'llum. " 5

A) Zuerst muss man also den alten Menschen ausziehen. a) Dieser alte Mensch, den man auch das Fleisch nennt, ist unsere Natur, zwar nicht an und fÜr sich, sondern insofern sie durch die dreifache böse Begierlichkeit verdorben ist. Folglich sind die Werke des Fleisches alle SÜnden, nicht nur die der Sinnlichkeit und der Unkeuschheit, sondern auch der Hochmut in seinen verschiedenen Formen 6.

b) Es besteht fLir uns die strenge Pflicht, das Fleisch abzutöten oder zu kreuzigen. Diese Pflicht beruht auf zwei Hauptgründen: I) auf der Gefahr, in die Sünde einzuwilligen und verdammt zu werden. Das Fleisch nämlich, oder die böse Begierlichkeit, die durch die Taufe nicht entfernt wird, reisst uns gewaltig zum Bösen hin und würde uns dem Gesetze der SÜnde unterwerfen, kämpften wir nicht energisch, unterstÜtzt von der Gnade J esu Christi : " Quis me liberabit de corpore lIlortis hujus.9 Graft'a Dei jJer jesum Christum. "72) auf dem Versprechen bei der hf. Taufe. Durch die Taufe mit J esus Christus gestorben und begraben, um mit ihm ein neues Leben zu fÜhren, haben wir uns verpflichtet, die Sünde zu meiden und somit energisch gegen des Fleisch und den Teufel" zu kämpfen. Das Leben wird daher ein Kampf sein, bei dem es sich um die Krone des ewigen Lebens handelt, die uns der Gott aller Gerechtigkeit und Liebe bereit hält. 9

, f Kor. X, 14-22; Xl, 17'22. - 2 Röm. I, 17. - 3 f Kor. XIII, 1-13. 4 Galat. V. 24- - 5 Koloss. III, 10. - 6 Röm. VIII, 1-16; Galat. V, 16-25. 7 Röm., VII. 24-25. -" Röm., VI, 1-23.

9 f Kor .. II, 12; IX, 25; Ephes., VI, 11-17; lf Tim., IV, 7; f Tim., VI. 12.

ANHANG.

7*

c) Was uns Ausdauer in diesem Kampfe verleiht und den Sieg, trotz unserer Schwäche und Unfähigkeit, verhältnismässig leicht macht, ist die göttliche Gnade, die uns durch die Verdienste Christi zugewendet wird. Wirken wir mit ihr mit, sind wir des Sieges sicher: " Fidelis autem Deus est, qui non patietur vos tentari supra id quod potestis; sed faciet etiam cum tentatione proventum ... " , " Omnia possum in eo qui me confortat. "

d) Bei dieser Abtötung unterscheidet man zwei Grade :

I) das Wesentliche, um die TodsÜnde und die ewige Verdammnis zu vermeiden: " Castigo corpus meum et in servitutem redigo, ne forte cum aliis pr(]!dicaverim, ipse reprobus efficiar. "2 2) dann dasjenige, was fÜr die Vollkommenheit nützlich ist, wie z. B. die Jungfräulichkeit, die vollkommene Demut, die unbedingte Selbstlosigkeit.3 - Von einem anderen Gesichtspunkte aus unterscheidet der hl. Paulus drei Grade von Abtötung : Die Kasteiung des noch widerspenstigen Fleisches, dann eine Art geistigen Tod und schliesslich das Begrabensein. 4

B) Zieht man den alten Menschen aus, so verleibt man sich jesus Christus ein, man zieht den neuen Mensclten an : Dieser ist der durch die hl. Taufe wiedergeborene, mit dem Hl. Geist vereinte und Christus einverleibte Christ, der unter der Wirkung der Gnade sich bestrebt, in J esus Christus sich umzuwandeln. Um diese Lehre gut zu verstehen, muss der Anteil des Hl. Geistes in der wiedergeborenen Seele näher erklärt werden, ebenso der J esu Christi und der Seele selbst.

a) Der Hl. Geist, d. h. die ganze Heiligste Dreifaltigkeit, wohnt in der Seele des Gerechten und verwandelt sie in ein Heiligtum : "templum enim Dei sanctum est : quod estis vos." 5 b) Er wirkt in dieser Seele, bewegt sie durch die aktuelle Gnade, flösst ihr ein kindliches Vertrauen zum Vater ein und macht ihr Gebet besonders wirksam: " Operatur in vobis velle et perjicere ... In quo clamamus : Abba, Pater. Spiritus est qui adjuvat injirnzitatem nostram ... postulat pro nobis gemitibus inenarrabilibus. " 6

c) Christus ist das Haupt eines mystischen Leibes, dessen Glieder wir sind und schenkt uns Bewegung, Führung und

, f Kor., X, 13; Phii., IV, 13. - 2 f Kor., IX, 27·

3 f Kor., VII, 25-34; Phii., II, 5-11; f Tim., VI, 8.

4 .. Qui sunt Christi, carnem suam crucijixerunt ... Mortui estis et vita vestra est abscondita cum Christo in Deo ... Consepulti enim sumus cum illo per baptismum in mortem ... (Galat., V, 24; Kolos., III, 3; Galat., III, 27.) Der geistliche Sinn dieser TextsteIlen ist vorzüglich von J. J. OLlER in seinem Cate&hisme chrttien, 1. T., Lekt. XXI-XXIII, erklärt. - 5 I Kor., Ill, 17. - 6 Philip., ll, 13; Röm .. VIII, 15, 26.

8*

.ANHANG.

Leben. Durch die hl. Tauje werden wir ihm einverleibt. Durch die hl. Kommunion nehmen wir Anteil an seinem Leiden, dessen wir gedenken; an seinem neuen Leben, in der Erwartung des Augenblickes, in welchem wir mit ihm in den Hirrunel auffahren, wo wir bereits in der Hoffnung weilen: " spe enim salvi jacti sumus. ", Diese Kommunion dauert übrigens durch eine Art geistliche Kommunion an, vermöge deren wir im Laufe des Tages die Gedanken, Gefühle und Wünsche J esu zu den unsrigen machen : " Hoc enim senlite in vobis quod et in Christo Jesu ... Vi·vo autem,jam non f/{O, vi~,it vero in me Christus." 2 Nichts kann uns dann von dem trennen, der unser Alles ist. " Quis 'ergo nos separabit a caritate Christil" 3

d) Es ergibt sich daraus für uns die Pflicht, uns eng an J esus anzusc4liessen, ist er doch unser Haupt, das Prinzip unseres Lebens, das vollkommene Vorbild, das wir nachzuahmen haben, bis wir in ihn umgestaltet sind. I) \Vir müssen ihn vor allem in seinen Gesinhungen, in seiner Demut und in seinem Gehorsam nachahmen : " Hoc enim sentite in

vobis quod et in C/zristo jesu, qui, cum in jorma Dei esset .

exinanivit semetipsum ... jactus obediens usque ad IIZortem 4

Ferner, in seiner Liebe, die bis zur Hingabe seines Lebens für uns gegangen ist: " dilexit nos et tradidit semetip!.um pro nobis." 5 2) Wir mÜss~n J esus nachahmen in seinem Ausseren, und zwar durch die Ubung der Bescheidenheit, der körperlichen Abtötung, Abtötung der Laster und Leidenschaften, alles in der Absicht, uns vollständiger dem Heiland und seinem Geiste zu unterwerfen.6 "Modestia vestra nota sit omnibus hominibus. "

Man unterscheidet in dieser Nachahmung Christi sehr viele Grade: Zuerst ist man Kind, denkt, spricht und handelt wie ein Kind. Dann wächst man heran, wird ein vollkommener Mensch" in virum per/ectum in mensuram ce/atis plenitudinis Christi. "7 Man gestaltet sich vollständig in Christus um : " Mihi vivere Chn'stus est ... vivit vero in me Cilristus." 8 Und man kann dann den Gläubigen sagen: " Imitatores mei estote sicltt et ego Christi. "9

Somit unterscheidet sich die Spiritualität des hl. Paulus nicht wesentlich von der der Synoptiker: den alten Menschen ausziehen, heisst Entsagung üben, den neuen anziehen, heisst sich mit J esus Christus vereinigen und durch ihn mit Gott, d. h. Gott und den Nächsten lieben.

, Röm., \'III, 24- _-2 Pililip., II, 5; Galat., II, 20. 3 Röm., VIII, 35. - • Pllilip .. ll, s-n.

5 Epilts., V, 2. - 6 PIliI .• IV, 5. - 7 hplles., IV, 13. 8 Pltil., I, 21; Gal., II, 20. - 9 f Kor .. IV, 16.

ANHANG.

9*

3. DIE SPIRITUALITÄT DES HL. JOHANNES.

In den Schriften des hl. Johannes herrscht nicht mehr der Gedanke an das Reich Gottes vor, auch nicht an die Heiligungsabsicht Gottes bezÜglich des Menschen, sondern der Gedanke an das geistliche Leben. Er macht uns mit dem inneren Leben Gottes, des Fleisch/{ewordenen Wortes und endlich mit dem des Christen bekannt.

A) Gott ist Leben, d. h. Licht und Liebe. Er ist Vater und von Ewigkeit her zeugt er seinen Sohn, der nichts anderes ist als sein Wort. ' Mit ihm ist er Ursprung des Hl. Geistes, des Geistes der Wahrheit und Liebe, der die Mission des Wortes vollenden wird, da er mit ihnen bis ans Ende der Zeiten bleibt, um sie zu unterweisen und zu stärken. 2

B) Gott will dieses Leben den Menschen mitteilen. Er sendet deshalb seinen Sohn auf die Erde. Dieser nun macht uns durch seine Menschwerdung und die Mitteilung seines Lebens zu Adoptivkindern Gottes. 3 Seiner Natur nach dem Vater gleich, verkÜndet er laut, als Mensch sei er diesem untergeordnet und unbedingt abhängig von ihm. Er urteilt nicht, redet nicht und handelt nicht aus sich selbst, sondern macht seine Urteile, seine Worte und Handlungen dem Willen Gottes gleichförmig und bezeugt auf diese Weise seine Liebe. 4 Er wird gehorsam sein bis zur Hingabe seines Lebens, um Gott zu verherrlichen und die Menschen zu erlösen. 5

FÜr uns ist er I) das Licht, das uns erleuchtet und das zum Leben fÜhrt 6; 2) der gute Hirt, der die Schafe nährt, sie vor dem reissenden Wolfe beschÜtzt und für dieselben sein Leben lässt 7 ; 3) der notwendige Vermittler, ohne den man nicht zum Vater gelangen kann. 8 4) der Weinstock, dessen Reben wir sind, da wir von ihm den Saft d. h. das übernatÜrliche Leben erh'llten.9

C) Aus ihm entspringt daher unser innerliches Leben. Es soll in inniger Vereinigung mit ihm und durch ihn mit Gott bestehen, denn er ist der Weg, der zum Vater fÜhrt. '0

a) Diese Vereinigung beginnt bei der hl. Taufe, in der wir wiedergeboren werden und zwar geistigerweise. " Diese Geburt bewirkt die Einverleibung in J esus, sodass wir ihm angehören wie die Rebe dem Weinstock. Diese Einverleibung ermöglicht uns, FrÜchte des Heils hervorzubringen. <2

, Joh., I, 1-5. - 2 Joh., XIV, 26; XV, 26; XVI, 7-15. 3 Jok., I, 9-14. - 4 Jok., V, 19, 30. - 5 Joh., X, 18.

6 Joh., I, 9; VIII, 12. - 7 Joh., X, II. - 8 Joh .. XIV, 6.

9 Joh. , XV, 1-5.-,oJoh., XIV,6. -"Joll., III, 3. -12Joh., XX, 1·10

10*

.ANHANG.

b) Sie wird grösser durch die M. Eucharistie, die unsere Seele mit dem Leibe und dem Blute Jesu Christi nährt und dadurch mit seiner Gottheit, mit seiner ganzen Person, w dass wir von seinem Leben leben und für ihn leben, wie er fÜr seinen Vater lebt. I

c) Durch eine Art geistliche Kommunion wird diese Vereinigung andauernd. Sie bewirkt, dass Jesus in uns bleibt und wir in ihm. 2 Sie ist so innig, dass J esus sie mit der vergleicht, die zwischen ihm und seinem Vater besteht: "Ego in eis et tu in me." 3

D) Durch diese Vereinigun~ nehmen wir an den Tugenden des göttlichen Meisters teil, besonders an seiner Liebe zu Gott und dem Niichste11, Liebe, die sich bis zur Selbstaufopferung steigert.

a) Gott liebt uns wie seine Kinder. Wir lieben ihn wie einen Vater und weil wir ihn lieben, halten wir seine Gebote. 4 Darum auch nehmen die drei göttlichen Personen andauernd Wohnung in unserer Seele: " Ad eum veniemus et mansionem apud eum faciemus. " 5 Wir mÜssen Gott lieben, denn er ist die Liebe selbst" Deus caritas est" und weil er uns zuerst geliebt hat, indem er sogar seinen Sohn für uns hingab. 6

b) Aus der Liebe zu Gott entspringt die brÜderliche Liebe.

Wir sollen unsere Brüder nicht nur wie uns selbst lieben, sondern wie J esus sie liebte und deshalb bereit sein, uns für sie zu opfern. " M andatu1ll novum do vobis ut diligatis invicem sicut dilexi vos. " 7 Quonialll ille animam suam pro 110bis posuit et nos debemus pro fratribus nostris animas ponere. 8 Wir bilden nämlich tatsächlich nur eine einzige Familie, deren Haupt Gott ist und deren Erlöser J esus. Unsere Vereinigung soll so eng sein, dass sie mit der verglichen wird, die zwischen den drei göttlichen Personen besteht. "Sint Ul1um sicut et nos unu1lZ sumus." 9 Und diese Tugend ist so notwendig, dass es eine LÜge ist, zu behaupten, Gott zu lieben, wenn man nicht auch den Nächsten liebt. 10 Die brüderliche Liebe hingegen ist das sicherste Unterpfand des

ewigen Lebens. II .

Der hl. Johannes ist also der Apostel der Liebe, die er selbst übrigens in so hohem Masse besass. Sie aber hat den Glauben als Grundlage, besonders den Glauben an Christus, an seine Gottheit wie an seine Menschheit. Sie setzt ebenfalls

1 loh., VI, 55-59. -210h., VI, 57. -310h., XVII, 23. 4 loh., XIV, 2I. - S loh., XIV, 23. - 6 I. loh., IV, I9.

7 loh., XIII, 34. - 8 f. loft., III. 16. - 9 loh., XVII, 22. >0 f. loh., IV, 20-2I. - II f. loh .. IV, I2·I7.

ANHANG.

U*

dm Kampf gt:gen die dreifache böse lJegier/ichkeit, also A btötung voraus. In diesem Punkte stimmt der hl. J ohannes mit den Synoptikern und dem hl. Paulus überein, obschon er mehr als diese die göttliche Liebe betont.

Mithin besteht nach den Synoptikern, die Vollkommenheit in der Entsagung und in der Liebe/ nach dem hl. Paulus in der Einverleibung in Christus, die die Losschälung vom alten Menschen und die Umgestaltung in den neuen Menschen bedingt. Nach dem hl. J ohannes besteht die. Vollkommenheit in der Liebe, die bis zum Opfer geht. Es ist also, im Grunde genommen, dieselbe Lehre nur mit Variationen, von verschiedenen Gesichtspunkten aus, die sich besser dem Charakter und der Erziehung der verschiedenen Kategorien von Seelen anpassen.

I I. Charakters tu dien. 1

Als wir von der Selbsterkenntnis sprachen (N. 452), sagten wir, um sich selbst kennenzulernen, sei es nützlich, die Gemütsarten (Temperamente) und die Charaktere zu studieren.

Häufig verwechselt man diese beiden. Macht man zwischen ihnen einen Unterschied, so kann man sagen, das Temperammt sei die Gesamtheit tiefwurzelnder Neigungen, die ihre Ursache in der jJhysiologischen Verfassung (Konstitution) des einzelnen haben. Der Charakter aber sei die Gesamtheit psychologischer (seelischer) Anlagen, die aus der Gemütsart oder dem Temperament hervorgehen insoweit sie durch Erziehung und Willensanstrengungen auf das richtige Mass gebracht und durch die Gewohnheit beständig geworden sind.

Es ist deshalb nützlicher die Charaktere als die Temperamente zu erforschen. Denn was vom Standpunkte des geistlichen Lebens aus wichtig ist, ist nicht so sehr das Temperament des Leibes als der Charakter der Seele. Die Alten hatten dies übrigens sehr gut verstanden. Beschrieben sie nämlich die Temperamente, so richteten sie ihre Aufmerksamkeit mehr auf die psychologischen als auf die physiologischen Unterschiede.

Wir beschränken uns deshalb hier auf das Studium der Charaktere und benützen dabei besonders das Buch " Les Elements du Caractere ", das P. Malapert zum Verfasser hat. Wir kÜrzen jedoch manches ab und stellen zeitweilig seine

1 DEBREYNE-FERRAND, La Theologie l1Eorale ef les scienees tnldicales, Paris, 1884. S. 9-46. - FOUILLicE, Temperament et earacteres, 1895. _ PAULHAN, Les Caraeteres. Paris. 1902. - MALAPERT, Les etbnents du caractere ef leurs lois de combinaison, 1897.

12*

ANHANG.

Einteilungen richtig. Wir werden kurz erklären : I. Die Grundlagen unserer Einteilung; 2. die verscltiedenen Charaktere, die man betreffs der drei Hauptfähigkeiten des Menschen unterscheiden kann.

I. GRUNDLAGEN FÜR DIE EINTEILUNG DER CHARAKTERE.

A) Will man die hauptsächlichen Neigungen, durch die die Charaktere sich von einander unterscheiden, im einzelnen bezeichnen, so ist die Beachtung der Einordnung der verschiedenen Fähigkeiten des Menschen die sicherste Grundlage. Wir sehen indessen von den Fähigkeiten des vegetativen Lebens ab, die von unserem gegenwärtigen Standpunkte aus von geringerer Bedeutung sind. Wir werden nachsehen, welches die in bezug auf die Empfindlichkeit, auf die gdstigc:n Fähigkeiten und auf das gesellschaftliche Leben die hauptsächlichsten Charaktere sind. Ein kurzer Entwurf soll zum besseren Erfassen unseres Gedankens beitragen:

{die Teilnahmslosen {läSsigen

In bezug ~uf di.e (Ap~thischen) entschi~denen

Empfindlichkeit. dIe sehr {rührseligen

Empfindlichen leidenschaftlichen.

d' { rein-spekulativ.

. Je leidenschaftliche

Gehn'nmenschen In tellektuelle.

{sieh selbst beherr-

die sehend.

Willensmenschen die andern beherr-

schend.

I b f d {schüchterne oder verschlossene.

n ezug au as .

GesellscJlajtsleben. täti e { unru~Jg:e.

g tatkraftlge Menschen.

In bezug aur die geis Ü;f{en Fähigkeiten.

B) Vor Beginn der Erklärung dieser Einteilung sind einige Bemerkungen vorauszuschicken :

a) Die Charaktere, die wir beschreiben werden, sind in \Virklichkeit nicht so zu finden, wie wir sie darstellen : gewöhnlich sind sie gemischt, auch weisen sie verschiedene Grade auf. So z. B. sind die Apa!hischen oder Teilnahmslosen nicht ganz apathisch, sondern besitzen ein gewisses Mass von Empfindlichkeit, aber man bezeichnet sie nach dem, was bei ihnen vorherrscht. Ebenso gibt es in der Apathie sehr viele Grade, ganz wie in der Empfindlichkeit, was nur die individuelle Beobachtung festzustellen vermag.

ANHANG.

13*

b) Ausserdem muss jeder einzelne von einem dreifachen Gesichtspunkte aus, den wir angeben, geprüft werden. So z. B. kann ein Apathischer ein Gehirnmensch oder Willensmensch sein, genau so wie ein Gehirnmensch tatkräftig oder lässig sein kann. Von diesen verschiedenen Gesichtspunkten aus muss man daher alles betrachten und dann erst darf man zur logischen Zusammenfassung schreiten.

c) Die Rahmen, deren wir uns bedienen, sind nicht starr und unveränderlich, sondern Vereinigungspunkte, die dem Seelenleiter ermöglichen, jedes seiner Beichtkinder besser zu beobachten und dessen Eigenheiten zu erforschen. Es wäre zu bedauern, wollte man nach einigen Unterredungen schon ein Urteil fällen, das man später wieder zurÜckziehen müsste. Langsam, und zwar nach einer Reihe wohlwollender Beobachtungen, ist es möglich, den Charakter eines Menschen zu erkennen.

d) Vergessen wir endlich nicht, dass die Erleuchtung des Hl. Geistes, um die wir oft, ja stets bitten sollen, notwendig ist, um sowohl uns selbst kennen zu lernen als auch die anderen.

2. VERSCHIEDENE CHARAKTERE IN BEZUG AUF EMPFINDLICHKEIT.

Wir alle sind mit einem Empfindungsvermögen begabt.

Es gibt jedoch Menschen die so wenig davon haben, dass rr;ar. sie apathisch nennt. Andere wieder besitzen es in hoheni Grade und man sagt, sie seien sehr empfindlich.

A) Die Apathischen erkennt man an einem aussergewöhnlichen Mangel an Empfindlichkeit und GefÜhl: sie sind fast wunschlos, zeigen wenig Begeisterung oder Leidenschaft. Unter ihnen kann man zwei Kategorien unterscheiden: die Rücksichtslosen und die Energischen.

a) Die Lässigen schreiten langsam und schwerfällig einher.

Sie sind egoistich, ohne böswillig zu sein, unbekümmert und fühlen keinerlei Bedürfnis zu lieben oder geliebt zu werden. Im allgemeinen haben sie ein gesundes Urteil, eben weil oie nicht leidenschaftlich sind. FÜr rege Arbeit bekunden sie wenig Geschmack. Entschliessen sie sich zur Arbeit, so erzielen sie in den Betätigungen, die mehr Geduld als Phantasie und Gefühl erfordern, bessere Erfolge.

Vom geistlichen Standpunkte aus haben sie nicht viel für hohe Tugend übrig, sind aber auch nicht von heftiger Leidenschaft. Tugendhaft nur so lange sie nicht heftig versucht werden. Sie verstehen durchaus nicht, gefährlichen Gelegenheiten, die sich ihnen bieten, auszuweichen, ebenso alte lasterhafte Gewohnheiten abzulegen, wenn sie das Unglück

14'11

ANHANG.

hatten, sich solche anzueignen. Sie lassen sich führen, vorausgesetzt, dass man von ihnen keine hohe Vollkommenheit verlangt und sie nicht allzusehr drängt, Fortschritte zu machen.

Unter ihnen kann man keine Ordens- und Priesterberufe finden. Sie eignen sich nur für stille, wenig beschwerliche Berufe, die mit ehrbaren massvollen Vergnügungen vereinbar sind.

b) Die energischen Apathiker, die, obschon langsam und schwerfällig, doch gern arbeiten. Sie sind standhaft und planmässig in ihren Anstrengungen und erreichen durch ihre Geduld bei der Arbeit grosse Erfolge. Es gibt eine grosse Anzahl davon unter den Flamändern oder Holländern, wie überhaupt in jedem Lande. Der Amerikaner Franklin kann zu dieser Menschenklasse gerechnet werden.

Was ihre Intelligenz betrifft, so haben sie wenig Phantasie und sprühendel1 Geist, erzielen jedoch Erfolge bei ernsten Arbeiten, die Uberlegung, Geduld und lange, wohldurchdachte Nachforschungen fordern.

Vom Standpunkte der Sittlichkeit aus, .kennen sie keine feurige Begeisterung, handeln aber aus Uberzeugung, und zwar mit unermüdlicher Ausdauer und sind darum zu hoher Tugend fähig. Aus diesem Grunde kann man aus ihnen eine beträchtliche Anzahl Priester- und Orclensberufe erzielen, indem man ihnen tiefe Überzeugungen einprägt, Liebe zur treuen Pflichterftillung Gott gegenüber, und von ihnen planmässige und beharrliche Anstrengungen zur Erreichung der Vollkommenheit verlangt. Sie machen zwar langsame, aber sichere Fortschritte: "labor improbus omnia vincit. "

B) Die GemÜtsmenschen, im Gegenteil, erkennt man an ihrer aussergewöhnlichen Empfindlichkeit: sie fühlen ein lebhaftes Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Bei ihnen spielt das Herz die Hauptrolle.

Man kann zwei hauptsächliche Typen unterscheiden: die Sanguiniker und die Leidenschaftlielten.

a) Die Sanguiniker unterscheiden sich äusserHch durch ihre schnellen und graziösen Bewegungen, durch ihr freund. liches Lächeln und ihren fröhlichen Gesichtsausdruck. Sie lieben Kunst, Musik und Tanz. Was sie innerlid! von anderen unterscheidet, ist Leichtsinn und äusserste Veränderlichkeit: sie lassen sich leicht von den verschiedensten Gemütserregungen hinreissen, handeln unter dem Eindruck des Augenblicks und sind schon deshalb unbeständig.

Sie besitzen eine lebhafte Phantasie und ein warmes Herz, in literarischen Arbeiten ernten sie Erfolge, beherrschen mit Leichtigkeit das Wort und üben eine Art Zauber auf ihre Umgebung aus.

ANHANG.

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Vom moralischen Gesichtspunkte aus, lassen sie sich leicht zu sinnlichen Freuden hinreissen, zur Gefrässigkeit und zur Wollust. Aber sie bereuen sofort und aufrichtig ihre Fehler, ebenso wie sie auch gleich bei der nächsten Gelegenheit wieder rückfällig werden. Mit Herzensgüte und Liebe hängen sie sich an die, die ihnen Liebe bezeugen, sind offen und ehrlich dem Beichtvater und Seelenführer gegenüber, lassen sich leicht überzeugen und fassen gute Vorsätze, die sie aber bald wieder vergessen haben.

Bei ihrem Herzen muss man sie fassen und sie Gott schenken. Gelingt es, sie fur den Heiland zu begeistern, so kann man viel von ihnen erreichen: aus Liebe werden sie viele Opfer bringen, die anfangs ihrer Natur widerstrebten. Aus Liebe werden sie sich mehr dem Gebete widmen, öfter die hl. Kommunion empfangen, das Allerheiligste besuchen, gute Werke verrichten. Man muss ihnen jedoch beibringen, Gott auch in der Trostlosigkeit und im Leiden zu lieben. Nach und nach we!,den sich ihre Erschütterungen unter dem Einfluss reiflicher Uberlegung und der Gnade in Uberzeugung umgestalten und bei Beibehaltung ihres Eifers mehr Ordnung und Ausdauer in ihre Anstrengungen legen.

Vermag man ihnen nicht diese Willenszähigkeit und Beharrlichkeit beizubringen, so kann man sie auch nicht zur Wahl eines Berufes ermutigen, der, wie z. B. das Priestertum, solide Tugend voraussetzt.

b) Die Leidenschajtlichen, bei denen heisse und tiefwurzelnde Leidenschaften vorherrschen, kann man in drei Klassen teilen: die Melancholiker, die leicht Reizbaren und die ausserordentlich Leidmschajtlichen.

I) Die Melancholiker sehen gewöhnlich alles schwarz, sehen immer nur die schwierige und mühsame Seite einer Sache und übertreiben gern. Sie neigen zum Trübsinn, zum Misstrauen, zur Menschenverachtung. Sie leiden viel und, ohne es zu wollen, verursachen sie den anderen Leiden.

Suchen sie ihren Trost nicht in Gott, der allein sie stärken und ihre finsteren Gedanken erhellen kann, so verfallen sie leicht der Verdriesslichkeit, der Mutlosigkeit oder dem Skrupel.

Deshalb erklärt auch die hl. Therese, dass Personen, die an schwerer Melancholie leiden' sich nicht für das Ordensleben eignen. Da nämlich die Melancholie, die Vorherrschaft der Phantasie und der Empfindlichkeit über die Vernunft voraussetzt, kann sie in einer Art Wahnsinn enden. Jedenfalls muss man sie, um diese krankhafte Verfassung zu mildern,zwar

, Fondations, c. VII, S. 126-134.

10'

JUli .t1AN LT.

mit viel Mitleid, aber auch mit Autorität und Festigkeit behandeln. I Man darf ihnen nicht erlauben, ihren törichten Einfallen zu folgen, noch sich von ihrem Argwohn führen zu lassen. Da es ihnen am gesunden Urteil fehlt, müssen sie sich den Entscheidungen eines Seelenftihrers oder klugen Freundes unterwerfen.

2) Die Sanguiniker oder Leichterre/{baren lassen sich leicht durch erste lebhafte Eindrücke, die sich ihrer Seele bemächtigen, hinreissen : beständig in Aufregung, gehen sie schnell von der Freude zur Traurigkeit über. Jetzt sind sie voller Hoffnung, einen Augenblick später in Verzweiflung. Aus der Begeisterung' wird bald Mutlosigkeit. Stossen sie auf Widerspruch oder werden sie gedemütigt, so lassen sie sich vom Zorn hinreissen, der sich durch Wort und Tat offenbart. Kurz, sie verlieren oft die Herrschaft über sich selbst und werden ihrer Umgebung lästig. Zur Bekämpfung dieses Fehlers muss man von dem Untersagungsvennö/{en energisch und andauernd Gebrauch machen, gleich beim Gewahrwerden 4.er ersten ungeordneten Bewegungen, diese verhindern, mit Uberlegung handeln, kurz, man muss sich bemühen, die Selbstbeherrschung allmählich wiederzugewinnen.

Gelingt es einem nicht, seiner Nerven und Aufregungen Herr zu werden, so darf er nicht an den Priesterberuf denken, da der Jähzorn nach den Worten des hl. Paulus ein Hindernis ist : " Oportet enim epz'scojJum sine cn'mine esse, .. non iracundum ... non jJercussorem. " ,

3) Die sehr Leidenschaftlichen haben heftige und gleichzeitig andauernde Leidenschaften, Sie unterscheiden sich dadurch von den Sanguinikern. Energisch, ausdauernd, zäh, gewöhnlich auch ehrgeizig, herrsch- und ehrsüchtig. Sie sind berufen, viel Böses oder viel Gutes zu tun, je nachdem sie ihre Leidenschaften in den Dienst ihres persönlichen Ehrgeizes oder in den Dienst Gottes und der Seelen stellen. Aus ihnen setzt sich die Zahl der Eroberer und Apostel zusammen. Das Mittel, diese reichen Naturen nutzbar zu machen, besteht in der nachdrücklichen Hinweisung auf die Verherrlichung Gottes und die Eroberung der Seelen, wie der hl. Ignatius es dem Franz Xaverius gegenüber zu tun pflegte.

3. VERSCHIEDENE CHARAKTERE

IN BEZUG AUF DIE GEISTIGEN FÄHIGKEITEN.

Die Menschen, bei denen die höheren Fähigkeiten, Verstand und Wille, vorherrschen, teilen sich begreiflicherweise in zwei Gruppen, die Gehirml1enscllen und die WillenslJlel/-

...

, Tit. 1,7.

ANHANG.

17*

schen, je nachdem bei ihnen der Verstand 0cler der Wille vorherrscht.

A) Die Gehirnmenschen oder Intelligenzler sind die, deren Tätigkeit sich hauptsächlich auf geistige Arbeit erstreckt ~md die bald reine Theoretiker, bald tatkraßige Intelligenzler smd.

a) Die reinen Theoretiker vertreiben sich die Zeit mit dem Aufbau geistiger Systeme. Zu diesen gehörten Kant, Cuvier und Ampere. Manche grübeln nach nur wegen der Genugtuung, die sie dabei empfinden, und verfallen einer Art Liebhaberei (Dilettantismus), die in eine gewisse Zweifelsucht (Scepticismus) ausartet, wie es bei Montaigne und Bayle der Fall war.

b) Andere wieder mengen ihren geistigen Arbeiten eine glzihmde Leidenschaft bei : es gibt nämlich leidenschaftliche Verstandesmenschen, die durch den Umsturz von Ideen auch Menschen umstÜrzen wollen und die sich fÜr den Sieg einer Idee, eines Systems, leidenschaftlich ins Werk setzen.

In beiden Fällen handelt es sich um sehr befähigte Menschen. Aber die ersteren laufen Gefahr, zu systematisch, zu abstrakt zu werden und die Pflichten des täglichen Lebens ausser acht zu lassen. Die letzteren müssen, wie die Sanguiniker, ihr Wissen und ihre Tatkraft in den Dienst Gottes und des Nächsten stellen, sonst werden sie selbst in fÜrchterliche Exzesse fallen und schuld sein, dass anderen das Gleiche

widerfährt. .

B) Die Willensmenschen haben einen feste!), zähen, unbeugsamen Willen und unterwerfen ihm alles Ubrige. Man teilt sie in zwei Klassen: Die Sichselbstbeherncher und die #Iensehen der Tat.

a) Die ersteren verwenden ihre Energie fÜr die Selbstbeherrschung und bemÜhen sich, ihre Leidenschaften zu zähmen. Sie kämpfen mit standhafter Energie, um ihrer Empfindlichkeit Herr zu werden. Man merkt ihnen die Anstrengung an, die sie machen, die beständige Sorge, sich zu bezwingen. Die Folge davon ist eine gewisse ZurÜckhaltung, ja selbst eine Art Schroffheit und Misstrauen gegen alles, was ihre Selbstbeherrschung ins Wanken bringen könnte. Haben sie jedoch diese durch beharrliche Anstrengung erlangt, so besitzen sie einen wunderbaren, seelischen Gleichmut und verstehen, Kraft mit Milde zu vereinen.

Vom f[eistlichen Gesichtspunkte aus ist es wichtig, diesen starken und geschulten Willen dem Willen Gottes zu unterwerfen.

Dadurch nähert man sich dem Gleichgewicht der Fähigkeiten, wie es im Zustande der ursprünglichen GereChtigkeit vorhanden war.

N° 683. - 36

18*

ANHANG.

b) Andere wieder haben weniger die Selbstbeherrschung als vielmehr die Beherrscllung der anderen im Auge. Sie wollen anderen ihren Willen aufzwingen und Über ihresgleichen herrschen. Den Blick fest auf das Ziel gerichtet, das sie verfolgen, lassen sie sich nicht durch Widerstand entmutigen und ruhen nicht eher, als bis sie ihren Willen endlich durchgesetzt haben.

Es sind energische und standhafte Menschen, aus denen sich etwas machen lässt. Nur mÜssen sie sich selbst erst schulen, bevor sie die anderen in die Schule nehmen. Sie sollen ihre Energie in den Dienst Gottes und der Seelen stellen und in der AusÜbung ihrer Autorität Sanftmut mit Festigkeit zu verbinde~ suchen.

4. CHARAKTER VERSCHIEDENHEIT IN BEZUG AUF DAS GESELLSCHAFTLICHE LEBEN.

Hier finden wir zwei ganz verschiedene Typen: die SchÜchternen und die Tatkräftigen.

A) Die SchÜchternen misstrauen sich selbst zuviel, haben wenig Unternehmungsgeist, fühlen sich durch die Angst vor einem Misserfolge in ihren Unternehmungen wie gelähmt. Diese Menschen erzielen nur dann leidliche Erfolge, wenn sie von Oberen oder Freunden umgeben, unsterstützt und ermutigt werden, also von Menschen, die ihnen Vertrauen einflössen und ihnen behilflich sind, ein sicheres Auftreten zu gewinnen.

Vom Übernatürlichen Standpunkte aus muss man ihnen ein grosses Gottvertrauen einprägen. Ihnen immer und immer wiederholen, Gott bediene sich der schwächsten Werkzeuge, vorausgesetzt, dass diese sich ihrer Ohnmacht bewusst sind und ihre StÜtze in dem suchen, der allein sie stärken kann. " I nfirma mundi elegit Deus ut confundat fortia ... ' 01JZnia possum in eo qui me confortat. " 2

B) Die Tatkraftigen neigen von Natur aus zum Tätigsein.

Sie sind unternehmungslustig, kühn, stark, en.ergisch und fühlen das BedÜrfnis. die in ihnen vorhandene UberfLille von Tatkraft aufzubrauchen. Zwei Kategorien kann man bei ihnen unterscheiden: Die Unruhigen und die Me1lSchen der Tat.

a) Die Unruhigen sind so von Tatlust erfasst, dass sie nicht auf ihrem Posten verharren können und um jeden Preis etwas unternehmen wollen, noch bevor sie einen Plan gefasst und alles reiflich überlegt haben. Da sie stets auf der Suche nach etwas N euem sind, haben sie nie Zeit, eine einzige Sache

, R~or .. I, 27. - 2 PMl., IV, 13.

-- ~ ~- ...

,

ANHANG.

19*

zu vo11enden. Sie l'ommen und gehen, ohne sich festsetzen zu können und machen viel Lärm und leisten nichts. Jedem wollen sie Dienst erweisen, vergessen jedoch bald, was sie versprochen und stellen sich einem anderen zur Verfügung.

Um sie zu bessern, muss man ihnen beibringen, mit Überlegung zu handeln, ihre Pläne sorgfältig auszuarbeiten, ehe sie dieselben auszuführen beginnen. Man muss ihnen ferner klar machen, dass sie sich bei denen, die klüger und erfahrener sind, Rat holen sollen. Ist erst einmal ein Plan sorgfältig ausgearbeitet, so mÜssen sie mit allem Fleiss ihn zu verwirklichen suchen und während. dieser Zeit sich jeglichen anderen Unternehmens enthalten. Uberlegung und Ausdauer sind die für einen glücklichen Erfolg notwendigen Bedingungen.

b) Die Mensel/eil der Tat Überlegen lange, bevor sie etwas unternehmen, erwägen die Gründe für und gegen, denken nicht nur an die Mittel, sondern auch an die Hindernisse, die sich voraussichtlich in den Weg stellen werden, und ordnen alles so, dass sie trotz der Schwierigkeiten das vorgesteckte Ziel zu erreichen hoffen dÜrfen.

Diese Eigenschaft ist für tatkräftige Menschen und für die Geistlichen sehr wertvoll und man muss sie sorgfältig pflegen. Aber damit die \Verke, mögen sie auch noch so reiflich vorher überlegt worden sein, gute Erfolge erzielen, darf man auf Gott dabei nicht vergessen und muss deshalb beten und ein innerliches Leben führen. Um im katholischen Sinne ein Mann der Tat zu sein, muss man in erster Linie ein Mann des Gebetes sein. Dann erst vereinigen sich harmonisch der menschliche Wille und die Gnade, und glückliche Erfolge bleiben nicht aus. " Dei eni7ll Sztll1ZtS adjutores. " (1 Kor 3, 9)

Erinnern wir zum Schlusse daran, dass die meisten Charaktere in Wirklichkeit das Ergebnis mehrerer Mischungen sind und dass man durch das Bemühen, die guten Eigenschaften, die man nicht geerbt hat, sich anzueignen, sich vervollkommnet, das Gleichgewicht erreicht und auf diese Weise sein Möglichstes leistet. So sollen sich die Apathiker bemÜhen, empfänglicher zu werden, die Verstandesmenschen sollen grossen Wert auf\Villen und Tat legen. Willensmenschen sollen erst Überlegen, ehe sie handeln und Milde mit Kraft verbinden. Mit Hilfe von Anstrengungen und unter dem Beistande der göttlichen Gnade vermag man sich zu bessern, wie es das Studium der geistlichen Wege beweisen wird.