Ambrosius von Mailand: Von den Pflichten der Kirchendiener

Aus kathPedia
Zur Navigation springenZur Suche springen
De officiis ministrorum

(Von den Pflichten der Kirchendiener)

Kirchenlehrer: Ambrosius von Mailand

Quelle: In: Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand ausgewählte Schriften / aus dem Lateinischen übers. und ausgewählte kleinere Schriften / übers. und eingel. von Joh. Ev. Niederhuber. (Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius ausgewählte Schriften Bd. 3; Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 32) Kempten; München : J. Kösel, 1917. Unter der Mitarbeit von: Roman Bannack und Rudolf Heumann.

Terminologie

In der folgenden Übersetzung entsprechen sich folgende Begriffe:

  • die Pflichten: officia
  • das sittlich Gute: honestum
  • das Nützliche: utile
  • das Schickliche: decus oder quod decet
  • das Ehrbare: honestas oder quod honestum est
  • Glücksgüter des Lebens, irdische Glücksgüter: vitae commoda, saeculi commoda
  • Gottesfürchtigkeit: verecundia
  • Maßhalten im Reden/im Handeln: loquendi/facti modus
  • mittlere/vollkommene Pflicht: officium medium/perfectum

Quelle: Sacti Ambrosii Mediolanensis Episcopi De Officiis Ministrorum libri tres, Migne JP: Patrologia Latina MPL016 0023B - 0184B [1]

Taufe des hl. Augustinus von Hippo durch den hl. Ambrosius

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch: Vom sittlich Guten

I. Kapitel: Vom sittlich Guten

Nach dem Vorgang Davids

S. 11: 1. Ich glaube nicht anmaßend zu erscheinen, wenn ich im Kreise meiner Söhne dem Herzenswunsch zu lehren stattgeben möchte. Spricht doch ein Lehrer der Demut selbst: „Kommt, Söhne, hört mich! Die Furcht des Herrn will ich euch lehren“. Man mag hierin einen Ausdruck seiner ebenso demütigen wie zarten Gottesfurcht erblicken. Denn mit der Wendung ‚Furcht Gottes‘, die offenbar eine gemeinsame Pflicht aller ist, gab er das Losungswort für die Gottesfürchtigkeit aus. Doch da gerade die Furcht „der Anfang der Weisheit“ und die Seligmacherin ist — denn „selig, die Gott fürchten“ —, bezeichnete er sich deutlich auch als Lehrer der Weisheit und als Wegweiser zur Seligkeit.

will Ambrosius aus priesterlichem Pflichtgefühl

2. Auf die Nachahmung seiner Gottesfürchtigkeit bedacht und zu einem Gnadenerweis nicht unberechtigt, wollen denn auch wir die Lehren, die der Geist der Weisheit jenem eingegossen hat, euch als unseren Söhnen mitteilen, wie sie uns durch ihn erschlossen wurden und durch Anschauung und Beispiel bekannt sind. S. 12 Können wir uns doch nunmehr der Pflicht des Lehrens, die uns das wider Willen aufgenötigte Priesteramt auferlegte, nicht entschlagen. „Gott hat ja die einen zu Aposteln, andere aber zu Propheten, andere hingegen zu Evangelisten, andere aber zu Hirten und Lehrern eingesetzt“.

und lehramtlichem Eifer

3. Nicht den Ruhm der Apostel maße ich mir an — wer dürfte dies denn außer den Jüngern, die der Sohn Gottes selbst hierzu erwählt hat? —, nicht der Propheten Gnadengabe, nicht die Gewalt der Evangelisten, nicht der Hirten Sorgfalt: nur jenen Fleiß und Eifer in Sachen der göttlichen Schrift verlange ich mir, welche der Apostel an letzter Stelle unter den Ämtern der Heiligen aufführte, und auch diesen nur, um aus dem eifrigen Lehren lernen zu können. Denn nur einen wahren Lehrer gibt es: er allein brauchte nicht lernen, was er alle lehrte; Menschen aber müssen erst lernen, was sie lehren, und empfangen von ihm, was sie anderen überliefern sollen.

wenn auch im Bewußtsein mangelnder theologischer Vorbildung an die Unterweisung seiner ‚Söhne‘ gehen

4. Doch nicht einmal das trifft bei mir zu. Man hat mich ja von Richterstuhl und Amtsbinde weg jählings ins Priesteramt entführt. So fing ich an, euch zu lehren, was ich selbst nicht gelernt habe; so geschah es, daß ich eher zu lehren als zu lernen anhub. Lernen und lehren zugleich muß ich sonach, weil mir keine Zeit zum Lernen erübrigte.

II. Kapitel: Die Pflicht des Schweigens

Schweigen behütet vor Sünde, verrät den Weisen

5. Was sollten wir vor allem anderen lernen als schweigen, um reden zu können, auf daß nicht mein Wort mich verurteilt, bevor ein fremdes mich losspricht? Denn es steht geschrieben: „Aus deinen eigenen Worten wirst du verurteilt werden“. Wozu mit Reden die Gefahr der Verurteilung gewärtigen, wenn mit Schweigen sich sicherer leben läßt? Gar viele sah ich mit Reden in Sünde geraten, kaum einen mit Schweigen. Zu schweigen wissen, ist nun schwieriger als zu reden. So mancher, wie ich weiß, redet, da er nicht zu schweigen versteht. Nur selten kommt es vor, daß einer schweigt, da ihm reden frommen würde. Weise ist sonach, wer zu schweigen versteht. So sprach denn auch die Weisheit Gottes: „Der Herr gab mir eine kundige Zunge, wenn es nötig wäre zu sprechen“. Mit Recht also ist weise, wer vom Herrn es empfängt, wann er sprechen soll. Daher das treffliche Schriftwort: „Der Weise schweigt bis zu seiner Zeit“.

Die Heiligen liebten es

6. Die Heiligen des Herrn liebten es darum zu schweigen, weil sie wußten, daß gar häufig die Zunge des Menschen das Sprachrohr der Sünde, und das Wort des Menschen der Anfang zur menschlichen Verirrung ist. So beteuert denn ein Heiliger des Herrn: „Ich habe es gesagt: ich will achthaben auf meine Wege, um nicht zu sündigen mit meiner Zunge“. Er wußte nämlich und hatte es gelesen, daß der Mensch nur mit Gottes Hilfe „vor seiner Zunge Geißel“ und vor seines Gewissens Zeugnis geborgen sei. Wir bekommen nämlich Schläge vom stillen Vorwurf unseres Denkens und vom Urteilsspruch des Gewissens; wir bekommen auch Schläge von unserer Zunge Geißel, wenn wir Dinge reden, deren Laut unserer Seele Hiebe und dem Geiste S. 14 Wunden versetzt. Wer aber würde sein Herz von Sündenunrat rein haben oder mit seiner Zunge nicht fehlen? Deshalb nun, weil er (David) sah, daß kein Heiliger den Mund von unreiner Rede rein bewahren kann, legte er sich selbst im Stillschweigen das Gesetz der Unschuld auf: er wollte durch Schweigen die Schuld meiden, der er durch Reden schwerlich entgehen konnte.

die Schrift mahnt hierzu

7. So hören wir denn auf den Lehrer der Behutsamkeit! „Ich habe es gesagt: ich will achthaben auf meine Wege“; d. i. ich habe es mir gesagt, im stillen Denken habe ich mir das Gebot auferlegt, achtzuhaben auf meine Wege. Manche Wege gibt es, denen wir folgen, andere, auf welche wir achthaben sollen: folgen sollen wir den Wegen des Herrn, achthaben auf die unsrigen, daß sie nicht zur Sünde führen. Man kann sich aber in acht nehmen, wenn man nicht voreilig spricht. Das Gesetz sagt: „Höre, Israel, den Herrn deinen Gott!“ Es heißt nicht ‚rede‘, sondern ‚höre‘. Deshalb fiel Eva, weil sie zu ihrem Manne etwas redete, was sie vom Herrn ihrem Gott nicht gehört hatte. Das erste Wort aus Gottes Mund mahnt dich: „höre!“ Hörst du, so hast du acht auf deine Wege und machst es rasch wieder gut, wenn du gefallen. „Wodurch macht denn ein Jüngling seinen Wandel gut? Dadurch, daß er auf die Worte des Herrn acht hat“. So schweig erst und höre, um nicht mit der Zunge zu sündigen!

Welche Schuld und Strafe ziehen übereilte Worte und gottlose Reden nach sich

S. 13 8. Unselig das Verdammungsurteil, das einer mit eigenem Munde über sich sprechen muß! Denn wenn jeder schon für ein müßiges Wort Rechenschaft geben wird, wieviel mehr für ein unlauteres und schimpfliches Wort? Schwerer fallen ja schlüpfrige als müßige Worte auf die Wagschale. Wenn schon für ein müßiges Wort Rechenschaft gefordert wird, wie unvergleichlich größere Strafe wird über gottlose Rede verhängt?

III. Kapitel: Vom Stillschweigen

Es darf kein ständiges, kein müßiges sein

S. 15 9. Wie nun? Sollen wir stumm sein? Keineswegs. Denn „es gibt eine Zeit zum Schweigen, und es gibt eine Zeit zum Reden“. Wenn wir ferner über ein müßiges Wort Rechenschaft geben müssen, sehen wir zu, daß wir nicht auch über ein müßiges Schweigen es tun müssen. Es gibt nämlich auch ein wirksames Schweigen. So war es bei Susanna, die durch Schweigen mehr bewirkte, als wenn sie gesprochen hätte. Während sie nämlich vor den Menschen schwieg, redete sie zu Gott und fand keinen beredteren Zeugen für ihre Keuschheit als das Schweigen. Das Gewissen redete, wo keiner Zunge Laut vernehmlich war. Und kein menschliches Urteil verlangte sie sich, da sie des Herrn Zeugnis für sich hatte. Von dem wollte sie ihre Lossprechung haben, der sich, wie sie wußte, nicht täuschen läßt. Der Herr selbst wirkte im Evangelium schweigend das Heil der Menschen. Mit Recht also legte sich David nicht beständiges Schweigen, sondern nur Behutsamkeit hierin auf.

Von der Wachsamkeit über Herz und Mund den inneren Leidenschaften gegenüber

10. Wachen wir also über unser Herz, wachen wir über unseren Mund! Denn beides steht geschrieben: an unserer Stelle, daß wir den Mund bewahren sollen; an einer anderen die Mahnung: „Mit aller Behutsamkeit wahre dein Herz!“ Wenn David es wahrte, willst du es nicht wahren? Wenn ein Isaias unreine Lippen hatte, da er bekannte: „O ich Unseliger, weil von Gewissensbissen gequält! Ein Mensch bin ich ja mit S. 16 unreinen Lippen“ — wenn der Prophet unreine Lippen hatte, wie sollten wir reine haben?

11. Und wem anders als jedem von uns gilt das Schriftwort: „Umhege dein Besitztum mit Dornen und kette fest dein Silber und Gold und mache deinem Munde Tor und Riegel und deinen Worten Joch und Wage“? Dein Besitztum ist dein Geist, dein Gold dein Herz, dein Silber deine Rede: „Die Reden des Herrn sind reine Reden, Silber im Feuer erprobt“. Ein gutes Besitztum ist ein guter Geist; ein kostbares Besitztum endlich ein reiner Mensch. Umhege denn dieses Besitztum und umfriede es mit dem Walle der Gedanken, schirme es mit den Dornen ängstlicher Sorgfalt, daß nicht die unvernünftigen Leidenschaften des Fleisches darüber herfallen und es als Beute fortschleppen, daß nicht heftige Regungen darin eindringen, daß nicht des Weges Ziehende dessen Weinernte plündern! Behüte deinen inneren Menschen! Mißachte und verachte ihn nicht als etwas Geringwertiges! Denn er ist ein kostbares Besitztum. Mit Recht ein kostbares, weil seine Frucht nicht hinfällig und vergänglich ist, sondern ein dauerndes und ewiges Heil birgt. So bebaue denn dein Besitztum, um Fruchtfelder zu gewinnen!

12. Binde deine Rede, daß sie nicht zu üppig treibe, nicht zu geil wuchere und durch Schwatzhaftigkeit zur Sündenlese führe! Der Redestrom bleibe mehr eingedämmt und in seine Ufer gebannt! Der austretende Strom schwemmt rasch Schlamm an. Binde deinen Sinn! Er sei nicht lose und ausgegossen, daß man nicht von dir sage: „Da läßt sich kein Umschlag, kein Öl, kein Verband anlegen“. Ein vernünftiger Geist hat seine Zügel, durch die er gelenkt und geleitet wird.

13. Dein Mund habe, sobald es nottut, ein Tor zum Verschließen und Versperren, daß niemand deine S. 17 Zunge zum Zorn reize, und du Beschimpfung mit Beschimpfung vergeltest! Du hörtest heute die Lesung: „Zürnet, doch sündiget nicht!“ Mag uns also auch Zorn anwandeln, weil er eine natürliche Regung ist und nicht in unserer Gewalt steht, so sollen wir doch kein böses Wort aus unserem Munde hervorkommen lassen, um nicht in Schuld zu geraten, „Joch und Wage sei vielmehr deinen Worten“, d. i. Demut und Mäßigung, daß deine Zunge dem Geiste Untertan sei! Mit des Zaumes Fesseln muß sie gezähmt werden. Ihre Zügel braucht sie, um durch sie zum Maßhalten angehalten werden zu können. Reden, auf der Wage der Gerechtigkeit abgewogen, bringe sie hervor! Der Gesinnung muß Ernst, der Rede Gewicht, den Worten Maß innewohnen.

IV. Kapitel: Vom Stillschweigen

Achtsamkeit im Reden frommt der Tugend, Unbedachtsamkeit der Leidenschaft ===

14. Ist einer im Reden behutsam, wird er milde, sanft, bescheiden. Wenn er nämlich seinen Mund hält und seine Zunge wahrt und nicht redet, bevor er nicht seine Worte prüft und überschlägt und abwägt, ob dies zu sagen sei, ob es diesem gegenüber zu sagen sei, ob es der rechte Zeitpunkt zu solcher Rede sei, so übt er in der Tat Bescheidenheit und Sanftmut und Geduld. Er wird nicht aus Ungehaltenheit und Zorn in Worte ausbrechen, in seinen Aussprüchen keinerlei Leidenschaft verraten und nicht merken lassen, daß die Glut sinnlicher Lust in seiner Rede lodert und seine Äußerungen den Stachel des Jähzornes bergen; die Rede soll schließlich nicht, statt eine Empfehlung für die innere S. 18 Gesinnung zu sein, irgendeine sittliche Blöße aufdecken und verraten.

Letzterer bedient sich der unsichtbare Widersacher als Waffe und Fallstrick

15. Gerade dann macht der Widersacher in seinen Nachstellungen die größten Anstrengungen, wenn er etwelche Leidenschaften von uns in der Entstehung begriffen sieht. Da legt er den Zunder, legt er den Fallstrick. Nicht mit Unrecht spricht daher der Prophet, wie du heute verlesen hörtest: „Er hat mich befreit vom Stricke der Jäger und von herber Rede“. Symmachus gebrauchte den Ausdruck ‚Wort der Aufreizung‘ (λόγος ἐπηρείας) [logos epēreias], andere ‚Wort der Verwirrung‘ (λόγος ταραχώδης) [logos tarachōdēs]. Der Strick des Widersachers ist unsere Rede, aber auch sie selbst ist nicht weniger unser Widersacher. Wir reden so häufig etwas: der Feind fängt es auf und verwundet uns gleichsam mit unserem eigenen Schwert. Wie ist es unvergleichlich erträglicher, durch fremdes Schwert als durch das eigene umzukommen!

16. So kundschaftet denn der Widersacher unsere Waffen aus und prüft seine eigenen Geschosse. Sieht er mich in Erregung, setzt er seine Stachel an und weckt die Saat der Zankworte. Lasse ich ein unschickliches Wort entschlüpfen, zieht er seine Schlinge zusammen. Zuweilen stellt er mir gleichsam als Köder die Gelegenheit zu einer Rache vor Augen, damit ich mich selbst, während ich nach Rache dürste, in die Schlinge verwickle und den Knoten des Todes mir schürze. Wenn darum jemand die Nähe dieses Widersachers merkt, dann muß er um so ängstlicher auf seinen Mund achthaben, um dem Widersacher nicht stattzugeben. Doch nicht viele gewahren sein.

V. Kapitel: Vom Stillschweigen =

Auch gegen den menschlichen Widersacher bildet es eine bewährte Waffe

S. 19: 17. Aber auch vor jedem sichtbaren Widersacher, der reizt, der stachelt, der den Zunder der Lust oder Sinnlichkeit legt, hat man sich in acht zu nehmen. Wenn uns also einer schmäht, neckt, zu Tätlichkeit reizt, zu Zank herausfordert, dann laßt uns Schweigen üben! Dann laßt uns nicht schämen zu verstummen! Denn ein Sünder ist es, der uns herausfordert, der unrecht tut und uns zu seinesgleichen haben möchte.

18. So spricht er denn gerne, wenn du schweigst, wenn du dir nichts merken läßt: Was schweigst du? Sprich, wenn du dich getraust! Doch du getraust dich nicht, du bist stumm, ich habe dich sprachlos gemacht. Schweigst du, zerschreit er sich noch mehr, hält sich für besiegt, genarrt, verachtet und verspottet. Erwiderst du, fühlt er sich als der Überlegene, weil er seinesgleichen gefunden hat. Schweigst du, so heißt es: er hat diesen beschimpft, dieser ihn mit Verachtung gestraft. Erwiderst du das Geschimpfe, heißt es: beide haben sich in Schmähungen ergangen; jeden straft das Urteil, keinen spricht es frei. Er geht also geflissentlich darauf aus, mich zu reizen, daß ich Ähnliches rede, Ähnliches tue wie er. Am Gerechten aber ist es, sich nichts merken zu lassen, nichts zu erwidern, die Frucht des guten Gewissens zu wahren, mehr dem Urteile der Guten, als der Unverschämtheit eines Lästermaules anheimzustellen und damit zufrieden zu sein, die Würde im Verhalten bewahrt zu haben. Das nämlich heißt „ob des Guten schweigen“; denn wer ein gutes Gewissen hat, darf sich nicht über falsche Anschuldigungen S. 20 aufregen und nicht glauben, fremder Schimpf wiege schwerer als das Selbstzeugnis.

insbesonders eine Schutzwaffe der Demut

19. So kommt es, daß er auch die Demut wahrt. Will er hingegen nicht allzu demütig erscheinen, sinnt er also und spricht bei sich selbst: Wie, der will mich verachten und unter meinen Augen solche Reden wider mich führen, als könnte ich nicht den Mund gegen ihn auftun? Warum sollte nicht auch ich etwas sagen, womit ich ihn ärgern kann? Wie, der will mir Beleidigungen zufügen, als wäre ich kein Mann, als könnte ich mich nicht rächen? Der will mich verunglimpfen, als könnte ich nicht noch Schlimmeres wider ihn vorbringen?

wider Versuchung und Sünde

20. Wer so spricht, ist nicht sanft und demütig, ist nicht frei von Versuchung. Der Versucher stachelt ihn auf, er speit ihm solche Gedanken ein. Meist bedient sich der böse Geist eines Menschen hierzu und zieht ihn bei, daß er so zu ihm spreche. Doch du wandle fest auf Felsenpfad! Mag selbst ein Sklave eine Beleidigung sprechen, der Gerechte schweigt; mag ein Schwächling Schimpfworte ausstoßen, der Gerechte schweigt; mag ein Armer in Schmähungen sich ergehen, der Gerechte erwidert nicht. Das sind die Waffen des Gerechten. Durch Nachgeben trägt er den Sieg davon. So pflegen auch geübte Speerwerfer durch Ausweichen zu siegen und im Fliehen dem Verfolger die schwersten Wunden zu schlagen.

VI. Kapitel: Vom Stillschweigen

David ein Vorbild der Schweigsamkeit und der Selbstverdemütigung

21. Was braucht es denn der Aufregung, wenn wir Schmähungen hören? Warum wollten wir nicht jenen S. 21 nachahmen, der bekennt: „Ich verstummte und demütigte mich und schwieg ob des Guten“ Oder sprach David nur so, handelte er nicht auch so? Gewiß, er handelte auch so. Denn als Semeis Sohn ihn schmähte, schwieg David. Obschon von Bewaffneten umgeben, erwiderte er die Beschimpfung nicht, drang nicht auf Rache: so wenig, daß er dem Sohne Sarvias, der zu ihm sagte, er wolle Rache an jenem nehmen, es nicht erlaubte. So ging er denn gleichsam stumm und demütig, ging schweigend des Weges. Er regte sich über den Namen ‚Blutmensch‘ nicht auf, indem er seiner Sanftmut eingedenk blieb; er regte sich über die Beschimpfungen nicht auf, indem er sich seiner guten Werke vollbewußt war.

Gegenteiliges Verhalten ist zu meiden

22. Wer sonach durch Beleidigung sich schnell aufregen läßt, erweckt, während er das Unverdiente seiner Beschimpfung beweisen will, den Anschein, als ob er sie verdienen würde. Besser der, welcher sich über die Beleidigung hinwegsetzt, als der, welcher sich darüber abhärmt. Denn wer sich darüber hinwegsetzt, verachtet sie, als fühlte er sie nicht; wer sich aber darob abhärmt, leidet darunter, als fühlte er sie.

VII. Kapitel

Die Betrachtung des 38. Psalmes [Hebr. Ps. 39] der Anlaß zur Schrift über die Pflichtenlehre

23. Nicht ohne Vorbedacht habe ich mich in meiner Schrift an euch, meine Söhne, dieses Psalmes als Einleitung bedient. Der Prophet David gab diesen Psalm dem heiligen Idithum zu singen; ich rate euch, von S. 22 seinem tiefen Sinn und seinen gewaltigen Gedanken entzückt: haltet ihn fest! Denn wir merkten schon aus dem Wenigen, was wir kurz gestreift haben, wie sowohl das Sichgedulden im Schweigen, als auch das Reden zur rechten Zeit, sowie in den folgenden Versen die Verachtung des Reichtums in diesem Psalme gelehrt werden: Dinge, welche die wichtigsten Grundlagen des Tugendlebens bilden. Bei der Betrachtung dieses Psalmes nun kam ich auf den Gedanken, eine Pflichtenlehre zu schreiben.

Mehr als Cicero drängte Ambrosius die Liebe zu seinen Söhnen zu deren Abfassung

24. Wenn auch hierüber einige Philosophen geschrieben haben, wie bei den Griechen Panätius und sein Sohn, bei den Römern Tullius, so hielt ich es doch nicht für unangemessen für mein Amt, auch meinerseits darüber zu schreiben, und zwar, wie Tullius zur Belehrung seines Sohnes, so auch ich zu eurer Unterweisung, meine Söhne. Denn nicht weniger bin ich euch, die ich im Evangelium erzeugt habe, in Liebe zugetan, als wenn ich euch aus der Ehe bekommen hätte. Nicht heftiger drängt die Natur als die Gnade zum Lieben. Mehr Liebe schulden wir gewiß denen, die nach unserer Überzeugung ewig mit uns sein werden, als jenen, die es nur in dieser Welt sind. Diese sind häufig entartete Sprößlinge, die dem Vater Schande bereiten, euch habe ich erst zu meinen Lieblingen erkoren. Ihre Liebe beruht auf Verwandtschaft, die kein hinlänglich geeigneter und beständiger Lehrer dauernder Liebe ist; die Liebe zu euch auf getroffener Entscheidung, die zum natürlichen Hang ein schwerwiegendes Moment der Liebe fügte: die Prüfung der Lieblinge und die Liebe zu den Erkorenen.

VIII. Kapitel: Pflichtenlehre

Der Name Pflichtenlehre nicht bloß den Philosophen, sondern auch den Hagiographen geläufig

S. 23: 25. Rechtfertigen nun die Personenumstände die Abfassung der Pflichtenlehre, so laßt uns sehen, ob dieselbe auch sachlich sich rechtfertigen läßt, und ob diese Bezeichnung nur ein philosophischer Schulausdruck ist oder auch in den göttlichen Schriften sich findet. Gut fügte es sich nun, daß uns bei der heutigen Evangeliumverlesung der Heilige Geist, als wollte er zum Schreiben mahnen, eine Stelle zu lesen gab, die uns nur bestärken mußte, daß auch wir von officium (Pflicht) sprechen können. Denn als der Priester Zacharias im Tempel stumm ward und nicht sprechen konnte, „da geschah es“, so heißt es, „sobald die Tage seines Pflichtdienstes (officium) abgelaufen waren, ging er hinweg in sein Haus“. Auch wir können also nach dem verlesenen Texte von officium (Pflicht) sprechen.

Erklärung desselben

26. Auch die wissenschaftliche Erwägung widerspricht dem nicht. Das Wort officium (Pflicht) kommt nämlich unseres Erachtens von efficere (verrichten), besagt also gleichsam ein efficium (Pflichtverrichtung) — des besseren Wortklanges wegen sagte man aber mit Veränderung eines Buchstabens officium — oder besagt doch ein Handeln, das niemand schadet (officiat), allen frommt.

IX. Kapitel

Der Philosophie gilt das sittlich Gute und das Nützliche als Einteilungsgrund der drei, bzw. fünf Arten von Pflichten

S. 24: 27. Die Pflichten, meinte man, leiten sich her vom sittlich Guten und Nützlichen und von der Wahl des Besseren zwischen diesen beiden; es könne ferner der Fall eintreten, daß es sich um ein zweifaches Gute und ein zweifaches Nützliche zugleich handle und die Frage entstehe, was das Bessere und was das Nützlichere davon sei. So ergibt sich denn zunächst eine dreifache Einteilung des Pflichtmäßigen: in das sittlich Gute, das Nützliche und das, was das Bessere ist. Sodann teilte man diese drei Arten in fünf weitere ein: in ein zweifaches sittlich Gutes, in ein zweifaches Nützliches und in die Wahl und Entscheidung darüber. Die ersteren betreffen, wie man sagt, das Schickliche und das Ehrbare im Leben, die beiden folgenden die Glücksgüter des Lebens: Besitz, Reichtum und Vermögen; die Wahl hierüber stehe dem Urteil zu. So jene Autoren.

für uns nur das sittlich Gute, gemessen am Maßstabe des Ewigen

28. Wir aber bemessen ausschließlich nur das Schickliche und Ehrbare, mehr mit dem Maßstab des Zukünftigen als des Gegenwärtigen, und bezeichnen nur das für nützlich, was der Seligkeit des ewigen Lebens, nicht was der Lust des gegenwärtigen frommt. Wir erblicken auch keinerlei Vorteile in Reichtum und Vermögensschätzen, sondern halten diese für Nachteile, wenn man nicht darauf verzichtet. Schwerer drückt ihre Last, wenn sie vorhanden sind, als ihr Verlust, wenn sie abhanden kommen.

daher die Darstellung der christlichen Pflichtenlehre nicht überflüssig

S. 25 29. Unsere schriftliche Arbeit ist daher nicht überflüssig, weil wir an den Pflichtbegriff einen anderen Maßstab anlegen, als jene Autoren es getan haben. Sie halten die irdischen Glücksgüter für etwas Gutes, wir halten sie geradezu für einen Nachteil, weil einer, der gleich jenem Reichen hier Gutes empfängt, dort gepeinigt wird, ein Lazarus dagegen, der hier Schlimmes erduldete, dort seinen Trost findet. Wer jene Werke nicht liest, mag nach Gutdünken unsere Zeilen lesen, wenn es ihm sonst nicht um Wortgepränge und Redekunst, sondern um die schlichte Schönheit der Sache zu tun ist.

X. Kapitel

Schweigen ein Gebot der Hl. Schrift

30. An erster Stelle waren es unsere Schriften, worin das Geziemende, griechisch πρέπον [prepon] genannt, näher festgesetzt wurde. Wir werden darüber aufgeklärt und belehrt, wenn wir lesen: „Dir geziemt Lobgesang, o Gott, auf Sion“, oder im Griechischen: Σοὶ πρέπει ὕμνος ὁ θεὸς ἐν Σιών [Soi prepei hymnos ho theos en Siōn]. Auch der Apostel mahnt: „Rede, was sich für eine gesunde Lehre geziemt!“ Und an einer anderen Stelle: „Es ziemte sich aber dem, durch welchen alle Dinge und um dessentwillen alle Dinge sind, und welcher viele Kinder zur Herrlichkeit herbeiführte, den Führer ihres Heils durch Leiden zu vollenden“.

Dieser, nicht der Philosophie, kommt die Priorität hierin zu

31. Hat etwa Panätius, hat Aristoteles, der ebenfalls von der Pflicht handelte, früher gelebt als David? Ist doch selbst Pythagoras, der an Alter, wie wir lesen, über Sokrates hinaufreicht, dem Propheten David gefolgt, da er den Seinigen das Gesetz des Schweigens gab. Doch er wollte seinen Schülern fünf Jahre lang das Sprechen überhaupt verbieten, während David diese Naturgabe nicht beeinträchtigen wollte, sondern nur Bedachtsamkeit im Reden lehrte. Näherhin wollte Pythagoras mittels des Nichtsprechens das Sprechen lehren; nach David sollten wir mehr durch Sprechen das Sprechen lernen. Wie wäre denn eine Unterweisung ohne Schulung oder ein Fortschritt ohne Übung denkbar?

Schweigen eine Kunst, die geübt werden muß

32. Wer im Kriegsfach sich ausbilden will, der übt sich täglich in den Waffen, tritt in voller Rüstung gleichsam in das Vorspiel des Kampfes ein, sucht Deckung, als stünde der Feind schon vor ihm, und erprobt seine Arme im gewandten und kräftigen Speerwerfen oder weicht dem Geschosse des Gegners aus und entgeht ihm wachsamen Auges. Wer ein Schiff auf dem Meere durch Steuer zu lenken oder durch Ruder zu leiten begehrt, übt sich zuvor auf einem Flusse. Wer einen lieblichen Sang und eine schöne Stimme erstrebt, bildet erst nach und nach die Stimme im Singen aus. Und wer durch Körperkraft und regelrechten Wettkampf nach der Siegeskrone auslangt, übt sich täglich in der Ringkunst, stählt seine Glieder, nährt seine Ausdauer, um sich erst mühsam daran zu gewöhnen.

33. Das lehrt uns die Natur schon am kleinen Kinde. Es bemüht sich zunächst um die Sprachlaute, um das Sprechen zu lernen; der Laut ist gleichsam die Schule und der Ringplatz für die Stimme. So sollen denn auch die, welche Behutsamkeit im Reden lernen wollen, die Gabe der Natur nicht verleugnen, das Gebot der Wachsamkeit hingegen üben gleich wachestehenden Posten, die wachend, nicht schlafend auslugen. Jedes Ding findet nämlich durch Schulung, die seiner Eigenart und natürlichen Beschaffenheit entspricht, Förderung.

Vom rechten Maßhalten im Schweigen, Reden und Handeln

S. 27 34. David schwieg nicht immer, sondern wenn es der Augenblick erforderte; er verweigerte nicht ständig und nicht jedermann die Antwort, sondern nur dem Gegner, der ihn reizte, dem Sünder, der ihn herausforderte. Und er hörte, wie er an einer anderen Stelle versichert, nur auf solche nicht, welche Eitles redeten und Trug sannen; und öffnete ihnen wie taub und stumm seine Stimme nicht. Auch anderswo liest man: „Antworte dem Törichten nicht auf seine Torheit, damit du ihm nicht ähnlich werdest!“

35. Die erste Pflicht ist sonach das Maßhalten im Reden. Das heißt Gott ein Lobopfer darbringen; das heißt Ehrfurcht wahren bei der Schriftlesung; das heißt den Eltern Ehrerbietung erweisen. Ich weiß, daß man gar häufig nur redet, weil man nicht zu schweigen versteht. Selten schweigt einer, wenn schon das Reden ihm nicht frommt. Der Weise überlegt erst viel, wenn er reden soll: was er sprechen soll, zu wem er sprechen soll, an welchem Ort, zu welcher Zeit. So gibt es denn ein Maßhalten sowohl im Schweigen wie im Reden, aber auch ein Maßhalten im Handeln. Schön ist es, hierin das Pflichtmaß einzuhalten.

XI. Kapitel

Die Einteilung der Pflichten in vollkommene und mittlere kennt auch die Hl. Schrift

36. Jede Pflicht ist entweder eine mittlere oder eine vollkommene. Auch das können wir gleicherweise S. 28 an der Hand der Schrift nachweisen. Wir lesen nämlich im Evangelium den Ausspruch des Herrn: „Willst du zum ewigen Leben gelangen, so halte die Gebote. Da sprach jener: welche? Jesus aber sprach zu ihm: Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsches Zeugnis geben; ehre Vater und Mutter; und liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“. Das sind mittlere Pflichten, denen etwas fehlt.

37. So spricht denn auch der Jüngling zu ihm: „Das alles habe ich von Jugend auf beobachtet: was fehlt mir noch? Da entgegnete ihm Jesus: Willst du vollkommen sein, so geh, verkaufe alle deine Güter und gib sie den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!“ Im Vorausgehenden findet sich die Schriftstelle mit der Mahnung, die Feinde zu lieben, für unsere Verleumder und Verfolger zu beten und die, welche uns fluchen, zu segnen. So müssen wir es halten, wenn wir vollkommen sein wollen wie unser Vater, der im Himmel ist, der über Gute und Böse die Sonne ihre Strahlen ausgießen läßt und unterschiedslos die Lande aller mit Regen und Tau S. 29 befruchtet. Das nun ist die vollkommene Pflicht, von den Griechen κατόρθωμα [katorthōma] genannt. Durch sie gelangt alles, was irgendwie zu Fall kommen konnte, zur Besserung.

Zu den ersteren zählt die Barmherzigkeit

38. Gut ist auch die Barmherzigkeit; denn auch sie macht den Menschen vollkommen, weil sie den vollkommenen Vater nachahmt. Nichts empfiehlt eine christliche Seele so, wie die Barmherzigkeit, vor allem gegen die Armen. Als Gemeingut soll man die Erzeugnisse der Natur betrachten, welche die Früchte der Erde für alle hervorbringt. Dem Armen sollst du daher von deiner Habe mitteilen und den unterstützen, der Los und Gestalt mit dir teilt. Du reichst eine Münze: er empfängt seinen Lebensunterhalt; du gibst ein Geldstück: er sieht darin seine ganze Habe. Dein Denar ist sein Vermögen.

39. Mehr bietet dir verhältnismäßig der Arme: er ist Schuldner des Heils. Kleidest du einen Nackten, schmückst du dich selbst mit dem Kleide der Gerechtigkeit. Nimmst du einen Fremden unter dein Dach auf, nimmst du dich eines Notleidenden an, verschafft er dir die Freundschaft der Heiligen und die ewigen Wohnungen. Nicht wenig bedeutet solcher Gnadenerweis. Leibliche Saat streust du aus, geistige Frucht erntest du. Du wunderst dich über das Gericht des Herrn, das über den heiligen Job hereinbrach? Bewundere dessen Tugend! Konnte er doch sprechen: „Auge war ich der Blinden, der Lahmen Fuß. Ich war der Vater der Schwachen“. „Mit dem Fell meiner Lämmer wurden ihre Schultern erwärmt“. „Kein Fremder wohnte draußen; meine Türe stand vielmehr jedem Ankömmling offen“. Selig fürwahr, von dessen Haus kein Armer je mit leerer Tasche fortging! Denn niemand ist seliger, als wer der Not des Armen und der Trübsal des Schwachen und Dürftigen gedenkt. Am Tage des S. 30 Gerichtes wird er Heil finden vom Herrn, indem er ihn zum Schuldner seines Erbarmens haben wird.

XII. Kapitel: Von der göttlichen Vorsehung

Nur ein Schwächling wird angesichts des Scheinglückes der Gottlosen oder des Unglückes der Gerechten an derselben irre; anders Job ===

40. Doch so manche lassen sich in der Pflicht der mitteilsamen Barmherzigkeit irre machen. Wenn sie nämlich sehen, wie Sünder im Reichtum schwimmen, der Ehren, der Gesundheit, der Kinder sich erfreuen, Gerechte hingegen in Not, in Verachtung, kinderlos, siech am Leibe, oft von Trauer heimgesucht ihr Leben fristen, dann glauben sie, der Herr kümmere sich nicht um das Tun des Menschen; oder er wisse nicht, was wir im Verborgenen treiben, woran unser Gewissen sich hält; oder aber sein Gericht erscheine keineswegs als gerecht.

41. Nicht unwichtig ist diese Frage. Erklärten doch jene drei königlichen Freunde Jobs ihn deshalb für einen Sünder, weil er, wie sie sahen, aus einem Reichen ein Armer, aus einem mit Kindern reichgesegneten Vater ein kinderloser geworden war, mit Geschwüren überdeckt, von Schwielen strotzend, vom Haupt bis zu den Füßen von Beulen zerwühlt. Der heilige Job gab ihnen nun Folgendes zu bedenken: Wenn ich meiner Sünden wegen dies leide, „warum leben dann die Gottlosen? Alt aber sind sie geworden, und ihre Nachkommen schwelgen im Reichtum nach Wunsch, ihre Kinder gedeihen vor ihren Augen, ihre Häuser mehren sich in S. 31 Überfluß: nirgends aber eine Frucht; keine Geißel Gottes ruht auf ihnen“.

42. Ein Schwächling, der dies sieht, wird in seinem Herzen irre und seinem Eifer abwendig. Was er vorbringen kann, dem hat der hl. Job zum voraus mit den Worten Ausdruck verliehen: „Ertraget mich! Ich aber will reden: dann verlacht mich nicht! Denn werde ich auch der Sünde geziehen, werde ich als Mensch derselben geziehen. So traget denn die Last meiner Worte!“ Ich werde, will er sagen, sprechen, was ich nicht billige; aber zu euerer Widerlegung will ich die sündhaften Worte aussprechen. Oder doch, weil der Vers so lautet: „Wie aber? Werde ich wohl von einem Menschen der Sünde geziehen?“ folgendermaßen: Kein Mensch kann mich der Sünde zeihen, ob ich auch Tadel verdiene; denn nicht auf offenkundige Schuld gründet sich euer Tadel, sondern aus den Schicksalsschlägen, die ich erlitten, schließt ihr auf das Mißverdienst von Vergehungen. Angesichts der Tatsache nun, daß Ungerechte im Überfluß des Glückes schwelgen, er selbst aber von Unglück heimgesucht wird, spricht der Schwächling zum Herrn: „Geh weg von mir! Ich will nichts wissen von Deinen Wegen. Was nützt es, daß wir ihm gedient, was frommt es, daß wir ihm uns geweiht haben? In ihren Händen häufen sich alle Güter; die Werke der Gottlosen aber sieht er nicht“.

In Wahrheit ist jeder Gottlose ein Unglücklicher, jeder Gerechte ein Glücklicher

43. Man lobt an Plato, daß er in seiner Staatslehre einen, der die Rolle des Anwalts wider eine gerechte Sache übernommen hatte, ob der Worte, die er selbst nicht billigen konnte, um Entschuldigung bitten und versichern läßt, daß ihm jene Rolle nur übertragen worden sei, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen und Frage und Antwort auf ihren Gehalt prüfen zu S. 32 können. Und dieses Verfahren billigte Tullius so sehr, daß auch er in seinen Büchern über den Staat für diese Ansicht eintreten zu sollen glaubte.

44. Wie bedeutend älter als jene Denker ist Job, der zuerst auf diesen Gedanken kam und nicht nur zur rednerischen Ausschmückung, sondern zur Erhärtung der Wahrheit das vorausschicken zu sollen glaubte. Sofort ließ er die Lösung der Frage folgen mit der Beteuerung, daß „die Leuchte der Gottlosen ausgelöscht werde und ihr Untergang bevorstehe“. Gott, der Lehrer der Weisheit und der Zucht, lasse sich nicht täuschen, sondern sei Richter über die Wahrheit. Darum dürfe die Glückseligkeit der einzelnen nicht nach dem äußeren Überfluß bemessen werden, sondern nach dem inneren Gewissen, das zwischen Verdienst und Mißverdienst der Schuldlosen und Lasterhaften unterscheide: ein wahrhafter und unbestechlicher Schiedsrichter über Strafe und Lohn! Der Schuldlose stirbt als Mächtiger im Reich der Unschuld, als überreicher Herr des eigenen Willens, im Besitze einer Seele, die gleichsam „voll Fett“ ist. Dagegen aber bringt der Sünder, ob er auch äußerlich im Überfluß schwimmt, in Vergnügungen schwelgt und von Salben duftet, das Leben „in der Bitterkeit seiner Seele“ zu und beschließt den letzten Tag, ohne etwas Gutes von seinen Genüssen mitnehmen, ohne etwas anderes mit sich fortnehmen zu können als den Preis seiner Verbrechen.

45. Bedenke das und leugne, wenn du kannst, daß es eine Vergeltung im göttlichen Gerichte gibt! Jenen macht das eigene Herz glücklich, diesen unglücklich. Jenen spricht das eigene Urteil frei, diesen schuldig. Jenen überkommt Freude beim Hinscheiden, diesen Trauer. Wer könnte auch einen Menschen freisprechen, der nicht einmal vor sich selbst schuldlos dasteht? S. 33 „Sagt mir“, heißt es, „wo ist der Schutz seiner Hütten?“ Keine Spur von ihm wird man finden. Denn das Leben des Lasterhaften ist wie ein Traum; er schlägt die Augen auf: dahin ist seine Ruhe, entschwunden das Ergötzen. Selbst die äußere Ruhe der Gottlosen, die zu ihren Lebzeiten in die Erscheinung tritt, gehört der Hölle an; denn lebendig fahren sie zur Hölle.

46. Du siehst das Gastmahl eines Sünders: frage sein Gewissen! Riecht es nicht übler denn alle Gräber? Du schaust sein vergnügtes Leben, staunst über seine leibliche Gesundheit, über die überreiche Zahl an Kindern und Schätzen: schau hin auf die Beulen und Striemen seiner Seele und die Trübsal seines Herzens! Was soll ich denn ein Wort verlieren über seine Schätze? Liest du doch: „Nicht vom Überfluß hängt sein Leben ab“; weißt du doch, daß er, ob er dir auch reich erscheint, selbst arm sich dünkt und mit seinem Urteil das deinige Lügen straft. Was soll ich desgleichen über seine vielen Kinder und sein Freisein von Leid ein Wort verlieren? Muß er doch sich selbst bedauern und sich sagen, daß er ohne Erben bleiben werde, nachdem er seinesgleichen nicht zu Erben haben will. Der Sünder hinterläßt überhaupt kein Erbe. So ist also der Gottlose sich selbst zur Strafe, der Gerechte hingegen sich selbst zur Freude, und jeder von ihnen erntet den Lohn der Selbstvergeltung, sei es für die guten, sei es für die bösen Werke.

XIII. Kapitel: Von der göttlichen Vorsehung

Der vorausgehende Exkurs nicht zwecklos

S. 34 47. Doch kehren wir zum Thema zurück, damit es nicht scheine, wir hätten die Einteilung, die wir machten, vergessen, weil wir der Meinung derer entgegentraten, die deshalb, weil sie die lasterhaftesten Menschen in Reichtum, Vergnügen, Ehren und Macht sehen, während so viele Gerechte darben und kranken, wähnen, Gott kümmere sich entweder keinen Deut um uns, wie die Epikureer behaupten, oder aber er wisse um das Treiben des Menschen nicht, wie die Lasterhaften meinen, oder er sei, wenn allwissend, ein ungerechter Richter, der die Guten darben, die Ungerechten in Überfluß leben lasse. Nicht überflüssig war der ‚Exkurs‘, wenn ich so sagen darf. Es sollte einer derartigen Auffassung gerade das seelische Empfinden derer Antwort stehen, die sie glücklich preisen, während sie sich selbst für unglücklich halten; denn mich dünkte, sie würden ihnen selbst eher Glauben schenken als uns.

Widerlegung der aristotelischen und epikureischen Auffassung

48. Nach dieser Darlegung erachte ich es für leicht, die übrigen Einwände zu widerlegen: zunächst die Behauptung derer, die glauben, Gott kümmere sich keineswegs um die Welt. So behauptet Aristoteles, seine Vorsehung reiche nur bis zum Monde. Aber welcher Meister vergäße der Sorge um sein Werk? Wer ließe das, was er selbst ins Dasein setzen zu sollen glaubte, im Stiche und gäbe es preis? Wenn Regieren ein Unrecht ist, liegt nicht im Erschaffen ein noch größeres Unrecht? Würde doch, so wenig das S. 35 Nichterschaffen ungerecht ist, im Nichtsorgen die größte Grausamkeit liegen.

49. Gott, seinen Schöpfer, verleugnen, oder aber sich selbst zu den Tieren und Bestien rechnen: was sollen wir zu solchen Leuten sagen, die sich selbst so unrecht tun und verurteilen? Sie behaupten selbst, Gott durchdringe alles und auf seiner Kraft beruhe alles, seine Macht und Größe durchdringe alle Elemente, Erde, Himmel und Meere: und wenn er den Geist des Menschen, das Erhabenste, was er uns verliehen hat, durchdringt und mit dem Wissen seiner göttlichen Majestät darin eindringt, so rechnen sie ihm das als ein Unrecht an.

50. Indes spotten die Philosophen selbst, soweit sie als nüchtern gelten, über den Lehrer solcher Leute (Epikur) als einen Trunkenbold und Anwalt der Lust. Was soll ich aber von der Meinung des Aristoteles sagen, der glaubt, Gott bescheide sich in die ihm gezogenen Grenzen und friste sein Dasein innerhalb eines abgesteckten Reiches gemäß jener Fabeldichtungen, wonach drei Herrscher in der Weise in die Welt sich teilten, daß dem einen der Himmel, dem anderen das Meer, dem dritten die Unterwelt durch das Los zur Beherrschung zufiel; und wonach sie sich hüteten, um fremde Gebietsteile sich zu kümmern und so Krieg unter sich heraufzubeschwören? Ähnlich, so behauptet er, kümmert sich auch Gott nicht um die Erde, wie er sich auch um das Meer oder die Unterwelt nicht kümmert. Wie wollen sie denn die Dichter ablehnen, denen sie folgen?

XIV. Kapitel: Von der göttlichen Vorsehung

Gottes Allwissenheit leugnen die Weltweisen vergeblich

S. 36 51. Nun der weitere Einwand, ob nicht Gott, wenn nicht die Sorge, so doch das Wissen um seine Schöpfung abgehe? Er also, „der das Ohr gepflanzt, soll nicht hören, und der das Auge gebildet, nicht sehen“, nicht schauen!

Schon das Alte Testament nimmt Stellung gegen letztere

52. Dieses Hirngespinst entging den heiligen Propheten nicht. So führt denn schon David solche Leute redend ein, wobei er sie der Aufgeblasenheit vor Hochmut bezichtet. Was wäre denn auch, nachdem sie selbst doch unter der Sünde schmachten, so dünkelhaft als ihr Unwille darüber, daß andere Sünder am Leben sind, indem sie in die Klage ausbrechen: „Wie lange, Herr, werden die Sünder sich noch brüsten?“ Und im Folgenden: „Und sie sprachen: Nicht wird der Herr es sehen und nicht merken der Gott Jakobs“. Darauf nun antwortet ihnen der Prophet: „Kommt jetzt zur Einsicht, ihr Unverständigen im Volke, und endlich zur Vernunft, ihr Toren! Der das Ohr gepflanzt, hört nicht, und der das Auge gebildet, sieht nicht? Der die Völker züchtigt, soll nicht strafen: er, der den Menschen das Wissen lehrt? Der Herr kennt die Gedanken der Menschen, daß sie eitel sind“. Er, der alles Eitle gewahrt, soll über das Heilige in Unwissenheit sein und, was er selbst geschaffen hat, nicht kennen? Kann ein Künstler in Unwissenheit über sein Werk sein? Nur ein Mensch S. 37 ist er und versteht die heimlichen Dinge an seinem Werke: und Gott soll sein Werk nicht kennen? Ist das Werk abgrundtiefer als der Meister? Und hat er etwas geschaffen, was an Erhabenheit ihn übertrifft? dessen Verdienst der Schöpfer nicht kennt? dessen Gesinnung der Richter nicht weiß? Soviel wider jene.

Schriftbeweis

53. Im übrigen genügt uns das Zeugnis eben dessen, der beteuerte: „Ich bin es, der Herzen und Nieren durchforscht“. Und im Evangelium spricht der Herr Jesus: „Was denkt ihr Böses in eurem Herzen?“ Er wußte nämlich, daß sie Böses dachten. Das beteuert denn auch der Evangelist mit den Worten: „Es wußte nämlich Jesus ihre Gedanken“.

Hinter der Leugnung birgt sich sündhaftes Tun

54. Die Ansicht dieser Leute kann nicht viel Eindruck machen, wenn wir ihr Tun ins Auge fassen. Sie wollen über sich keinen Richter haben, dem nichts entgeht. Sie wollen ihm keine Kenntnis des Verborgenen einräumen, weil sie sich vor der Aufdeckung ihres verborgenen Treibens fürchten. Und doch, der Herr kennt ihre Werke und überantwortet sie der Finsternis: „In der Nacht“, heißt es, „wird der Dieb sich einfinden, und das Auge des Ehebrechers wird die Finsternis abwarten und sprechen: mich wird kein Auge sehen. Er sorgte vor, daß seine Person verborgen bleibe“. Denn jeder, der das Licht flieht, liebt die Finsternis; er bestrebt sich, verborgen zu bleiben. Und doch kann er Gott nicht verborgen bleiben, der in der Tiefe des Abgrundes und im Geiste des Menschen nicht bloß das Gewordene, sondern auch das Werdende erkennt. So trifft es denn auch bei jenem (Ehebrecher) zu, der im Ekklesiastikus [= Sirach] spricht: „Wer sieht mich? Sowohl die Finsternis wie die Wände decken mich: wen brauche ich fürchten?“ Wiewohl er in seinem Bette liegend solches denkt, wird er, wo er es nicht vermutete, beobachtet. „Und er wird S. 38 zuschanden werden“, heißt es, „weil er nicht wußte, was Furcht Gottes ist“.

Auch die Sonne bietet einen Kongruenzbeweis

55. Was aber wäre so einfältig als glauben, Gott könne etwas entgehen, da selbst die Sonne, die Spenderin des Lichtes, ihren Strahl ins Verborgene senkt und die Kraft ihrer Wärme auf den Grund, oder in die geheimen Gemächer eines Hauses dringt? Wer möchte leugnen, daß die milde Frühlingsluft das Innere der Erde erwärmt, die des Winters Eis in Fessel geschlagen hat? Man kennt die verborgene Gewalt, welche Wärme und Kälte in den Bäumen äußern, so groß, daß deren Wurzeln entweder vor Kälte ersterben oder unter dem belebenden Hauch der Sonne zu treiben anfangen. Wo milder Himmel lacht, da ergießt sich denn auch die Erde in mannigfaltigen Fruchtsegen.

56. Wenn nun der Sonnenstrahl sein Licht über die ganze Erde ausgießt und in verschlossene Räume dringt und selbst durch eiserne Riegel oder schwere Türbalken sich nicht am Eindringen hindern läßt, wie sollte Gottes unsichtbarer Lichtglanz nicht den Weg in des Menschen Sinn und Herz sich bahnen können, die er erschaffen hat? Wie sollte er vielmehr sein eigenes Werk nicht schauen und bewirkt haben, daß die Geschöpfe besser sind und mehr vermögen als er selbst, ihr Schöpfer, so daß sie sich nach Belieben der Kenntnis ihres Schöpfers entziehen können? Eine so fabelhafte Kraft und Macht soll er unserem Geiste eingesenkt haben, daß er, selbst wenn er wollte, sie nicht mehr zu beherrschen vermag?

XV. Kapitel: Von der göttlichen Vorsehung

Die Leugner einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits straft die Parabel vom armen Lazarus

57. Zwei Punkte haben wir erledigt, und nicht ungelegen kam uns, wie wir glauben, diese Erörterung. Noch erübrigt eine dritte Frage dieser Art: Warum haben Sünder Überfluß an Schätzen und Reichtümern, zechen in einemfort sonder Kummer, sonder Trauer, während dagegen Gerechte Not leiden und den Verlust von Gatten und Kindern zu beklagen haben? Solchen sollte jene Parabel im Evangelium den Mund schließen. Der Reiche kleidete sich in Byssus und Purpur und hielt täglich üppige Gelage, der Arme aber sammelte, mit Geschwüren vollbedeckt, die Überbleibsel von dessen Tisch. Nach dem Tode beider aber befand sich der Arme, der Ruhe genießend, im Schoße Abrahams, der Reiche hingegen in Qualen. Geht daraus nicht klar hervor, daß einen nach dem Tode je nach Verdienst entweder Lohn oder Strafe erwartet?

und die Lehre des hl. Paulus Lügen. Gott straft und lohnt einstens nach Verdienst

S. 39 58. Und mit Recht harrt, weil Kampf Mühe erheischt, nach dem Kampfe des einen Sieg, des anderen Beschämung. Oder wird denn einem vor der Vollendung des Laufes die Palme gereicht, die Krone verliehen? Mit Recht versichert Paulus: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt. Im übrigen ist mir die Krone der Gerechtigkeit hinterlegt, die mir der Herr an jenem Tag geben wird, der gerechte Richter, nicht allein aber mir, sondern auch denen, die seine Ankunft lieben“. „An jenem Tage“, heißt es, wird er sie geben, nicht schon hier. Hier aber kämpfte er als ein guter Streiter in Mühen, in Gefahren, in Schiffbrüchen; denn er wußte, daß wir durch viele Trübsale ins Reich Gottes eingehen müssen. Keiner kann sonach den Preis empfangen, der nicht rechtmäßig gekämpft hat. Und es gibt keinen ruhmvollen Sieg ohne mühevollen Kampf.

XVI. Kapitel: Von der göttlichen Vorsehung =

Die Siegeskrone winkt nur dem Tugendstreiter

S. 40 59. Ist der nicht ungerecht, der den Preis gibt, bevor der Kampf beendet ist? Daher der Ausspruch des Herrn im Evangelium: „Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich!“ Er sprach nicht: selig die Reichen, sondern: die Armen. So fängt also nach göttlichem Urteil die Seligkeit da an, wo menschliche Meinung nur Elend erblickt. „Selig die Hungernden; denn sie werden gesättigt werden! Selig die Trauernden; denn sie werden Trost finden! Selig die Barmherzigen; denn ihrer wird auch Gott sich erbarmen! Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen! Selig, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgung leiden; denn ihrer ist das Himmelreich! Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles Böse wider euch reden werden um der Gerechtigkeit willen! Freut euch und frohlocket; denn euer Lohn ist groß im Himmel!“ Einen zukünftigen, nicht gegenwärtigen Lohn versprach er; im Himmel, nicht auf der Erde ist er auszuzahlen. Was forderst du hier, was dir an einem anderen Ort gebührt? Was verlangst du vorzeitig die Krone, bevor du siegst? Was wünschst du den Staub abzuschütteln, was auszuruhen, was verlangst du nach Speise, bevor die Rennbahn durchlaufen ist? Noch sieht das Volk zu, noch stehen die Wettkämpfer auf dem Kampfplatz: und du verlangst bereits nach Muße?

der Gottlose begnügt sich mit der Rolle des müßigen Zuschauers

60. Doch vielleicht möchtest du einwenden: Warum S. 41 geben sich die Gottlosen dem Vergnügen, warum der Ausgelassenheit hin? Warum teilen nicht auch sie die Mühe und Arbeit mit mir? Weil die, welche sich nicht um die Siegeskrone bewerben, auch nicht zur Kampfesmühe sich angehalten fühlen. Wer nicht in die Rennbahn tritt, salbt sich nicht mit Öl, beschmutzt sich nicht mit Staub. Kämpfer, deren Ruhm harren soll, erwartet Ungemach. Salbenduftende Weichlinge pflegen zuzuschauen, nicht zu kämpfen, nicht Sonne, Hitze, Staub und Regen zu ertragen. Wohl mag auch an sie die Aufforderung der Kämpfenden ergehen: Kommt, teilt die Kampfesmühe mit uns! Doch als Zuschauer werden sie antworten: Wir spielen hier inzwischen eure Richter; ihr aber werdet euch auch ohne uns, wenn ihr siegt, den Ruhm sichern.

Seiner harrt die Strafe

61. Solche Leute nun, die ihr Sinnen und Trachten auf Genuß, auf Völlerei, Erpressung, Erwerb und Ehren richten, sind mehr Zuschauer denn Streiter. Sie ziehen Vorteil aus der Arbeit, keine Frucht aus der Tugend. Sie pflegen des Müßigganges, scharren in List und Ungerechtigkeit Haufen von Reichtümern zusammen. Doch wenn auch spät: sie werden für ihre Schlechtigkeit Strafe erleiden. Ihre Ruhe ist in der Hölle, die deinige aber im Himmel; ihre Behausung ist im Grabe, die deinige im Paradiese. Darum der schöne Ausspruch Jobs: sie wachen im Grabe, weil sie des Schlafes der Ruhe nicht genießen können, den jener schlief, der auferstanden ist.

Mit zeitlichen Gütern gesegnet, soll er dereinst keine Entschuldigung haben

62. Sei also nicht unverständig wie ein Kind, rede nicht wie ein Kind, denke nicht wie ein Kind, maße dir nicht wie ein Kind etwas an, was einer späteren Zeit vorbehalten ist! Die Krone gebührt den Vollendeten. Mache dich gefaßt, daß die Vollendung kommt! Dann magst du nicht im rätselhaften Bilde, sondern von Angesicht zu Angesicht die Gestalt der enthüllten Wahrheit selbst erkennen. Dann wird offenbar werden, S. 42 warum der Ungerechte und Erpresser fremden Gutes reich, warum ein anderer mächtig, warum ein dritter mit zahlreichen Kindern gesegnet, wieder ein anderer mit Ehren bedacht war.

63. Vielleicht soll zum Erpresser einmal gesprochen werden: Du warst reich, warum raubtest du fremdes Gut? Nicht Not trieb dich, nicht Armut zwang dich hierzu. Habe ich dich nicht deshalb reich werden lassen, um dir keine Ausrede zu ermöglichen? Ebenso soll zum Mächtigen gesprochen werden: Warum standst du den Witwen, ferner den Waisen nicht bei, da sie Unrecht litten? Warst du zu schwach hierzu? Warst du außerstande, Hilfe zu leisten? Darum habe ich dich mächtig gemacht, nicht daß du Gewalttat übest, sondern verhütest. Galt dir nicht das Schriftwort: „Rette den, dem Unrecht widerfährt“? Galt dir nicht das Schriftwort: „Befreiet den Armen und Notleidenden aus der Hand des Sünders“? Desgleichen soll zum Reichen gesprochen werden: Mit Kindern und Ehren habe ich dich reich bedacht, leibliche Gesundheit dir geschenkt: warum befolgtest du meine Gebote nicht? Mein Diener, was habe ich dir getan oder womit dich betrübt? Habe nicht ich dir die Kinder gegeben, die Ehren verliehen, die Gesundheit geschenkt? Warum hast du mich verleugnet? Warum glaubtest du, dein Tun dringe nicht zu meinem Wissen? Warum behieltest du meine Gaben, hieltest du nicht meine Gebote?

64. Am Verräter Judas mag man denn dies erschließen. Er war zum Apostel unter den Zwölfen erkoren und erhielt die Geldmünzen anvertraut, die er an die Armen verteilen sollte. Es sollte nicht scheinen, als habe er den Herrn verraten, weil er nicht genugsam geehrt, oder weil er in Not war. Gerade deshalb gab sie ihm der Herr, daß er an ihm gerechtfertigt würde. Nicht aus Erbitterung über ein Unrecht, sondern S. 43 aus Mißbrauch seines Gnadenamtes machte er sich der um so größeren Beleidigung schuldig.

XVII. Kapitel: Von den Pflichten der heranwachsenden Jugend =

65. Da nun hinlänglich klar ist, daß einerseits der Ungerechtigkeit Strafe, andrerseits der Tugend Lohn harrt, wollen wir an die Besprechung jener Pflichten herantreten, auf die wir von Jugend auf unser Augenmerk richten sollen, damit sie zugleich mit den fortschreitenden Jahren an Wachstum zunehmen. Braven Jünglingen nun geziemt Gottesfurcht, Ehrerbietung gegen die Eltern, Ehrfurcht vor dem Alter, Wahrung der Keuschheit, unverdrossene Übung der Demut, Liebe zur Sanftmut und zur Sittsamkeit, welche das jüngere Alter zieren. Wie nämlich für das Alter der Ernst und für die erwachsene Jugend der Frohsinn, so bildet für die heranwachsende Jugend die Sittsamkeit gleichsam die natürliche Mitgift, die sie empfiehlt.

Biblische Vorbilder

66. Isaak war schon als Sprößling Abrahams gottesfürchtig und von solcher Ehrerbietung gegen den Vater, daß er sich wider des Vaters Willen nicht einmal dem Tod widersetzte. Auch Joseph war, obgleich es ihm geträumt hatte, daß die Sonne und der Mond und die Sterne ihm huldigten, voll Dienstbeflissenheit gegen den Vater, ferner keusch, so daß er nur ehrbare Rede hören wollte, demütig bis zum Sklavendienst, sittsam bis zur Flucht, geduldig bis zur Kerkerhaft, zur Verzeihung des Unrechts bereit bis zur Belohnung desselben. So groß war seine Schamhaftigkeit, daß er, S. 44 von einem Weibe ergriffen, lieber fliehend sein Kleid in deren Händen zurücklassen als seine Schamhaftigkeit preisgeben wollte. Auch Moses und Jeremias, vom Herrn zur Verkündigung der göttlichen Aussprüche an das Volk erwählt, entschuldigten sich in heiliger Scheu über das Unterfangen, zu dem sie kraft der Gnade ermächtigt waren.

XVIII. Kapitel: Von der Sittsamkeit =

Sie bekundet sich im Reden

67. Schön ist die Tugend der Sittsamkeit und hold ihr Reiz. Nicht nur im Handeln, sondern selbst im Reden tritt sie zutage: man überschreite nicht das Maß beim Sprechen; die Rede lasse nichts Unziemliches verlauten! Im Worte spiegelt sich ja so häufig das Bild des Geistes. Sogar den Ton der Stimme wägt die Eingezogenheit ab, daß nicht eine zu kräftige Stimme das Ohr des Hörers verletze. So besteht schon beim Singen und überhaupt bei jedem Gebrauch der Sprache die erste Schulung in bescheidener Zurückhaltung. Erst nach und nach soll einer zu psallieren oder zu singen oder endlich zu sprechen anfangen, damit die bescheidenen Anfänge vielversprechend für den Fortschritt werden.

noch mehr im Schweigen

68. Gerade das Stillschweigen, die Mußezeit der übrigen Tugenden, ist das Wichtigste in der Sittsamkeit. Dasselbe gilt denn auch, wenn kindisches S. 45 Unvermögen oder aber Stolz dahinter vermutet wird, für eine Schande, wenn Sittsamkeit, für etwas Lobenswertes. Susanna schwieg in der Gefahr; sie erachtete den Verlust der Schamhaftigkeit für schlimmer als den des Lebens und glaubte nicht ihre Reinheit auf das Spiel setzen zu sollen, um so ihr Leben zu wahren. Nur mit Gott sprach sie, mit dem sie sich in keuscher Sittsamkeit aussprechen konnte. Sie vermied es, den Männern ins Gesicht zu sehen; denn auch in den Augen verrät sich die Schamhaftigkeit, so daß eine Frau weder Männer anblicken noch davon sich anblicken lassen will.

Sie ist die Genossin der Keuschheit

69. Niemand aber glaube, dieses Lob gebühre allein nur der Keuschheit. Denn die Keuschheit hat zur Gefährtin die Sittsamkeit, in deren Gefolge die Keuschheit selbst sicherer ist. Eine gute Gefährtin und Führerin der Keuschheit ist die Schamhaftigkeit. Indem sie ihren Schild wehrend gegen die ersten Regungen der Gefahr hält, läßt sie keine Verletzung der Keuschheit zu. Sie vor allem nimmt die Schriftleser schon auf den ersten Blick für die Mutter des Herrn ein und läßt als vollgültige Zeugin dieselbe als würdig für die Erwählung zu einem solchen Berufe erscheinen. Sie weilt im Gemache, weilt allein, sie schweigt auf des Engels Gruß und ist bestürzt bei dessen Eintritt, weil der Blick der Jungfrau auf die ungewohnte Erscheinung einer Mannesperson in Verwirrung gerät. Obschon demütig, erwiderte sie doch aus Sittsamkeit den Gruß nicht und antwortete erst dann, als sie von ihrer Berufung zur Mutter des Herrn vernahm, um die Art des Vollzuges kennen zu lernen, nicht um die Anrede zu erwidern.

macht das Gebet Gott wohlgefällig

70. Auch bei unserem Gebete zieht die Eingezogenheit viel Wohlgefallen nach sich und erwirbt uns viel Gnade bei unserem Gott. Gereichte nicht sie dem S. 46 Zöllner, der nicht einmal seine Augen zum Himmel aufzuschlagen wagte, zur Auszeichnung und Empfehlung. Er geht nach dem Urteil des Herrn gerechtfertigter weg als der Pharisäer, den seine Anmaßung so widerlich machte. So laßt uns denn, wie Petrus mahnt, „in der Unversehrtheit eines stillen und bescheidenen Geistes beten, der vor Gott reich ist!“ Etwas Großes muß es also um die Bescheidenheit sein, die sogar, des eigenen Rechtes lieber entsagend, sich nichts anmaßt, nichts aneignet, und mehr auf sich selbst sich beschränkend „vor Gott reich ist“, vor dem niemand reich ist. Reich ist die Bescheidenheit, weil sie Gottes Anteil ist. Auch Paulus gebot, das Gebet in Eingezogenheit und Nüchternheit zu verrichten. Diese Eingezogenheit wünscht er an erster Stelle und gleichsam als die Vorläuferin des nachfolgenden Gebetes, daß es nicht eines Sünders ruhmrediges Gebet werde, sondern ein Gebet, das gleichsam in die Farbe errötender Scham gehüllt, um so reichlichere Gnade verdient, je größere Beschämung es beim Gedanken an die Sünde auslöst.

offenbart sich in Haltung und Gang

71. Ebenso ist auch in Bewegung, Haltung und Gang Sittsamkeit zu beobachten. Denn in der Haltung des Körpers verrät sich der Zustand des Geistes. Danach hält man den „verborgenen Menschen unseres Herzens“ entweder für mehr leichtfertig oder prahlerisch oder ungestüm, oder aber für mehr ernst, beständig, lauter und reif. Durch die Körperbewegung spricht also gleichsam die Stimme des Geistes.

72. Ihr erinnert euch, meine Söhne, an einen Freund, der, obschon er sich durch fleißige Dienstverrichtungen zu empfehlen schien, nur allein darum von mir nicht in den Klerus aufgenommen wurde, weil S. 47 seine Haltung so unziemlich war; wie ich ebenso einem anderen, als ich ihn unter dem Klerus entdeckt hatte, verbot, je einmal an mir vorüberzugehen, weil sein kecker Gang mein Auge verletzte. Und zwar sagte ich ihm das, als er nach einer Verfehlung von neuem in sein Amt eingesetzt wurde. Diese einzige Ausstellung machte ich, und das Urteil trog nicht; denn beide Kleriker fielen von der Kirche ab. Sie entpuppten sich in ihrer inneren Nichtsnutzigkeit als das, als was sie bereits das äußere Auftreten verriet. Der eine nämlich verleugnete in der Zeit der arianischen Verfolgung den Glauben; der andere sagte sich aus Geldgier von uns los, um nicht dem priesterlichen Gerichte zu verfallen. Ihr Gang spiegelte das Bild der Leichtfertigkeit, sozusagen das Bild von herumziehenden Possenreißern.

73. Es gibt auch solche, die zu gemächlich einhergehen, dabei wie Gaukler sich gebärden und gleichsam die Tragbahren auf den Umzügen und die Bewegungen der wackelnden Statuen nachahmen. Sie scheinen bei jedem Schritt, den sie tun, eine Art Rhythmus einhalten zu wollen.

74. Auch das Laufen halte ich nicht für anständig, außer wenn irgendeine begründete Gefahr oder gerechte Notwendigkeit es erfordert. Wir sehen so manchmal Leute außer Atem dahineilen und das Gesicht verzerren. Fehlt ihnen der Grund zu einer notwendigen Eile, liegt darin ein Mangel, an dem man sich mit Recht stößt. Aber nicht von denen rede ich, für die sich mit Grund ein seltener Anlaß zur Eile ergibt, sondern denen ständige und fortwährende Hast zur Natur geworden ist. Ich kann weder an jenen ersteren es billigen, wenn sie wie Götzenbilder auftreten, noch an letzteren, wenn sie sich überstürzen, als hätte man sie fortgejagt.

S. 48 75. Es gibt auch einen löblichen Gang. Er muß in der äußeren Haltung Würde und gemessenen Ernst und ruhigen Schritt wahren, doch so, daß Absichtlichkeit und Gesuchtheit unterbleibt, die Bewegung vielmehr natürlich und schlicht ist; denn kein Falsch gefällt, natürlich sei die Bewegung! Haftet wirklich der Natur ein Fehler an, mag natürliche Geschicklichkeit ihn beseitigen; Künstelei sei ausgeschlossen, nicht Abhilfe.

Von ihrer Verletzung in Wort

76. Wenn schon diese Dinge von einem höheren Gesichtspunkt sich ins Auge fassen lassen, wieviel mehr hat man sich zu hüten, daß dem Munde nichts Schändliches entschlüpft? Das wäre eine schwere Verunreinigung des Menschen. Denn nicht die Speise verunreinigt, sondern ungerechte Schmährede, unlautere Worte. Das gereicht schon dem gewöhnlichen Mann zur Schande. In unserem Amte aber könnte kein unanständiges Wort fallen, das nicht die Sittsamkeit verletzen würde. Und wir dürfen nicht bloß selbst nichts Unziemliches sprechen, sondern derartigen Worten auch nicht unser Ohr leihen, wie Joseph sein Kleid zurückließ und floh, um nichts zu hören, was sich für seine Schamhaftigkeit nicht schickte. Wer nämlich vergnüglich zuhört, reizt den anderen zum Reden.

und Blick

77. Schon der Gedanke an etwas Schändliches macht tief erröten. Welchen Schauder aber löst nicht der Anblick aus, wenn einem zufällig etwas Derartiges begegnet! Was nun an anderen mißfällt, kann etwa das an sich selbst Gefallen erwecken? Belehrt uns nicht die Natur selbst darüber? Wohl ließ sie sämtlichen Körperteilen an uns eine volle Entwicklung angedeihen, um sowohl den Bedürfnissen Rechnung zu tragen, wie für zierliche Anmut zu sorgen. Jene indes, die einen lieblichen Anblick gewähren, in denen wie auf ragender Burg der Gipfel der Schönheit, die Lieblichkeit der S. 49 Gestalt und der Reiz des Antlitzes aufleuchten, die rascher zu praktischem Gebrauch bereitstehen sollten, ließ sie frei und bloß. Jenen hingegen, die nur einem natürlichen Bedürfnisse dienen sollten, wies sie teils, um nicht einen abstoßenden Anblick zu gewähren, am Leibe selbst eine abgelegene und verborgene Stelle an, teils gab sie Anleitung und Anregung, dieselben zu verhüllen.

Die Schamhaftigkeit gegen sich selbst ein Gebot der Natur, der Sitte, der Hl. Schrift

78. Ist also nicht die Natur selbst die Lehrmeisterin der Sittsamkeit? Nach ihrem Vorgang hat menschliche Wohlanständigkeit, deren Name (modestia), wie ich glaube, vom Maß (modus) des Wissens um das Schickliche herkommt, das Verborgene, das sie an diesem unseren Körperbau vorfand, verhüllt und bedeckt, wie jene Türe, die auf Geheiß des gerechten Noë in der Arche anzubringen war, die entweder ein Sinnbild der Kirche oder unseres Leibes war. Durch sie sollten die Speisereste abgesondert werden. So sehr war also der Schöpfer der Natur auf unsere Sittsamkeit bedacht; so sehr schätzte er das Schickliche und Ehrbare an unserem Leibe, daß er gleichsam unsere Kanalleitungen und -ausgänge an die Rückseite versetzte und unserem Anblick entzog, daß nicht die Entleerung des Bauches den Blick des Auges verletze. Der Apostel knüpft hieran die schöne Erwägung: „Die Glieder des Leibes, welche die schwächeren zu sein scheinen, sind die notwendigen; und die als minder edle Glieder des Leibes gelten, diese umgeben wir mit reichlicherer Ehre; und die unanständigen an uns erfahren die reichlichere Wohlanständigkeit“. In Nachahmung der Natur nämlich steigerte noch beflissene Sitte den Anstand. An einer anderen Stelle legten wir auch noch den höheren Sinn jener Schriftstelle aus. Wir S. 50 verbergen aber nicht bloß die Glieder, die wir als solche empfangen haben, vor unseren Augen, sondern halten es auch für unanständig, ihre Bezeichnung und ihren Gebrauch mit Namen anzuführen.

79. So errötet denn auch die Schamhaftigkeit vor einer zufälligen Entblößung dieser Glieder; absichtliche Entblößung gilt für unschamhaft. Noës Sohn Cham zog sich eben darum Ungnade zu, weil er beim Anblick des entblößten Vaters lachte; die Söhne aber, die den Vater zudeckten, empfingen das Gnadengeschenk des Segens. Es war daher auch alte Sitte sowohl in der Stadt Rom wie in den meisten sonstigen Städten, daß erwachsene Söhne nicht gemeinsam mit ihren Vätern, oder Schwiegersöhne mit ihren Schwiegervätern baden durften, damit die väterliche Autorität und Achtung nicht darunter litte. Übrigens bedeckt man sich zumeist auch im Bade nach Tunlichkeit, damit nicht einmal hier, wo der ganze Körper entblößt ist, ein solcher Teil unbedeckt bleibe.

80. Auch die Priester erhielten nach alter Sitte Beinkleider, wie wir es im Buche Exodus lesen. So erging an Moses das Wort vom Herrn: „Und du sollst ihnen linnene Beinkleider machen lassen, um die Blöße ihrer Scham zu bedecken. Von den Lenden bis zu den Schenkeln sollen sie reichen. Und Aaron und seine Söhne sollen sie tragen, so oft sie in das Zelt des Zeugnisses eintreten und so oft sie zum Altare hintreten werden zu opfern; und sie sollen sich nicht mit Sünde bedecken, um nicht zu sterben“. Manche von uns sollen das auch jetzt noch beobachten; meist legt man es aber im geistigen Sinn aus und glaubt, der Ausspruch beziehe sich auf die Behütung der Schamhaftigkeit und die Wahrung der Keuschheit.

XIX. Kapitel: Von der Sittsamkeit

Sie schickt sich für jedes Alter, am meisten für das jugendliche

S. 51 81. Es hat mir Vergnügen gemacht, etwas länger bei den Funktionen der Sittsamkeit zu verweilen, weil ich zu euch redete, die ihr entweder ihr Gutes aus eigener Erfahrung kennt, oder von ihrem Verluste nichts wißt. Sie ist jedem Alter, jeder Person, Zeit und Örtlichkeit angemessen, schickt sich aber am meisten für die Heranwachsenden und Jugendlichen.

82. Bei jedem Alter ist darauf zu achten, daß man tut, was sich ziemt, und daß die Lebensordnung im Einklang und in Übereinstimmung mit sich selbst bleibt. Daher hält Tullius dafür, es müsse auch im Schicklichen Ordnung gewahrt werden, und behauptet, es liege „in der Anmut, Anordnung und Zierlichkeit, die einer Handlung entsprechen“, Dingen, die sich mit Worten, wie er beifügt, schwerlich darlegen lassen; es genüge darum, daß man sie fühle.

Ihr Verhältnis zur leiblichen Schönheit

83. Warum er gerade die leibliche Schönheit anführte, verstehe ich nicht; übrigens gilt sein Lob auch den Kräften des Leibes. Wir verlegen jedenfalls die Tugend nicht in die Körperschönheit. Wir schließen freilich deren Anmut nicht aus, weil die Sittsamkeit gerade auch das Antlitz mit Schamröte zu bedecken und reizender zu machen pflegt. Wie nämlich des Künstlers Schaffen in der Regel an einem geschmeidigeren Stoff besser hervortritt, so leuchtet auch die Sittsamkeit gerade aus der leiblichen Anmut mit S. 52 erhöhtem Glanze hervor. Doch soll auch die leibliche Schönheit nichts Gekünsteltes, sondern etwas Natürliches sein: einfach, eher vernachlässigt denn gesucht, nicht in kostbare und glänzende Gewänder gehüllt, um ihr nachzuhelfen, sondern in gewöhnliche, so daß der Ehrbarkeit oder dem Bedürfnis kein Eintrag geschieht, die natürliche Anmut ohne künstliche Zutat bleibt.

Sie muß in Stimme und Haltung etwas Männliches wahren, von Weichlichkeit und Derbheit sich gleich weit entfernt halten

84. Selbst die Stimme soll nicht weichlich, nicht gebrochen sein, nicht weibisch klingen, wie es sich viele unter dem Schein des Würdevollen angewöhnt haben; sie soll vielmehr in Ausdruck, Modulierung und Kraft etwas Männliches wahren. Das heißt eine schöne Lebensweise einhalten: sich so geben, wie es seinem Geschlecht und seiner Person ziemt. Das ist die beste Handlungsweise, das die rechte Zier für jedes Tun. Doch wie ich nichts Weichliches und Schwächliches im Ton der Stimme und in der Körperhaltung billigen kann, so auch nichts Rohes und Bäuerisches. Ahmen wir die Natur nach! Ihr Bild spiegelt die Norm der Zucht, die Norm der Ehrbarkeit wider.

XX. Kapitel: Von der Sittsamkeit =

Sie flieht die Gesellschaft der Genußmenschen

85. Die Sittsamkeit hat freilich auch ihre Klippen, nicht solche, die sie selbst mit sich führt, sondern in die sie hineingerät, wenn wir in die Gesellschaft ausschweifender Menschen fallen, die unter dem Schein der Lustbarkeit Gift in die Guten träufeln. Sind sie ständig um einen, insbesonders bei Mahl, Spiel und Scherz, entnerven sie den männlichen Ernst. Hüten wir uns darum, S. 53 daß wir nicht, während wir geistige Abspannung suchen, die ganze Harmonie, sozusagen den Einklang unseres guten Handels und Wandels zerstören! Denn Gewohnheit verkehrt rasch die Natur.

Kleriker sollen Gastmähler der Laien

86. Es entspricht sonach, wie ich glaube, einem klugen kirchlichen Wandel, wie insbesonders dem Dienste von Kirchendienern, daß ihr die Gastmähler von Laien meidet, sei es um selbst Gastfreundschaft gegen Fremde zu üben, sei es um durch solche Vorsicht nicht schlimmer Nachrede Raum zu geben. Machen doch auch Gastmähler von Laien ihre Ansprüche. Sodann verraten sie auch Genußsucht. Oft laufen auch Possen mitunter, welche die Welt und ihre Lustbarkeiten zum Gegenstand haben. [:] Die Ohren kann man nicht schließen,[;] sie verbieten gälte für [gelten als] Anmaßung. Auch mehr Becher, als man wünscht, laufen unter [machen die Runde]. Besser ist es, einmal im eigenen, als wiederholt im fremden Hause Entschuldigung stammeln zu müssen und seinerseits nüchtern aufstehen zu können. Gleichwohl dürfte man wegen der Ausgelassenheit anderer deine Beteiligung noch nicht verurteilen.

Besuche bei Witwen und Jungfrauen meiden

87. Besuche jüngerer Kirchendiener in den Häusern von Witwen und Jungfrauen sind unstatthaft, außer zum Zwecke einer Visitation, und auch da nur im Beisein von Älteren, d. i. des Bischofs oder, wenn ein wichtigerer (Verhinderungs-) Grund vorhanden ist, von Presbytern. Was tut es not, Weltleuten Anlaß zu übler Nachrede zu geben? Was brauchen jene häufigen Besuche auch noch den Charakter von Amtsbesuchen annehmen? Wie, wenn eine von jenen Personen etwa fallen sollte? Was willst du das Odiose fremden Falles auf dich nehmen? Wie viele, selbst starke Männer hat die verlockende Gelegenheit schon verführt! Wie viele haben zwar nicht der Verirrung, aber dem Verdacht Raum gegeben!

ihre freie Zeit lieber auf Schriftlesung und fromme Übungen verwenden

88. Warum willst du nicht die Zeit, die dir vom Kirchendienst erübrigt, auf die (Schrift-) Lesung verwenden? Warum nicht Christus besuchen, mit Christus S. 54 sprechen, Christus hören? Mit ihm sprechen wir, wenn wir beten; ihn hören wir, wenn wir die göttlichen Aussprüche lesen. Was haben wir in fremden Häusern zu suchen? Ein Haus gibt es, das alle aufnimmt. Jene sollen lieber zu uns kommen, wenn sie uns benötigen. Was haben wir mit Possen zu tun? Den Altardienst Christi, nicht Menschendienst haben wir zur Verrichtung übernommen. 89. Demütig müssen wir sein, milde, sanft, ernst, geduldig, in allem maßvoll, daß weder der stumme Blick, noch die Rede irgendeine Schwäche an unserem sittlichen Verhalten verrate.

XXI. Kapitel: Vom Zorn =

Er ist vor der Aufwallung zu verhüten, oder doch in der Aufwallung zu dämpfen, nach der Aufwallung zu überwinden

90. Man hüte sich vor Zorn! Oder kann man ihm nicht vorbeugen, dämpfe man ihn! Denn die Erbitterung ist eine schlimme Verführerin zur Sünde. Sie verwirrt die Seele, so daß sie vernünftiger Überlegung nicht mehr fähig ist. Das erste nun ist, daß einem womöglich durch eine Art Gewöhnung, durch Herzensbildung und Vorsatz die Ruhe im Verhalten zur zweiten Natur werde. Weil sodann die Zornesregung zumeist so tief dem natürlichen Charakter anhaftet, daß sie sich nicht (von vornherein) ausrotten oder verhüten läßt, unterdrücke man sie durch die Vernunft, wenn man sie voraussehen kann. Oder aber man überlege, wenn die Seele von Erbitterung erfaßt wurde, bevor sich durch Überlegung dagegen vorbauen und vorsehen ließ, wie man die seelische Erregung überwinden, den Jähzorn dämpfen könne. Widersteh dem Zorn, wenn S. 55 du es kannst; weich ihm, wenn du es nicht kannst! Denn es steht geschrieben: „Gebt Raum dem Zorn [Gottes]!“.

Das vorbildliche Beispiel des Patriarchen Jakob

91. Jakob ging dem zürnenden Bruder aus dem Weg und wollte lieber, von Rebekka, d. i. von der Geduld beraten, in der Ferne und Fremde weilen, als den Unwillen des Bruders reizen, und erst dann zurückkehren, als er den Bruder besänftigt glaubte. So fand er denn auch so große Gnade bei Gott. Mit welchen Liebenswürdigkeiten sodann, mit welch großen Geschenken machte er sich den Bruder selbst geneigt, so daß dieser nicht mehr des vorweggenommenen Segens gedachte, sondern nur der geleisteten Genugtuung eingedenk war!

92. Wenn also Zorn dein Gemüt überrascht und überrumpelt und in dir aufsteigt, weich nicht von deinem Standpunkt! Dein Standpunkt ist die Geduld, dein Standpunkt ist die Weisheit, dein Standpunkt ist die Vernunft, dein Standpunkt ist die Dämpfung des Unwillens. Oder regt dich die Frechheit auf, mit der einer antwortet, oder reizt dich seine Verkehrtheit zum Unwillen, bezähme deine Zunge, falls du den Sinn nicht besänftigen kannst! Denn so steht geschrieben: „Halt deine Zunge und deine Lippen im Zaum, daß sie nicht Trug reden!“ Ferner: „Suche Frieden und geh ihm nach!“ Betrachte jene Friedfertigkeit des heiligen Jakob, mit der du allererst deinen Sinn besänftigen solltest! Vermagst du das nicht, so lege deiner Zunge Zügel an! Sodann unterlaß die Bemühung um die Wiederversöhnung nicht! Die weltlichen Redner haben diese Grundsätze von den Unsrigen entlehnt und in ihren Schriften niedergelegt. Doch der Vorzug dieser Auffassung gebührt dem, der sie zuerst vorgetragen hat.

und der Kinder

S. 56 93. So laßt uns also den Zorn meiden, oder aber dämpfen, daß er nicht in unserem lobenswerten Betragen eine Ausnahme bilde, in unserem sündigen Verhalten die Schuld mehre! Nichts Geringes ist es, den Zorn zu besänftigen; nichts Geringeres, als sich überhaupt nicht aufzuregen. Ersteres ist unser Verdienst, letzteres glückliche Naturanlage. Bei Kindern nehmen sich denn auch Zornesregungen harmlos aus; sie sind mehr drollig denn widerlich. Und kommen auch Kinder unter sich rasch in Aufregung, lassen sie sich doch rasch besänftigen und begegnen sich wiederum in um so größerer Freundlichkeit. Sie wissen nichts von hinterlistigem und ränkevollem Benehmen. Verachtet diese Kinder nicht! Der Herr sagt von ihnen: „Wenn ihr euch nicht bekehrt und werdet wie dieses Kind, werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen“. Der Herr selbst, d. i. Gottes Kraft hat gleich einem Kinde, da er geschmäht wurde, die Schmähung nicht erwidert; da er geschlagen wurde, den Schlag nicht zurückversetzt. Mache den Vergleich mit dir! Halte gleich einem Kinde nicht am Unrecht fest! Sei nicht bösartig! Alles geschehe deinerseits in Unschuld! Schaue nicht auf das, was dir von anderen vergolten wird! Behaupte deinen Standpunkt und wahre die Aufrichtigkeit und Lauterkeit deines Herzens! Erwidere dem Zornigen nicht auf seinen Zornesausbruch, noch dem Unverständigen auf seinen Unverstand! Rasch löst Schuld wiederum Schuld aus. Wenn man den Stein am Steine reibt, schlägt nicht Feuer hervor?

Vor der Philosophie hat längst die Hl. Schrift die einschlägigen Grundsätze ausgesprochen

94. Die Heiden erzählen, wie sie alles mit Worten aufzubauschen pflegen, von einem Ausspruch des Philosophen Archytas aus Tarent, den er an seinen Verwalter richtete: „Du Unseliger, wie würde ich dich schlagen, wenn ich nicht im Zorn wäre!“ Doch schon David hatte die im Unwillen erhobene bewaffnete S. 57 Rechte sinken lassen. Und wieviel mehr besagt eine Schmähung nicht erwidern, als keine Strafe verhängen? Und zwar hatte Abigail durch bloße Bitten den wider Nabal zur Rache bereitstehenden Krieger davon abgewendet. Daraus sehen wir, daß wir selbst schon dringlichen Bitten nicht bloß nachgeben, sondern sogar darüber uns freuen sollten. So sehr aber war David darüber erfreut, daß er die Fürbittende segnete, weil er durch sie von Rachegelüsten abgewendet wurde.

95. Schon hatte er über seine Feinde geklagt: „Denn Missetat wälzten sie auf mich, und im Zorn fielen sie mir lästig“. Hören wir nun, was der Zornerregte gesprochen: „Wer gibt mir Flügel gleich der Taube, und ich will fliegen und Ruhe finden“. Sie reizten ihn zum Zorne, er aber zog die Ruhe vor.

96. Schon hatte er gesprochen: „Zürnet, doch sündiget nicht!“ Als ein Sittenlehrer, der wußte, daß eine natürliche Regung durch vernünftige Lehre mehr gezügelt als getilgt werden muß, gibt er seine Sittenvorschriften. Er will sagen: Zürnet, sobald ein Verschulden vorliegt, dem ihr zürnen sollt! Denn es ist unmöglich, daß wir uns nicht über nichtswürdige Dinge aufregen. Andernfalls müßte darin nicht sowohl Tugend, sondern Stumpfsinn und Gleichgültigkeit erblickt werden. Zürnet also in der Weise, daß ihr von Schuld euch fernhaltet! Oder so: Wenn ihr zürnet, sündiget nicht, sondern überwindet kraft der Vernunft den Zorn! Oder aber so: Wenn ihr zürnet, zürnet euch selbst, weil ihr euch zum Zorn fortreißen ließet, und ihr werdet nicht sündigen. Denn wer sich selbst zürnt weil er so rasch zum Zorn sich fortreißen ließ, hört auf, dem Nächsten zu zürnen; wer aber seinen Zorn als berechtigt erscheinen lassen will, erhitzt sich noch mehr und fällt rasch in Schuld. Besser aber ist nach Salomo, wer den S. 58 Zorn bezwingt, als wer eine Stadt einnimmt; denn der Zorn beirrt selbst Starke.

97. So müssen wir uns denn hüten, in Aufregung zu geraten, bevor die Vernunft unsere Seele in die rechte Verfassung versetzt. Gar häufig nämlich bringen Zorn oder Schmerz oder Todesfurcht den Geist aus der Fassung und treffen ihn mit unvorhergesehenem Schlag. Darum ist es schön, durch Denken, das den Geist schult, zuvorzukommen, daß er nicht in plötzlichen Erregungen aufbrause, sondern gleichsam im Joch und Zügel der Vernunft sich besänftige.

XXII. Kapitel: Vom Schicklichen im Reden =

Die seelischen Funktionen des Denkens und Begehrens

98. Die Regungen der Seele sind zweierlei, die des Denkens und des Begehrens; die einen, die des Denkens, die anderen, die des Begehrens, beide nicht vermischt, sondern verschieden und ungleichartig. Das Denken hat zur Aufgabe, das Wahre zu erforschen und sozusagen herauszuschälen; das Begehren treibt und reizt zum Handeln. Nach der Art seiner Natur senkt sonach das Denken Ruhe und Gelassenheit in die Seele, das Begehren regt das Handeln an. Als Lehre nun mag sich uns ergeben, daß nur der Gedanke an gute Dinge die Schwelle des Geistes betreten darf; die Begierde, wenn wir in Wahrheit auf Wahrung jenes Schicklichen bedacht sein wollen, der Vernunft sich unterordnen muß. Das Verlangen nach einer Sache darf die Vernunft nicht ausschließen, vielmehr soll die Vernunft erwägen, was sich für das sittliche Verhalten geziemt.

S. 59 99. Wollen wir die Schicklichkeit wahren, so haben wir, wie gesagt, darauf zu sehen, daß wir im Handeln und Reden das rechte Maß kennen; in der Reihenfolge geht freilich das Reden dem Handeln voraus. Die Rede nun wird zweifach eingeteilt: in das gewöhnliche Gespräch und die (förmliche) Abhandlung und Untersuchung über den Glauben und die Gerechtigkeit. In beiden ist darauf zu achten, daß man alles Aufregende meide, die Rede vielmehr sanft und gefällig, voll Wohlwollen und Liebenswürdigkeit und ohne jede beleidigende Äußerung geführt werde. Im gewöhnlichen Gespräche bleibe hartnäckiger Streit ausgeschlossen. Er pflegt mehr eitle Fragen aufzuwirbeln, als irgendeinen Nutzen zu stiften. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung sei ohne Leidenschaftlichkeit, ihre Anmut ohne Bitterkeit, ihr Mahnwort ohne Schroffheit, ihre Aufforderung ohne Beleidigung! Und wie wir uns bei jeder Lebensbetätigung davor in acht nehmen sollen, daß nicht eine zu große seelische Erregung uns die Vernunft raube; wie vielmehr die Besinnung das Feld behaupten muß, so geziemt sich auch in der Rede die Norm festzuhalten, keiner Regung des Zornes oder Hasses Raum zu geben, bezw. nichts erscheinen zu lassen, was Leidenschaftlichkeit oder Gleichgültigkeit unsererseits verriete.

Vom Schicklichen im gewöhnlichen Gespräch (99) und in der förmlichen Rede

100. So denn sei die Rede, namentlich wenn sie die Hl. Schrift zum Gegenstand hat. Wovon sollen wir denn mehr reden als von einem möglichst guten Wandel, von der Aufforderung zur Gesetzesbeobachtung, von der Einhaltung sittlicher Zucht? Gleich ihr Anfang trage den Stempel des Vernünftigen, ihr Ende halte Maß! Eine zum Ekel langweilige Rede erregt Unwillen. Wie unschicklich aber, wenn sie den widerlichen Eindruck des Abstoßenden macht, nachdem schon jedes gewöhnliche Gespräch in wachsendem Maße immer anziehender zu werden pflegt!

101. Auch soll die Behandlung der Glaubenslehre, S. 60 der Unterweisung in der Enthaltsamkeit, der Einführung in die Gerechtigkeit und der Aufmunterung zur Gewissenhaftigkeit nicht immer die gleiche sein, sondern je nach der Schriftlesung von uns in Angriff genommen und nach Kräften durchgeführt werden. Sie soll weder zu lange fortgesetzt, noch zu rasch abgebrochen werden, daß sie einerseits nicht Überdruß zurücklasse, anderseits nicht Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit verrate. Die Rede sei natürlich, einfach, klar und verständlich, voll Ernst und Nachdruck, nicht von gesuchter Ziererei, aber auch nicht ohne Anmut.

XXIII. Kapitel: Vom Schicklichen im Reden =

Scherz ist in der kirchlichen Rede ===

102. Weltliche Autoren geben überdies noch viele Vorschriften über die Redeweise, die wir meines Erachtens übergehen dürfen. So über die Scherzrede. Sind nämlich Scherze dann und wann auch schicklich und köstlich, vertragen sie sich doch nicht mit der Kirchenregel. Wie könnten wir denn auch Dinge in den Mund nehmen, die wir in der Schrift nicht finden?

in der Regel selbst in Plaudereien zu meiden

103. Selbst bei Plaudereien sind sie zu meiden, damit sie nicht ein ernsteres Gesprächsthema seiner Würde entkleiden. „Wehe euch, die ihr lacht! Ihr werdet weinen“, warnt der Herr. Und wir wollten nach einem Stoff zum Lachen fahnden, um hier zu lachen, dort zu weinen? Nicht bloß lose, sondern alle S. 61 Scherze überhaupt, meine ich, sollten vermieden werden, außer es wäre ein Vollmaß des Köstlichen und Anmutigen in der Rede nicht unschicklich.

Ein einfaches Organ mit deutlicher Aussprache genügt für den Redner

104. Was soll ich denn von der Stimme sagen? Meiner Ansicht nach genügt ein einfaches und reines Organ. Der Wohlklang der Stimme ist eine Naturgabe, nicht eine Errungenschaft. Durch die Art des Vortrags soll sie freilich deutlich und voll männlicher Kraft werden. Den derben und bäuerlichen Ton meide sie! Nicht den theatralischen Rhythmus schlage sie künstlich an, sondern den kirchlichen wahre sie!

XXIV. Kapitel: Vom Schicklichen im Handeln =

Drei Forderungen schließt es in sich

105. Über die Art zu sprechen, meine ich, ist genug gesagt worden. Jetzt wollen wir erwägen, was sich für das Handeln im Leben geziemt. Auf diesem Gebiete sind nun augenscheinlich drei Stücke zu beachten. Fürs erste darf die Begierde der Vernunft nicht widerstreiten. Nur so können unsere Diensthandlungen mit dem Schicklichen übereinstimmen. Folgt nämlich die Begierlichkeit der Vernunft, läßt sich in allen Verrichtungen das Schickliche wahren. Zweitens soll es nicht den Anschein gewinnen, als wäre unser Eifer größer oder kleiner, als es die Sache verdient, die man unternimmt; als hätten wir eine belanglose Sache mit großem Eifer aufgegriffen, oder aber eine wichtige mit geringerem Eifer abgetan. Drittens, glaube ich, sollten wir uns S. 62 nicht über das rechte Maß in unserem Streben und Handeln, desgleichen nicht über die Ordnung in den Dingen und den rechten Zeitpunkt hinwegsetzen.

106. Doch die Grundlage von allem bildet jene erste Forderung, daß die Begierde der Vernunft sich unterordne. Die zweite und dritte verlangt das gleiche, d. i. in beiden Fällen das Maßhalten. Die Erwägung über jenes vornehme Äußere, das für Schönheit gilt, sowie über das würdevolle Auftreten fällt nämlich bei uns weg. Es folgt sofort jene über die Ordnung in den Dingen und den rechten Zeitpunkt. Und so verbleiben denn damit drei Stücke, von denen wir sehen wollen, ob wir sie in vollendetem Maß an irgendeinem Heiligen aufzeigen können.

Vollendete Vorbilder: Abraham

107. Ward nicht fürs erste gerade jener Vater Abraham, der zur Belehrung der künftigen Nachkommenschaft seine Anleitung und Unterweisung erhielt, auf den Befehl, aus seinem Lande und aus seiner Verwandtschaft und aus seinem Vaterhause fortzuziehen, durch mehrfache Pietätsgefühle wie mit Fesseln zurückgehalten, und zwang er nicht dennoch sein Begehren zu gehorsamer Unterordnung unter die Vernunft? Wer würde denn nicht mit Lust und Freude an seinem Lande, an seiner Verwandtschaft, desgleichen am eigenen Hause hängen? Auch ihn nun wandelte die süße Freude an den Seinigen an, doch mehr noch bestimmte ihn der Gedanke an den himmlischen Befehl und die ewige Vergeltung. Sah er nicht, wie seine für Strapazen so schwächliche, für Kränkungen so zartfühlende, für Wüstlinge so reizende Gattin nicht ohne die größte Gefahr mitgeführt werden konnte? Und dennoch hielt er es für geratener, sich allem zu unterziehen, statt Entschuldigungen vorzubringen. Als er sodann nach Ägypten hinabzog, riet er derselben, sich als seine Schwester, nicht als seine Frau auszugeben.

S. 63 108. Beachte, wie stark die Regungen des Begehrungsvermögens waren! Er fürchtete für der Gattin Reinheit, fürchtete für sein eigenes Leben, mißtraute der Lüsternheit der Ägypter: und dennoch wog bei ihm der Gedanke an die religiöse Pflichterfüllung vor. Er beherzigte nämlich, wie er sich mit Gottes Gnade überall sicher fühlen, mit des Herrn Ungnade aber auch zu Hause nicht heil bleiben könne. So obsiegte also die Vernunft über das Begehren und machte es sich unterwürfig.

109. Die Gefangennahme seines Neffens machte ihn nicht bangen, die Völker so vieler Könige beirrten ihn nicht: er greift wiederholt zu den Waffen. Als Sieger verzichtete er auf einen Anteil an der Beute, deren Eroberer er war. Als ihm ferner ein Sohn verheißen wurde, schenkte er, obschon er seinen erstorbenen Leib entkräftet, seine Gattin unfruchtbar und hochbetagt sah, wider die Stimme der natürlichen Erfahrung Gott Glauben.

110. Beachte, wie alle Bedingungen eingelöst waren! Es fehlte nicht an der Regung des Begehrungsvermögens, aber sie wurde unterdrückt. Jenes Gleichmaß im Handeln war vorhanden, das weder Wichtiges für gering, noch Geringeres für wichtig hält, ferner das rechte Maßhalten im Tun, die Ordnung in den Dingen, die Einhaltung der rechten Zeit, die Abwägung der Worte. Ein Mann — im Glauben der erste, in der Gerechtigkeit allen voran, im Kampfe ausdauernd, im Siege nicht beutegierig, zu Hause gastfreundlich und treubesorgt um die Gattin.

Jakob

111. Ebenso freute sich sein Enkel Jakob zu Hause eines ruhigen Lebens. Doch die Mutter wollte, daß er in die Fremde ziehe, um dem erzürnten Bruder auszuweichen. Der heilsame Rat siegte über sein Begehren. S. 64 Ein Verbannter aus dem Hause, ein Flüchtling fern den Eltern, hielt er doch überall in seinem Tun das geziemende Maß ein und beachtete den rechten Zeitpunkt. Zu Hause war er der Liebling seiner Eltern, so daß der eine Elternteil, durch seine zuvorkommende Dienstbeflissenheit bewogen, ihm den Segen gab, der andere in zärtlicher Liebe ihm besonders zugetan war. Auch das Urteil des Bruders hatte ihm, nachdem er ihm seine Speise abtreten zu sollen glaubte, den Vorzug eingeräumt. Wohl hatte er ein natürliches Ergötzen am Gerichte, doch aus Bruderliebe gab er der Bitte nach. Ein treuer Hirte seinem Herrn, dem Schwiegervater ein aufmerksamer Schwiegersohn, bei der Arbeit fleißig, bei Tisch mäßig, im Genugtun zuvorkommend, im Belohnen freigebig. So besänftigte er denn auch des Bruders Zorn in einer Weise, daß er sich statt der Feindschaft, vor der er sich fürchtete, dessen Huld erwarb.

Joseph

112. Was soll ich von Joseph sagen, der doch sicherlich ein Verlangen nach der Freiheit trug und doch dem Zwang der Sklaverei sich unterzog? Wie unterwürfig war er in der Knechtschaft, wie standhaft in der Tugend, wie wohlwollend im Gefängnis, weise in der (Traum-) Deutung, vorsorglich in den Jahren der Fruchtbarkeit, gerecht während der Hungersnot, lobenswerte Ordnung in den Dingen mit dem rechten Augenblick in der Zeit verbindend, infolge seiner maßvollen Amtsführung voll Gerechtigkeit gegen das Volk!

Job

113. Ebenso war Job im Glück wie im Unglück gleich untadelig, geduldig, Gott genehm und wohlgefällig. Er ward von Leiden gequält, wußte sich aber zu trösten.

David

114. David ferner, tapfer im Krieg, ausdauernd im Unglück, friedliebend in Jerusalem, im Sieg mild, in Schuld voll Reueschmerz, im Alter vorsorglich, S. 65 beobachtete in seinen Liedern je nach der Altersstufe, auf der er stand, Maß in den Dingen und den Wechsel der Zeiten, so daß er, wie mich dünkt, nicht weniger durch seine Lebensart als durch seine lieblichen Weisen, süß wie keiner, zu Gott den unsterblichen Sang seines Verdienstes erschallen ließ.

Die vier Kardinaltugenden

115. An welcher Förderung der Haupttugenden hätten es diese Männer fehlen lassen? An erste Stelle setzte man die Klugheit, welche sich mit der Erforschung des Wahren befaßt und den Trieb nach gründlicherem Wissen einflößt; an zweite Stelle die Gerechtigkeit, die jedem das Seinige zuteilt, kein fremdes Gut sich aneignet, vom eigenen Nutzen absieht, um die gemeinnützige Norm der Billigkeit zu wahren; an dritte Stelle den Starkmut, der im Feld wie zu Haus durch Seelengröße sich hervortut und durch Körperkraft sich auszeichnet; an vierte Stelle die Mäßigkeit, die in allem Maß und Ordnung hält, was wir tun oder reden zu sollen glauben.

XXV. Kapitel: Von den vier Kardinaltugenden

Tugendbeispiele gehen vor Tugendbegriffen

116. Vielleicht möchte jemand bemerken, das hätte zuerst gebracht werden sollen. Denn in diesen vier Tugenden haben die Pflichtgattungen ihren Ursprung. Eine kunstgerechte Abhandlung aber verlangt, daß erst der Begriff der Pflicht festgesetzt, sodann diese selbst in bestimmte Gattungen eingeteilt wird. Wir nun S. 66 verzichten auf eine kunstgerechte Darstellung und führen die Beispiele der Altvordern vor, die weder Dunkles für das Verständnis, noch Kniffigkeiten in der Darstellung aufweisen. Möge uns denn das Leben der Altväter ein Spiegelbild des sittlichen Wohlverhaltens sein, nicht eine Schule der Abgefeimtheit; ein ehrwürdiger Gegenstand der Nachahmung, nicht kniffiger Streitrede!

Abraham

117. Der heilige Abraham nun war in erster Linie im Besitz der Klugheit. Von ihm rühmt die Schrift: „Abraham glaubte Gott, und es ward ihm zur Gerechtigkeit angerechnet“. Niemand nämlich kann klug sein, der Gott nicht kennt. So sprach denn auch der Unweise: „Es gibt keinen Gott“; der Weise nämlich würde nicht so sprechen. Wie wäre denn der ein Weiser, der nicht nach seinem Schöpfer fragt; der zum Steine spricht: „Mein Vater bist du“; der wie Manichäus zum Teufel spricht: Mein Schöpfer bist du? Wie wäre Arius ein Weiser, der statt des wahren und vollkommenen Schöpfers einen unvollkommenen und unebenbürtigen haben will? Wie wären Marcion und Eunomius Weise, die lieber einen bösen als einen guten Gott haben wollen? Wie wäre der ein Weiser, der seinen Gott nicht fürchtet? Denn „der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn“. Und an einer anderen Stelle liest man: „Die Weisen weichen nicht vom Munde des Herrn, sondern betätigen sich in ihren Bekenntnissen“. Mit der Beteuerung: „es ward ihm zur Gerechtigkeit angerechnet“, sprach ihm die Schrift zugleich auch den Vorzug der zweiten (Kardinal-) Tugend zu.

118. Zuerst nun stellten die Unsrigen fest, die Klugheit beruhe in der Erkenntnis des Wahren. Denn wer S. 67 von jenen (heidnischen Schriftstellern) lebte vor Abraham, David, Salomo? Ferner, die Gerechtigkeit beziehe sich auf das gesellschaftliche Leben des Menschengeschlechtes. So spricht denn David: „Er hat ausgeteilt, den Armen gegeben, seine Gerechtigkeit währt in Ewigkeit“; der Gerechte „erbarmt sich“; der Gerechte „leiht“. Dem Weisen und Gerechten ist die ganze Welt voll Reichtümer. Der Gerechte besitzt die Allgemeingüter als sein Eigentum, und sein Eigentum als Gemeingut. Der Gerechte klagt, bevor er andere anklagt, sich selbst an. Denn der ist gerecht, der seiner nicht schont und nicht duldet, daß seine geheimen Sünden verborgen bleiben. Sieh, wie gerecht war Abraham! Er hatte im hohen Alter kraft der Verheißung einen Sohn empfangen. Als ihn der Herr zurückforderte, glaubte er ihn, obgleich es der einzige Sohn war, nicht als Opfer verweigern zu sollen.

119. Sieh hier alle vier Tugenden in der einen Tat! Es verriet Weisheit, Gott zu glauben und den Liebling nicht dem Gebote des Schöpfers vorzuziehen. Es verriet Gerechtigkeit, das Empfangene zurückzuerstatten. Es verriet Starkmut, dem Verlangen des Herzens durch die Vernunft zu wehren. Der Vater führte das Opfer, der Sohn fragte ihn darüber: des Vaters Liebe ward geprüft, nicht besiegt. Der Sohn wiederholte die Frage: er verwundete das Vaterherz, verringerte aber dessen Frommsinn nicht. Dazu kommt noch die vierte Tugend, die Mäßigkeit. Der Gerechte hielt sowohl das rechte Maß in der Frömmigkeit, wie Ordnung in deren Betätigung ein. Schon schafft er das Nötige zum Opfer herbei; schon facht er das Feuer an; schon bindet er den Sohn; schon zückt er das Schwert: da ward er denn, weil er diese Ordnung beim Opfer einhielt, gewürdigt, den Sohn zu behalten.

Jakob

120. Was gäbe es Weiseres als den heiligen Jakob, der Gott von Angesicht zu Angesicht schaute und S. 68 dessen Segen verdiente? Was Gerechteres als ihn, der alles, was er erworben hatte, schenkungsweise mit dem Bruder teilte? Was Stärkeres als ihn, der mit Gott rang? Was Maßvolleres als ihn, der im Maßhalten so den Orts- und Zeitumständen Rechnung trug, daß er die Entehrung seiner Tochter lieber durch die Ehe bemänteln als rächen wollte, weil er dafür hielt, daß er, unter den Fremden lebend, mehr auf deren Liebe bedacht sein müsse, statt deren Haß sich zuzuziehen.

Noë

121. Wie weise war Noë, der die so mächtige Arche erbaute! Wie gerecht war er, der zum Stammvater aller aufbewahrt wurde: von allen der einzige Überlebende des vergangenen Geschlechtes und der Urheber des kommenden, mehr der Welt und der Allgemeinheit als sich selbst geboren! Wie stark, daß er die Sintflut überwand! Wie maßvoll, daß er derselben bei ihrem Eintritt sich fügte! Welches Maßhalten ferner, als er den Raben, als er die Taube aussendete; als er sie bei ihrer Wiederkehr hereinnahm; als er den rechten Augenblick zum Verlassen (der Arche) merkte und erkannte!

XXVI. Kapitel: Von der Klugheit

Vom Schicklichen in der Erforschung des Wahren

122. In der Erforschung der Wahrheit ist nun, so lehrt man, als das Schickliche festzuhalten, daß man mit allem Eifer dem nachforsche, was wahr ist: nicht S. 69 Falsches für wahr halte, das Wahre nicht verdunkle, den Geist nicht mit unnützen oder verworrenen und ungewissen Problemen beschäftige. Was wäre so ungeziemend als die Verehrung von Holzklötzen, wie sie eben jene Lehrer betätigen? Was so dunkel als die astronomischen und geometrischen Untersuchungen, die sie für gut finden? Als die tiefen Lufträume zu messen, ferner den Himmel und das Meer in Zahlen zu schließen, die Sache des Heils hintanzusetzen, der des Irrtums nachzuhängen?

123. Oder hat nicht Moses, der „in jeglicher Weisheit der Ägypter bewandert war“ , dies alles auf seinen Wert geprüft? Doch er erachtete jene Weisheit für Nachteil und Torheit, wandte sich von ihr ab, suchte mit innerlichstem Herzen Gott, schaute ihn darum, befragte ihn und hörte ihn sprechen. Wer wäre in höherem Grade weise gewesen als er, den Gott selbst belehrte, und der alle Weisheit der Ägypter und alle Macht ihrer Künste kraft seines Wirkens zuschanden machte? Er hielt Unbekanntes nicht für bekannt und pflichtete solchem Dafürhalten nicht blindlings bei: zwei Fehler, welche Leute, die weder Widernatürliches noch Schändliches darin erblicken, wenn sie Steinblöcke anbeten und von fühllosen Götzenbildern Hilfe erflehen, an dieser Stelle, die vom Natürlichen und Schicklichen handelt, meiden lernen sollten.

124. Je erhabener die Tugend der Weisheit ist, um so größerer Eifer, wie ich glaube, ist zu ihrer Erlangung erforderlich. Um uns daher nichts Widernatürliches, nichts Schändliches und Unziemliches in den Sinn kommen zu lassen, sollen wir ein Zweifaches, d. i. Zeit und Fleiß auf die Betrachtung der Dinge verwenden, um S. 70 sie erproben zu können. Denn es gibt keinen größeren Vorzug, den der Mensch vor den übrigen lebenden Wesen voraus hat, als den, daß er vernunftbegabt ist, die Ursachen der Dinge ergründen kann, dem Urheber seines Geschlechtes nachforschen zu müssen glaubt, in dessen Macht die Macht über unser Leben und unseren Tod steht; der diese Welt mit seinem Wink regiert; dem wir über unser Handeln, wie wir wissen, Rechenschaft geben müssen. Nichts fördert nämlich ein sittlich gutes Leben mehr als der Glaube an einen künftigen Richter, dem das Verborgene nicht entgeht, den das schlechte Handeln beleidigt und das gute erfreut.

125. Allen Menschen nun wohnt schon auf Grund der menschlichen Natur, die uns zum Streben nach Erkenntnis und Wissen hinzieht und den Forschungstrieb einsenkt, der Drang nach Erforschung des Wahren inne. Hierin es allen zuvortun gilt für schön. Doch das zu erreichen, ist nur wenigen beschieden, die in ernster Gedankenarbeit, im Wägen und Wagen sich nicht geringe Mühe geben, um womöglich zu jenem seligen und tugendhaften Leben zu gelangen und auch im Handeln sich ihm zu nähern. „Denn nicht wer zu mir spricht ‚Herr, Herr‘,“ so heißt es, „wird ins Himmelreich eingehen, sondern wer das tut, was ich sage“. Wissenschaft ohne Handeln danach — ich weiß nicht, ob es nicht mehr Ballast ist.

XXVII. Kapitel: Von der Klugheit

Sie ist die erste Quelle der Pflicht. Sie speist die übrigen Kardinaltugenden. Diese schließen einander ein

S. 71 126. Die erste Quelle der Pflicht ist die Klugheit. Was verriete denn ein so volles Maß der Pflicht als die Bezeigung von Eifer und Ehrfurcht gegen den Schöpfer? Doch leitet sich diese Quelle auch auf die übrigen Tugenden ab. So ist die Gerechtigkeit ohne die Klugheit undenkbar. Erfordert es doch nicht geringe Klugheit abzuwägen, was gerecht oder was ungerecht ist. Der Irrtum in beiden Fällen wäre unberechenbar groß. Denn „wer Recht für Unrecht, Unrecht aber für Recht erklärt, ist fluchwürdig vor Gott. Was frommt die Gerechtigkeit dem Unverständigen?“ ruft Salomo aus. Aber auch umgekehrt: keine Klugheit ohne die Gerechtigkeit. Denn die Gottesliebe ist der Anfang der Verständigkeit. Daraus ersehen wir, daß der Satz, die Pietät sei das Fundament aller Tugenden, mehr eine Entlehnung als eigene Erfindung der Weisen dieser Welt ist.

127. Die Pietät, die auf der Gerechtigkeit beruht, bezieht sich in erster Linie auf Gott, in zweiter auf das Vaterland, in dritter auf die Eltern, sodann auch auf alle anderen. Auch sie folgt nur der Lehrmeisterin Natur. Hängen wir doch vom ersten Augenblick des Daseins mit der ersten Regung des Gefühls am Leben als einem Geschenk Gottes, lieben Vaterland und Eltern, ferner die Altersgenossen, nach deren Gesellschaft es uns verlangt. Hier nimmt jene Liebe ihren Ursprung, die anderen den Vorzug vor sich selbst gibt, indem sie nicht das Ihrige sucht. Gerade hierin aber liegt der oberste Grundsatz der Gerechtigkeit.

S. 72 128. Auch sämtlichen Tieren ist vor allem der Trieb angeboren, das Leben zu erhalten, das Schädliche zu meiden, das Nützliche aufzusuchen, wie Futter, wie Verstecke, um darin vor Gefahr, Regen, Sonnenhitze sich zu schützen, was Klugheit verrät. Dazu kommt, daß alle Arten von Tieren von Natur aus gesellig sind, zunächst gegen ihresgleichen in Art und Gestalt, sodann aber auch gegen andere. So sehen wir Rinder gern unter Roßherden, Pferde unter Kleinviehherden, am liebsten aber Gleichartiges unter Gleichartiges sich mengen, ebenso Hirsche zu Hirschen und gar oft auch zu Menschen sich gesellen. Was soll ich noch vom Zeugungstrieb und den Jungen reden, oder auch von der Gattenliebe, in der die Norm der Gerechtigkeit besonders deutlich in die Erscheinung tritt?

129. Es geht nun daraus klar hervor, daß sowohl diese Tugenden (Klugheit und Gerechtigkeit), wie auch die übrigen untereinander verwandt sind. Ist doch auch der Starkmut, der teils im Krieg das Vaterland vor den Barbaren, teils daheim die Schwachen und Freunde vor Erpressern schützt, voll Gerechtigkeit. Ebenso verrät das Wissen, wie man planmäßig die Verteidigung und Hilfe leisten kann, ferner das Ausfindigmachen des rechten Zeitpunktes und des rechten Ortes hierzu Klugheit und Maßhalten. Die Mäßigkeit für sich vermag hingegen ohne die Klugheit dieses Maß nicht zu erkennen. Die günstige Gelegenheit wahrnehmen und nach rechtem Maß vergelten, ist Sache der Gerechtigkeit. Und bei all dem tut Großmut und eine gewisse Stärke des Geistes, zumeist aber auch des Leibes not, daß einer sein Wollen auch vollführen kann.

XXVIII. Kapitel: Von der Gerechtigkeit =

Gerechtigkeit und Freigebigkeit die Grundpfeiler des Gemeinschaftslebens

130. Die Gerechtigkeit bezieht sich auf das Gesellschafts- und Gemeinschaftsleben des Menschengeschlechtes. Das Gesellschaftsleben beruht nämlich auf einem zweifachen Grund, dem der Gerechtigkeit und dem der Wohltätigkeit, auch Freigebigkeit und Wohlwollen genannt. Die Gerechtigkeit scheint mir erhabener, die Freigebigkeit liebenswürdiger zu sein. Erstere hält sich an Strenge, letztere an Güte.

Ablehnung zweier von der Philosophie S. 73 angenommenen Funktionen der Gerechtigkeit

S. 73 131. Doch schon die erste Funktion der Gerechtigkeit, welche die Philosophen dafür halten, bleibt bei uns ausgeschlossen. Dieselben nennen nämlich als erste Regel der Gerechtigkeit, „daß man niemand Schaden zufügen dürfe — außer wenn man durch ein Unrecht dazu gereizt ist“. Diese Regel wird nämlich kraft des Evangeliums umgestoßen. Denn die Schrift will in uns den Geist des Menschensohnes haben, der gekommen ist, um Gnade ergehen zu lassen, nicht Unrecht zuzufügen.

132.' Eine weitere Norm der Gerechtigkeit beruht ihrer Ansicht nach darin, daß man in den allgemeinen, d. i. öffentlichen Gütern öffentlichen Besitz, in den privaten Gütern Privatbesitz zu erblicken habe. Auch das entspricht nicht der Natur. Denn die Natur bringt alle Erzeugnisse zum gemeinsamen Gebrauch für alle hervor. Denn Gott hieß alle Erzeugnisse zu dem Zweck sprossen, daß jedermann sich der gemeinsamen Nahrung erfreuen und die Erde gleichsam der gemeinsame Besitz S. 74 aller sein sollte. So schuf also die Natur ein gemeinsames Besitzrecht für alle; Anmaßung machte daraus ein Privatrecht. Man rühmt in diesem Punkt den Stoikern nach, eine Lieblingsauffassung derselben gehe dahin, daß „alle Erzeugnisse auf Erden zum Gebrauch für die Menschen geschaffen würden, die Menschen aber der Menschen wegen geboren seien, um sich gegenseitig nützen zu können“.

Die einschlägige stoische Lehre eine Entlehnung aus der Hl. Schrift

133. Woher anders als aus unseren Schriften entlehnten sie diesen Ausspruch? Schon Moses schrieb nämlich, Gott habe gesprochen: „Laßt uns den Menschen nach unserem Bild und nach unserem Gleichnis schaffen! Und er soll Gewalt haben über die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels und die Tiere und alles, was kriecht auf Erden!“ Und David ruft aus: „Alles hast Du ihm unter die Füße gelegt, Schafe und Rinder insgesamt, dazu noch das Vieh des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres“. So haben sie also die Behauptung, alles sei den Menschen unterworfen, unseren Autoren entnommen und nehmen eben darum an, es sei des Menschen wegen hervorgebracht worden.

134. Auch daß der Mensch des Menschen wegen geboren sei, finden wir in den Büchern Moses ausgesprochen, worin der Herr spricht: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein ist: laßt uns demselben eine Gehilfin schaffen, die ihm gleiche!“ Zur Hilfeleistung wurde sonach das Weib dem Manne gegeben; und sie sollte gebären, daß der Mensch dem Menschen helfe. So heißt es denn auch von Adam vor der Bildung des Weibes: „Es fand sich keine Gehilfin, die ihm ähnlich war“. Der Mensch konnte nämlich nur vom Menschen Hilfe finden. Unter allen lebenden Wesen gab es nun kein ihm ähnliches: es fand sich mit einem Wort „keine S. 75 Gehilfin“ für den Menschen. Zur Hilfeleistung stand sonach das weibliche Geschlecht zu erwarten.

Folgerungen aus dem Axiom: der Mensch ist des Menschen wegen da

135. So sollen wir uns denn nach Gottes Willen, oder schon kraft des natürlichen Bandes, das uns umschlingt, gegenseitig unterstützen, in Gefälligkeiten wetteifern, gleichsam alles Nutzbare zur allgemeinen Verfügung stellen, einer dem anderen, um mit dem Schriftwort zu reden, helfen, sei es durch Dienstbeflissenheit, sei es durch Gefälligkeit oder Geld oder Tat oder sonstwie, auf daß der Segen des Gemeinschaftslebens unter uns sich mehre. Selbst aus Furcht vor Gefahr soll niemand von dieser Pflicht sich abwendig machen lassen, sondern alles für sein eigen halten, das Schlimme wie das Gute. So sträubte sich denn Moses nicht, für sein heimisches Volk schwere Kämpfe auf sich zu nehmen, zitterte nicht vor den Waffen des allgewaltigen Königs und bangte nicht vor der Wildheit seiner unmenschlichen Barbarei, sondern schlug sein Leben in die Schanze, um seinem Volke die Freiheit wiederzubringen.

136. Groß ist daher der Glanz der Gerechtigkeit, die, mehr anderen als sich geboren, unser Gemeinschafts- und Gesellschaflsleben fördert, ihren erhabenen Beruf wahrt, alles ihrem Urteil unterwürfig zu erhalten, anderen zu helfen, Geld darzuleihen, Gefälligkeiten nicht abzuschlagen, fremde Gefahren auf sich zu nehmen.

Habsucht und Machtgelüste Feinde der Gerechtigkeit

137. Wer wünschte nicht diese Tugendfeste zu behaupten, es müßte denn vor allem die Habsucht die Kraft der so erhabenen Tugend schwächen und brechen? Im Verlangen nämlich, das Vermögen zu vermehren, Geld aufzuhäufen, Ländereien in Besitz zu bekommen, durch Reichtum zu glänzen, streifen wir die Norm der Gerechtigkeit ab und verlieren den Sinn für S. 76 das gemeinnützige Wohltun. Wie kann denn einer gerecht sein, der dem Nächsten etwas zu entreißen sucht, was er für sich begehrt?

138. Auch Machtgelüste entnervt die mannhafte Gerechtigkeit. Wie kann denn einer für andere eintreten, der sich andere zu unterjochen sucht? Und wie dem Wehrlosen gegen Gewalttätige Hilfe leisten, wenn er selbst es mit schwerer Gewalttat auf dessen Freiheit absieht?

XXIX. Kapitel: Von der Gerechtigkeit: Sie ist selbst im Kriege erforderlich =

139. Was es Großes um die Gerechtigkeit ist, läßt sich daraus ersehen, daß sie keine Ausnahme kennt, weder in Bezug auf Ort, noch Person, noch Zeit. Wird sie doch selbst den Feinden gegenüber geübt. Ist man über Ort und Tag zur Schlacht mit dem Feinde übereingekommen, gilt es als eine Verletzung der Gerechtigkeit, ihm örtlich oder zeitlich zuvorzukommen. Es ist nämlich ein Unterschied, ob jemand in der Schlacht und im schweren Kampf, oder aber infolge eines überlegenen Vorteils oder aus bösem Zufall in die Gefangenschaft gerät. Über allzu grimmige Feinde, sowohl über treubrüchige wie über die Maßen grausame, ergeht freilich auch eine um so grimmigere Rache: so über die Madianiten, die durch ihre Weiber gar viele aus dem S. 77 Judenvolk zur Sünde verleitet hatten, weshalb auch Gottes Zorn über das Volk der Väter erging. Und die Folge davon: Moses ließ niemand von denselben am Leben. Gegen die Gabaoniten hingegen, die mehr durch List als Krieg das Vätervolk befehdet hatten, führte Jesus (Josue) keinen Vernichtungskampf, sondern ließ ihnen das nur in Form einer Auflage fühlen. Die Syrer aber hatte Elisäus, nachdem er sie ob der Belagerung (Samarias) mit Blindheit geschlagen hatte, so daß sie nicht sehen konnten, wohin sie den Fuß setzten, in die Stadt geführt, ließ sie jedoch, obwohl der König von Israel es wollte, nicht erschlagen, sondern verlangte: „Die, welche du nicht mit deiner Lanze und deinem Schwerte gefangen hast, sollst du auch nicht erschlagen; setze ihnen Brot und Wasser vor, daß sie essen und trinken, entlassen werden und zu ihrem Herrn zurückkehren!“ Sie sollten auf diese Menschlichkeit (künftig) ein friedliches Verhalten an den Tag legen. So standen denn auch späterhin die syrischen Seeräuber von ihren Einfällen in das Land Israel ab.

um so mehr im Frieden

140. Wenn sonach die Gerechtigkeit selbst im Kriege in Kraft bleibt, wieviel mehr muß sie im Frieden beobachtet werden! Auch diesen Edelsinn erwies der Prophet denen, die zu seiner Ergreifung gekommen waren. Denn also lesen wir: Als der König in Erfahrung gebracht hatte, daß Elisäus es sei, der allen seinen Plänen und Anschlägen im Weg stehe, hatte er sein Heer ausgesendet, um ihn rings zu belagern. Da nun der Diener des Propheten, Giezi, dieses Heer sah, fing er an, für sein Leben zu fürchten und zu bangen. Doch der Prophet sprach zu ihm: „Fürchte nicht! Denn mehr sind mit uns als mit jenen.“ Da betete der Prophet, daß seinem Diener die Augen geöffnet würden, und sie wurden geöffnet. Und es sah nun Giezi den ganzen Berg voll Rosse und Wagen rings um Elisäus. Und als jene herabkamen, rief der Prophet aus: „Der Herr S. 78 schlage das Heer Syriens mit Blindheit!“ Und als ihm die Bitte erhört war, sprach er zu den Syrern: „Kommt mir nach, so will ich euch zu dem Menschen führen, den ihr sucht!“ Da sahen sie den Elisäus, den sie ergreifen wollten, aber konnten ihn, obschon sie ihn sahen, nicht festnehmen. So ist also klar, daß man auch im Kriege Treue und Gerechtigkeit halten muß, und daß es nicht schicklich sein kann, wenn man die Treue bricht.

Die antike, der Hl. Schrift entlehnte Bezeichnung des Feindes als ‚Fremdling‘ gemahnt daran

141. Die Alten hatten denn auch für die Feinde eine schonende Bezeichnung: sie nannten sie die ‚Fremden‘. Nach altem Brauch nämlich hießen die Feinde ‚Fremde‘. Es ist auch dies, so läßt sich behaupten, gleichfalls nur eine Entlehnung von unseren Autoren. Die Hebräer nämlich nannten ihre Gegner die ‚Stammverschiedenen‘ (allophyli), d. i. nach lateinischer Bezeichnung ‚Ausländer‘ (alienigenae). So lesen wir im ersten Buch der Könige [= 1. Samuel] also: „Und es geschah an jenen Tagen, da sammelten sich die Ausländer zum Kampf gegen Israel“.

Der Glaube das Fundament der Gerechtigkeit, Christus das Fundament der Kirche

142. Das Fundament der Gerechtigkeit ist der Glaube. Denn „der Gerechten Herz sinnt Glauben“, und „der Gerechte, der sich anklagt, stellt die Gerechtigkeit auf den Glauben“. Dann nämlich tritt seine S. 79 Gerechtigkeit zutage, wenn er die Wahrheit bekennt. So spricht denn auch der Herr durch Isaias: „Sieh, ich lege einen Stein in die Grundfeste Sions“, d. i. Christus in die Grundfesten der Kirche. Christus nämlich ist der Glaube aller, die Kirche aber eine gewisse Form der Gerechtigkeit, das gemeinsame Recht aller: gemeinsam ist ihr Beten, gemeinsam ihr Wirken, gemeinsam ihre Prüfung. So ist denn, wer sich selbst verleugnet, gerecht, Christus würdig. Darum stellte auch Paulus Christus als das Fundament hin, damit wir auf ihn die Werke der Gerechtigkeit stellen; denn der Glaube ist das Fundament, in den Werken aber liegt entweder, falls sie bös sind, Ungerechtigkeit, oder aber, falls sie gut sind, Gerechtigkeit.

XXX. Kapitel: Von der Wohltätigkeit

Ihre Unterabteilungen Wohlwollen und Freigebigkeit

143. Doch laßt uns jetzt von der Wohltätigkeit sprechen! Sie zerfällt in Wohlwollen und Freigebigkeit. Aus diesen beiden besteht sonach die S. 80 Wohltätigkeit, soll sie vollkommen sein. Wohlwollen allein genügt nicht, sondern auch Wohltun ist erforderlich. Umgekehrt genügt auch Wohltun nicht, wenn es nicht aus einer guten Quelle, d. i. aus Gutwilligkeit hervorgeht; „denn den freudigen Geber liebt Gott“. Tust du es nämlich unwillig, was wäre dein Lohn? Daher des Apostels allgemein gültiges Wort: „Tue ich das willig, habe ich Lohn; wenn unwillig, ist’s nur die Amtsverwaltung, die mir anvertraut ist“. Auch im Evangelium haben wir viele Anleitungen über die rechte Freigebigkeit.

ihre Grundforderungen Gerechtigkeit

144. Edel ist Wohlwollen und Geben in der Absicht zu nützen, nicht zu schaden. Denn glaubte man einem Schlemmer zu ausgelassener Schlemmerei, einem Ehebrecher zu gewerbsmäßigem Ehebruch geben zu sollen, so ist das nicht Wohltun, weil hier jedes Wohlwollen fehlt. Das heißt nämlich dem Nächsten schaden, nicht nützen, wolltest du einem geben, der damit Anschläge wider das Vaterland macht; der auf deine Kosten eine liederliche Gesellschaft um sich zu sammeln wünscht; der die Kirche bekämpft. Das ist keine zu billigende Freigebigkeit, wollte man einen unterstützen, der damit wider eine Witwe und deren Waisen einen schweren Entscheidungsprozeß anstrengt, oder ihnen irgendwie mit Gewalt Hab und Gut zu entreißen sucht.

145. Die Freigebigkeit verdient keine Billigung, wenn man das, was man dem einen gibt, dem anderen abpreßt; wenn man es ungerecht erwirbt und gerecht austeilen zu sollen glaubt: es sei denn, daß man gleich jenem Zachäus einem, den man betrogen, S. 81 erst vierfach wiedererstatten und die heidnischen Laster durch Glaubenseifer und durch gläubiges Wirken gutmachen wollte. So soll denn deine Freigebigkeit auf einem festen Fundamente ruhen.

und Aufrichtigkeit

146. Die erste Forderung lautet: Aufrichtigkeit beim Geben, kein Trug beim Spenden. Man verspreche nicht, mehr geben zu wollen, und gebe nicht weniger. Wozu braucht es denn der Worte? Es wäre ein trügerisches Versprechen. Du hast es in der Gewalt zu geben, was du willst. Der Trug untergräbt das Fundament, und das Werk stürzt ein. War es etwa nur aufbrausender Unwille bei Petrus, daß er den Ananias und sein Weib tot wissen wollte? Er wollte vielmehr durch ihr Beispiel die übrigen vor dem Untergang bewahren.

Meidung von Prahlsucht

147. Auch das wäre nicht die vollkommene Freigebigkeit, wenn du mehr aus Prahlerei denn aus Barmherzigkeit geben würdest. Deine Gesinnung gibt deinem Werk den verdienten Namen: nach dir bestimmt sich dessen Wert. Du siehst, welchen Sittenrichter du hast. Dich selbst zieht er zu Rat, wie er dein Werk aufnehmen soll; deinen Geist befragt er allererst. „Deine Linke“, heißt es, „soll nicht wissen, was deine Rechte tut“. Nicht deinen Leib meint er, sondern (er meint): selbst der Vertraute, der eines Sinnes mit dir ist, dein Bruder, soll nicht wissen, was du tust, damit du nicht im diesseitigen Streben nach des Ruhmes Lohn im Jenseits die Frucht der Vergeltung verlierest. Vollkommen aber ist die Freigebigkeit, wenn einer sein Werk in Schweigen hüllt und den Nöten der einzelnen insgeheim zu Hilfe kommt; wenn einen der Mund des Armen, nicht die eigenen Lippen loben.

Berücksichtigung der Umstände. Dürftige Gläubige

148. Ferner muß Glaube, Beweggrund, Ort und Zeit die vollkommene Freigebigkeit empfehlen. S. 82 Zunächst soll man sich um seine Glaubensgenossen bemühen. Eine große Schuld wäre es, wenn ein Gläubiger darben würde und du wüßtest davon; du wüßtest: er ist ohne Lebensunterhalt, hungert, leidet Not, zumal wenn er ein verschämter Armer wäre; wenn er, sei es wegen der Gefangensetzung von Angehörigen, sei es wegen Verleumdung in einen Prozeß geriete, und du griffest nicht helfend ein; wenn ein Gerechter im Kerker schmachtete und wegen einer Schuldforderung Strafen und Qualen erlitte — obschon man nämlich jedermann Mitleid schuldet, so doch am meisten dem Gerechten —; wenn er in der Stunde der Not nichts von dir erlangte; wenn in der Stunde der Gefahr, da man ihn zur Hinrichtung schleppen will, dein Geld bei dir mehr gälte als das Leben eines Sterbenden. Darauf bezieht sich Jobs schöner Wunsch: „Der Segen des im Tode Untergehenden komme über mich!“

Bekannte

149. Wohl gibt es bei Gott kein Ansehen der Person, weil er allwissend ist. Wir aber schulden zwar allen Barmherzigkeit; doch weil so manche dieselbe trügerisch zu erschleichen suchen und Not vorspiegeln, darum soll gerade dort, wo der Fall klar, die Person bekannt ist und die Zeit drängt, die Barmherzigkeit am reichlichsten fließen. Denn der Herr ist nicht habsüchtig, daß er übermäßig viel verlangte. Selig zwar, wer alles weggibt und ihm nachfolgt! Aber auch der ist selig, der gern hingibt, was er hat. So schlug denn der Herr die zwei Heller der Witwe höher an als die Spenden der Reichen; denn jene spendete alles, was sie hatte, diese spendeten nur einen Teil von ihrem Überflusse. Die Gesinnung bestimmt sonach das Reichliche oder S. 83 Dürftige der Gabe und gibt den Dingen den Wert. Übrigens will der Herr nicht, daß man sein Vermögen mit einem Mal verschwende, sondern nur, daß man davon mitteile: es müßte denn einer ein Elisäus sein, der seine Opfer schlachtete und von seiner Habe die Armen speiste, um durch keinerlei häusliche Sorge mehr gebunden zu sein, sondern alles zu verlassen und der Schule des Propheten (Elias) sich hinzugeben.

und Verwandte sind zunächst zu berücksichtigen

150. Zu billigen ist auch die Freigebigkeit, daß man nicht von seinen Blutsverwandten, wenn man von deren Not erfährt, verächtlich den Blick wegwendet. Besser ist es, daß du selbst den Deinigen zu Hilfe kommst, wenn sie sich schämen, von anderen ihren Unterhalt zu erbitten oder im Notfall um Unterstützung zu betteln. Freilich sollen sie sich mit dem nicht bereichern wollen, was du für die Armen erübrigst; denn die Sache, nicht Gunst entscheidet. Nicht deshalb hast du dich dem Herrn geweiht, um die Deinigen zu bereichern, sondern um dir als Frucht des guten Wirkens das ewige Leben zu erwerben und um den Preis der Barmherzigkeit deine Sünden loszukaufen. Glauben sie etwa so wenig zu fordern? Dein Lösegeld verlangen sie, deines Lebens Frucht trachten sie zu nehmen und meinen, sie täten recht daran. Und wenn du einen nicht bereicherst, so beklagt er sich darüber, da er dich doch um den Lohn des ewigen Lebens betrügen möchte.

Christi Beispiel und des Paulus Lehre

151. Den Rat haben wir vorgetragen: sehen wir uns um die Begründung um! Fürs erste darf niemand sich schämen, wenn er wegen seiner Spenden an den Armen selbst aus einem Reichen ein Armer wird; denn auch Christus ist, da er reich war, arm geworden, um alle durch seine Armut reich zu machen. Er gab die Norm, die wir befolgen sollen, damit unsere Entäußerung von Vermögen ihren guten Grund habe: Wer den Hunger S. 84 der Armen stillt, hat ihrer Not gesteuert. Darum „gebe ich euch auch hierin einen Rat“, versichert der Apostel, „denn das nützt euch“ zur Nachahmung Christi. Rat gibt man den Guten, die Irrenden bessert Tadel. Als Gute versichert er sie denn: „Ihr habt nicht bloß mit dem Tun, sondern auch mit dem Wollen seit dem verflossenen Jahre den Anfang gemacht“. Beides, nicht nur eines davon ist den Vollkommenen eigen. Deshalb seine Unterweisung, daß sowohl Freigebigkeit ohne Wohlwollen, als auch Wohlwollen ohne Freigebigkeit nichts Vollkommenes sei. Daher seine Mahnung zur Vollkommenheit mit den Worten: „Jetzt führt aber auch das Tun zu Ende, damit der Bereitschaft zum Tun in euch auch das Vollbringen entspreche nach Maßgabe dessen, was ihr habt! Denn wenn die Bereitwilligkeit vorhanden ist, ist sie genehm nach dem, was sie hat, nicht nach dem, was sie nicht hat. Denn ihr sollt nicht Not leiden, damit andere sich erquicken, sondern maßgebend sei die Gleichheit. Bei dieser Gelegenheit soll euer Überfluß für die Not jener dienlich sein, damit (ein andermal) der Überfluß jener für eure Not dienlich sei, auf daß Gleichheit herrsche, wie geschrieben steht: ‚Wer viel hatte, hatte nicht Überfluß, und wer wenig, hatte nicht Mangel‘.“

Erklärungen und Anwendungen von 2 Kor. 8, 9—15

152. Wir sehen, wie er sowohl das Wohlwollen als auch die Freigebigkeit, deren Maß und Frucht, sowie die Personen ins Auge faßt. Das Maß deshalb, weil er Unvollkommenen den Rat erteilte; denn nur Unvollkommene leiden Not. Doch wenn ein Angestellter im Priester- oder Dieneramte der Kirche nicht zur Last fallen möchte und darum nicht alles, was er hat, weggibt, sondern in Ehren soviel leistet, als für seine Stellung genügt, ist er meines Erachtens kein Unvollkommener. Und ich glaube, daß der Apostel an unserer Stelle auch nicht von der Engherzigkeit, sondern vom knappen häuslichen Vermögen redete.

S. 85 153. Auf die Personen aber bezieht sich nach meinem Dafürhalten sein Ausspruch: „Euer Überfluß diene für die Not jener, und der Überfluß jener für eure Not“, d. i. des Volkes Überfluß habe die gute Wirkung, daß dem Mangel an Lebensmitteln unter jenen (Kirchendienern) gesteuert werde; und der geistige Überfluß der letzteren komme dem geistigen Verdienstmangel unter dem Volke zugute und verschaffe ihm Gnade.

154. Als bestes Beispiel führt er darum an: „Wer viel hatte, hatte nicht Überfluß, und wer wenig, hatte nicht Mangel.“ Trefflich mahnt dieses Beispiel jedermann an die Pflicht der Barmherzigkeit. Denn auch wer eine Menge Gold hat, besitzt keinen Überfluß; denn ein Nichts ist alles in dieser Welt. Und wer wenig hat, dem mangelt nichts; denn ein Nichts ist, wessen er entratet. Eine Sache, die lauter Verlust ist, kann keinen Verlust erleiden.

155. Auch so ergibt sich ein guter Sinn: Wenn einer, der sehr wohlhabend ist, auch nichts gibt, lebt er nicht in Überfluß; denn er mag noch soviel erwerben, er darbt stets, weil er noch mehr begehrt. Und wer wenig besitzt, dem mangelt nichts; denn nicht viel bedarf es, um den Armen zu nähren. Ebenso hat darum auch jener Arme, der geistliche Güter statt Geld mitteilt, keinen Überfluß, mag er über noch so viele Gnade verfügen; denn die Gnade beschwert den Geist nicht, sondern erhebt ihn.

156. Doch auch so kann man es verstehen: Du hast keinen Überfluß, o Mensch. Wieviel ist es denn, was du empfangen, selbst wenn es für dich viel wäre? Niemand war unter den von Weibern Geborenen größer als Johannes, und doch war er kleiner als der Kleinste im Himmelreiche.

157. Auch folgende Erklärung ist möglich: Gottes Gnade ist nicht materiell in Überfluß vorhanden, weil S. 86 sie geistig ist. Wer könnte ihre Größe oder Breite gewahren, nachdem sie unsichtbar ist? Der Glaube, selbst wenn er nur einem Senfkorn gliche, kann Berge versetzen. Und mehr wie ein Senfkorn wird dir nicht gegeben. Würdest du überreich mit Gnade bedacht werden, stünde nicht zu befürchten, es möchte dein Geist ob des so großen Geschenkes sich zu überheben anfangen? Es gibt ja viele, die aus der Höhe (Hochmut) ihres Herzens einen schwereren Sturz erlitten, als wenn sie Gottes Gnade überhaupt nicht besessen hätten. Und hat man weniger, liegt darin keine Einbuße, weil es sich nicht um etwas physisch Teilbares handelt. Und dünkt es auch den Besitzenden wenig, es ist sehr viel, weil ihm nichts abgeht.

158. Beim Spenden soll man ferner das Alter und die Gebrechlichkeit ins Auge fassen, mitunter auch die Würde, welche die vornehme Geburt verrät. Alte Personen, die sich durch Arbeit den Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können, wird man also reichlicher beschenken. Ebenso ist die leibliche Gebrechlichkeit (ins Auge zu fassen): auch sie soll bereitwilliger unterstützt werden; desgleichen einer, der von Reichtum in Armut gefallen ist, namentlich wenn er nicht durch eigenes Verschulden, sondern durch Erpressungen oder durch Ächtung oder durch falsche Anklagen seine Habe verloren hat.

159. Doch vielleicht möchte einer sagen: Ein Blinder sitzt an der gleichen Stelle, und man geht an ihm vorüber; ein kräftiger junger Mensch dagegen bekommt häufig etwas. Ja es ist wahr, weil er es durch seine Aufdringlichkeit ergattert. Nicht aus Überlegung, sondern aus Überdruß erklärt sich das. Sagt ja auch der Herr im Evangelium von jenem, der seine Türe bereits verschlossen hatte, daß er, wenn jemand allzu S. 87 ungestüm an seine Türe klopft, aufsteht und demselben wegen seiner Aufdringlichkeit gibt.

XXXI. Kapitel: Von der Wiedererstattung des Guten =

Sie ist Pflicht und mißt nicht mit gleichem, sondern mit reichlicherem Maße

160. Schön ist’s sodann, vorzugsweise den zu berücksichtigen, der dir, sei es eine Wohltat erwiesen, sei es ein Geschenk gemacht hat, falls er selbst in Not geraten ist. Was wäre auch so pflichtwidrig, als Empfangenes nicht zu vergelten? Und nicht mit gleichem, sondern mit reichlicherem Maß, glaube ich, sollte man vergelten und hierbei den praktischen Wert einer Wohltat ins Auge fassen, um auch seinerseits soweit zu helfen, daß man der traurigen Lage des Dürftigen abhilft. In der Gegenleistung die Leistung einer Wohltat nicht überbieten, heißt weniger leisten; denn wer zuerst gibt, hat zeitlich den Vorsprung voraus, in der Menschenfreundlichkeit den ersten Schritt getan.

nach dem Vorgang der Natur

161. Wir sollen daher auch in diesem Punkt die natürliche Gepflogenheit der Erde nachahmen, die den aufgenommenen Samen in der Regel vielfältiger zurückerstattet, als sie ihn empfängt. Dir gilt sonach das Schriftwort: „Wie ein Saatfeld ist der törichte Mensch und wie eine Weinpflanzung der Geistesarme: läßt man ihn brach liegen, wird er veröden“. Wie ein Saatfeld ist auch der Weise: er legt sich gleichsam den aufgenommenen Samen auf Zinsen an und stattet ihn S. 88 in größerem Maß zurück. Die Erde nun bringt entweder von selbst ihre Früchte hervor oder erstattet und gibt sie, wenn sie ihr anvertraut wurden, in reichlicherer Fülle wieder. Beides schuldest du gleichsam nach dem von der Mutter (Erde) ererbten Brauch, um nicht brach zu bleiben gleich einem unfruchtbaren Acker. Doch gesetzt den Fall, ein Nichtgeben lasse sich entschuldigen: wie ließe sich ein Nichtwiedererstatten entschuldigen? Ein Nichtgeben geht schwerlich, ein Nichtwiedererstatten aber gar nicht an.

der Gastregel Salomos, der Verheißung Christi

162. Daher Salomos schöner Ausspruch: „Sitzst du bei einem Mächtigen zu Tische, achte weise darauf, was dir vorgesetzt wird, und strecke deine Hand aus im Bewußtsein, daß auch du solches zubereiten mußt. Bist du aber ein Nimmersatt, laß dich’s nicht nach seinen Bissen gelüsten; denn sie enthalten fälschlich Leben“. Diese Gedanken schrieben wir nieder im Verlangen, sie nachzuahmen. Gnade erweisen ist gut; ganz verhärtet aber müßte jener sein, der sie nicht zu erwidern wüßte. Selbst die Erde legt das Beispiel der Menschenfreundlichkeit nahe. Sie spendet von selbst Früchte, die man nicht säte; sie gibt ferner das Empfangene in vielfältiger Frucht wieder. Geld, das man dir vorzählte, darfst du nicht ableugnen: wie dürftest du eine empfangene Gefälligkeit unerwidert lassen? Auch unter den Sprüchen findest du, daß diese Wiedererstattung einer Gefälligkeit bei Gott gar viel zu gelten pflegt, so daß sie selbst am Tage des (Welt-) Unterganges, da die Sünden das Übergewicht bekommen könnten, Gnade findet. Und was soll ich noch andere Beispiele anziehen, da der Herr selbst den Verdiensten der Heiligen im Evangelium überreichliche Vergeltung verheißt und zum guten Wirken mit den Worten auffordert: „Vergebt, und es wird euch vergeben werden! Gebt, S. 89 und es wird euch gegeben werden! Ein gutes, gerütteltes, überfließendes Maß wird man euch in den Schoß geben“.

163. So besteht auch jenes Gastmahl Salomos nicht aus Speisen, sondern aus guten Werken. Woran laben sich denn die Seelen besser als an den guten Werken? Oder was anders könnte den Geist der Gerechten so leicht sättigen als das Bewußtsein des guten Handelns? Welch köstlichere Speise aber gäbe es, als den Willen Gottes zu tun? Diese Speise allein hatte der Herr in Überfluß, wie er beteuerte. So steht im Evangelium geschrieben: „Meine Speise ist es, den Willen meines Vaters zu tun, der im Himmel ist“.

164. Erfreuen wir uns an jener Speise, welche der Prophet im Auge hatte mit der Aufforderung: „Freue dich im Herrn!“ An jener Speise erquicken sich jene, welche mit bewunderungswürdigem Geiste höhere Freuden erfassen lernten; welche zu verstehen vermögen, welcher Art jene reine und unsichtbare geistige Freude ist. Laßt uns denn die Brote der Weisheit essen und uns sättigen am Worte Gottes! Denn nicht im Brote allein, sondern in jeglichem Worte Gottes ruht das Leben des Menschen, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist. Über den Trank aber äußert sich mit hinlänglicher Deutlichkeit Job: „Wie die Erde, wenn sie auf den Regen wartet, so (warten) auch diese auf meine Worte“.

XXXII. Kapitel: Vom Wohlwollen

Salomos Gastmahl die Hl. Schrift

165. Schön ist’s, wenn die Sprache der göttlichen Schrift uns träufelt und Gottes Wort wie Tau auf uns niedersteigt. Sitzt du nun bei jenem Mächtigen zu Tische, so bedenke, wer jener Mächtige ist, und erwäge im Paradies der Lust und beim Mahl der Weisheit, was dir vorgesetzt ist! Die göttliche Schrift ist das Mahl der Weisheit, die verschiedenen Bücher derselben die verschiedenen Gerichte. Beachte erst, was die Gerichte an Speisen bieten, und dann strecke die Hand danach aus! Und was du liest, oder vielmehr vom Herrn deinem Gott empfängst, sollst du ins Werk setzen und die dir gewordene Gnade in deinen Amtsverrichtungen zeigen, gleich Petrus und Paulus, die durch die Verkündigung des Evangeliums dem, der ihnen das Amt verliehen hatte, eine Art Gegenleistung erstatteten, so daß jeder sprechen konnte: „Durch die Gnade Gottes aber bin ich, was ich bin, und seine Gnade war nicht kümmerlich in mir, sondern ich habe reichlicher denn alle gearbeitet“.

Wohlwollen die reichlichste, oft einzige Gegengabe

166. Der eine nun zahlt die empfangene Wohltat, die er genossen, zurück: so Gold mit Gold, Silber mit Silber; ein anderer erstattet hierfür Arbeit, ein anderer vielleicht noch reichlicher nur allein Wohlwollen. Denn wie, wenn zur Gegenleistung keine Möglichkeit besteht? Bei der Wiedererstattung einer Wohltat leistet die Gesinnung mehr als das Vermögen, und wiegt das Wohlwollen schwerer als die Möglichkeit einer Gegengabe. Man erstattet eben den Dank mit dem, was man hat. Etwas Großes ist es sonach um das Wohlwollen, das, selbst wenn es nichts gibt, gar reichlich spendet und, obschon es ohne allen Vermögensbesitz ist, an gar viele austeilt. Und das tut es ohne die geringste eigene Einbuße, zum Vorteile aller. Es gebührt sonach dem S. 91 Wohlwollen der Vorzug selbst vor der Freigebigkeit. Es ist an sittlichem Gehalt reicher, als letztere an Gaben; denn derer, die des Wohltuns bedürfen, sind mehr als derer, die Überfluß haben.

die Sonne im menschlichen Verkehr

167. Das Wohlwollen aber ist mit der Freigebigkeit verbunden: von ihm nimmt die Freigebigkeit selbst ihren Ausgang, indem das freigebige Handeln der freigebigen Gesinnung folgt. Es ist aber auch davon getrennt und geschieden: wenn die Freigebigkeit aufhört, dauert das Wohlwollen fort, gleichsam der väterliche Gönner aller, der Freundschaft knüpft und bindet, verlässig im Rat, heiter im Glück, traurig in trüben Stunden, so daß jeder dem Rate eines Wohlwollenden sich noch lieber fügt als dem eines Weisen, wie David, obschon der Klügere, gleichwohl den Ratschlägen des jüngeren Jonathas folgte. Nimm das Wohlwollen aus dem menschlichen Verkehr, und es wird sein, als hättest du die Sonne aus der Welt genommen. Ohne dasselbe ist ja ein menschlicher Verkehr undenkbar, daß man beispielsweise einem Fremden den Weg zeigt, einen Irrenden zurückruft, einem Gastfreundschaft erweist — keine geringe Tugend, der sich Job mit den Worten rühmte: „Draußen aber wohnte kein Fremder, meine Türe stand jedem Ankömmling offen“ —, einem Wasser vom quellenden Wasser reicht, Licht von seinem Licht anzündet. So erweist sich denn das Wohlwollen hierin allen als ein Wasserquell, der den Durstenden laben, als ein Licht, das auch in anderen leuchten soll, ohne dem zu mangeln, der von seinem Lichte dem anderen das Licht anzündete.

Schuldnachlaß ein Akt besonderen Wohlwollens

S. 90 168. Auch das ist wohlwollende Freigebigkeit, daß man einen Schuldschein, den man etwa besitzt, zerreißt und zurückstellt, ohne vom Schuldner einen Pfennig von der Schuldsumme bekommen zu haben. Daß wir das tun sollen, dazu mahnt uns der heilige Job durch S. 92 sein eigenes Beispiel. Wer nämlich hat, borgt nicht; wer nicht hat, löscht den Schuldschein nicht. Wie nun? Wenn du auch selbst nicht habgierig auf dessen Einlösung bestehst, hebst du ihn den übelwollenden Erben auf, während du ihn doch deiner wohlwollenden Gesinnung zum Lob ohne Geldeinbuße zurückstellen könntest.

Die Familie, bezw. das Paradies der Ausgangspunkt des Wohlwollens in der menschlichen Gesellschaft

169. Und um die Besprechung noch zu vervollständigen, so nahm das Wohlwollen seinen ersten Ausgang von den Familienangehörigen, d. i. den Kindern, Eltern und Geschwistern, nahm dann allmählich auf Grund enger Beziehungen den Weg in den Bereich der Gemeinwesen und erfüllte, vom Paradiese stammend, die Welt. So sprach denn auch Gott, als er in Mann und Weib die Gesinnung des Wohlwollens gelegt hatte: „Sie werden beide in einem Fleische“ und in einem Geiste sein. Darum gerade glaubte Eva der Schlange, weil sie, die das Wohlwollen empfangen hatte, kein Übelwollen argwöhnte.

XXXIII. Kapitel: Vom Wohlwollen =

Dessen Zuwachs in der Kirche

170. Einen Zuwachs erfährt das Wohlwollen durch die Kirchengemeinschaft, durch den gemeinsamen Glauben, das einigende Band der Taufe, die innige Beziehung auf Grund des Gnadenempfanges, die Teilnahme an den Geheimnissen. Diese Dinge begründen ja sogar den Anspruch auf Namen, die eine Verwandtschaft bezeichnen, auf ‚kindliche‘ Ehrfurcht, ‚väterliche‘ Autorität und Liebe, ‚brüderliche‘ Gesinnung. Gar viel trägt sonach S. 93 die aus der Gnade entspringende Verwandtschaft zur Mehrung des Wohlwollens bei.

sowie durch gleiche Tugendbestrebungen und Charakteranlagen

171. Eine Förderung bedingen auch die gleichen Tugendbestrebungen. Schafft doch das Wohlwollen auch eine Ähnlichkeit im sittlichen Verhalten. So ahmte der Königssohn Jonathas Davids Sanftmut nach, weil er ihn liebte. Daher ist auch der Ausspruch: „Mit dem Heiligen wirst du heilig sein“, wie es scheint, nicht bloß auf den Umgang, sondern auch auf das Wohlwollen zu beziehen. Denn auch die Söhne Noës wohnten zusammen, und doch bestand keine Gleichförmigkeit des sittlichen Verhaltens unter ihnen. Ebenso wohnten Esau und Jakob im Hause des Vaters, waren aber ungleiches Sinnes. Denn es herrschte unter ihnen nicht das Wohlwollen, das dem anderen den Vorzug vor sich eingeräumt hätte, sondern vielmehr Eifersucht, die den (Vater-) Segen vorwegnahm. Da nämlich der eine sehr widerhaarig, der andere sanft war, so konnte bei den ungleichen Charakteranlagen und dem entgegengesetzten Interesse von Wohlwollen nicht die Rede sein. Nimm hinzu, daß der heilige Jakob den entarteten Sprossen des Vaterhauses der Tugend nicht vorziehen konnte.

Gerechtigkeit und Starkmut mit dem Wohlwollen verbunden

172. Nichts aber steht in so innigem Bunde als die Gerechtigkeit mit der Billigkeit. Gleichsam Gefährtin und Genossin des Wohlwollens, bewirkt dieselbe, daß wir gerade jene lieben, welche wir für unseresgleichen halten. Aber auch Starkmut trägt das Wohlwollen in sich. Da nämlich die Freundschaft aus der Quelle des Wohlwollens entspringt, trägt sie kein Bedenken, für den Freund schwere Lebensgefahren auf sich zu nehmen. „Und sollte mir Schlimmes durch ihn widerfahren“, spricht sie, „ich nehme es auf mich“.

XXXIV. Kapitel: Vom Wohlwollen

Weitere Früchte des Wohlwollens

173. Wohlwollen pflegt selbst dem Zorn das Schwert zu entwinden. Wohlwollen macht, daß des Freundes Wunden nützlicher sind als freiwillig gebotene Feindesküsse. Wohlwollen macht, daß aus mehreren einer wird; denn sind mehrere Freunde, werden sie eins, indem ein Geist, eine Auffassung sie beseelt. Zugleich gewahren wir, daß selbst Zurechtweisungen bei der Freundschaft willkommen sind. Sie haben ihren Stachel, schmerzen aber nicht. Wohl treffen nämlich die Strafreden unser Herz, doch das besorgte Wohlwollen erfreut uns.

Abschließende Urteile hierüber

174. Alles in allem: Man schuldet nicht immer allen die gleichen Dienste. Und nicht die Personen sind stets in erster Linie zu berücksichtigen, sondern gar manchmal die Umstände und die Zeit, so daß man mitunter lieber dem Nachbar als dem Bruder helfen soll. Auch Salomo beteuert nämlich: „Besser ein Nachbar in nächster Nähe als ein Bruder, der in der Ferne wohnt“. Eben darum vertraut einer oft lieber einem wohlwollenden Freunde als einem blutsverwandten Bruder. Soviel vermag Wohlwollen, daß es vielfach über Lieblinge, die uns von Natur verbunden sind, den Sieg davonträgt.

XXXV. Kapitel: Vom Starkmut =

Einteilung und Vorzüglichkeit desselben

175. Einläßlich genug haben wir dort, wo wir von der Gerechtigkeit handelten, Wesen und Bedeutung des sittlich Guten besprochen. Jetzt wollen wir von der Tapferkeit handeln. Als hätte sie etwas vor den übrigen Tugenden voraus, zerfällt sie in die kriegerische und heimische Tapferkeit. Freilich scheint das Interesse an den Kriegsangelegenheiten unserem Dienst bereits fernzuliegen; denn mehr auf einen geistigen als physischen Dienst ist unser Sinnen und Trachten gerichtet, und nicht dem Waffenhandwerk, sondern der Friedenssache gilt unser Handel und Wandel. Dagegen ernteten unsere Altvordern, wie Jesus Nave (Josue), Jeroboal (Gedeon), Samson, David auch im Krieg den höchsten Ruhm.

Die kriegerische Tapferkeit bedarf notwendig der Gerechtigkeit

S. 95 176. Die Tapferkeit ist sonach eine Tugend, gewissermaßen über die anderen erhaben, doch nimmer ohne deren Begleitung. Denn sie darf sich selbst nicht trauen. Andernfalls ist die Tapferkeit ohne die Gerechtigkeit nur ein Hebel zum Bösen. Denn je stärker sie ist, um so mehr neigt sie zur Unterdrückung des Schwächeren. Und doch hält man dafür, daß auch in Sachen des Krieges darauf zu achten ist, ob Kriege gerecht oder ungerecht sind.

und Klugheit zu Begleiterinnen

177. Nie führte David einen Krieg, ohne dazu gereizt zu sein. Daher hatte er die Klugheit zur Begleiterin der Tapferkeit in der Schlacht. Selbst da er wider Goliath, einen Unmenschen an Leibesgröße, zum Einzelkampf sich anschickte, wies er die Waffen zurück, die S. 96 ihn beschwerten; denn die Manneskraft stützt sich lieber auf den eigenen Arm als auf fremde Deckung. Sodann streckte er den Feind mit einem Steinwurf aus größerer Entfernung, um ihn wuchtiger zu treffen, nieder. Auch später fing er nie einen Krieg an, ohne den Herrn zu Rate gezogen zu haben. Deshalb ging er aus allen Schlachten als Sieger hervor. Die Hand bis ins höchste Greisenalter am Schwerte, mischte er sich in Kriege wider die Titanen als Kämpfer unter die wilden Heerscharen, voll Verlangen nach Ruhm, unbekümmert um sein Leben.

178. Doch nicht das allein nur ist ruhmvolle Tapferkeit: uns gilt vielmehr auch die Tapferkeit jener Gläubigen für herrlich, die kraft des Glaubens durch ihre Seelengröße „der Löwen Rachen verschlossen, die Gewalt des Feuers auslöschten, der Schärfe des Schwertes entrannen, aus Schwachen zu Helden erstarkten“; die nicht, von Gefolgschaft und Legionen umgeben, im Verein mit vielen anderen den gemeinsamen Sieg, sondern allein durch ihre bloße Seelenkraft den Triumph über die Ruchlosen davontrugen. Wie unbesieglich war Daniel, der vor den Löwen, die zu seinen Seiten brüllten, nicht zitterte! Die Bestien knirschten — und er aß.

XXXVI. Kapitel: Vom Starkmut: Der seelische Starkmut =

179. S. 97 [Abweichung der Zählung ggüber Migne Pl tom. 016 Ambr. 0339-0397 c. 75C: C. XXXV endet mit n. 178, und C. XXXVI beginnt mit n. 178′] Ruhmvolle Tapferkeit beruht nicht bloß in der Körperkraft und den Armmuskeln, sondern mehr noch in der Kraft der Seele. Und das Gesetz für diese Kraft lautet: nicht Unrecht tun, sondern ihm wehren. Denn wer nicht von seinem Mitmenschen Unrecht abwehrt, wenn er kann, ist ebenso schuldbar wie jener, der es begeht. Daher machte der heilige Moses gerade damit den ersten Anfang, um sich für kriegerische Tapferkeit zu schulen. Als er nämlich einen Hebräer von seiten eines Ägypters Unrecht leiden sah, verteidigte er ihn in der Weise, daß er den Ägypter niederstreckte und im Sande verscharrte. Ebenso mahnt Salomo: „Errette den, der zum Tode geführt wird!“

Seine Norm entlehnten die Profanschriftsteller aus der Hl. Schrift

180. Es liegt also hinlänglich zutage, woraus Tullius, oder auch Panätius, oder selbst Aristoteles diese Anschauung entlehnt haben. Übrigens hat auch Job, der älter als diese beiden ist, den Ausspruch getan: „Ich rettete den Armen aus der Hand des Mächtigen und half der Waisen, die keinen Beistand hatte. Der Segen des dem Untergang Geweihten komme über mich!“ Ist das nicht ein tapferer Held, der so mutig die Angriffe des Feindes ertrug und mit der Kraft seines Geistes überwand? Kein Zweifel aber kann über die Tapferkeit dessen bestehen, den der Herr auffordert: „Gürte wie ein Mann deine Lenden, lege Hoheit und Kraft an! Jeden aber, der Unrecht tut, demütige!“ Ebenso versichert der Apostel: „Ihr habt den tapferen Trost“. Tapfer ist sonach, wer im Leiden welcher Art immer getrostes Mutes bleibt.

Wahre Tapferkeit bezwingt sich selbst

181. Und mit Recht fürwahr nennt man das Tapferkeit, wenn einer sich selbst besiegt, den Zorn bezwingt, durch keine Lockungen sich umstimmen und beugen läßt, im Unglück die Fassung nicht verliert, im Glück S. 98 nicht übermütig wird und im Wandel der mannigfach wechselnden Dinge nicht wie eine Windfahne hin- und herschwankt. Was gibt es aber Erhabeneres und Großartigeres, als den Geist zu schulen, das Fleisch zu beherrschen und dienstbar zu machen, daß es seinem Befehle gehorcht, seinen Ratschlägen folgt, um unverdrossen, wenn es Kampf und Mühe zu bestehen gilt, das Vorhaben und den Willen der Seele auszuführen.

Die zwei Wirkungen des seelischen Starkmutes

182. Das nun ist die erste Wirkung des Starkmutes. In zweifacher Art tritt nämlich der seelische Starkmut in die Erscheinung. Fürs erste soll er das Äußerliche am Leibe recht gering einschätzen und als etwas Überflüssiges lieber für verächtlich denn für begehrenswert erachten; fürs zweite die höchsten Güter und all das, worin man das sittlich Gute und jenes πρέπον [prepon] (Schickliche) erblickt, klar ins Auge fassen und solange anstreben, bis er es erreicht hat. Was wäre denn so klar als die Notwendigkeit, deine Seele derart zu schulen, daß du die höchsten Güter weder in Reichtum, noch in Vergnügen, noch in Ehren setzest und nicht dein ganzes Streben darauf verschwendest? Bei solcher inneren Gesinnung wirst du notwendig jenes sittlich Gute und Schickliche vorziehen zu müssen glauben und dein Sinnen so darauf richten, daß du über alles, was da kommt und den Mut zu brechen pflegt, wie Vermögenseinbuße oder Ehrenverlust oder Anfeindung von seiten der Ungläubigen, erhaben bist, ohne es zu fühlen, und daß dich ferner selbst Lebensgefahren, die du für die Gerechtigkeit auf dich nimmst, nicht aus der Fassung bringen.

Des hl. Paulus Mahnung und Beispiel für die Gläubigen im allgemeinen

183. Das ist der wahre Starkmut, den Christi Streiter besitzt, der nicht gekrönt wird, wenn er nicht rechtmäßig gekämpft hat. Oder dünkt dich das Gebot des Starkmutes für gering: „Die Drangsal wirkt Geduld, die Geduld Bewährung, die Bewährung aber Hoffnung“? Sieh, wie viele Kämpfe — und eine Krone! S. 99 Dieses Gebot gibt nur einer, der in Christus Jesus befestigt war, dessen Fleisch keine Ruhe hatte. Bedrängnis von allen Seiten: außen Kämpfe, innen Ängste. Und obschon in Gefahren, in tausend Mühen, in Kerkerhaft, in Todesnöten schmachtend, ließ er den inneren Mut nicht sinken, sondern kämpfte, bis er über seine Schwächen Herr war.

für die Kirchendiener im besonderen

184. Betrachte nun, wie er jenen, die sich dem Kirchendienste weihen, die Pflicht der Geringschätzung der menschlichen Dinge einschärft! „Wenn ihr also mit Christus den Weltdingen abgestorben seid, was stellt ihr noch, als lebtet ihr von dieser Welt, die Satzungen auf: ‚berührt nicht, betastet nicht, kostet nicht!‘, Dinge, die doch alle schon durch den bloßen Gebrauch zur Vernichtung bestimmt sind?“ Und im folgenden: „Wenn ihr nun mit Christus mitauferstanden seid, so suchet, was oben ist!“ Und wiederum: „So ertötet denn eure Glieder, die der Erde angehören!“ Und zwar gilt dies noch für alle Gläubigen. Dir aber, mein Sohn, rät er Verachtung des Reichtums, ebenso Meidung unwürdigen Altweiberklatsches an und läßt nur das zu, was dich zur Frömmigkeit schult; „denn leibliche Schulung ist zu nichts nütze, Frömmigkeit aber ist zu allem nützlich“.

Folgerungen für den Streiter Gottes

185. Frömmigkeit führe dich sonach in die Schule der Gerechtigkeit, der Enthaltsamkeit und Sanftmut ein, auf daß du das Treiben der Jugend fliehest, in der Gnade gefestigt und gewurzelt, den guten Kampf des Glaubens auf dich nehmest und als Gottes Streiter nicht in weltliche Geschäfte dich verwickelst. Denn wenn schon einem Krieger im Dienste des Kaisers kraft menschlicher Gesetze die Übernahme von Rechtshändeln, die Ausübung von Marktgeschäften, der Verkauf von Handelswaren verboten ist, wieviel mehr soll der Streiter im Glaubenskampf von jeder Ausübung eines S. 100 Handelsgeschäftes Abstand nehmen, zufrieden mit dem Ertrag eines Äckerchens, wenn er eines hat; mit dem Ertrag der Löhnung, wenn er keines hat! Ist doch ein guter Zeuge dafür jener, der versichert: „Ich war ein Jüngling und ward ein Greis und sah keinen Gerechten verlassen, noch seine Nachkommen um Brot betteln“. Darin nämlich besteht die Ruhe und Mäßigung der Seele, daß sie sich weder von Gewinnsucht einnehmen, noch durch Furcht vor Armut ängstigen läßt.

XXXVII. Kapitel: Vom Starkmut =

Der Gleichmut der Seele im Glück und Unglück

186. Auch das schließt das sogenannte „Freisein der Seele von Beunruhigungen“ ein, daß wir weder im Schmerz zu wehleidig, noch im Glück zu übermütig sind. Wenn schon jene, die jemand zur Übernahme eines öffentlichen Amtes auffordern, solche Weisungen geben, wieviel mehr sollten wir im Falle der Berufung zu einem Kirchendienste nur das tun, was Gott gefällt! Die Kraft Christi soll Wehr und Schild in uns sein. Und also erprobt, laßt uns vor unserem Gebieter stehen, daß unsere Glieder „Waffen der Gerechtigkeit“ sind: nicht „fleischliche Waffen“, worin die Sünde herrscht, sondern „Waffen stark für Gott“, welche den Sturz der Sünde, den Tod unseres Fleisches herbeiführen sollen, auf daß jede Schuld in ihm ersterbe, und wir kraft neuen Handels und Wandels gleichsam von den Toten auferstehen!

Die Flucht in Zeiten der Glaubensverfolgung des Herrn Wille

S. 101 187. Das ist der Waffendienst der Tapferkeit, voll ehrenhafter und schicklicher Pflichterfüllung. Weil wir aber bei allem, was wir tun, nicht bloß nach dem Schicklichen, sondern auch nach dem Möglichen fragen, um nicht vielleicht etwas zu beginnen, was wir nicht zu vollenden vermögen, darum will der Herr, daß wir in der Zeit der Verfolgung von Stadt zu Stadt ziehen, oder vielmehr, um seinen Ausdruck selbst zu gebrauchen, ‚fliehen‘, damit nicht einer aus Verlangen nach dem Ruhme des Martyriums vermessen in Gefahren sich begebe, die das schwache Fleisch oder der zu wenig kräftige Geist nicht zu tragen und zu bestehen vermögen.

XXXVIII. Kapitel: Vom Starkmut

Stählung des Geistes gegen künftige Widerwärtigkeiten

188. Umgekehrt darf niemand aus Feigheit weichen und aus Furcht vor Gefahr vom Glauben lassen. Darum muß die Seele vorbereitet, der Geist geschult und zur Standhaftigkeit gestählt werden, daß er sich durch keine Drohungen beirren, durch keine Qualen beugen, durch keine Marter zum Weichen bringen lasse. Das ist freilich hart hinzunehmen. Aber weil alle Qualen durch die Furcht vor noch schwereren sich überwinden lassen, vermagst du innerlich standhaft zu sein, wenn du deine Seele durch ruhiges Überlegen stärkst, nicht der Vernunft dich begeben zu dürfen glaubst, sowie die Furcht vor dem göttlichen Gerichte, die Qualen der ewigen Strafe dir vor Augen stellst.

189. Dieses Sichvorbereiten ist Sache des Eifers, Sache der Einsicht ist die Fähigkeit, kraft des Geistes S. 102 vorauszusehen, was zukünftig ist; sich gleichsam vor Augen zu stellen, was möglicherweise eintritt; genau festzusetzen, was zu tun ist, wenn es eintritt; mitunter zwei und drei Fälle auf einmal zu überdenken, die nach Berechnung des Betreffenden einzeln oder zusammen eintreten können; und für diese vereinzelt oder zusammen eintretenden Fälle jene Vorkehrungen zu treffen, die sich seiner Überzeugung nach als zweckdienlich erweisen werden.

190. Es gehört zu einem tapferen Mann, daß er sich nichts verhehlt, wenn etwas bevorsteht, sondern daß er sich vorsieht, wie von einer geistigen Warte aus prüft und mit besonnenem Denken den künftigen Dingen begegnet. Er soll nicht nachher sagen müssen: deshalb geriet ich in diese Lage, weil ich an ihr Eintreten nicht glaubte. So überrascht einen denn plötzlich das Unglück, wenn man ihm nicht prüfend entgegensieht. Wie im Kriege dem unversehens nahenden Feind kaum standzuhalten ist, wie man den unvorbereitet betroffenen Gegner leicht überwältigt, so drücken auch unvorhergesehene Übel die Seele um so schwerer nieder.

191. In folgenden beiden Funktionen bekundet sich der Seelenadel: fürs erste soll dein Geist, in der Schule guter Gedanken erzogen, reinen Herzens schauen, was wahr und tugendhaft ist — denn „selig, die reinen Herzens sind, sie werden sogar Gott schauen“ — und nur das Tugendhafte für gut halten; sodann durch keine Beschäftigungen sich beirren, durch keine Lüste sich wankend machen lassen.

192. Das bringt einer freilich nicht so leicht fertig. Denn was wäre so schwierig, als vom Standpunkt der Weisheit wie von einer Burg auf Reichtum und alles andere, was so vielen groß und erhaben dünkt, mit Verachtung herabzublicken? Ferner in ruhigem, S. 103 vernünftigem Denken sich ein festes Urteil zu bilden und das Leichtbefundene als nichtsnutzig zu verschmähen? Sodann einen Unglücksfall, den man schwer und bitter empfindet, so zu ertragen, daß man ihn nicht für etwas Naturwidriges hält, indem man liest: „Nackt bin ich geboren, nackt will ich scheiden. Was der Herr gegeben, hat der Herr genommen“ — hatte er (Job) doch sowohl seine Kinder wie sein Vermögen verloren — und in allem die Rolle des Weisen und Gerechten zu wahren, wie jener sie wahrte, der bekannte: „Wie es dem Herrn gefallen, so ist es geschehen: der Name des Herrn sei gepriesen!“ Und im folgenden: „Wie eines der unverständigen Weiber hast du gesprochen. Haben wir das Gute aus der Hand des Herrn angenommen, wollen wir das Schlimme nicht auf uns nehmen?“

XXXIX. Kapitel: Vom Starkmut =

Er ist ein Streiter der Tugend wider das Laster

193. Nichts Geringes also ist die Tapferkeit, auch nicht eine von den übrigen getrennte Eigenschaft, die mit den Tugenden im Krieg läge, sondern die allein aller Tugenden Schmuck und Zier verteidigt und ihre Entschließungen hütet; die in unversöhnlichem Kampf wider alle Laster streitet, unbesieglich in Mühen, mutig in Gefahren, streng gegen die Lüste, verhärtet gegen die Lockungen, für die sie kein Ohr hat und kein ‚willkommen‘ (wie man sagt) spricht; die Geld verachtet, Habsucht wie die Pest meidet, weil sie die Tugend S. 104 entnervt. Nichts widerstrebt ja der Tapferkeit so, als von Gewinnsucht sich besiegen zu lassen. Schon oft fand ein Krieger, nachdem der Feind bereits geschlagen, das gegnerische Heer zum Fliehen gebracht war, unter eben denen, die er geschlagen hatte, ein klägliches Ende, indem er sich von der Beute der Gefallenen anlocken ließ; (schon oft) wurden Legionen, während sie über die Siegesbeute herfielen, um ihre Lorbeeren gebracht und führten den schon geflohenen Feind von neuem wider sich heran.

194. So soll denn der Starkmut der so verhängnisvollen Pest (der Habsucht) wehren und sie vernichten, nicht durch Lüste sich beirren, noch durch Furcht sich entmutigen lassen. Denn darin muß sich die Tugend treu bleiben, daß sie tapfer alle Laster als das Gift der Tugend verfolgt; den Zorn, der die Besinnung raubt, wie mit Waffengewalt abschlägt und wie eine Krankheit meidet; desgleichen vor Sucht nach Ruhm sich in acht nimmt, der, wenn übermäßig begehrt, häufig, wenn widerrechtlich, stets Schaden stiftete.

Jobs Beispiel

195. Was wäre hierin dem heiligen Job sei es an Tugend entgangen, sei es an Laster unterlaufen? Wie ertrug er die harte Heimsuchung der Krankheit, der Kälte, des Hungers! Wie verachtete er die Gefahr für sein Leben! War etwa sein Reichtum, von dem so viel den Dürftigen zufloß, durch Erpressungen zusammengerafft? Weckte das Vermögen den Geiz, oder die Lust und Begierde nach Genuß? Riß ihn der kränkende Hader der drei Könige oder die Beschimpfung der Knechte zum Zorn fort? War er leichten Sinnes, daß Ruhm ihn überhob: er, der schwere Strafe auf sich herabbeschwor, wenn er je auch nur unfreiwillige Schuld verheimlicht hätte, oder wenn er vor dem zahlreichen Volke sich gescheut hätte, sie vor aller Augen kundzutun? Die Tugenden haben ja mit den Lastern nichts S. 105 gemein, sondern bleiben sich selbst treu. Wer wäre also so tapfer wie der heilige Job? Wem könnte dieser nachgesetzt werden, nachdem er kaum seinesgleichen findet?

XL. Kapitel: Vom Starkmut

Auch den Unsrigen hat es nicht an kriegerischer Tapferkeit gefehlt. Biblische Beispiele

196. Doch vielleicht hält der Kriegsruhm manche so im Bann, daß sie meinen, es gebe nur eine kriegerische Tapferkeit, und ich sei deshalb auf die obigen Ausführungen abgeschweift, weil dieselbe den Unsrigen fehle. Wie tapfer war Jesus Nave (Josue), daß er in einem Treffen fünf Könige gefangen nahm und samt ihren Völkern zerschmetterte! Als sich sodann wider die Gabaoniter Krieg erhob und Josue fürchtete, es möchte die Nacht den Sieg verhindern, rief er in seiner Geistes- und Glaubensgröße aus: „Die Sonne stehe still!“ „Und sie stand still“, bis der volle Sieg erkämpft war. Gedeon trug mit dreihundert Mann über ein gewaltiges Volk und einen erbitterten Feind den Sieg davon. Der jugendliche Jonathas bewies seine Manneskraft in einer großen Schlacht. Was soll ich von den Makkabäern sagen?

197. Doch zuvor möchte ich vom Vätervolke überhaupt sprechen. Sie standen schon bereit zum Kampf für den Tempel Gottes und für ihre Rechtsbräuche. Doch am Sabbattage wollten sie, obschon durch die List der Feinde gereizt, lieber den Leib unbewaffnet den Wunden preisgeben als kämpfen, um nicht den Sabbat zu verletzen. So weihten sie sich denn alle S. 106 frohen Mutes dem Tode. Da jedoch die Makkabäer erwogen, daß nach diesem Beispiele das ganze Volk zugrunde gehen könnte, rächten sie auch am Sabbate, nachdem auch sie zum Kampf herausgefordert wurden, die Hinmetzelung ihrer unschuldigen Brüder. Als hierauf der König Antiochus, hierdurch gereizt, durch seine Feldherrn Lysias, Nikanor und Gorgias die Kriegsfackel entfachen ließ, wurde er mit seinen morgenländischen und assyrischen Truppen so vernichtend geschlagen, daß achtundvierzigtausend Mann von dreitausend mitten auf dem Schlachtfelde hingestreckt wurden.

198. Die Tapferkeit des Feldherrn Judas des Makkabäers betrachtet an einem seiner Krieger! Als nämlich Eleazar einen Elefanten bemerkte, der aus den übrigen herausragte und mit königlichem Panzer bewappnet war, vermutete er darauf den König, stürzte sich raschen Laufs mitten durch die Legion vor, warf den Schild weg und versetzte mit beiden Händen dem Tiere den Todesstoß. Im gleichen Augenblick sprang er unter dasselbe, hielt das Schwert darunter und tötete es. Beim Fall nun erdrückte das Tier den Eleazar, und er fand seinen Tod. Welch großer seelischer Starkmut! Fürs erste fürchtete er den Tod nicht; sodann stürzte er sich, rings von feindlichen Legionen umgeben, in die dichten Reihen des Feindes, durchbrach ihre Linie, warf, infolge der Todesverachtung noch trotziger, den Schild weg, kam und nahm es mit dem Tierkoloß auf, den er mit beiden Händen verwundete, und sprang dann unter denselben, um den Stoß noch gründlicher zu führen. Von dessen Sturz mehr eingeschlossen als erdrückt, fand er unter seiner Siegestrophäe sein Grab.

199. Und den Helden trog das Urteil nicht, mochte ihn auch die königliche Tracht täuschen. Denn die S. 107 Feinde, durch ein so unerhörtes Schauspiel der Tapferkeit gebannt, wagten nicht, über den Wehrlosen herzufallen, um ihn zu überwältigen, und gerieten nach dem Sturze des zusammenbrechenden Tieres in solche Angst, daß sie sich insgesamt der Tapferkeit des einen nicht gewachsen fühlten. König Antiochus, des Lysias Sohn, bat daher, voll Schrecken über die Tapferkeit des einen Helden, um Frieden, er, der mit hundertzwanzigtausend Mann und zweiunddreißig Elefanten bewaffnet herangezogen kam, so daß beim Aufgang der Sonne jedes Tier wie ein Berg erschien, der von blitzenden Waffen wie von leuchtenden Fackeln schimmerte. So hinterließ denn Eleazar als Erben seiner Tapferkeit den Frieden. — Doch soviel von Sieg und Triumph.

XLI. Kapitel: Vom Starkmut

Der Triumph der Tapferkeit im Leiden und Martyrium. Vorbilder hierin Judas der Makkabäer

200. Weil aber die Tapferkeit nicht bloß im Glück, sondern auch im Unglück sich bewährt, so laßt uns den Tod Judas’ des Makkabäers betrachten! Derselbe fing nämlich nach der Besiegung Nikanors, des Feldherrn des Königs Demetrius, in allzu sicherem Gefühle sich wiegend, mit neunhundert Mann gegen zwanzigtausend des königlichen Heeres Krieg an. Da die ersteren weichen wollten, um nicht von der Überzahl erdrückt zu werden, riet er ihnen lieber zu einem ruhmvollen Tod als zu einer schimpflichen Flucht: „Hinterlassen wir“, mahnte er, „an unserer Ehre keinen Schandfleck!“ So S. 108 lieferte er denn die Schlacht. Und da der Kampf bereits vom frühen Morgen bis zum Abend dauerte, griff er den rechten Flügel an, wo er die Hauptmacht des Feindes gewahrte, und bog ihn leicht zurück. Aber bei der Verfolgung des fliehenden Feindes setzte er sich im Rücken der Verwundung aus. So fand er die Todeswunde, herrlicher denn Triumphe.

dessen Bruder Jonathas

201. Was soll ich dazu dessen Bruder Jonathas erwähnen, der mit einer kleinen Mannschaft wider des Königs Heere kämpfte und, von den Seinigen verlassen und nur mit zweien zurückbleibend, den Kampf erneute, den Feind schlug, die Seinigen aus der Flucht zurückrief, um sie am herrlichen Sieg teilnehmen zu lassen?

die sieben makkabäischen Brüder

202. Da hast du die Tapferkeit im Kriege, die nicht wenig Ehrenhaftes und Schickliches an sich hat, insofern sie den Tod der Knechtschaft und Schande vorzieht. Was soll ich aber erst von den Leiden der Märtyrer sagen? Und um nicht zu weit abzuschweifen: haben etwa die makkabäischen Jünglinge über den übermütigen König Antiochus einen geringeren Sieg davongetragen als deren Väter? Siegten doch diese mit Waffengewalt, diese ohne Waffen. Unbesieglich stand die Schar der sieben Jünglinge, umringt von des Königs Legionen. Die Qualen versagten, die Quäler ermüdeten, die Märtyrer nicht. Dem einen ward die Kopfhaut abgezogen: das Aussehen hatte er geändert, die Tugendkraft gesteigert. Einem anderen befahl man, die Zunge hervorzustrecken, um sie abzuschneiden, und er antwortete: Der Herr hört nicht allein die Sprechenden, er hörte auch den schweigenden Moses. Er hört besser die stillen Gedanken der Seinigen als das laute Rufen aller. Der Zunge Geißel fürchtest du, die Geißel des Blutes fürchtest du nicht? Auch das Blut S. 109 hat seine Stimme, mit der es zu Gott schreit, wie es bei Abel geschrien hat.

und deren Mutter

203. Was soll ich von der Mutter sagen, die freudig in ihren Söhnen ebensoviele Siegestrophäen als Leichen schaute und an den Worten der Sterbenden wie an Sangestönen sich ergötzte, indem sie in den Söhnen der Mutter lieblichste Harfe und des Frommsinns Harmonie erblickte, süßer denn jede Melodie, die der Leier entströmt?

die Unschuldigen Kinder, die hl. Agnes

204. Was soll ich von den kleinen Zweijährigen sagen, die noch vor dem natürlichen Vernunftgebrauch in den Besitz der Siegespalme gelangten? Was von der heiligen Agnes, die an den zwei höchsten Gütern, der Keuschheit und dem Leben, Gefahr lief? Die Keuschheit hütete sie, das Leben tauschte sie mit der Unsterblichkeit ein.

der Diakon Laurentius und dessen Bischof Xystus

205. Auch den heiligen Laurentius wollen wir nicht übergehen. Als er seinen Bischof Xystus zum Martyrium geführt werden sah, fing er zu weinen an, nicht über dessen Leidenstod, sondern weil er selbst zurückbleiben mußte. Er begann daher mit folgenden Worten ihn anzureden: Wohin gehst du, Vater, ohne den Sohn? Wohin eilst du, heiliger Priester, ohne deinen Diakon? Nie pflegtest du das Opfer ohne den Diener darzubringen. Was also mißfiel dir, Vater, an mir? Hast du mich deiner unwürdig befunden? Prüfe doch, ob du einen tauglichen Diener erwählt hast! Ihm hast du das konsekrierte Blut des Herrn, ihm die Teilnahme am Vollzuge der Geheimnisse anvertraut: ihm willst du die Teilnahme an deinem Blute verweigern? Sieh zu, daß dein Urteil nicht wanke, während dein Starkmut Lob verdient! Die Abweisung des Schülers ginge zu Schaden des Lehrers. Wie? Siegen denn nicht berühmte und hervorragende Männer ebenso durch die S. 110 Kampfestaten ihrer Schüler wie durch die eigenen? So brachte Abraham seinen Sohn zum Opfer dar; so ließ Petrus den Stephanus vorausgehen. Auch du, Vater, zeige deine Tugend in deinem Sohne! Opfere ihn, den du herangezogen hast, und sei deiner Überzeugung sicher: du wirst unter würdiger Begleitung zur Krone gelangen!

206. Da antwortete Xystus: Nein, ich lasse dich nicht zurück, mein Sohn, und verlasse dich nicht. Noch größere Kämpfe gebühren dir. Ich als Greis trete den Waffengang zu einem leichteren Kampf an; deiner als Jüngling harrt ein herrlicherer Triumph über den Tyrannen. Bald wirst du kommen: höre auf zu weinen! Nach drei Tagen wirst du mir folgen. Diese Zahl (der Tage) dazwischen geziemt dem Priester und Leviten. Es wäre deiner nicht würdig gewesen, an der Seite des Lehrers zu siegen, als hättest du eines Helfers bedurft. Was begehrst du nach der bloßen Teilnahme an meinem Leidenstode? Sein ganzes Erbe hinterlasse ich dir. Was verlangst du nach meiner Gegenwart? Schwache Schüler mögen dem Lehrer vorausgehen, starke folgen ihm, um ohne den Lehrer zu siegen, nachdem sie der Belehrung nicht mehr bedürfen. So ließ auch Elias den Elisäus zurück. Auf dich übertrage ich denn die Nachfolge meiner Mannestugend.

207. Das war der Streit, fürwahr ein würdiger Streit, den Priester und Diener um den Vorrang führten, wer zuerst für Christi Namen leiden dürfe. In der Trauerspieldichtung löste es, wie man erzählt, bei den Zuschauern großen Beifall aus, da Pylades sich für den Orestes ausgab, Orestes hingegen, wie es der Fall war, beteuerte, er sei Orestes: ersterer, um sich für Orestes töten zu lassen; Orestes, um nicht zu dulden, daß Pylades sich für ihn dem Tode weihe. Doch diese hatten ihr Leben verwirkt, weil beide des Muttermordes schuldig waren, der eine als Täter, der andere als Helfer. In unserem Fall drängte nichts den heiligen S. 111 Laurentius hierzu als hingebende Liebe. Auch er jedoch spottete nach drei Tagen des Tyrannen und sprach, als er auf dem Roste liegend verbrannt wurde: Der Braten ist fertig, wende ihn und iß! So besiegte er durch den Starkmut der Seele die Natur des Feuers.

XLII. Kapitel: Vom Starkmut

Warnung vor herausforderndem Verhalten gegen Behörden

208. Man soll sich auch, meine ich, in acht nehmen, daß nicht der eine oder andere aus überspanntem Ehrgeiz herausfordernd gegen die Behörden sich benehme und die uns meist abgeneigten Gemüter der Heiden zur Verfolgung reize und zur Erbitterung stachle. Wie vielen bereiten sie, um selbst die Standhaften und Sieghaften in Martern spielen zu können, den Untergang? 209. Auch soll man vorsichtig sein, um nicht Schmeichlern sein Ohr zu leihen. Durch Schmeichelei sich umstimmen lassen, scheint nicht bloß keine Tapferkeit, sondern vielmehr Feigheit zu sein.

XLIII. Kapitel: Von der Mäßigkeit

Name und Aufgabe der vierten Kardinaltugend

210. Nachdem wir von drei (Kardinal-) Tugenden gesprochen haben, erübrigt noch, von der vierten zu S. 112 sprechen. Ihr Name heißt Mäßigkeit und Selbstbeherrschung. In ihr erblickt und sucht man vor allem die Ruhe der Seele, das Streben nach Sanftmut, den Vorzug der Selbstbeherrschung, die Pflege des sittlich Guten, den Sinn für das Schickliche.

Sittsamkeit

211. Wir sollen eine gewisse Lebensordnung einhalten. Die ersten Grundvoraussetzungen dazu sind von der Sittsamkeit abzuleiten: sie ist die Genossin und Vertraute eines gelassenen Geistes, flieht Ausgelassenheit, hält jeder Völlerei sich fern, liebt die Nüchternheit, pflegt die Ehrbarkeit und bestrebt sich jenes Schicklichen.

Umgang mit älteren Personen

212. Hieran reihe sich die Wahl im Umgang. Nur ganz erprobten älteren Personen sollen wir uns anschließen. Der Verkehr mit Altersgenossen bietet süßeren Genuß, der mit alten Personen bietet größere Sicherheit. Eine Art Lebensschule und Lebenseinführung, veredelt er das sittliche Verhalten der Jugend und verleiht ihm gleichsam den Purpur der Rechtschaffenheit. Wenn Personen ohne Ortskenntnis gerne mit des Weges kundigen Personen eine Reise unternehmen, wieviel mehr sollten junge Leute an der Seite der alten den ihnen neuen Lebensweg antreten, um nicht in die Irre gehen und vom wahren Tugendpfade abweichen zu können? Nichts Schöneres gibt es, als gerade sie zu Lehrern wie zu Zeugen des Lebens zu haben.

Erwägung der näheren Umstände des Handelns - wesentliche Erfordernisse einer rechten Lebensordnung

213. Ebenso ist bei jedem Tun zu fragen, was sich nach Person, Zeit und Alter schickt, desgleichen was den geistigen Anlagen eines jeden entspricht. Denn oft ziemt dem einen nicht, was dem andern ziemt. Das eine paßt für einen jungen, das andere für einen alten Menschen; das eine in Gefahr, anderes im Glück.

S. 113 214. David tanzte vor der Bundeslade des Herrn, Samuel tanzte nicht. Ersterer verdiente deswegen keinen Tadel, freilich letzterer noch mehr Lob. Er (David) verstellte sein Gesicht vor dem Könige namens Anchus. Doch hätte er das nicht aus Furcht getan, erkannt zu werden, hätte er nimmer dem Vorwurf der Leichtfertigkeit entgehen können. Ebenso hat Saul, umgeben von einem Chor von Propheten, auch seinerseits geweissagt; und nur über ihn, den Unwürdigen, raunte man sich zu: „Auch Saul unter den Propheten“.

XLIV. Kapitel: Von der Mäßigkeit

Der Kirchendienst soll der Anlage und Neigung eines Kandidaten entsprechen

215. Ein jeder soll seine natürliche Anlage kennen und sich dem widmen, was er als das Passende für sich erwählte. Er soll daher zum voraus die Folgen überdenken. Er mag das Gute, das er an sich hat, erkennen, aber auch seiner Fehler sich bewußt sein und als unparteiischer Selbstrichter sich erweisen, um des Guten sich zu befleißigen, die Fehler abzulegen.

216. Der eine eignet sich mehr zum deutlichen Vorlesen, ein anderer singt die Psalmen schöner, ein dritter hat mehr Eifer für den Exorzismus über die vom bösen Geiste Heimgesuchten, wieder einen anderen hält man tauglicher für den Sakristeidienst. Auf dies alles soll der Priester sein Augenmerk richten und jedem den S. 114 Dienst zuweisen, für den er sich eignet. Denn die Handlung, zu der einen schon seine natürliche Anlage hinzieht, bezw. den Dienst, der für einen paßt, erfüllt man mit größerer Lust.

Die besonderen Schwierigkeiten, die sich dem Eintritt in diesen Beruf entgegenstellen

217. Macht dies aber in jedem Lebensstand Schwierigkeit, so die größte Schwierigkeit in unserem Berufswirken. Jeder möchte nämlich dem Lebensberuf seiner Eltern folgen. So zieht es denn so manche, deren Eltern dem Militärdienst obliegen, zur militärischen Laufbahn, andere zu den verschiedenen sonstigen Berufstätigkeiten.

218. Im Kirchendienst hingegen dürfte man nichts seltener finden als einen, der dem Berufe des Vaters folgt. Teils schreckt der schwere Dienst hiervon ab, teils fällt im schlüpfrigen Alter die Enthaltsamkeit schwerer, teils dünkt der heiteren Jugend diese Lebensart zu finster. Daher wendet man sich solchen Beschäftigungen zu, die mehr den Beifall finden. Die Mehrzahl zieht ja das Gegenwärtige dem Zukünftigen vor. Doch ihr Kämpfen gilt dem Gegenwärtigen, das unsrige dem Künftigen. Je erhabener eine Sache, desto größer die Sorgfalt, mit der man auf sie bedacht sein soll.

XLV. Kapitel: Von der Mäßigkeit =

Verhältnis des Schicklichen zum sittlich Guten

S. 115 219. Halten wir denn fest an der Sittsamkeit und jener Selbstbeherrschung, welche den Schmuck des ganzen Lebens erhöht! Denn nichts Geringes ist es, allem sein Maß anzuweisen und seine Ordnung zu bestimmen. Und doch leuchtet fürwahr gerade hierin das hervor, was man das Schickliche nennt. Dieses nämlich ist mit dem sittlich Guten so eng verbunden, daß es unzertrennlich davon ist. Ist doch das Schickliche auch gut, das Gute schicklich, so daß es sich mehr um eine Verschiedenheit im Ausdruck als um einen Unterschied in der Tugend handelt. Ein Unterschied zwischen ihnen läßt sich denken, nicht ausdrücken.

ihre mehr formale als sachliche Verschiedenheit

220. Um nun doch den Versuch zu machen, einigen Unterschied herauszustellen, so ist das sittlich Gute, was für den Leib das Wohlbefinden, gleichsam die Gesundheit ist; die Schicklichkeit aber, was seine Anmut und Schönheit ist. Wie nun die Schönheit sichtlich über die Gesundheit und das Wohlbefinden hinaus einen Vorzug besagt und gleichwohl nicht ohne diese bestehen kann und in keiner Weise davon sich trennen läßt, weil es ohne blühende Gesundheit keine Schönheit und Anmut geben kann: so schließt auch das sittlich Gute jenes Schickliche derart in sich, daß es sich augenscheinlich von ihm herleitet und ohne dasselbe nicht bestehen kann. So bedeutet denn das Gute sozusagen die Gesundheit unseres gesamten Tuns und Treibens, das Schickliche gleichsam seine äußere Schönheit: es ist eins mit dem Guten und nur im Denken davon S. 116 verschieden. Denn wenn es auch anscheinend einen besonderen Vorzug darstellt, so gründet es doch im Guten, aber wie eine einzig schöne Blüte: ohne sie fällt sie ab, in ihr blüht sie. Was ist denn die Ehrbarkeit anders als etwas, was die Schande wie den Tod flieht? Was aber ist das Unehrbare anders als Dürre und Tod, die es herbeiführt? Solange nun die Tugend sproßt, leuchtet daran jenes Schickliche als deren Blüte, weil die Wurzel gesund ist; ist dagegen die Wurzel unserer Tugendhaftigkeit krank, treibt sie keine Blüte.

Biblische Beleuchtung beider Begriffe

221. Man findet das noch bedeutend klarer bei den Unsrigen ausgesprochen. David nämlich versichert: „Der Herr ist Herrscher, sein Gewand Schönheit“. Und der Apostel mahnt: „Wie am Tage wandelt ehrbar!“ Was (hier) die Griechen εὐσχημόνως [eus-chēmonōs] nennen, das bezeichnet aber eigentlich: ‚von guter Haltung‘, ‚von Wohlgestalt‘. Da nun Gott den ersten Menschen schuf, gab ihm seine formende Hand die gute Haltung, die gute Gliederung und verlieh ihm ein gar schönes Aussehen. Nachlaß der Sünden hatte er ihm nicht verliehen; den Schmuck der menschlichen Erlösung empfing er vielmehr erst, nachdem ihn der in Knechtsform und Menschengestalt Erschienene im Geist erneut und begnadet hatte. Daher des Propheten Ausspruch: „Der Herr ist Herrscher, sein Gewand Schönheit“. An einer anderen Stelle sodann bekennt er: „Dir geziemt Lobgesang, o Gott, auf Sion“. Das will sagen: Es ist geziemend und ehrbar, daß wir Dich fürchten, Dich lieben, Dich bitten, Dich ehren; denn es steht geschrieben: „Alles von euch geschehe in Ehrbarkeit!“ Freilich wir können auch einen Menschen fürchten, lieben, bitten und ehren: Lobgesang singt man einzig Gott. Was wir Gott darbringen, das muß, wie wir schicklich glauben, alles andere übertreffen. Auch der Frau geziemt, „in S. 117 zierlichem Gewände zu beten“; insbesonders aber steht ihr wohl an, „verschleiert zu beten“, zu beten und in Verbindung mit einem guten Wandel die Keuschheit zu geloben.

XLVI. Kapitel: Von der Mäßigkeit =

Einteilung des Schicklichen

222. Das Schickliche ist sonach etwas, was in die Erscheinung tritt. Seine Einteilung ist eine zweifache. Es gibt nämlich eine Art allgemeine Schicklichkeit, die sich durch das Ganze des sittlich Guten erstreckt und sozusagen an seinem ganzen Leibe sichtbar ist; und auch eine besondere, die an irgendeinem Teile desselben hervorleuchtet. Mit jener allgemeinen verhält es sich so, als böte sie in jeder ihrer Handlungen in schönem Einklang das Gleichförmige und Ganze des sittlich Guten, indem ihr Leben mit sich selbst übereinstimmt, ohne daß der geringste Mißton es störte. Die besondere (tritt hervor), so oft sie innerhalb des Tugendbereiches eine besonders vorzügliche Handlung setzt.

Alles Natürliche ist schicklich, alles Naturwidrige schimpflich

223. Zugleich beachte folgendes: Schicklich ist das naturgemäße Leben, die naturgemäße Lebensführung, schimpflich das Naturwidrige. Denn so warnt der Apostel in Form einer Frage: „Geziemt dem Weibe unverhüllt zu Gott zu beten? Lehrt euch nicht die Natur selbst, daß es dem Manne, wenn er (langes) Haar S. 118 trägt, zur Unehre gereicht“, weil es wider die Natur ist? Und wiederum versichert er: „Trägt aber das Weib (lange) Haare, ist’s für sie eine Zierde“; denn das ist naturgemäß, weil die Haare als Schleier dienen: es ist der natürliche Schleier. Person und äußere Tracht bestimmt uns sonach die Natur selbst, und wir müssen sie wahren. O daß wir auch ihre Unschuld hätten bewahren können! Daß unsere Bosheit sie nicht, nachdem wir sie empfangen hatten, verkehrt hätte!

Das zweifache Schickliche im Spiegelbild der Schöpfung

224. Das allgemeine Schöne (Schickliche) findet man vor, weil die Schönheit dieser Welt Gottes Schöpfung ist. Aber auch in den einzelnen Teilen trifft man es an; denn auch das Einzelne fand Gottes Gutheißung, als er das Licht schuf und den Tag und die Nacht ausschied, als er den Himmel festigte, als er die Lande und Meere voneinander absonderte, als er die Sonne, den Mond und die Sterne zu Leuchten über die Erde setzte. So strahlte denn dieses Schöne, indem es in den einzelnen Teilen der Welt aufleuchtete, im ganzen All wider, wie es die Weisheit mit den Worten bestätigt: „Ich war es, die seinen Beifall fand, da er sich des vollendeten Erdkreises freute“. Ähnlich ist auch am menschlichen Körperbau jedes Teilglied gefällig; doch mehr noch ergötzt der symmetrische Gliederbau als Ganzes, indem so die Glieder in ihrer gegenseitigen Anpassung und Übereinstimmung in die Erscheinung treten.

XLVII. Kapitel: Von der Mäßigkeit

Das Schickliche im Spiegelbild unseres Lebens. Von den allgemeinen

S. 119 225. Wenn nun jemand in seinem Gesamtleben sich gleichförmig bleibt und in den Einzelhandlungen das rechte Maß einhält, desgleichen Ordnung, Beständigkeit und Mäßigung in seinem Reden und Handeln wahrt, so tritt in seinem Leben jenes Schickliche hervor und strahlt daraus wie in einem Spiegel wider.

und besonderen Erfordernissen des Schicklichen

226. Damit verbinde sich jedoch eine liebenswürdige Redeweise, um die Hörer für sich zu gewinnen und bei Angehörigen oder bei Mitbürgern oder womöglich bei allen den Eindruck des Gefälligen zu machen. Niemand schmeichle man, und von niemand lasse man sich schmeicheln! Das eine verriete Verstellung, das andere Eitelkeit.

227.' Es sei ihm nicht gleichgültig, was einer, namentlich ein guter Mensch von ihm denkt. Auf diese Weise lernt er Achtung haben vor den Guten. Über der Guten Urteil sich hinwegsetzen, wäre nämlich entweder ein Zeichen von Anmaßung oder von Gleichgültigkeit, wobei ersteres dem Hochmut, letzteres der Nachlässigkeit zuzuschreiben wäre.

insbesonders von der Beherrschung der Begierlichkeit

228. Er gebe auch acht auf die Regungen seines Herzens. Er muß sich selbst genau und allseitig beobachten und wie vor sich in acht nehmen, so auf sich sehen. Denn es gibt Regungen, worunter sich jene Begierlichkeit befindet, die mit einem gewissen Ungestüm hervorbricht. Ὁρμή [hormē] heißt sie darum bei den Griechen, weil sie gleichsam mit Gewalt plötzlich hervorstürmt. Keine geringe geistige und physische Kraft ruht in diesen Regungen. Diese Kraft aber ist eine zweifache. Die eine liegt im Begehrungsvermögen, die andere in der Vernunft. Diese soll die Begierlichkeit zügeln, sich unterwürfig machen, nach ihrem Willen leiten, in strenger Zucht darüber aufklären, was zu tun, was zu meiden sei, um ihrer Zuchtmeisterin zu folgen.

229. Wir müssen nämlich eifrig darüber wachen, daß wir nichts unbesonnen und unbedachtsam tun, noch S. 120 überhaupt etwas, wofür wir keinen stichhaltigen Grund angeben können. Denn wenn man auch nicht allen den Grund seines Handelns mitteilt, unterliegt er doch der Prüfung aller. Wir könnten auch nichts zu unserer Entschuldigung vorbringen. Denn wenn auch in jeder Begierde eine gewisse Naturgewalt liegt, so ist doch diese nämliche Begierde durch das Naturgesetz selbst der Vernunft unterworfen und muß ihr folgen. Es ist daher Aufgabe eines gewissenhaften Beobachters, innerlich auf der Hut zu sein, daß die Begierlichkeit weder der Vernunft zuvorkommt, noch derselben sich entzieht. Sie soll dieselbe durch Zuvorkommen nicht verwirren und ausschalten, und durch Sichentziehen nicht der Herrschaft berauben. Verwirrung hebt die Standhaftigkeit auf; die Einbuße der Herrschaft deutet auf Feigheit und berechtigt zur Anklage auf Trägheit. Ist nämlich der Geist verwirrt, greift die Begierlichkeit weiter und länger um sich, läßt sich gleichsam in ihrem wilden Ungestüm keine Zügel der Vernunft mehr anlegen und bleibt fühllos gegen alles Leiten des Lenkers, das sie womöglich zurückdämmen möchte. Die Folge ist so häufig nicht bloß innere Erregung und Einbuße der Vernunft: auch das Gesicht rötet sich vom Feuer des Zornes oder der Begierde, wird blaß vor Furcht, verliert im Vergnügen die Fassung über sich und gerät vor überschäumender Lust in Ausgelassenheit.

230. Ist dies der Fall, geht jene natürliche Sittenstrenge und Sittenhoheit verloren, und läßt sich die Standhaftigkeit nicht wahren, die allein, wenn es zu taten und raten gibt, ihre Autorität und jenes Schickliche festzuhalten vermag.

und des Zornes

231. Am heftigsten aber entbrennt die Leidenschaft aus jener übermächtigen Zornesregung, die so oftmals der Schmerz über erlittenes Unrecht entfacht. Darüber belehren uns zur Genüge die Weisungen des Psalmes S. 121 (38; [Hebr. 39]), den wir in der Vorrede anführten. Es war gar wohl aber auch am Platz, daß wir, als wir an die Schrift über die Pflichtenlehre gingen, zu dieser Ausführung unserer Vorrede (über den Zorn), die selbst ein Beitrag zur Pflichtenlehre war, griffen.

232. Doch weil wir oben aus Besorgnis, es möchte die Vorrede zu lang werden, notgedrungen nur kurz die Art und Weise berührten, wie ein jeder vor der Aufregung über erlittenes Unrecht sich in achtzunehmen vermag, so glaube ich jetzt noch ausführlicher darüber sprechen zu sollen. Gerade in den Einzelausführungen über die Mäßigkeit bietet sich der passende Ort, davon zu reden, wie man den Zorn unterdrücken soll.

XLVIII. Kapitel: Von der Mäßigkeit =

Dreifaches Verhalten gegen erlittenes Unrecht: der gewöhnliche Mensch braust auf

233. Wir wollen nun womöglich zeigen, wie es in der göttlichen Schrift dreierlei Menschen gibt, die Unrecht leiden. Die erste Klasse sind jene, welche der Sünder verhöhnt, beschimpft, verspottet. Da es zu Unrecht geschieht, brennt heißer die Schamröte, heftiger der Schmerz. Diesen gleichen eine ganze Menge von meinem Stand und meinem Rang. Fügte man mir Schwächling eine bloße Beleidigung zu, würde ich, obwohl ein Schwächling, vielleicht das Unrecht gegen mich verzeihen. Macht man mich zum Verbrecher, bin ich, obschon ich mich von solchem Vorwurf frei weiß, nicht so großmütig, daß ich mich mit meinem Gewissen S. 122 zufrieden gebe, sondern wünsche in meiner Schwachheit den Schandfleck wegzuwischen, der mein empfindliches Schamgefühl verletzt. So fordere ich denn „Aug’ um Aug’ und Zahn um Zahn“ und vergelte Schimpf mit Schimpf.

der Fortgeschrittene schweigt

234. Bin ich aber ein Fortschreitender, wenn auch noch kein Vollkommener, dann erwidere ich die Schmach nicht. Und wenn jener meine Ohren mit Schimpf überschüttet und mit Schmähungen überschwemmt: ich schweige und erwidere nichts.

der Vollkommene freut sich darüber, wie Paulus

235. Bin ich aber ein Vollkommener — beispielsweise rede ich so; denn in Wahrheit bin ich ein Schwächling —: bin ich ein Vollkommener, segne ich den Schmähenden, wie auch Paulus ihn segnete, der beteuert: „Man schmäht uns, und wir segnen“. Denn er hatte das Wort vernommen: „Liebet eure Feinde, betet für eure Verleumder und Verfolger!“ Darum also litt und trug Paulus die Verfolgung, weil er ob des Lohnes der Kindschaft Gottes, der im Fall der Feindesliebe in Aussicht gestellt ward, die menschliche Leidenschaft besiegte und beschwichtigte.

und David

236. Aber auch vom heiligen David können wir dartun, wie er auch in dieser Tugendart dem Paulus nicht unebenbürtig war. Und zwar schwieg er zunächst zur Schmähung des Sohnes Semeis und zu dessen Vorwurf auf Verbrechen und verdemütigte sich und äußerte bei seinem guten Gewissen, d. i. im Bewußtsein seines guten Handelns nichts. Sodann aber wünschte er sich geradezu die Schmähung, weil er durch solche Schmähung die göttliche Barmherzigkeit zu erlangen hoffte.

237. Doch sieh, wie er Demut, Gerechtigkeit und Klugheit wahrte, um der Gnade vom Herrn sich würdig S. 123 zu machen. Sein erstes Wort lautete: „Deshalb flucht er mir, weil der Herr ihm sagte, er solle fluchen“. Da hast du die Demut; denn Gottes Gebot glaubte er als armseliger Knecht mit Gleichmut tragen zu müssen. Seine zweite Äußerung lautete: „Sieh, mein Sohn, mein leibliches Kind stellt mir nach dem Leben“. Da hast du die Gerechtigkeit; denn wenn wir von den Unsrigen noch Schlimmeres erleiden, warum sollten wir ungehalten sein über das, was uns Fremde zufügen? Seine dritte Rede war: „Laß ihn schmähen, weil der Herr es ihm geheißen, um meine Demut zu sehen; und der Herr wird mein Vergelter sein für diese Schmähung“. Und nicht bloß die Lästerung desselben ertrug er, sondern ließ ihn auch, da er Steine nach ihm warf und ihm nachschlich, unbehelligt, ja schenkte ihm sogar nach dem Siege gern Verzeihung, als er darum bat.

238. Das führte ich nun deshalb an, um zu zeigen, wie der heilige David im Geiste des Evangeliums nicht bloß nicht den Beleidigten spielte, sondern seinem Lästerer sogar noch gewogen, über Unbilden mehr erfreut als erbittert war und sich Lohn dafür versprach. Doch wiewohl schon vollkommen, strebte er nach immer größerer Vollkommenheit. Wie brennendes Feuer empfand er als Mensch den Schmerz des Unrechts, doch kraft des Geistes blieb er, ein guter Streiter, sieghaft; ein tapferer Wettkämpfer, standhaft. Des Duldens Zweck aber war die Erwartung der Verheißungen. Darum sein Flehen: „Mache mir kund, Herr, mein Ziel und Ende und welches die Zahl meiner Tage ist, damit ich weiß, was mir noch fehlt!“ Nach jenem Ziel der himmlischen Verheißungen fragt er, bezw. nach jenem Ende, da „ein jeder in seiner Ordnung aufersteht: als Erstling Christus; danach die, welche Christus angehören, welche an seine Ankunft geglaubt haben; hierauf folgt das S. 124 Ende“. Nach der Übergabe des Reiches nämlich an Gott und den Vater und nach der Vernichtung aller Mächte beginnt nach der Versicherung des Apostels die Vollendung. Hier ist Behinderung, hier Schwäche selbst bei Vollkommenen, dort die volle Vollendung. Darum Davids Frage nach jenen Tagen des ewigen Lebens, „den seienden“, nicht „den vergehenden“, um zu erkennen, was ihm noch fehle; welches das Land der Verheißung sei mit seinem ewigen Fruchtertrage; welches die erste Wohnung beim Vater sei, welches die zweite, welches die dritte, woselbst jeder nach Verdienst seine Ruhe findet.

Das Vollkommene, d. i. das Ewige ist anzustreben. Hier schauen wir nur im Bilde

239. Das also müssen wir erstreben, was die Vollendung, was die Wahrheit in sich trägt. Hier haben wir den Schatten, hier das Bild, dort die Wahrheit: den Schatten im Gesetz, das Bild im Evangelium, die Wahrheit im Himmel. Ehedem brachte man ein Lamm, brachte man ein Kalb zum Opfer dar, jetzt wird Christus geopfert. Er wird geopfert als Mensch, als Leidensfähiger; und zwar ist er selbst der Priester, der sich zur Vergebung unserer Sünden opfert: hier im Bilde, dort in der Wahrheit, wo er beim Vater als Anwalt für uns eintritt. Hier wandeln wir im Bilde, schauen wir im Bilde; dort von Angesicht zu Angesicht, woselbst die volle Vollendung winkt, weil alle Vollendung in der Wahrheit beruht.

XLIX. Kapitel: Von der Mäßigkeit

Das Bild des Vollkommenen und Ewigen

S. 125 240. Solange wir nun hier weilen, laßt uns das Bild festhalten, um dort zur Wahrheit zu gelangen! Das Bild der Gerechtigkeit sei in uns! Das Bild der Weisheit sei in uns! Denn es wird zu jenem Tage kommen, und nach dem Bilde wird man uns werten.

nicht des Sündhaften und Vergänglichen soll sich in unserem Wandel spiegeln

241. Nicht finde der Feind sein Bild in dir: nicht Wut, nicht Raserei! In diesen Zügen verrät sich das Bild der Bosheit. Denn der Widersacher, der Teufel, sucht wie ein Löwe, wen er töte, wen er verschlinge. Er finde keine Goldgier, keine Silbermengen, keine Lasterbilder, um dir nicht das freie Wort zu rauben! Das freie Wort besteht nämlich in dem Bekenntnis: „Der Fürst dieser Welt mag kommen, und er soll nichts an mir finden“. Bist du sicher, daß er nichts an dir findet, wenn er zur Suche kommt, magst du das Wort des Patriarchen Jakob an Laban nachsprechen: „Überzeuge dich, ob sich etwas von dem Deinigen bei mir findet!“ Selig mit Recht Jakob, weil Laban nichts von dem Seinigen bei ihm finden konnte! Rachel nämlich hatte seine goldenen und silbernen Götzenbilder verborgen.

242. Wenn nun deine Weisheit, wenn dein Glaube, wenn deine Weltverachtung, wenn deine Gnade mit aller Gottlosigkeit aufräumt, wirst du selig sein, weil dein Blick nicht „auf Eitelkeiten und trügerischen Aberwitz“ gerichtet ist. Oder ist es gleichgültig, ob ich dem Gegner das Wort entziehen kann, so daß seine Anschuldigung wider mich jeder Beweiskraft ermangelt? Wer sein Auge nicht auf Eitelkeiten richtet, geht nicht irre: wer es darauf richtet, geht irre, und zwar ganz blindlings. Denn was anders bedeutet Schätze häufen als eitel Beginnen? Eitel genug ist es ja, nach Vergänglichem zu trachten. Hat man sie aber aufgehäuft, wer weiß, ob einem deren Besitz auch vergönnt ist?

243. Ist es nicht eitel, wenn der Kaufmann Tag und S. 126 Nacht auf Reisen ist, um womöglich Haufen Schätze zu sammeln? Wenn er Waren anhäuft, über deren Preis sich den Kopf zerbricht, um nicht unter dem Einkaufspreis zu verkaufen, die Ortspreise ablauert? Wenn er mit einem Mal einen Wegelagerer wider sich reizt, der mit scheelem Auge sein wohlbekanntes Handelsgeschäft verfolgte? Oder wenn er auf seiner Jagd nach Gewinn Schiffbruch leidet, weil er, des Harrens überdrüssig, keine günstigeren Winde abwartete.

244. Oder ist nicht auch jener das Opfer eitlen Trugs, der mit größter Anstrengung (Schätze) zusammenrafft, ohne zu wissen, welchem Erben denn seine Hinterlassenschaft zufallen soll? Oftmals wirft ein genußsüchtiger Erbe das, was der Habsüchtige mit tausend Mühen und Sorgen zusammenscharrte, in jäher Verschwendung hinaus und verschleudert es, und läßt ein schändlicher Prasser, der blindlings in die Gegenwart, sorglos in die Zukunft hineinlebt, das langsam Erworbene wie in einem Abgrund verschwinden. Oft auch beschwört der Nachfolger, den man sich erhoffte, wegen der erworbenen Erbschaft den Neid herauf, muß rasch mit Tod abgehen und Fremde in den Genuß der eben angetretenen Erbschaft einsetzen.

245. Wozu arbeitest du in eitlem Mühen an einem Spinngewebe, das keinen Wert und Nutzen hat, und hängst Haufen Reichtümer wie unnützes Netzwerk auf? Und wenn sie in Strömen flössen, sie nützen nichts, sie streifen dir vielmehr nur das Bild Gottes ab und ziehen dir das Bild des Irdischen an. Trägt einer das Bild des Tyrannen an sich, setzt er sich nicht der Verurteilung aus? Du willst das Bild des ewigen Herrschers ablegen und wünschst an dir das Bild des Todes? Hinweg vielmehr aus der Stadt deiner Seele mit dem Bilde des Teufels! Richte auf das Bild Christi! Das soll in dir leuchten, in deiner Stadt, d. i. in deiner Seele S. 127 erstrahlen, um die Bildnisse der Laster schwinden zu machen! Von diesen spricht David: „Herr, Du wirst in Deiner Stadt ihre Bilder fortschaffen“. Dann nämlich, wenn der Herr jenes Jerusalem nach seinem Bilde zeichnet, wird jedes Bild der Widersacher vernichtet.

L. Kapitel: Von den Leviten

Name und Standestugenden im allgemeinen

246. Wenn durch das Evangelium des Herrn sogar auch das gewöhnliche Volk zur Verachtung des Reichtums angeleitet und angehalten ist, wieviel mehr dürft ihr Leviten nicht von irdischen Lüsten euch einnehmen lassen, da Gott euer Anteil ist. Als nämlich von Moses der Besitz des Landes an das Vätervolk ausgeteilt wurde, schloß der Herr die Leviten von der Teilnahme daran aus, weil er selbst ihr Erblos sein wollte. Daher Davids Bekenntnis: „Der Herr ist meines Erbes und meines Bechers Anteil“. Das bedeutet denn auch der Name Levite: ‚er ist mein‘, oder aber: ‚er ist statt meiner‘. Etwas Erhabenes muß es also um sein Amt sein, daß der Herr von ihm spricht: ‚er ist mein‘, oder wie er zu Petrus in Hinblick auf den im Rachen des Fisches gefundenen Stater sagte: „Gib ihnen denselben für mich und dich!“ Auch der Apostel fügte hinzu, nachdem er vom Bischof verlangt hatte, er solle S. 128 nüchtern, ehrbar, würdevoll, gastfrei, zum Lehren geeignet, nicht geizig, nicht streitsüchtig sein, seinem Hause ein guter Vorgesetzter: „Desgleichen sollen die Diakonen gesetzt sein, nicht doppelzüngig, nicht viel dem Wein ergeben, nicht nach schnödem Gewinn trachtend, das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen tragend. Auch sie sollen aber erst erprobt werden und so, wenn sie untadelig sind, den Dienst versehen“.

247. Wir sehen, wie große Anforderungen an uns gestellt werden. Der Diener des Herrn soll von Wein sich enthalten, auf einen guten Leumund nicht bloß der Gläubigen, sondern auch „von seiten derer, die draußen sind“, sich stützen können. Denn die öffentliche Meinung darf billig Zeuge unseres Handelns und Wirkens sein, damit der Ruf des Amtes nicht leide; damit, wer einen Diener des Altares im geziemenden Tugendschmucke erblickt, den Schöpfer preise und den Herrn ehre, der solche Diener hat. Denn wo rein die Habe und unsträflich die Zucht der Dienerschaft, erhebt sich das Lob des Herrn.

Ihre standesmäßige Keuschheit

248. Was soll ich aber von der Reinheit sprechen? Ist doch nur eine Ehe und keine weitere erlaubt. Und in der Ehe selbst liegt das Gesetz, die Ehe nicht zu wiederholen und keine zweite eheliche Verbindung einzugehen. Verwunderlich erscheint so manchem nur das, warum sogar aus einer vor der Taufe wiederholt eingegangenen Ehe für die Wahl zum (Leviten-) Amte und für das Vorrecht zum Weiheempfang Hindernisse S. 129 erwachsen sollen, während selbst Verfehlungen, wenn sie durch das Taufsakrament nachgelassen sind, kein Hindernis bilden. Doch wir müssen bedenken, daß durch die Taufe wohl die Schuld nachgelassen, nicht aber ein Gesetz aufgehoben werden kann. In solcher Ehe liegt nicht Schuld, sondern Gesetz. Was Schuld ist, wird in der Taufe getilgt, was Gesetz ist in der Ehe, nicht aufgehoben. Wie könnte aber auch einer zum Witwenstand aufmuntern, der selbst mehrere Ehen eingegangen hat?

249. Ihr, die ihr in leiblicher Unversehrtheit, in unverletzter Reinheit, selbst in ehelicher Enthaltsamkeit das Gnadenamt eures heiligen Dienstes empfangen habt, begreift wohl, daß dieser Dienst sonder Tadel und Makel geleistet werden muß. Das ließ ich deshalb nicht unerwähnt, weil vielfach an abgelegeneren Orten Kleriker, da sie den Kirchendienst oder selbst das Priesteramt bekleideten, Kinder bekamen. Sie wollen dies gleichsam mit einem alten Herkommen beschönigen aus der Zeit, da man nach tagelangen Unterbrechungen das Opfer darbrachte. Und doch beobachtete, wie wir im Alten Testamente lesen, das gewöhnliche Volk, um rein zum Opfer zu treten, durch zwei und drei Tage hindurch keusche Enthaltsamkeit und wusch sich die Kleider. Wenn schon im vorbildlichen Kulte so strenge Observanz herrschte, wie streng muß sie im wahren sein! Verstehe, Priester und Levite, was es bedeutet: ‚deine Kleider waschen‘. Du sollst einen reinen Leib zur Feier der Geheimnisse mitbringen! Wenn es dem Volke verboten war, ohne Reinwaschung seiner Kleider zum Opfer hinzutreten: du wolltest es wagen, unreines Geistes und Leibes zugleich für andere zu beten, für andere des Dienstes zu walten?

Die Erhabenheit ihres Amtes

250. Nichts Geringes ist es um den Dienst der Leviten, von welchen der Herr spricht: „Sieh, ich erwähle die Leviten aus der Mitte der Söhne Israels statt jedes Erstgeborenen, der den Kindern Israels den Mutterleib S. 130 öffnet. Sie sollen deren Lösegeld sein. Und mein sollen die Leviten sein; denn für mich habe ich die Erstgeburt im Lande Ägypten geheiligt“. Wir wissen, daß die Leviten (in der Schrift) nicht unter die Zahl der übrigen gerechnet, sondern allen vorgezogen werden; sie werden aus allen auserwählt und geheiligt wie die Erstgeburt und die Erstlinge der Früchte, welche für den Herrn bestimmt sind, welche die Einlösung von Gelübden und die Loslösung von Sünden bedeuten: „Du sollst sie“, heißt es, „nicht unter die Söhne Israels aufnehmen, sondern sollst festsetzen, daß die Leviten über dem Zelte des Zeugnisses und über allen Gefäßen desselben und über allen Gerätschaften in demselben stehen. Sie sollen das Zelt und alle Gefäße desselben tragen und in demselben dienen und das Lager um das Zelt aufschlagen. Und beim Aufbruch sollen sie, die Leviten, das Zelt zusammenlegen. Und beim abermaligen Aufschlagen des Lagers sollen sie auch das Zelt aufstellen. Jeder Fremde, der hinzutritt, soll des Todes sterben“.

Ihre Hauptfunktionen entsprechend den Kardinaltugenden

251. Du nun bist der aus der Gesamtzahl der Söhne Israels Erkorene, gleichsam der als Erstling unter den heiligen Früchten Erlesene, der dem Zelte Vorgesetzte, so daß du den Vortritt im Lager der Heiligkeit und des Glaubens hast, dem kein Fremder nahen darf, ohne des Todes zu sterben; du der hierzu Berufene, die Lade des Bundes zu verhüllen. Denn nicht alle schauen die hohen Geheimnisse, weil sie von den Leviten verhüllt werden, damit die, welche sie nicht schauen dürfen, sie nicht schauen; die, welche sie nicht bewahren können, sie nicht empfangen. So schaute auch Moses die Beschneidung im geistigen Sinn, legte aber eine Hülle darüber, so daß er die Beschneidung nur im Zeichen vorschrieb. Er schaute „das ungesäuerte Brot der Wahrheit und Reinheit“; er schaute das Leiden des Herrn: er verhüllte das ungesäuerte Brot der Wahrheit unter S. 131 dem physischen; er verhüllte das Leiden des Herrn unter dem Opfer eines Lammes oder Kalbes. Gute Leviten wahrten das Geheimnis unter der Hülle ihres Glaubens: und du wolltest das, was dir anvertraut ward, für gering halten? Das erste ist, daß du die Erhabenheit Gottes schaust: das verlangt die Wahrheit; das zweite, daß du für das Volk wachst: das verlangt die Gerechtigkeit; daß du das Lager verteidigst und das Zelt hütest: das verlangt die Tapferkeit; dich selbst enthaltsam und nüchtern erweist: das verlangt die Mäßigkeit.

252. Diese Arten der Haupttugenden stellten auch jene auf, „die draußen sind“, räumten jedoch der Gemeinschaftstugend (Gerechtigkeit) einen höheren Rang ein als der Weisheit, da doch die Weisheit das Fundament, die Gerechtigkeit der Bau darüber ist, der ohne das Fundament nicht denkbar ist. Das Fundament aber ist Christus.

253. Das erste nun ist der Glaube. Er gehört zur Weisheit. So beteuert Salomo, seinem Vater folgend: „Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn“. Und das Gesetz gebietet: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben“, „du sollst den Nächsten lieben“. Schön ist es, dein Herz und deine Dienste der menschlichen Gesellschaft zu widmen: doch als erstes geziemt sich, daß du das Kostbarste, was du hast, deinen Geist — Kostbareres als ihn hast du nicht —, Gott weihst. Erst wenn du gegen den Schöpfer deine Schuld S. 132 eingelöst hast, magst du dein Wirken dem Wohltun und der Hilfeleistung der Menschen weihen und ihrer Not sei es durch eine Geldspende, sei es durch eine Gefälligkeit oder einen sonstigen Dienst, wozu in eurem Amte so reichliche Gelegenheit sich bietet, steuern: durch eine Geldspende, um eine Unterstützung zu gewähren; durch ein Darlehen, um einen Überschuldeten zu befreien; durch eine Gefälligkeit, um eine Hinterlage in Gewahrsam zu nehmen, deren Verlust der Gläubiger befürchtete.

Besondere Pflichten derselben

254. Es ist nun Pflicht, die Hinterlage zu bewahren oder heimzuzahlen. Zuweilen bedingt freilich die Zeit oder die Not etwas anderes, so daß keine Pflicht zur Rückgabe des Empfangenen besteht: so, wenn jemand als ein offenkundiger Feind das Geld zur Unterstützung der Barbaren wider das Vaterland zurückfordern würde; oder wenn man es einem zurückerstatten wollte, der sich in den Händen eines Erpressers befindet; wenn man es einem Rasenden heimzahlen wollte, da er ja außerstande ist, es aufzubewahren. Einem Wahnsinnigen ein anvertrautes Schwert, mit dem er sich töten will, nicht vorenthalten, wäre solche Rückerstattung nicht pflichtwidrig? Wissentlich zur Hintergehung des Verlustträgers gestohlenes Gut annehmen, wäre das nicht pflichtwidrig?

255. Manchmal wäre es auch pflichtwidrig, ein Versprechen einzulösen, einen Eid zu halten. So gab Herodes, welcher der Tochter der Herodias alles zu geben schwur, was nur verlangt würde, selbst die Ermordung des Johannes zu, um sein Versprechen nicht zu brechen. Was soll ich denn von Jephte sagen, der zur Erfüllung des Gelübdes, das er gelobt hatte, nämlich Gott darzubringen, was immer ihm zuerst begegnen S. 133 würde, seine Tochter opferte, weil sie ihm nach dem Siege zuerst in den Weg gekommen war? Besser wäre es gewesen, nichts Derartiges zu versprechen, als das Versprechen mit einem Kindesmord einzulösen.

256. Es ist euch nicht unbekannt, wieviel Besonnenheit dazu gehört, hier das Richtige zu treffen. Daher die Auswahl des Leviten, der das Heiligtum bewachen soll, damit er sich nicht in seiner Unbesonnenheit täuschen lasse, nicht vom Glauben abfalle, nicht den Tod fürchte, nichts überhaste, um schon äußerlich ein würdevolles Benehmen an den Tag zu legen, nicht bloß in der Gesinnung, sondern auch in den Blicken enthaltsam zu sein: auch eine zufällige Begegnung sollte schicklicherweise seine züchtige Stirn nicht erröten machen; denn „jeder, der ein Weib ansieht, um es zu begehren, hat mit ihr in seinem Herzen Ehebruch getrieben“. So läßt sich nicht bloß durch eine Schandtat im Werk, sondern auch schon durch einen absichtlichen Blick Ehebruch begehen.

Der Levitensegen des Moses

257. Das scheinen große, ja allzu strenge, aber in einem großen Amte nicht müßige Anforderungen zu sein. Ist doch das Gnadenamt der Leviten so erhaben, daß Moses in seinen Segenssprüchen von denselben sagt: „Gebt dem Levi seine Männer, gebt dem Levi seine Erlauchten, gebt dem Levi das ihn treffende Los und dem heiligen Mann seine Wahrheit! Denn in Prüfungen versuchten sie ihn, über dem Wasser des Widerspruches schmähten sie ihn. Der zu seinem Vater und seiner Mutter spricht: ‚ich kenne dich nicht‘, und seine Brüder nicht kennt und auf Kinder seinerseits verzichtete, er hütet deine Worte und wahrte deinen Bund“.

258. Die Leviten nun sind „seine Männer“ und „seine Erlauchten“, welche „seine Worte hüten“ und in ihrem Herzen überdenken, wie Maria sie überdachte. S. 134 Sie „kennen ihre eigenen Eltern nicht“, um sie etwa ihrem Dienste vorzuziehen, hassen die Schänder der Keuschheit, rächen die Verletzung der Jungfräulichkeit und kennen die jeweiligen Anforderungen ihres Dienstes: welche Verrichtung die wichtigere, welche die weniger wichtige sei, zu welchem Zeitpunkt sie sich eigne. So wollen sie nur das Schickliche befolgen und, wo wirklich ein zweifaches Schickliches vorliegt, für das Schicklichere sich entscheiden. Sie sind mit Recht „die Gesegneten“. 259. Verkündet nun einer Gottes Recht und Gerechtigkeit, nimmt er die Räucherung vor, so „segne, Herr, seine Tugend, nimm auf die Werke seiner Hände!“ Er möge die Gnade des prophetischen Segensspruches bei dem finden, der lebt und herrscht in die Ewigkeiten der Ewigkeiten, Amen.

Zweites Buch: Vom Nützlichen

I. Kapitel: Vom seligen Leben

Quelle desselben: das sittlich Gute

S. 135 1. Im vorausgehenden Buche haben wir von den Pflichten gehandelt, die nach unserem Urteil dem sittlich Guten entsprechen. Niemand konnte zweifeln, daß hierin das selige Leben ruht, das die Heilige Schrift das ewige Leben nennt. So groß ist nämlich der Glanz des sittlich Guten, dass gerade die Ruhe des Gewissens und der sichere Besitz der Unschuld das selige Leben ausmachen. Wie die Sonne nach ihrem Aufgang den Mondball und die übrigen Lichtkörper am Sternenhimmel schwinden macht, so überstrahlt der Glanz des sittlich Guten, wo er in wahrer und ungebrochener Schönheit aufblitzt, alles andere, was nach Maßgabe der Sinnenlust für gut, oder nach dem Urteil der Welt für herrlich und ruhmvoll gilt.

Es wird innerlich erlebt, unabhängig von fremder Beurteilung

2. Selig fürwahr das Leben, dessen Wertschätzung nicht von fremdem Urteil abhängt, sondern das, ein Selbstrichter, im eigenen Empfinden erlebt wird! Es bedarf des Leumundes der Leute nicht als Lohnes, fürchtet ihn aber auch nicht als Strafe. Je weniger es nach Ruhm strebt, desto mehr ist es darüber erhaben. Denn wer nach Ruhm verlangt, besitzt in diesem Lohne des Gegenwärtigen nur den Schatten des Zukünftigen, und damit ein Hindernis des ewigen Lebens, wie es im Evangelium geschrieben steht: „Wahrlich ich sage euch, S. 136 sie haben ihren Lohn schon erhalten“. Jene sind gemeint, die wie mit Posaunenschall ihre Freigebigkeit, die sie gegen Arme üben, bekanntzumachen wünschen; ebenso ihr Fasten, mit dem sie Aufsehen machen wollen. „Sie haben ihren Lohn“, so heißt es.

Sein Lohn das ewige Leben, dem es die Hl. Schrift gleichsetzt

3. So ist es denn dem sittlich Guten eigen, im Verborgenen sei es Barmherzigkeit zu üben, sei es Fasten zu halten; es soll sich damit zeigen, daß du allein nur von deinem Gott, nicht auch von den Menschen deinen Lohn suchst. Denn wer ihn von den Menschen sucht, „der hat seinen Lohn“; wer hingegen von Gott, der hat das ewige Leben, das nur der Urheber der Ewigkeit verleihen kann gemäß jenem Ausspruche: „Wahrlich, ich sage dir, noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein“. So nannte denn die Schrift das selige Leben deutlich genug das ewige Leben: es sollte seine Würdigung nicht menschlichen Auffassungen überlassen, sondern dem göttlichen Urteil unterstellt werden.

II. Kapitel: Vom seligen Leben =

Die verschiedenen Auffassungen der Philosophie

4. Von den Philosophen nun verlegten die einen das selige Leben in die Schmerzlosigkeit, wie Hieronymus, andere in die Erkenntnis der Dinge, wie Herillus. Dieser hörte nämlich, wie Aristoteles und Theophrast der Erkenntnis der Dinge wunderbares Lob spendeten, und setzte darum in sie allein das höchste Gut, während jene sie wohl als ein Gut, nicht aber als das einzige Gut S. 137 priesen. Andere, wie Epikur, nannten den Genuß; andere, wie Kallipho und nach ihm Diodor, erklärten sich dahin, daß der eine das sittlich Gute mit dem Genusse, der andere mit dem Freisein von Schmerz zugleich verband, indem es ohne dasselbe kein seliges Leben geben könne. Der Stoiker Zeno behauptete, das sittlich Gute sei das einzige und höchste Gut; Aristoteles hingegen, bzw. Theophrast und die übrigen Peripatetiker, das selige Leben beruhe zwar in der Tugend, d. i. im sittlich Guten, aber zum Vollmaß ihrer Seligkeit gehörten auch die leiblichen und äußeren Güter.

Die Hl. Schrift verlegt es in die Gotteserkenntnis und die guten Werke

5. Die göttliche Schrift dagegen verlegte das ewige Leben in die Erkenntnis Gottes und die Frucht des guten Wirkens. Für beide Behauptungen spricht denn auch das Zeugnis des Evangeliums. Was einerseits die Erkenntnis anlangt, so äußerte sich der Herr Jesus folgendermaßen: „Das ist aber das ewige Leben, daß sie Dich, den alleinigen wahren Gott, erkennen, und den Du gesandt hast, Jesus Christus“. Was andrerseits die Werke betrifft, so gab er folgenden Bescheid: „Jeder, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen verläßt, wird hundertfältig empfangen und das ewige Leben besitzen“.

lange bevor man von einer Philosophie hörte

6. Damit man jedoch nicht glaube, das sei etwas Neues und, bevor es im Evangelium ausgesprochen ward, von den Philosophen behandelt worden — die Philosophie nämlich, d. i. Aristoteles und Theophrast, oder auch Zeno und Hieronymus, sind wohl älter als das Evangelium, doch jünger als die Propheten —, so höre man, wie beide Punkte, lange bevor man von den Philosophen auch nur dem Namen nach vernahm, durch den Mund des heiligen David offen ausgesprochen erscheinen. Denn es steht geschrieben: „Selig, wen Du, o Herr, unterweist und über Dein Gesetz belehrst!“ Auch anderen Orts lesen wir: „Selig der Mann, der den S. 138 Herrn fürchtet! An seinen Geboten wird er übergroße Lust haben“. Auf die Erkenntnis bezog sich unsere Belehrung. Als deren Lohn nannte der Prophet die Frucht der Ewigkeit und setzte bei, im Hause eines Menschen, der den Herrn fürchtet, bezw. der im Gesetze unterrichtet ist und an den göttlichen Geboten seine Lust hat: „Ehre und Reichtum ist in seinem Hause, und seine Gerechtigkeit währt in alle Ewigkeit“. Ebenso fügte er bezüglich der Werke im gleichen Psalme hinzu, sie verschaffen dem gerechten Mann den Lohn des ewigen Lebens. So beteuert er: „Selig der Mann, der mitleidig ist und leiht! Er wird seine Worte stellen im Gerichte; denn in Ewigkeit wird er nicht zum Wanken gebracht werden“. Und im folgenden: „Er teilte aus, gab den Armen: seine Gerechtigkeit währt in Ewigkeit“.

die beiden Elemente sind unzertrennlich

7. Der Glaube besitzt das ewige Leben: er ist dessen gute Grundlage. Aber auch die guten Werke besitzen es. In Wort und Tat zugleich bewährt sich nämlich der Gerechte. Denn wenn er nur im Reden bewandert, in Werken aber lässig ist, straft das Tun seine Einsicht Lügen, und um so schwerer ist die Verantwortung, wenn man weiß, was man tun sollte, aber nicht tat, was man zu tun für notwendig erkannte. Aber auch umgekehrt. Im Handeln gewissenhaft, in der Gesinnung schwankend sein, hieße über schlechter Grundlage schöne Giebelbauten aufführen wollen. Je mehr man aufbaut, umso mehr stürzt ein. Ohne die feste Stütze des Glaubens können die guten Werke nicht bestehen. Eine unzuverlässige Reede im Hafen macht das Schiff zerschellen; und ein sandiger Boden entweicht rasch und vermag die Last des aufgeführten Baues nicht zu tragen. Dort also winkt der volle Lohn, wo vollendete Tugend herrscht und vernünftiges Handeln mit vernünftigem Reden gleichsam gleichen Schritt hält.

III. Kapitel: Vom seligen Leben =

Es beruht nach der Schrift in der Tugendhaftigkeit und ist unabhängig vom leiblichen und äußeren Wohl und Wehe des Menschen

8. Weil nun die bloße Wissenschaft von den Dingen, nach den müßigen Streitreden der Philosophie zu urteilen, sei es als Scheinwissen, sei es als Halbwissen dem Fluche der Lächerlichkeit verfallen ist, so laßt uns erwägen, wie klar die göttliche Schrift das Problem löst, über das wir in der Philosophie so vielerlei verworrene und unklare Fragen aufgeworfen sehen. Nur das Ehrenhafte ist nach der Schrift gut; und nur die Tugend, die weder durch leibliche oder äußere Güter einen Zuwachs, noch durch Widerwärtigkeiten einen Eintrag erleidet, ist nach ihrem Urteil in jeder Sachlage selig, und nichts so selig, als was von Sünde frei, voll Unschuld und voll Gnade Gottes ist. Denn es steht geschrieben: „Selig der Mann, der nicht nach dem Rate der Gottlosen wandelt und nicht auf dem Wege der Sünder steht und nicht auf dem Stuhle der Pest sitzt, sondern seine Lust am Gesetze des Herrn hat!“ Und an einer anderen Stelle: „Selig, die unversehrt ihren Weg gehen; die wandeln im Gesetze des Herrn!“

ja offenbart sich vorzugsweise im Leiden

9. Unschuld und Wissen also machen selig. Auch vom guten Handeln bemerkten wir oben, daß sein Lohn die Seligkeit des ewigen Lebens sei. So erübrigt denn noch zu zeigen, wie man es unter seiner Würde halten soll, als Anwalt der Lust aufzutreten, oder aber den Tod zu fürchten: das eine verächtlich, weil entnervt und weichlich, das andere, weil unmännlich und schwächlich; wie vielmehr gerade in Schmerz und Leiden das selige Leben sich vorzüglich bekundet. Dies läßt sich leicht dartun, wenn wir lesen: „Selig seid ihr, S. 140 wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse mit Unwahrheit wider euch redet um der Gerechtigkeit willen! Freuet euch und frohlocket! Denn euer Lohn ist groß im Himmel. Ebenso hat man ja auch die Propheten verfolgt, die vor euch waren“. Und an einer anderen Stelle: „Wer mir nachfolgen will, nehme sein Kreuz und folge mir“.

IV. Kapitel: Vom seligen Leben =

Durch Leiden und Widerwärtigkeiten erfährt es nicht bloß keinen Eintrag, sondern vielmehr Förderung. Biblische Beispiele

10. Selbst mit dem Schmerz verträgt sich die Seligkeit; denn die Tugend, voll Süßigkeit, sich selbst überreich an inneren Gütern, sei es an Gewissens-, sei es an Gnadengütern, dämpft und stillt ihn. Nicht wenig selig war Moses, da er, vom ägyptischen Volke rings bedrängt und vom Meere eingeschlossen, kraft seiner frommen Verdienste für sich und das Vätervolk einen gangbaren Weg durch die Fluten gefunden hatte. Wann aber wäre er starkmütiger gewesen als damals, da er, von äußersten Gefahren umgeben, nicht an der Rettung verzweifelte, sondern den Sieg erzwang?

11. Wie steht es bei Aaron? Wann hätte er sich seliger gefühlt als damals, da er in der Mitte zwischen den Lebenden und Toten stand und sich selbst dem Tode entgegenstellte und ihm Einhalt gebot, daß er nicht von den Leichen der Toten zu den Scharen der Lebendigen überginge? Was soll ich vom Knaben Daniel reden, der so weise war, daß er inmitten der von S. 141 Hunger gereizten Löwen nimmer aus Angst vor der Wut der Bestien die Fassung verlor; so furchtlos, daß er ohne Besorgnis, er möchte durch sein Beispiel die wilden Tiere zur Freßgier reizen, zu essen vermochte?

12. So birgt auch im Leid sich Tugend, die das süße Glück eines guten Gewissens genießt und so den Beweis liefert, daß der Schmerz den Genuß der Tugend nicht beeinträchtigt. Wie nun die Tugend durch Schmerz keinerlei Einbuße erfährt, so durch leiblichen Genuß oder günstige äußere Vorteile keinerlei Zuwachs. Mit Rücksicht darauf spricht der Apostel so schön: „Was mir Gewinn gewesen, das erachtete ich um Christus willen für Nachteil“. Und er fügte hinzu: „Um seinetwillen erachtete ich alles für Schaden und halte es für Kot, um Christus zu gewinnen“.

13. Darum glaubte denn auch Moses, die Schätze der Ägypter seien für ihn nur Nachteil, und zog ihnen die Schmach des Kreuzes des Herrn vor: weder damals reich trotz Überfluß an Geld, noch später arm trotz Mangel an Nahrung, es müßte denn sein, daß er einem damals, als es ihm und seinem Volke in der Wüste an Nahrung gebrach, weniger selig dünkte. Doch da ward ihm — und niemand dürfte dem den Charakter höchsten Gutes und höchster Seligkeit abzusprechen wagen — das Manna, d. i. das Brot der Engel vom Himmel gereicht; desgleichen gab es auf den täglichen Regen Fleisch im Überfluß zur Nahrung des ganzen Volkes.

14. Ebenso hätte es dem heiligen Elias an Brot zum Lebensunterhalte gefehlt, würde es dessen Erwerbes bedurft haben; aber es mangelte offensichtlich nicht, weil es dessen nicht bedurfte: durch der Raben täglichen Dienst ward ihm des Morgens Brot, des Abends Fleisch herbeigebracht. War er etwa deshalb weniger selig, S. 142 weil er für sich selbst dürftig war? Keineswegs. Im Gegenteil, um so seliger, weil er für Gott reich war. Denn besser ist es für andere, als für sich reich zu sein, wie er es war. Er erbat sich in der Hungersnot von einer Witwe Speise, um ihr die Wohltat zu erweisen, daß der Mehltopf drei Jahre und sechs Monate lang nicht ausging, und das Ölgefäß der armen Witwe den täglichen Bedarf hinlänglich deckte und bot. Mit Recht wollte Petrus dort sein, wo er solche Selige schaute. Mit Recht erschienen sie auf dem Berge mit Christus in der Verklärung, weil auch dieser arm wurde, da er reich war.

und Christi Seligpreisungen beweisen das

15. So trägt denn Reichtum nichts zum seligen Leben bei. Das bezeugte der Herr klar im Evangelium mit den Worten: „Selig, ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes! Selig, die jetzt hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden! Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen!“ Damit ist klar und deutlich ausgesprochen, daß Armut, Hunger, Schmerz, die man für Übel hält, nicht bloß kein Hindernis, sondern sogar eine Förderung für das selige Leben bilden.

V. Kapitel: Vom seligen Leben

Die äußeren Güter tragen nicht bloß nichts zur Seligkeit bei, sondern beeinträchtigen sie obendrein

16. Aber auch umgekehrt: die Scheingüter Reichtum, Genuß und Freude, die kein Leid trübt, sind nach dem klar ausgesprochenen Urteil des Herrn für den Seligkeitsgenuß von Nachteil. Denn es heißt: „Wehe S. 143 euch Reichen, denn ihr habt euren Trost! Wehe euch, die ihr gesättigt seid, denn ihr werdet hungern; (wehe) den Lachenden, denn sie werden trauern!“ So sind also die leiblichen und äußeren Güter nicht bloß kein Vorteil für das selige Leben, sondern sogar ein Nachteil.

17. Daher denn war Naboth, selbst da er vom Reichen gesteinigt wurde, selig. Arm und schwach der Macht des Königs gegenüber, besaß er nämlich als einzigen Reichtum soviel Gefühl und Rücksicht, daß er den ererbten väterlichen Weinberg um des Königs Geld nicht vertauschen mochte; und war eben darum vollkommen, weil er den rechtlichen Besitz seiner Vorfahren mit dem eigenen Blute verteidigte. Daher war aber auch Achab sogar nach seinem eigenen Urteil unselig, weil er den Armen töten ließ, um in den Besitz seines Weinberges zu gelangen.

18. Soviel ist gewiß: die Tugend ist das einzige und höchste Gut und allein übervoll der Frucht des ewigen Lebens; nicht die äußeren oder die leiblichen Güter, sondern nur die Tugend verschafft das selige Leben, durch das man das ewige Leben erlangt. Das selige Leben beruht im Gegenwärtigen, das ewige Leben aber in der Hoffnung auf das Zukünftige.

Bedenken dagegen

19. Und doch gibt es Leute, die das selige Leben in diesem so schwächlichen, so gebrechlichen Leibe für ausgeschlossen halten, da er notwendig Drangsale, Leiden, Tränen und Siechtum mit sich führt: als ob ich fürwahr behaupten wollte, das selige Leben beruhe im Wohlbefinden des Leibes und nicht in der Tiefe der Weisheit, in der süßen Ruhe des Gewissens, im Hochgefühl der Tugend. Denn selig sein heißt nicht ein Leidender, sondern Sieger über das Leiden sein und nicht unter der Regung des zeitlichen Schmerzes zusammenbrechen.

lassen sich durch biblische Beispiele

20. Setze den Fall, es treten Heimsuchungen ein, S. 144 die sich angesichts des bitteren Schmerzes schwer ertragen lassen: Blindheit, Verbannung, Hunger, Entehrung einer Tochter, Verlust der Kinder. Wer möchte leugnen, daß Isaak selig gewesen ist, der im Alter nicht mehr sah und durch seine Segensworte Seligkeiten spendete? Oder war Jakob nicht selig, der, aus dem Vaterhause flüchtig, als gedungener Hirte die Verbannung ertragen, die Schändung seiner Tochter beklagen, Hunger leiden mußte? Jene Männer sollten nicht selig gewesen sein, durch deren Glauben Gott bezeugt wird, so oft es heißt: „Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs“? Unselig ist die Knechtschaft, doch nicht unselig Joseph, vielmehr über die Maßen selig, da er in der Knechtschaft schmachtend den Lüsten seiner Herrin wehrte. Was soll ich vom heiligen David sagen, der den Tod dreier Söhne und, was noch härter war, die Blutschande seiner Tochter zu beklagen hatte? Wie sollte er nicht selig gewesen sein, da aus seiner Nachkommenschaft der Urheber der Seligkeit hervorging, der so viele selig machte? Denn „selig, die nicht gesehen und doch geglaubt haben!“ Auch sie fühlten sich schwach, erstarkten aber aus Schwachen zu Helden. Was aber gab es Leidvolleres als den heiligen Job, sei es wegen der Einäscherung seines Hauses, sei es wegen des plötzlichen Todes seiner zehn Kinder und seiner körperlichen Schmerzen? Wäre er etwa seliger gewesen, wenn er die Prüfungen, in denen er sich noch mehr erproben konnte, nicht ertragen hätte?

21. Doch es soll zugestanden werden, daß darin ein bitterer Wermutstropfen, ein Schmerz lag, den die Tugend der Seele nicht verbergen konnte. Ich möchte S. 145 ja auch vom Meere nicht leugnen, daß es tief ist, weil die Ufer seicht sind; noch vom Himmel, daß er glänzt, weil er zuweilen von Wolken überzogen ist; oder von der Erde, daß sie fruchtbar ist, weil da und dort magerer Kiesboden sich findet; oder von den Saaten, daß sie froh sich wiegen, weil sie dazwischen gern einen tauben Halm haben. Ebenso glaube, daß die Erntefrucht des guten Gewissens von einigem Bitterkraut des Schmerzes durchsetzt ist! Wird nicht das Widerwärtige und Bittere, das etwa eintritt, wie ein tauber Halm von den Garben des seligen Gesamtlebens verdeckt oder wie der herbe Lolch vom schmackhaften Getreide verhüllt? — Doch jetzt zu unserem Gegenstand.

VI. Kapitel: Vom Nützlichen

Das wahrhaft Nützliche deckt sich mit dem sittlich Guten

22. Im vorausgehenden Buche machten wir folgende Einteilung: an erster Stelle kam das sittlich Gute und Schickliche, wovon die Pflichten sich herleiten, an zweiter Stelle das Nützliche. Und wie wir beim ersten Punkte betonten, daß zwischen dem sittlich Guten und Schicklichen ein gewisser Unterschied besteht, der sich mehr denken als sagen läßt, so scheint auch bei der Abhandlung über das Nützliche die Frage ins Auge zu fassen zu sein, was das Nützlichere sei.

23. Die Nützlichkeit aber bestimmen wir nicht nach dem Geldgewinste, den man abschätzt, sondern nach der Frömmigkeit, die man erwirbt, gemäß der Versicherung des Apostels: „Die Frömmigkeit aber ist zu allem nützlich, indem sie die Verheißung des gegenwärtigen S. 146 und zukünftigen Lebens hat“. So finden wir in der göttlichen Schrift, wenn wir uns genau darin umsehen, häufig das sittlich Gute nützlich genannt. „Alles steht mir frei, doch nicht alles ist nützlich“. Im Vorausgehenden sprach der Apostel von den Lastern. Das will er sonach sagen: zu sündigen steht einem frei, aber es schickt sich nicht; die Sünde steht in seiner Gewalt, ist aber nicht geziemend; zu Völlerei bietet sich leicht Gelegenheit, sie ist aber nicht recht; denn nicht Gott, sondern dem Bauche dient die Speise, die man zu sich nimmt.

24. Weil also das Nützliche mit dem Rechten sich deckt, so ist es recht, daß wir Christus dienen, der uns erlöst hat. Gerecht waren, die sich für seinen Namen dem Tode weihten; ungerecht, die ihm auswichen. Diesen gilt das Wort: „Welcher Nutzen liegt in meinem Blute“, d. i. welcher Vorteil in meiner Gerechtigkeit? Daher auch ihr Ruf: „Binden wir den Gerechten, weil er uns unnütz“, d. i. weil er ungerecht ist, indem er uns anklagt, verurteilt, straft! Freilich läßt sich die Stelle auch auf die Habsucht gottloser Menschen, welche der Ruchlosigkeit nachbarlich ist, beziehen, wie wir es beim Verräter Judas lesen, der aus Habsucht und Geldgier in die Schlinge des Verrates geriet und fiel.

25. Über jenes Nützliche ist sonach zu handeln, das voll Ehrbarkeit ist, wie es der Apostel ausdrücklich näher bestimmte mit den Worten: „Dies aber sage ich zu eurem Nutzen, nicht um euch eine Schlinge umzuwerfen, sondern zu eurer Ehrbarkeit“. So ist denn klar, daß das Ehrbare nützlich und das Nützliche ehrbar ist, und daß das Nützliche gerecht und das Gerechte nützlich ist. Nicht gewinn- und habsüchtigen Krämerseelen nämlich, sondern meinen Söhnen gilt die Abhandlung, und zwar eine Abhandlung über die S. 147 Pflichten, welche ich euch, die ich zum Dienste des Herrn erkoren habe, einschärfen und einflößen möchte, damit das, was eurem Geiste und sittlichem Verhalten bereits durch praktische Anleitung eingepflanzt und eingeprägt wurde, auch in Form einer schulgerechten Abhandlung erschlossen werde.

26. Wenn ich nun darangehe, über das Nützliche zu sprechen, möchte ich jenes Verses beim Propheten mich bedienen: „Wende mein Herz zu Deinen Zeugnissen und nicht zur Habsucht!“ Der Laut des Nützlichen soll nicht die Geldgier reizen. So lesen denn auch andere: „Wende mein Herz zu Deinen Zeugnissen und nicht zum Nutzen“, d. i. jenem auf das Feilschen und Markten ausgehenden, jenem nach der Leute Brauch auf Geldgier bedachten und gerichteten Nutzen! Gewöhnlich nennt man ja nur das nützlich, was Gewinn einträgt. Wir aber handeln von jenem Nutzen, den man unter Nachteilen sucht, um Christus zu gewinnen. Sein Gewinn besteht in der Frömmigkeit, verbunden mit Genügsamkeit. Fürwahr ein großer Gewinn, wenn wir damit die Frömmigkeit erwerben, die bei Gott reich ist nicht an vergänglichen Schätzen, sondern an ewigen Gaben, die nicht verführerische Versuchung, sondern beständige und unvergängliche Gnade bergen.

Einteilung des Nützlichen

27. So gibt es denn nach der Einteilung des Apostels einesteils einen Nutzen des Leibes, andernteils einen der Frömmigkeit. „Das leibliche Mühen nämlich“, versichert er, „ist zu wenigem nützlich; die Frömmigkeit aber ist zu allem nützlich“. Was aber wäre so ehrbar als die Jungfräulichkeit? Was so schicklich, als den Leib unbefleckt, die Reinheit unverletzt und unversehrt zu bewahren? Was desgleichen so schicklich, als daß eine Witwe ihrem verstorbenen Gatten die Treue hält? Was nützlicher als ein Verdienst, durch das man sich S. 148 den Himmel erwirbt? Denn „es gibt solche, die der Ehe entsagt haben um des Himmelreiches willen“.

VII. Kapitel: Vom Nützlichen

Auch im Nützlichen gibt es Gradunterschiede

28. Zwischen dem sittlich Guten und Nützlichen besteht sonach nicht bloß eine innige Beziehung, sondern das Nützliche deckt sich geradezu mit dem sittlich Guten. Darum suchte auch der, welcher allen das Himmelreich erschließen wollte, nicht seinen Nutzen, sondern den der Allgemeinheit. Auch wir sollen darum eine gewisse Ordnung und Stufenfolge von den Dingen gewöhnlicher und allgemeiner Art bis zu den erhabeneren einhalten, um aus dem Vielerlei einen Fortschritt im Nützlichen zu erzielen.

Nichts frommt mehr als Beliebtheit beim Volke

29. Fürs erste mögen wir wissen, daß nichts so nützlich ist als Beliebtheit, nichts so nachteilig als Unbeliebtheit; denn ich halte Mißliebigkeit für unheilvoll und überaus verderblich. Laßt uns denn trachten, mit allem Eifer unsere Achtung und unseren Ruf zu heben und namentlich durch Sanftmut des Geistes und durch Herzensgüte uns die Zuneigung der Leute zu gewinnen! Denn Güte ist jedermann lieb und wert, und es gibt nichts, was so leicht den Weg in die Herzen der Menschen fände. Verbinden sich mit ihr auch noch ein sanftes, freundliches Wesen, sodann weise Mäßigung im Befehlen und Leutseligkeit im Gespräch, ehrende Worte und auch geduldiges Anhören von Widerrede sowie S. 149 gewinnende Bescheidenheit, so möchte man es nicht glauben, zu welchem Maß von Beliebtheit sie fortschreitet.

selbst dem Herrscher

30. Wir lesen nämlich nicht bloß von gewöhnlichen Menschen, sondern selbst von Königen, wieviel Nutzen holde, liebenswürdige Herablassung, bezw. wieviel Schaden hochfahrendes Wesen und hochmütige Rede angestiftet haben, so daß sie sogar den Sturz ihrer Reiche, die Vernichtung ihrer Macht zur Folge hatten. Gewinnt nun einer durch Einsicht, Erfahrung, Dienstgefälligkeit die Gunst des Volkes, oder setzt einer unter Gefahr sein Leben für das ganze Volk ein, so strömt zweifellos so viel Liebe von seiten des Volkes auf ihn zurück, daß es sein Heil und sein Wohlbefinden dem eigenen vorzieht.

Wie haben Moses

31. Wieviel Schmähungen mußte nicht Moses von seiten des Volkes hinnehmen! Und doch bot er sich, als der Herr an den übermütigen Volksgenossen Rache nehmen wollte, wiederholt für das Volk zum Opfer dar, um es vom Zorne Gottes zu erretten. Mit wie sanften Worten redete er auf Beleidigungen das Volk an, tröstete es in seinen Nöten, beschwichtigte es mit göttlichen Aussprüchen, erquickte es mit seinen Taten! Und obschon er beständig mit Gott redete, pflegte er doch die Leute demütig und freundlich anzureden und ins Gespräch zu ziehen. Mit Recht hielt man ihn für einen Übermenschen, so daß man selbst sein Angesicht nicht zu schauen vermochte und glaubte, sein Grab habe sich nicht finden lassen. So nämlich hatte er die Herzen des ganzen Volkes an sich gefesselt, daß ihre S. 150 Liebe zu ihm ob seiner Sanftmut größer war als ihre Bewunderung für seine Taten.

und David die Liebe des Volkes verdient und gefunden !

32. Wie steht es mit seinem Nachahmer, dem heiligen David, der aus allen zur Regierung des Volkes erkoren ward? Wie sanft und liebenswürdig war er, wie demütigen Geistes, arglosen Herzens, huldvoller Gesinnung! Noch vor dem Regierungsantritt setzte er für alle sein Leben ein. Als König tat er es allen im Kriegsdienst gleich und teilte mit ihnen die Kampfesmühe: tapfer in der Schlacht, milde auf dem Throne, geduldig bei Schmähung, bereit, lieber Unrecht zu ertragen als zu vergelten. Daher war er auch bei allen so beliebt, daß er, noch ein Jüngling, wider seinen Willen zum Könige begehrt und trotz Widerstreben hierzu genötigt ward, als Greis aber von den Seinigen gebeten wurde, sich nicht in die Schlacht zu mengen, indem lieber alle für ihn, statt er für alle, der Gefahr sich aussetzen wollten.

33. In folgender Weise hatte er sich durch seine liebenswürdigen Dienste das Volk verbunden: Vor allem wollte er bei den Volksfehden lieber als Verbannter in Hebron denn als König in Jerusalem weilen. Sodann liebte er auch am Feinde die Tugend und glaubte auch denen, welche die Waffen wider ihn getragen hatten, in gleicher Weise wie den Seinigen Gerechtigkeit widerfahren lassen zu müssen. Endlich zollte er dem tapferen Vorkämpfer der Gegenpartei, dem Feldherrn Abner, seine Bewunderung, als er Schlachten gegen ihn lieferte, und wies ihn, da er um Gnade und Frieden bat, nicht ab, sondern ehrte ihn durch ein Gastmahl, betrauerte und beweinte ihn, als er in einem Hinterhalte ermordet wurde, gab seinem Leichenzug ein ehrenvolles Geleite, rächte seinen Tod, hielt gewissenhaft die Treue, die er seinem Sohne schriftlich unter den Erbrechten zusicherte, noch mehr besorgt, den Tod des S. 151 Schuldlosen nicht ungestraft zu lassen, als seinen Tod zu betrauern.

34. Es ist keine Kleinigkeit, zumal für einen König, so demütigen Diensten sich zu unterziehen, daß er selbst den Geringsten gegenüber sich herablassend erwies, unter Gefährdung anderer keine Speise sich zu verlangen, den Trank auszuschlagen, die Sünde zu bekennen und sich selbst für das Volk dem Tode weihen zu wollen, um Gottes Unwillen auf sich abzulenken. Bot er sich doch dem Strafengel mit den Worten an: „Sieh, ich bin’s, ich habe gesündigt und ich, der Hirte, Böses getan: was tat denn die Herde hier? Über mich komme Deine Hand!“

35. Was soll ich denn des weiteren hervorheben, daß er seinen Mund nicht öffnete gegen die, so auf Trug sannen und, als hörte er nicht, keine Widerrede führen zu sollen glaubte, auf Verunglimpfungen nicht antwortete, bei Herabsetzungen seiner Person betete, bei Schmähungen segnete? Daß er in Einfalt wandelte, die Stolzen floh, den Unschuldigen nachahmte, er, der Asche in seine Speisen streute, während er seine Sünden beweinte und seinen Trank mit Tränen mischte? Mit Recht war er beim ganzen Volke so beliebt, daß alle Stämme Israels zu ihm kamen und riefen: „Sieh, wir sind dein Gebein und dein Fleisch! Gestern und vorgestern, da Saul noch war und über uns herrschte, warst du es, der Israel aus- und einführte. Und zu dir sprach der Herr: Du sollst mein Volk weiden“. Was soll ich mehr von ihm sagen? Erging doch über ihn der Ausspruch Gottes, der von ihm beteuerte: „Ich habe David nach meinem Herzen befunden“. Wer wäre denn so wie er in Heiligkeit des Herzens und S. 152 Gerechtigkeit gewandelt, um den Willen Gottes zu erfüllen? Ward doch um seinetwillen selbst noch seinen Nachkommen, wenn sie sich vergingen, Verzeihung gewährt und als seinen Erben Gnade vor Recht gewahrt.

36. Wer hätte ihn denn nicht liebgewinnen müssen, wenn er sah, wie er den Freunden so lieb war, daß er, weil er selbst aufrichtige Freundesliebe übte, der gleichen Liebe von seiten seiner Freunde versichert war? So zogen ihn denn auch Eltern ihren Kindern, Kinder ihren Eltern vor. Saul geriet darob heftig in Zorn und wollte seinen Sohn Jonathas mit dem Speere durchbohren, weil er glaubte, Davids Freundschaft gelte bei ihm mehr als die Liebe und das Ansehen des Vaters.

37. Zur Entfachung der Liebe trägt überhaupt am meisten bei, wenn einer den Liebenden Gegenliebe erweist und zeigt, daß seine Gegenliebe nicht hinter der Liebe, die er selbst findet, zurückbleibt, und dies aus Proben treuer Freundschaft offen erhellt. Was wäre denn so herzgewinnend als Wohlwollen? Was der Natur so eigen als einen Liebenden zu lieben? Was dem menschlichen Gemüte so eingepflanzt und eingeprägt als das Herzensbedürfnis, den zu lieben, von dem man geliebt sein möchte? Mit Recht spricht der Weise: „Laß um des Bruders und des Freundes willen Geld zu Verlust gehen!“ Und an einer anderen Stelle: „Einen Freund zu grüßen, will ich mich nicht schämen und angesichts desselben mich nicht verbergen“. Bezeugt doch das Wort des Ekklesiastikus [= Sirach], am Freunde habe man „eine Arznei des Lebens und der Unsterblichkeit“. Und niemand zweifle, daß in der Liebe eine gar mächtige Schutzwehr liegt. Versichert doch der Apostel: „Alles erträgt sie, alles glaubt sie, alles hofft sie, alles duldet sie, nimmer kommt die Liebe zu Fall“.

S. 153 38. Daher wankte Davids Thron nicht, weil er jedermann lieb war und von den Untertanen geliebt statt gefürchtet sein wollte. Die Furcht leistet ja nur eine vorübergehende Schutzwache, kennt keine dauernde Hut. Sobald daher die Furcht weicht, wagt Verwegenheit sich hervor; denn nicht Furcht erzwingt die Treue, sondern Liebe schafft sie.

Zur Liebe gesellt sich von selbst das Vertrauen des Volkes

39. So gereicht uns denn in erster Linie Liebe zur Empfehlung. Es ist daher gut, wenn wir im Geruche allgemeiner Beliebtheit stehen. Daraus ersteht das Vertrauen, so daß selbst Fremde unbedenklich deiner Gewogenheit sich anvertrauen, wenn sie sehen, wie du bei der Mehrzahl beliebt bist. Ähnlich wie durch Liebe kann es auch durch Vertrauen dahinkommen, daß einer, der einem oder zweien die Treue wahrte, allen gleichsam ins Herz wächst und aller Gunst erwirbt.

VIII. Kapitel: Vom Nützlichen

Als Drittes empfiehlt einen weiser Rat, der auf Klugheit und Gerechtigkeit beruht

40. Diese beiden Stücke nun tragen am meisten zu unserer Empfehlung bei: Liebe und Vertrauen; und als drittes folgender Vorzug, wenn man ihn besitzt, weil die große Menge ihn an einem bewunderungswürdig findet und mit Recht für ehrenwert erachtet.

41. Und weil gerade erfahrener Rat die Leute in S. 154 höchstem Maße gewinnt, darum ist für jeden Klugheit und Gerechtigkeit erforderlich, und die Mehrheit erwartet sie auch, so daß man einem, der sie besitzt, zutraut, daß er auf Wunsch nützlichen und verlässigen Rat zu erteilen vermag. Wer möchte ihm denn trauen, wenn er ihn nicht für weiser halten könnte, als er, der Ratsuchende, selbst ist? Der um Rat Gebetene muß daher notwendig vortrefflicher sein als der Ratsuchende. Was wollte man denn einen zu Rate ziehen, dem man nicht besser als der eigenen Einsicht die Fähigkeit zutraut, das Rechte zu treffen.

42. Findet man nun einen, der durch Schärfe des Denkens, durch Kraft und Überlegenheit des Geistes sich hervortut und es dahin bringt, daß er durch (fremdes) Beispiel und Erfahrung noch größere Meisterschaft erlangt, gegenwärtige Gefahren beschwört, künftige voraussieht, auf drohende aufmerksam macht, auch den Grund hiervon aufzeigt, das Rettungsmittel zur rechten Zeit angibt und nicht bloß zu Rat, sondern auch zur helfenden Tat bereit ist: so schenkt man einem solchen Glauben, so daß der Ratsuchende sprechen mag: „Sollte mir selbst Schlimmes durch ihn begegnen, ich nehme es hin“.

43. Einem solchen Manne nun, der nach der obigen Ausführung gerecht und klug ist, vertrauen wir unser Leben und unseren Ruf an. Die Gerechtigkeit nämlich bürgt dafür, daß kein Trug zu fürchten steht; desgleichen die Klugheit dafür, daß keine Irrung zu besorgen ist. Freilich noch bereitwilliger verlassen wir uns, um mit der gewöhnlichen Erfahrung zu sprechen, auf einen gerechten als auf einen klugen Mann. Nach philosophischer Auffassung begegnen sich übrigens dort, wo S. 155 eine Tugend sich findet, auch die übrigen, und kann es eine Klugheit ohne die Gerechtigkeit nicht geben. Auch bei den Unsrigen finden wir das ausgesprochen. David nämlich versichert: „Der Gerechte ist mitleidig und leiht“. Was der Gerechte leiht, spricht er an einer anderen Stelle aus: „Liebenswürdig der Mann, der mitleidig ist und leiht: er wird seine Worte zurechtstellen im Gerichte“.

Beide Erfordernisse im Urteil Salomos vorbildlich eingelöst

44. Ist jenes berühmte Urteil Salomos nicht voll Weisheit und Gerechtigkeit? Betrachten wir denn, ob es also ist! Zwei Weiber, heißt es, standen vor dem Könige Salomo, und es sprach eines davon zu ihm: Höre mich, Herr! Ich und das Weib hier wohnten in einem Schlafgemache. Vor drei Tagen kamen wir nieder und bekamen jedes ein Kind. Und wir waren zusammen: kein Zeuge im Hause, kein anderes Weib mit uns, nur wir allein. Da starb dessen Kind in dieser Nacht, als es über ihm eingeschlafen war. Und es stand mitten in der Nacht auf, nahm mein Kind von meinem Busen hinweg, barg es an seinem Busen und legte sein Kind an meinen Busen. Und ich stand am Morgen auf, um den Kleinen zu stillen: da fand ich ihn tot. Und ich betrachtete ihn beim Frühlicht: und es war nicht mein Kind. Und das andere erwiderte: Nein, sondern das ist mein Kind, das lebt; dein Kind dagegen, das gestorben ist.

45. Dies nun war der Streit. Jede beanspruchte für sich das überlebende Kind, stellte hingegen den Tod des ihrigen in Abrede. Da befahl der König ein Schwert zu bringen, das Kind entzweizuteilen und jeder einen Teil zu geben, der einen die Hälfte und der anderen die Hälfte. Da rief das Weib, das von der wahren Mutterliebe übermannt war: Nie und nimmer, Herr, zerteile das Kind! Lieber werde es jener gegeben und bleibe S. 156 am Leben, und nicht töte es! Jene zweite hingegen versetzte: Weder mir noch ihr soll das Kind gehören: teilet es! Da entschied der König, das Kind solle jenem Weibe gegeben werden, das gerufen hatte: Tötet es nicht, sondern gebt es jenem Weibe! Denn ob ihres Kindes, sagte er sich, ward ihr Herz gerührt.

'46. Nicht ohne Grund glaubte man daher, daß göttliche Einsicht ihm innewohne. Was wäre denn Gott verborgen? Was aber gibt es Verborgeneres als das Zeugnis des Herzens im Innern. Dahin nun stieg gleichsam der Geist des Weisen als Richter über die Mutterliebe hinab und ließ sozusagen den Mutterschoß zu Worte kommen. Denn offenkundig ward das Mutterherz mit der Wahl, die es getroffen: ihr Kind möge, und sollte es an der Seite einer Fremden sein, lieber am Leben bleiben, als vor den Augen der Mutter getötet werden.

47. Aufgabe der Weisheit war es also, die geheimen Gewissen zu unterscheiden, aus dem Verborgenen die Wahrheit ans Licht zu bringen und mit des Geistes Schwert wie mit einem Messer nicht bloß ins Innere des Mutterschoßes, sondern selbst der Seele und des Geistes zu dringen; ebenso Aufgabe der Gerechtigkeit, daß jene, die ihr Kind getötet hatte, das fremde nicht wegnehmen konnte, vielmehr die wahre Mutter das ihrige erhielt. Das wollte denn auch die Schrift offenkundig machen: „Ganz Israel“, heißt es, „hörte von diesem Urteil, das der König fällte; und Furcht überkam sie vor dem Könige, weil die Einsicht Gottes ihm innewohnte, Gerechtigkeit zu üben“. Und auch Salomo selbst bat also um Weisheit: es möchte ihm ein kluges Herz verliehen werden, um mit Gerechtigkeit zu verhören und zu richten.

IX. Kapitel: Vom Nützlichen

Sind auch Klugheit und Gerechtigkeit unzertrennlich,

S. 157 48. Es steht sonach fest, daß es auch nach der göttlichen Schrift, die das höhere Alter aufweist, keine Weisheit ohne die Gerechtigkeit geben kann; denn wo nur eine dieser Tugenden ist, da sind beide. Wie weise kam nicht auch Daniel durch seine tiefsinnige Fragestellung, worauf die Verleumder keine übereinstimmende Antwort mehr zu geben wußten, auf die Lügenhaftigkeit der falschen Anschuldigung! Aufgabe der Klugheit war es, die Schuldigen durch ihr Wort Zeugnis ablegen zu lassen und zu entlarven; Aufgabe der Gerechtigkeit desgleichen, die Schuldigen der Strafe zu überantworten, die Unschuldigen davor zu bewahren.

bleibt doch die herkömmliche Unterscheidung und Einteilung der Kardinaltugenden am Platz

49. So besteht denn eine unzertrennliche Gemeinschaft zwischen der Weisheit und Gerechtigkeit. Nach der gewöhnlichen Auffassung jedoch unterscheidet man die einzelnen Tugendnormen. Die Mäßigkeit liegt danach in der Verachtung der sinnlichen Genüsse; der Starkmut zeigt sich in Mühen und Gefahren; die Klugheit in der Entscheidung für das Gute, indem sie zwischen dem Nützlichen und Nachteiligen zu unterscheiden weiß; die Gerechtigkeit darin, daß sie als gute Hüterin fremden Rechtes und als Beschützerin des eigenen Besitzes jedem das Seinige wahrt. Wir wollen es in Rücksicht auf die gewöhnliche Auffassung bei dieser Vierteilung bewenden lassen, so daß wir von jener spitzfindigen Erörterung über den philosophischen Weisheitsbegriff, die zur Näherbestimmung der Wahrheit gleichsam aus unnahbarer Tiefe schöpft, Umgang nehmen und dem allgemeinen Brauch und der S. 158 gewöhnlichen Auffassungsweise folgen. Unter Wahrung dieser Einteilung nun wollen wir zum Gegenstand zurückkehren.

X. Kapitel: Vom Nützlichen

Gerechter Rat geht vor klugem

50. Nur dem möglichst Klugen vertrauen wir unsere Sache an und von ihm erbitten wir uns lieber als von jedem anderen Rat. Doch besser noch ist der Rat des gerechten Mannes und wiegt oft die Einsicht des Weisesten auf. Denn „mehr frommen die Wunden von einem Freund als die Küsse anderer“. Weil sodann dem Gerechten das Urteil, dem Weisen aber dessen Begründung zusteht, obliegt ersterem die strenge Prüfung des Verhandlungsergebnisses, letzterem das schlaue Vorgehen zur Aufdeckung des Falles.

der beste vereinigt Klugheit und Gerechtigkeit. Vorbildlich Salomos Weisheit

51. Vereinigt man beides, werden sich jene ungemein heilsamen Ratschläge erteilen lassen, die jedermann aus Bewunderung für die Weisheit und aus Liebe zur Gerechtigkeit erwartet; alle werden die Weisheit eines solchen Mannes, in welchem sich beide Tugenden verbinden, zu hören suchen, wie alle Könige der Erde das Angesicht Salomos zu schauen und seine Weisheit zu hören suchten, so daß auch die Königin von Saba zu ihm kam und durch Fragen ihn erprobte: Und sie kam und redete alles, was sie auf dem Herzen hatte, und hörte alle Weisheit Salomos, und es entging ihr kein Wort davon.

S. 159 52. Wer diese ist, der nichts entgeht, und daß es nichts gibt, was ihr der wahre Salomo nicht kundgetan hätte, das erschließe, o Mensch, aus dem, was du sie reden hörst! „Wahr ist“, so beteuert sie, „das Gerücht, das ich in meinem Lande über deine Reden und deine Klugheit vernommen habe; und ich glaubte dem nicht, was man mir sagte, bis ich kam, und meine Augen es schauten. Und nun ist das, was man mir kundgab, nicht einmal die Hälfte. Das Gute, das du auftischtest, übertraf alles, was ich in meinem Lande hörte. Selig deine Frauen und selig deine Diener, die an deiner Seite stehen, die alle deine Klugheit vernehmen!“ Erkenn das Gastmahl des wahren Salomo und was bei diesem Gastmahle aufgetragen wird! Erkenn weise und erwäge, in welchem Lande die Heidenkirche den Ruf der wahren Weisheit und Gerechtigkeit vernahm und mit welchen Augen sie ihn sah, da sie Dinge unsichtbarer Art schauten! „Denn das Sichtbare ist zeitlich, das Unsichtbare aber ewig“.

53. Wer anders sind die „seligen Frauen“ als jene, von welchen es heißt: „Viele hören das Wort Gottes und bringen es hervor“? Und an einer anderen Stelle: „Denn wer immer das Wort Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und Mutter“. Wer anders ferner sind „deine seligen Diener an der Seite“ als ein Paulus, der beteuerte: „Bis zu diesem Tage stehe ich da und lege öffentlich Zeugnis ab vor klein und groß“?, als ein Symeon, der im Tempel harrte, um den Trost Israels zu schauen? Warum hätte er denn um Entlassung gebeten, wenn nicht deshalb, weil er, vor dem Herrn stehend, ohne den Willen des Herrn kein Recht zum Scheiden hatte? Zum Vorbild ward Salomo uns vor Augen gestellt mit der Forderung, wetteifernd von ihm die Weisheit zu hören.

Josephs

54. Auch Joseph hatte nicht einmal im Gefängnisse S. 160 soviel Ruhe, daß man ihn nicht in zweifelhaften Fällen zu Rate zog. Ganz Ägypten frommte sein Rat, so daß es nicht unter der Unfruchtbarkeit der sieben Jahre leiden brauchte und andere Völker von der traurigen Hungersnot befreite.

und Daniels Rat

55. Daniel, aus der Mitte der Gefangenen zum Vorsitzenden über die königlichen Räte bestellt, griff bessernd durch seinen Rat in die Gegenwart ein und verkündete die Zukunft. Denn nachdem er sich durch seine häufigen Deutungen als ein Verkündiger der Wahrheit erwiesen hatte, schenkte man ihm in allem Glauben.

XI. Kapitel: Vom Nützlichen

Die Bedingungen zur Erteilung eines vertrauenswürdigen Rates vorbildlich eingelöst bei Salomo, Moses,

56. Aber auch der an dritter Stelle genannte Vorzug unter denen, die der Bewunderung für würdig erachtet würden, scheint mit dem Hinweis auf das Beispiel Josephs, Salomos und Daniels sich zu erledigen. Was sollte ich denn von Moses reden, auf dessen Ratschläge ganz Israel täglich harrte? Schon das Leben dieser Männer weckte Vertrauen zu ihrer Klugheit und steigerte die Bewunderung für dieselbe. Wer hätte nicht dem Rate des Moses vertraut, dem die Ältesten im Fall, daß ihrer Ansicht nach etwas die eigene Einsicht und Kraft überstieg, die Entscheidung anheimstellten?

Daniel

57. Wer hätte Daniels Rat zurückgewiesen, von dem Gott selbst beteuerte: „Wer ist weiser als Daniel?“ Oder wie hätten die Leute im Zweifel über die Einsicht S. 161 derer sein können, denen Gott so große Gnade verlieh? Durch des Moses Rat wurden Kriege beendet, durch des Moses Verdienste strömte Speise vom Himmel, Trank aus dem Felsen.

58. Wie rein war Daniels Seele, daß er der Barbaren Sitten milderte, Löwen besänftigte!. Welche Mäßigkeit war in ihm! Welche geistige und leibliche Enthaltsamkeit! Nicht mit Unrecht ward er Gegenstand der Bewunderung für alle, da er, was doch die Menschen so gewaltig anstaunen, trotz der Freundschaft mit Königen, auf die er sich stützen konnte, nicht nach Gold verlangte und das ihm übertragene Ehrenamt nicht über den Glauben stellte. Ja er wollte sogar lieber für das Gesetz des Herrn Gefahr laufen, als um den Preis von Menschengunst sich umstimmen lassen.

und Joseph

59. Was soll ich denn von der Keuschheit und Gerechtigkeit des Joseph sagen, den ich beinahe übergangen hätte? Erstere verschmähte die Lockungen der Herrin und wies ihre Lohnangebote zurück; letztere verachtete den Tod, verscheuchte die Furcht und wählte lieber den Kerker. Wer hätte ihn, dessen reiche Seele und fruchtbarer Geist eine unfruchtbare Zeit gleichsam mit dem Born des Rates und der Einsicht speiste, nicht auch in einer persönlichen Angelegenheit für den rechten Mann zu Ratserholung gehalten?

XII. Kapitel: Vom Nützlichen

Nicht von einem lasterhaften oder verschlossenen Menschen läßt sich Rats erholen

S. 162 60. Bei Ratschlägen, die zu erholen sind, kommt nun, wie wir sehen, recht viel auf die Rechtschaffenheit des Lebens, den Vorzug der Tugenden, die Betätigung des Wohlwollens und liebenswürdige Herablassung an. Wer wollte denn in einer Pfütze Quellwasser suchen? Wer aus trübem Wasser einen Trunk verlangen? Wer glaubte dort, wo Völlerei, wo Unenthaltsamkeit herrscht, wo ein Lasterstrom sich ergießt, etwas einschlürfen zu sollen? Wer würde nicht einen unflätigen Sittenwandel verachten? Wer wollte jemand für einen nützlichen Anwalt in einer fremden Sache halten, wenn er ihn in seinem eigenen Leben als einen Nichtsnutz sieht? Wer würde nicht hinwiederum einem ruchlosen, übelwollenden und schmähsüchtigen Menschen fernbleiben, der bereit ist, einem nur Schaden zuzufügen? Wer ihm nicht mit aller Beflissenheit aus dem Wege gehen?

61. Wer aber möchte einen um hilfreichen Rat angehen, der, obschon hierzu fähig, doch schwer zugänglich ist; der denselben wie ein verschlossenes Quellwasser in sich trägt? Was nützt denn die Weisheit, die du hast, wenn du den Rat verweigerst? Bist du nicht zu bewegen, einen Rat zu erteilen, dann hast du die Quelle verschlossen, so daß sie weder anderen fließt, noch dir selbst nützt.

62. Das trifft genau auch bei dem zu, der wohl Klugheit besitzt, sie aber mit schmutzigen Lastern befleckt. Er verunreinigt das hervorquellende Wasser. Das Leben entlarvt die entartete Gesinnung. Wie könnte man denn jemand für einen trefflichen Ratgeber halten, den man sittlich minderwertig sieht? Über mich erhaben muß sein, dem ich bereitwillig trauen soll. Oder werde S. 163 ich den für geeignet erachten, der mir einen Rat erteilt, den er sich selbst nicht gibt? Und werde ich von dem glauben, daß er sich mir schenkt, der sich selbst nicht gehört? dessen Seele Genußsucht einnimmt, Lust überwältigt, Habsucht unterjocht, Begierlichkeit beunruhigt, Furcht quält? Wie soll da Raum für Rat sein, wo kein Raum für Ruhe ist? 63. Bewunderungswürdig und verehrungswürdig ist mir der Ratgeber, wie ihn der Herr den Vätern, wenn hold gesinnt, gab, wenn beleidigt, nahm. Ihn muß ein Ratgeber nachahmen und seine Klugheit vor Laster bewahren; denn „nichts Unreines darf über sie kommen“.

XIII. Kapitel: Vom Nützlichen

Die Schönheit der Weisheit,

64. Wer wollte gleichsam vorne den Schein der Schönheit zur Schau tragen und hinten mit viehischem Aussehen und tierischen Klauen den Reiz der höheren Anmut entstellen? Ist doch nach dem Zeugnis des Schrifttextes die Anmut der Tugend und insbesonders die Schönheit der Weisheit so wunderbar und erhaben! „Herrlicher wie die Sonne ist diese und, mit dem Lichte verglichen, über alle Sternenpracht vorzüglicher befunden; denn dieses Licht raubt die Nacht, über die Weisheit aber obsiegt nicht die Bosheit“.

der unzertrennlichen Genossin aller Tugenden

65. Wir sprachen von ihrer Schönheit und bewiesen es durch ein Schriftzeugnis. Es erübrigt noch, an der Hand der Schrift darzutun, daß sie nichts mit den Lastern gemein hat, wohl aber mit den übrigen S. 164 Tugenden unzertrennlich verbunden ist; denn „ihr Geist ist beredt, sonder Makel, sicher, heilig, das Gute liebend, scharfsinnig, gegen Wohltun nimmer ablehnend, gütig, beständig, ruhig, allvermögend und allschauend“. Und im folgenden: „Denn Mäßigkeit lehrt sie und Gerechtigkeit und Tugend“.

XIV. Kapitel: Vom Nützlichen

Klugheit im Verein mit Gerechtigkeit schafft den Übermenschen

66. So bringt denn die Klugheit alles zuwege, hat teil an allem Guten. Wie könnte sie denn nützlichen Rat erteilen, besäße sie nicht die Gerechtigkeit? So nur gürtet sie sich mit Standhaftigkeit, schaudert vor dem Tode nicht zurück, läßt sich durch keine Drohung, durch keine Furcht beirren, glaubt durch keine Schmeichelei vom Wahren abweichen zu sollen, schrickt im Bewußtsein, daß der Weise die Welt zum Vaterlande hat, nicht vor Verbannung zurück, bangt nicht vor Not, weil sie weiß, daß dem Weisen, dem die ganze Welt gehört, nichts mangelt. Was überträfe denn an Vorzüglichkeit den Mann, den Gold nimmer zu berücken vermag, der für Geld nur Verachtung hat und wie von einer ragenden Burg aus auf die menschliche Habgier herabblickt? Wer es so macht, den halten Menschen für einen Übermenschen. „Wer ist dieser“, heißt es, „und wir wollen ihn loben? Denn er hat Wunderbares vollbracht in seinem Leben“. Wie wäre denn einer nicht bewunderungswürdig, der den Reichtum verachtet, den schon so viele dem eigenen Leben vorgezogen haben?

Gerade der (kirchliche) Würdenträger soll ein solcher sein

S. 165 67. Allen geziemt sonach strenge Genügsamkeit, am meisten aber dem Träger eines Ehrenamtes. Den Mann in bevorzugter Stellung sollen nicht seine Schätze einnehmen, der Vorsteher über Freie nicht Sklave des Geldes sein. Besser geziemt sich dies, daß er in seiner Gesinnung über das Geld erhaben ist, in seiner Dienstbeflissenheit unter den Freund sich herabläßt; denn Demut steigert nur die Liebenswürdigkeit. Das ist des Lobes voll und einem Würdenträger angemessen: nicht mit tyrischen Kaufleuten und galaaditischen Händlern schimpfliche Gewinnsucht teilen; nicht alles Gute im Geld suchen und wie ein Taglöhner den Tagesverdienst zählen, die Einnahmen überschlagen.

XV. Kapitel: Vom Nützlichen: Der Freigebigkeit vielfältige Betätigung, sei es in Form von Geldaufwendungen, =

68. Wenn es lobenswert ist, solchen Dingen gegenüber nüchternes Sinnes zu bleiben, wieviel vorzüglicher ist es, sich die Liebe der Menge durch Freigebigkeit zu erwerben, die weder gegen unverschämte Arme verschwenderisch noch gegen wahrhaft Dürftige knauserig ist!

69. Recht vielartig aber betätigt sich die Freigebigkeit: sie reicht und teilt nicht bloß den des täglichen Bedarfes mangelnden Armen zum nötigen S. 166 Lebensunterhalte Nahrung aus, sondern läßt auch den verschämten Armen ihre Sorge und Hilfe angedeihen, soweit nicht die allgemeinen Mittel zum Unterhalte der Armen dadurch erschöpft werden. Ich rede von dem Amtsvorsteher. Er soll, wenn er das Priester- oder Verwaltungsamt bekleidet, dem Bischof über solche Mitteilung machen und letztere nicht unterschlagen, wenn er von jemand weiß, daß er sich in dürftiger Lage befindet oder nach Einbuße des Vermögens in Not und Dürftigkeit geraten ist, zumal wenn er nicht durch Verschwendung in jungen Jahren, sondern durch Erpressung von irgendwelcher Seite und durch Vermögensverlust in diese mißliche Lage gekommen ist, so daß er außerstande ist, den täglichen Aufwand zu bestreiten.

70. Eine recht große Freigebigkeit ist es ferner, Gefangene loszukaufen und aus Feindeshand zu befreien, Menschen vom Tode und insbesondere Frauen vor Schande zu erretten, Kinder den Eltern, Eltern den Kindern zurückzuführen, Bürger dem Vaterlande wiederzugeben. Dies sind nur zu bekannte Dinge aus der Verwüstung, die in Illyrien und Thrakien angerichtet wurde. Wie viele Gefangene gab es da nicht überall im ganzen Umkreis loszukaufen! Riefe man sie zurück, könnten sie nicht eine ganze Provinz vollzählig bevölkern? Gleichwohl gab es Leute, die sogar solche, welche die Kirchen loskauften, in die Knechtschaft zurückstoßen wollten: Leute, schlimmer als selbst die Gefangenschaft, da sie denselben das fremde Mitleid mißgönnten! Wären sie selbst in die Gefangenschaft geraten, würden sie, die Freien, nun in Knechtschaft schmachten; wären sie verkauft worden, würden sie sich vergeblich gegen den Sklavendienst sträuben: und sie wollen die Freiheit anderer aufheben, sie, die ihre eigene Knechtschaft nicht hätten aufheben können, es würde denn einem Käufer gefallen haben, den Kaufpreis zu erlegen! Und doch wäre das nicht Sprengung der Sklavenketten, sondern nur ein Loskauf gewesen.

S. 167 71. Eine besonders verdienstliche Freigebigkeit besteht sonach im Loskauf von Gefangenen, namentlich von einem barbarischen Feinde, der für Erbarmen nur soviel Menschlichkeit übrig hat, als die Habsucht sich im Fall des Loskaufes vorbehielt; ferner in der Übernahme fremder Schulden, wenn der Schuldner zahlungsunfähig ist und dennoch zu einer Zahlung gedrängt wird, die von Rechts wegen geschuldet und wegen Dürftigkeit nicht geleistet werden kann; in der Aufziehung von Kindern und der Beschützung der Waisen.

72. Auch gibt es Personen, die elternlosen Jungfrauen zum Schutz ihrer Keuschheit zur Ehe verhelfen und nicht bloß für ihre Unterstützung sich bemühen, sondern auch selbst sie durch Geldaufwand betätigen. Es gibt ferner jene Art Freigebigkeit, welche der Apostel lehrt: „Hat ein Gläubiger Witwen, soll er ihnen reichen, daß nicht ihre Ernährung der Kirche zur Last falle, damit diese denen, die wahrhaft Witwen sind, genügen könne“.

sei es in Form von persönlichen Leistungen.

73. Diese Art Freigebigkeit ist wohl nützlich, aber nicht jedermanns Sache. Denn es gibt gar manche, auch gute Menschen, die nur über geringes Vermögen verfügen: wohl zufrieden mit dem Wenigen für den eigenen Bedarf, aber außerstande, Hilfe zu leisten zur Linderung fremder Not. Doch da gibt es eine weitere Art von Wohltätigkeit, um einem Geringeren helfen zu können. Es gibt nämlich eine doppelte Freigebigkeit: eine, welche mit Sachunterstützung, d. h. mit Geldaufwand hilft; eine andere, oft viel glänzendere und viel rühmlichere, welche in werktätiger Hilfeleistung sich ergeht.

74. Wie unvergleichlich herrlicher war es, daß Abraham seinen in Gefangenschaft geratenen Neffen mit siegreicher Waffe statt durch Loskauf S. 168 wiedergewann! Wie unvergleichlich vorteilhafter war es, daß der heilige Joseph dem König Pharao mit fürsorglichem Rate statt mit Geldangebot an die Hand ging? Denn Geld hätte nicht für eine einzige Stadt die Kosten zur reichlicheren Versorgung gedeckt, die Vorsorge aber, die er traf, hielt sieben Jahre lang die Hungersnot von ganz Ägypten fern.

75. Geld wird leicht aufgebraucht, Rat läßt sich nicht erschöpfen. Dieser steigert sich mit der Ausübung, das Geld verringert sich und geht bald ganz aus und macht der Mildtätigkeit ein Ende. Je mehr Dürftigen man geben will, desto wenigeren kann man helfen, und oft ermangelt man dessen überhaupt, was man anderen spenden zu sollen glaubt. Rat und Tat aber, die man übt, strömen, auf je mehr sie sich ergießen, um so voller und münden zu ihrer Quelle zurück. Denn der reiche Strom der Klugheit fließt in sich zurück, und je mehr Dürftigen er strömt, um so kräftigere Wogen schlägt der ganze Strom, der zurückflutet.

XVI. Kapitel: Vom Nützlichen

Die Freigebigkeit halte Maß, um nicht Unwürdige zu unterstützen,

76. Es ist klar, daß es in der Freigebigkeit ein Maß geben muß. Das Geben darf nicht zwecklos sein, es muß vielmehr eine vernünftige Grenze dabei eingehalten werden, besonders von seiten der Priester, daß sie S. 169 sich beim Ausspenden nicht von Prahlsucht, sondern von Gerechtigkeit leiten lassen. Nirgend sonst gebärdet sich nämlich der Bettel zudringlicher. Da kommen kräftige Burschen, kommen Leute aus keinem anderen Grund als aus Stromerei und wollen die Armenunterstützungen aufzehren, deren Aufwand aufbrauchen. Mit Wenigem nicht zufrieden, verlangen sie größere Spenden, suchen mit der Kleidertracht ihrem Bettel nachzuhelfen und unter Vorspiegelung des Geburtstages doppelte Beträge zu ergattern. Wer solchen Leuten leicht Glauben schenkt, zehrt bald die Mittel auf, die dem Unterhalte der Armen dienen sollten. Ein Maß im Geben muß sein: die Armen sollen nicht leer ausgehen und ihr Lebensunterhalt nicht Gaunern als Beute überwiesen werden. Jenes Maß soll sein, daß einerseits der Menschenfreundlichkeit nicht Abbruch geschehe, andrerseits der Not die Hilfe nicht versagt bleibe.

77. Gar manche spiegeln Schulden vor. Man prüfe den wahren Sachverhalt! Sie klagen, sie seien durch Erpressungen ausgezogen worden. Das Unrecht, bezw. die Person, die einem etwa bekannt ist, müssen das beglaubigen, um dann desto bereitwilliger zu helfen. Den von der Kirche Ausgestoßenen soll eine Aufwendung zufließen, wenn es ihnen am nötigen Lebensunterhalt gebricht. Wer daher das rechte Maß einhält, ist gegen niemand knauserig, wohl aber gegen jedermann freigebig. Wir sollen ja nicht bloß ein Ohr für die Stimme der Bittenden, sondern auch ein Auge für die Nöten (der Nichtbittenden) haben. Einen lauteren Notschrei richtet der Anblick eines Bresthaften als die Stimme eines Armen an die Guttäter. Freilich es ist nicht anders denkbar: der laute, aufdringliche Bittruf von Flehenden erpreßt mehr. Aber nicht immer soll frecher Zudringlichkeit stattgegeben werden. Nach jenem sollst du dich umsehen, der dir nicht unter die Augen tritt; nach jenem dich erkundigen, der als verschämter Arme sich nicht blicken läßt; jener Sträfling im Gefängnis S. 170 ferner soll dir (im Geiste) begegnen; jener mit Krankheit Behaftete deinen Geist treffen, wenn er dein Ohr nicht treffen kann.

und zwar das Mittelmaß zwischen Knauserei und Verschwendung.

78. Je mehr das Volk dich wirken sieht, um so mehr wird es dich lieben. Ich weiß von so manchen Priestern: je mehr sie gaben, um so mehr hatten sie. Denn jeder, der einen guten Arbeiter sieht, gibt ihm, daß er’s kraft seines Amtes verteile, dessen gewiß, daß sein Mitleid den Weg zu einem Armen findet; denn nur einem Armen will jeder seine Gabe zugute kommen lassen. Sieht er von einem Almosenverteiler, daß er verschwenderisch oder aber zu knauserig ist, wird er beides verächtlich finden, sei es, daß derselbe durch überflüssige Aufwendungen die Früchte fremder Arbeit vergeudet, sei es, daß er sie im Säckel zurückbehält. Wie daher Maß in der Freigebigkeit zu halten ist, so scheint gar manchmal auch ein Ansporn hierzu am Platz zu sein: Maß deshalb, um täglich seinem Wohltun nachgehen zu können, um nicht die vergeudeten Summen der Not zu entziehen; Ansporn darum, weil das Geld in der Schüssel des Armen mehr bezweckt als im Säckel des Reichen. Hüte dich, das Wohl der Dürftigen in deinen Schrank zu sperren und das Leben der Armen sozusagen ins Grab zu betten!

Das vorbildliche Beispiel des Patriarchen Joseph

79. Joseph hätte die ganzen Reichtümer Ägyptens verschenken und des Königs Schätze vergeuden können: doch er wollte nicht als Verschwender fremden Gutes erscheinen. Er wollte das Getreide lieber verkaufen als an die Hungernden verschenken, weil es der großen Mehrzahl gemangelt hätte, wenn er es an wenige verschenkt hätte. Jene Freigebigkeit zog er vor, durch die er an die Gesamtheit reichlich austeilen konnte. Er öffnete die Scheunen. Doch alle sollten das nötige Getreide kaufen, daß sie nicht, wenn sie es S. 171 unentgeltlich bekämen, die Bestellung des Ackerlandes unterließen. Wer vom fremden Gut zehrt, vernachlässigt das eigene.

80. Zunächst trieb er nun für den König Geld in Menge ein; sodann verschaffte er ihm sonstige Fahrnisse; endlich das Besitzrecht auf Ländereien, nicht um alle des Ihrigen zu berauben, sondern zu deren Unterstützung, zur Festsetzung einer öffentlichen Abgabe behufs größerer Sicherung ihres Besitzstandes. Das nahmen auch alle, denen er Ländereien abgenommen hatte, willig hin: sie erblickten darin nicht den Verkauf ihres rechtlichen Besitzes, sondern den Erlös ihres Lebens. So beteuerten sie denn auch: „Du hast uns Heil verschafft; wir haben Gnade gefunden vor den Augen des Herrn“. Sie hatten ja auch am Eigentum nichts verloren, nachdem sie rechtmäßig dafür entschädigt worden waren; und hatten am eigenen Vorteil nichts eingebüßt, nachdem sie ihre dauernde Existenz dafür gefunden hatten.

81. O großer Mann, der nicht nach dem vergänglichen Ruhm verschwenderischer Freigebigkeit haschte, sondern durch nützliche Fürsorge ein dauerndes Denkmal sich setzte! Er bewirkte ja nur, daß das Volk durch seine Abgaben sich eine Selbsthilfe schuf und in der Zeit der Not nicht auf fremde Hilfe angewiesen war. Es war besser, daß es einen Teil von den Früchten abgab, statt seinen ganzen rechtlichen Besitz zu verlieren. Den fünften Teil bestimmte er als Abgabe, in der Fürsorge ebenso umsichtig, wie in der Besteuerung milde. So erlebte denn auch Ägypten später keine solche Hungersnot mehr.

82. Wie wunderbar aber erschloß er die künftigen Dinge! Vor allem wie haarscharf brachte er als Traumdeuter des Königs nur die Wirklichkeit zum Ausdruck! S. 172 Zum erstenmal träumte es dem König also: Sieben junge Kühe, wohlgestaltet und fettleibig, stiegen aus dem Flusse und weideten an dessen Ufer. Auch noch andere Jungrinder, häßlich an Gestalt und mager an Körper, stiegen nach jenen Kühen aus dem Flusse und weideten neben ihnen an eben jenem schwellenden Uferrande. Da sah man, wie diese hageren, mageren Jungrinder jene an Gestalt und Schönheit vorzüglicheren auffraßen. Und zum zweitenmal träumte es ihm also: Sieben fette, erlesene und fruchtbare Ähren hoben sich von der Erde, und nach ihnen richteten sich sieben dünne, vom Winde geknickte und welke Ähren auf. Und man sah, wie die unfruchtbaren und dünnen Ähren die frischen und vollen Ähren aufzehrten.

83. Diesen Traum erklärte Joseph dahin, daß die sieben jungen Kühe sieben Jahre, und ebenso die sieben Ähren sieben Jahre bedeuteten, indem er die Zeiten nach dem Ertrag und der Fruchtbarkeit auslegte. Die Trächtigkeit einer Kuh besagt ja einen Jahresumlauf, und die Frucht des Saatfeldes läßt wiederum ein volles Jahr zur Rüste gehen. Darum stiegen jene vom Flusse herauf, weil die Tage, die Jahre und Zeitläufte nach Art der Flüsse vorüberziehen und eilends dahingleiten. Die ersten sieben Jahre nun, erklärt er, würden Jahre reichen Segens für das Land sein, ergiebig und fruchtbar; die letzten anderen sieben Jahre unfruchtbar und ertragslos, und ihre Unfruchtbarkeit werde den Überfluß der vorausgehenden aufzehren. Daher seine Mahnung zur Vorsorge: es sollten in den Segensjahren Getreidemittel angesammelt werden, welche die Not der kommenden Hungersnot heben könnten.

84. Was soll ich zuerst bewundern? Die Einsicht, mit der er in den Schacht der Wahrheit selbst hinabdrang? Oder den Rat, mit dem er einer so schweren und langen Not vorbeugte? Oder die Umsicht und die Gerechtigkeit, von denen die eine der ihr obliegenden großen Aufgabe zufolge so vielfache Lebensmittel S. 173 ansammelte, die andere gleiches Maß für alle wahrte? Was soll ich denn von seinem Großmut sprechen, daß er, obwohl von den Brüdern in die Sklaverei verkauft, ihr Unrecht nicht vergalt, sondern ihren Hunger stillte? Was von der Liebenswürdigkeit, mit der er sich durch fromme List die Anwesenheit seines geliebten Bruders verschaffen wollte, den er auf einen fein ersonnenen Scheindiebstahl hin der Entwendung schuldig erklärte, um ihn als holden Geisel zurückzubehalten?

85. Mit Recht sprach darum der Vater zu ihm: „Reich gesegnet ist mein Sohn Joseph, reich gesegnet mein Sohn, der Eiferer, mein jugendlicher Sohn. Dir stand bei mein Gott und segnete dich mit dem Segen des Himmels aus der Höhe und mit dem Segen der Erde mit all ihren Gütern um der Segnungen deines Vaters und deiner Mutter willen. Er überbot die Segensfülle der unvergänglichen Berge und die Erwartung der ewigen Hügel“. Und im Deuteronomium heißt es: „Der im Dornbusch Erschienene komme über Josephs Haupt und dessen Scheitel! Verehrungswürdig ist er unter seinen Brüdern. Dem Erstgeborenen des Stieres gleicht seine Schönheit, Hörner des Einhorns sind seine Hörner: er wird damit die Völker insgesamt stoßen bis an die Grenzen der Erde. Ihm gehören Zehntausende von Ephraim und ihm Tausende von Manasse“.

XVII. Kapitel: Vom Nützlichen: Notwendige Eigenschaften eines Ratgebers. =

S. 174 86. Wer dem Nächsten Rat erteilen will, muß so beschaffen sein, daß er sich selbst anderen gegenüber als eine mustergültige Norm des guten Handelns erweist in Gelehrsamkeit, in Unsträflichkeit, in Würde, so daß sein Wort heilsam und untadelig, sein Rat nützlich, sein Leben ehrbar, seine Gesinnung lauter sei.

Vorbilder der Patriarch Joseph

87. So beschaffen war Paulus, der in der Weise den Jungfrauen Rat, den Priestern Unterweisung gab, daß er sich uns erst selbst als Vorbild zur Nachahmung hinstellte. Daher „wußte er sich zu demütigen“, wie es auch Joseph wußte, der, ein Sprößling des hochedlen Patriarchengeschlechtes, den niederen Sklavendienst nicht verschmähte, ihn vielmehr in Gehorsam leistete und mit Tugenden adelte. Er wußte sich zu demütigen, der dem Verkäufer und Käufer sich fügte und letzteren seinen Herrn nannte. Vernimm, wie er sich demütigte! „Wenn mein Herr meinetwegen um nichts in seinem Hause weiß und alles, was er hat, in meine Hände gegeben hat, und mir nichts entzogen ist, ausgenommen dich, seine Gemahlin: wie dürfte ich dieses böse Werk verüben und sündigen vor Gott?“ Eine Rede voll Demut, voll Keuschheit: voll Demut, weil seinem Herrn ergeben; voll Ehrerbietung, weil dankbar; voll Keuschheit desgleichen, weil er es für schwere Sünde hielt, mit einer Schandtat sich zu beflecken.

88. So muß denn ein Ratgeber beschaffen sein: nichts Unklares, nichts Trügerisches, nichts Erlogenes, S. 175 nichts Erheucheltes, was sein Leben und seinen Charakter in schiefes Licht stellen würde, nichts Ruchloses und Böswilliges, was die Ratsuchenden abstoßen würde, darf er an sich haben. Das eine nämlich würde man fliehen, das andere verachten. Was Schaden anrichten, was, bösartig wie schleichendes Gift, Unheil anstiften könnte, das fliehen wir. Wenn beispielsweise der, den man um Rat fragen will, von unzuverlässigem Charakter und geldgierig wäre, so daß er sich um Geld umstimmen ließe, wenn er zur Ungerechtigkeit neigte, so flieht und meidet man ihn. Wer dagegen genußsüchtig, unenthaltsam und, wenn auch nicht trügerisch, doch habsüchtig und gewinnsüchtig wäre, den verachtet man. Welchen Beweis von Eifer, welche Frucht an Arbeit könnte denn einer aufweisen, welcher Wachsamkeit und Sorgfalt innerlich sich befleißigen, der sich der Gleichgültigkeit und Trägheit hingibt?

und der Apostel Paulus

89. Darum das Bekenntnis eines guten Ratgebers: „Ich aber habe gelernt mich mit dem, was ich habe, zu begnügen“. Er wußte nämlich, daß die Habsucht die Wurzel aller Übel ist, und war daher mit dem Seinigen zufrieden und verlangte nicht nach fremdem Gut. Mir genügt, wollte er sagen, was ich habe; ob ich weniger habe oder viel, für mich ist’s viel. Eins, wie es scheint, verdient ausdrücklich hervorgehoben zu werden. Er bediente sich nämlich einer bezeichnenden Wendung: „Mir genügt, was ich habe“, spricht er, d. i. ich habe weder Mangel noch Überfluß: nicht Mangel, weil ich nichts Weiteres verlange; nicht Überfluß, weil mein Besitz nicht mir allein, sondern der Mehrzahl frommt. Soviel, was den Geldpunkt betrifft.

90. Im übrigen kann man ganz allgemein sagen: Er begnügte sich mit dem, was er augenblicklich besaß, d. i. er verlangte nicht nach größerer Auszeichnung, nicht nach mehr Gefälligkeiten, war nicht übermäßig ruhmsüchtig oder haschte nicht ungebührlich nach Gunst, sondern harrte, voll Geduld im Leiden und S. 176 seines Verdienstes gewiß, auf das Ende des pflichtschuldigen Kampfes. „Ich weiß mich auch zu demütigen“, beteuert er. Nicht also unbewußte, sondern selbstbeherrschende und selbstbewußte Demut findet hier Lob. Es gibt ja auch eine Demut voll Furchtsamkeit, es gibt eine volle Unerfahrenheit und Unwissenheit. Daher das Schriftwort: „Und die Demütigen im Geiste wird er retten“. Ein prächtiges Wort: „Ich weiß mich auch zu demütigen“, nämlich an welchem Platz, in welchem Maß, zu welchem Zweck, zu welchem Dienst, in welchem Amt. Der Pharisäer wußte sich nicht zu demütigen, er ward darum erniedrigt; der Zöllner wußte es, er ward darum gerechtfertigt.

91. Auch in Überfluß zu leben, verstand Paulus, weil er ein reiches Herz besaß, wenn auch nicht eines Reichen Schatz. Er verstand es, in Überfluß zu leben, weil er keine Gabe in Geld verlangte, sondern Frucht in der Gnade zu erzielen trachtete. Auch so können wir es verstehen: Er verstand es, in Überfluß zu leben, weil er sprechen konnte: „Unser Mund ist aufgetan gen euch, ihr Korinther, unser Herz ist weit geworden“.

92. In allem war er heimisch, im Sattwerden und Hungern. Selig, der es verstand, in Christus sich zu sättigen! Nicht eine leibliche, sondern eine geistige Sättigung ist es, welche das Wissen bewirkt. Und mit Recht tut das Wissen not; denn „der Mensch lebt nicht vom Brote allein, sondern von jeglichem Worte Gottes“. Wer also so sich zu sättigen und zu hungern verstand, der verstand nach Gott zu hungern, nach Gott zu dürsten, um immer neue Genüsse sich zu verschaffen. Er wußte zu hungern, weil er wußte, daß die Hungernden essen werden. Er wußte und vermochte in Überfluß zu leben, weil er nichts hatte und alles besaß.

XVIII. Kapitel: Vom Nützlichen: Roboam, das Beispiel eines übelberatenen Königs =

S. 177 93. Trefflich empfiehlt Gerechtigkeit den Vorsteher eines Amtes; Ungerechtigkeit dagegen führt zu seiner Absetzung und Bekämpfung. Ein Beispiel bietet die Schrift, wenn sie berichtet, wie das Volk Israel nach dem Tode Salomos dessen Sohn Roboam bat, das drückende Joch von seinem Nacken zu nehmen und die Strenge der Herrschaft seines Vaters zu mildern, jener dagegen den Rat der Alten verachtete und auf die Einflüsterung der Jüngeren hin folgende Verfügung traf: Er machte das Joch des Vaters noch drückender und setzte an Stelle der leichteren Strafen noch schwerere.

Der Abfall der zehn Stämme.

94. Durch diese Verfügung erbittert, erwiderte das Volk: „Wir haben keinen Teil an David und kein Erbe an den Söhnen Jesse: Israel, kehre zurück in deine Zelte, ein jeglicher!“ Denn dieser Mensch soll weder Fürst noch Führer über uns sein. So konnte er denn, vom Volk verlassen und verschmäht, kaum zwei Stämme zählen, die es um des Verdienstes Davids willen mit ihm hielten.

XIX. Kapitel: Vom Nützlichen

Politische und soziale Bedeutung der Gerechtigkeit und des Wohlwollens.

95. So ist denn klar, daß Gerechtigkeit Reiche festigt, Ungerechtigkeit sie auflöst. Wie könnte denn S. 178 Übelwollen den Besitz eines Reiches behaupten, nachdem es nicht einmal eine gewöhnliche Familie zu beherrschen vermag? Es bedarf sonach nicht bloß zur Stütze einer Staatsregierung, sondern auch zur Wahrung privater Rechte im höchsten Grade des Wohlwollens. Eine Hauptstütze ist das Wohlwollen, das bestrebt ist, alle mit Wohltun zu umfangen, durch Gefälligkeiten sich verbindlich zu machen, durch Liebenswürdigkeit sich zu verpflichten.

96. Auch freundliche Rede trägt sehr viel zur Gewinnung der Gunst bei. Aber wir wollen von ihr, daß sie aufrichtig und maßvoll sei, frei von jeder Schmeichelei. Keine Schmeichelworte dürfen die Einfalt und Reinheit der Rede entstellen. Denn wir sollen nicht bloß im Handeln, sondern auch im Sprechen, in der Keuschheit und im Glauben den anderen zum Vorbild sein. Wie wir uns beurteilt wissen wollen, so sollen wir sein und unsere Gesinnung so offenbaren, wie wir sie hegen. Nicht einmal im Herzen sollen wir ein übelwollendes Wort aussprechen, das wir im Schweigen geborgen glauben. Denn der Schöpfer des verborgenen Innern hört auch das im Verborgenen Gesprochene; und der, welcher dem Herzen die Gesinnung eingoß, kennt auch das Heimliche des Herzens. Alles sonach, was wir tun, wollen wir uns, wie unter den Augen eines Richters stehend, ans Licht gestellt denken, so daß es allen offensichtlich ist.

XX. Kapitel: Vom Nützlichen

Der Nutzen der Freundschaft. Vor allem frommt der Jugend der Anschluß an das tugenderprobte Alter,

97. Sehr förderlich ist jedem der enge Anschluß an S. 179 Gute. Auch Jünglingen frommt der Anschluß an berühmte und weise Männer. Denn wer mit Weisen umgeht, ist ein Weiser; wer hingegen Unverständigen anhängt, gibt sich als Unverständiger zu erkennen. Sowohl zur Bildung wie zum Rufe der Rechtschaffenheit trägt dies sehr viel bei. Es zeigt sich ja an jungen Leuten, daß sie jene nachahmen, denen sie anhängen; und es bestätigt sich die Annahme, daß sie von denen, nach deren Umgang sie lechzen, die gleiche Lebensweise annehmen.

was sich an biblischen Beispielen, wie an Moses und Josue,

98. Darum war Jesus Nave so groß, weil ihn der innige Verkehr mit Moses nicht nur in die Gesetzeskunde einführte, sondern auch zur Heiligung in der Gnade führte. Es war denn auch Jesus Nave, als man im Zelte des Moses infolge der Gegenwart Gottes die Herrlichkeit des Herrn aufleuchten sah, der einzige, der im Zelte weilte. Moses sprach mit Gott, Jesus ward gleichfalls von der heiligen Wolke bedeckt. Die Ältesten und das Volk standen unten, Jesus stieg mit Moses hinauf, das Gesetz zu empfangen. Das ganze Volk war innerhalb des Lagers, Jesus außerhalb des Lagers im Zelte des Zeugnisses. Da die Wolkensäule sich herabließ und mit Moses redete, stand er als treuer Diener dabei; und der Jüngling trat nicht aus dem Zelte heraus, während die Ältesten in weiter Entfernung davon vor den göttlichen Wundern zitterten.

99. So war er denn überall, bei den offenen Wunderwerken wie bei den insgeheim sich abspielenden Vorgängen der unzertrennliche Jünger an der Seite des heiligen Moses. Daher kam es, daß er, der Gefährte seines Lebens, der Nachfolger in seinem Amte wurde. Er ward mit Recht ein solcher Held, daß er der Flüsse Lauf zum Stehen brachte; daß er sprach, die Sonne stehe still: und die Sonne stand still; und daß er gleichsam als S. 180 Augenzeuge jenes Sieges die Nacht hinausschob, den Tag verlängerte; daß er — wie? dem Moses war es versagt! — allein auserkoren wurde, das Volk ins Land der Verheißung zu führen. Ein Mann des Glaubens, groß durch Wunder, groß durch Triumphe. Des Moses Werke waren glänzender, die unseres Helden glücklicher. Beide waren, gestützt auf Gottes Gnade, Übermenschen: jener gebot dem Meere, dieser dem Himmel.

an Elias und Elisäus u. a. m. ersehen läßt.

100. Schön ist sonach der vertraute Verkehr zwischen alt und jung. Erstere verbürgen (den letzteren) den guten Ruf, letztere dienen (den ersteren) zur Aufheiterung; erstere frommen zur Belehrung, letztere zur Unterhaltung. Ich will davon schweigen, daß der jugendliche Lot an Abrahams Seite blieb, auch als dieser fortzog, damit man darin nicht so sehr eine verwandtschaftliche Beziehung, und nicht eher eine naturnotwendige denn freiwillige Anhänglichkeit erblicken sollte. Was soll ich aber von Elias und Elisäus sagen? Mag auch die Schrift den Elisäus nicht ausdrücklich als Jüngling bezeichnen, so können wir doch ersehen und erschließen, daß er in jüngeren Jahren stand. In der Apostelgeschichte nahm Barnabas den Markus zu sich, Paulus den Silas, Paulus den Timotheus, Paulus den Titus.

101. Doch wir sehen, wie diese Obigen sich in die Obliegenheiten teilten. Den älteren oblag hauptsächlich der Rat, den jüngeren der Dienst. Gar häufig erfreuen sich auch solche eines gegenseitigen vertrauten Umganges, die an Tugend gleich, an Alter ungleich sind, wie Petrus und Johannes sich dessen erfreuten. Denn Johannes war jung, wie wir im Evangelium und aus seinem eigenen Munde erfahren, obwohl er an S. 181 Verdiensten und Weisheit keinem der Älteren nachstand: dem Wandel nach kleidete ihn die Würde des Alters und das graue Haar der Klugheit; denn ein makelloses Leben ist der Sold eines tugendhaften Alters.

XXI. Kapitel: Vom Nützlichen

Gar sehr empfiehlt einen die Beschützung der Schwachen ===

102. Auch das trägt zur Förderung des guten Rufes bei, wenn man einen Armen den Händen eines Mächtigen entreißt, einen Verurteilten vom Tode errettet, soweit es ohne Aufsehen und Aufregung geschehen kann; es soll ja nicht den Anschein gewinnen, als handelten wir mehr aus Prahlerei denn aus Mitleid und schlügen, während wir leichtere Wunden zu heilen wünschen, schwere. Wenn man nämlich einen bedrängten Menschen, der mehr unter der Gewalttat und Machenschaft eines Mächtigen, als unter der verdienten Strafe für ein Verbrechen leidet, befreit, so gewinnt der gute Ruf, in dem man steht.

und die Übung der Gastfreundschaft.

103. Gar manchem dient auch die Gastlichkeit zur Empfehlung. Die allgemeine Tugend der Menschenfreundlichkeit verlangt nämlich, daß der Fremde nicht der gastlichen Herberge entrate; daß er zuvorkommend aufgenommen werde; daß ihm beim Kommen die Türe offen stehe. In der ganzen Welt gilt es für überaus edel, Fremde in Ehren aufzunehmen, es nicht am gastlichen Tische fehlen zu lassen, den Gästen mit Erweisen von Freigebigkeit entgegenzukommen, nach ihrer Ankunft sich zu erkundigen.

S. 182 104. Dieses Lob nun fand Abraham, der vor seiner Türe sich umsah, daß kein Fremdling etwa vorübergehe; der Obacht gab, um einem Gast entgegenzueilen, ihm zuvorzukommen, ihn mit Bitten zu bestürmen, er möchte nicht vorbeigehen. „Herr“, so bat er, „wenn ich Gnade vor dir gefunden habe, so geh nicht vorüber an deinem Diener“. Dafür erhielt er zum Lohn seiner Gastlichkeit die Frucht der Nachkommenschaft.

105. Ebenso wendete sein Neffe Lot, nicht bloß der Abstammung, sondern auch der Tugend nach sein Nächstverwandter, infolge seiner gastfreundlichen Gesinnung die Strafe der Sodomiten von sich und den Seinigen ab.

106. So geziemt es sich denn, gastlich, wohlwollend, gerecht zu sein, nicht fremdes Gut zu begehren, vielmehr, wenn man herausgefordert wird, lieber irgendwie auf sein eigenes Recht zu verzichten, als an fremden Rechten zu rühren, Streitigkeiten zu meiden, Gezänke zu verabscheuen, Eintracht und holden Frieden wiederherzustellen. Ist doch der etwaige Rechtsverzicht von seiten der Guten nicht bloß ein Akt der Freigebigkeit, sondern gar oft auch eine Quelle des Vorteils. Fürs erste ist es kein geringer Gewinn, von Prozeßkosten verschont zu bleiben; dazu kommt als weitere Frucht die Mehrung der Freundschaft, aus der so viele Vorteile entspringen, die dem, der für den Augenblick einigen Verzicht leistet, später reichen Segen zeitigen werden.

107. Der Pflichtenkreis der Gastfreundschaft schließt gegen jedermann das Gebot der Menschenfreundlichkeit in sich, ein besonders reiches Maß von Ehrenbezeigung aber gebührt dem Gerechten. Denn „wer immer einen Gerechten im Namen eines Gerechten aufnimmt, wird den Lohn des Gerechten empfangen“, S. 183 wie der Herr feierlich versicherte. Soviel gilt Gastfreundschaft bei Gott, daß selbst der Trunk kalten Wassers nicht unbelohnt bleibt. Du siehst, wie Abraham, da er sich nach Gästen umsah, Gott selbst gastlich aufnehmen durfte. Du siehst, wie Lot Engel beherbergte. Wer weiß, ob nicht auch du, wenn du einen Gast aufnimmst, Christus aufnimmst? Doch im Gaste selbst birgt sich Christus, wie er im Armen sich birgt. So beteuert er selbst: „Ich war im Gefängnisse, und ihr seid zu mir gekommen“; „ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet“.

108. Süß ist’s, nicht auf Geld, sondern auf Liebenswürdigkeit bedacht zu sein. Doch hat jenes Übel sich längst in den menschlichen Sinn eingeschlichen, wonach Geld als Ehrensache gilt und das Menschenherz von Bewunderung für den Reichtum eingenommen ist. Daher die Habsucht, die wie eine Dürre eingedrungen ist, die den Pflichtenkreis des Guten verheert, so daß der Mensch jeden Aufwand für Verlust erachtet, der über das herkömmliche Maß hinaus gemacht wird. Doch auch in diesem Punkte hat die ehrwürdige Schrift, um jede Schwierigkeit abzuschneiden, die man machen könnte, wider die Habsucht Vorsorge getroffen, indem sie erklärte: „Besser ist die Gastfreundschaft bei Gemüse“, und im Folgenden: „Besser ist Brot in Lust genossen mit Frieden“. Nicht verschwenderisch nämlich, wohl aber freigebig sollen wir nach der Lehre der Schrift sein.

Die zwei Arten des Gebens : Freigebigkeit und Verschwendung

109. Es gibt nämlich zwei Arten des Gebens: die eine besteht in Freigebigkeit, die andere in Verschwendung und Vergeudung. Freigebigkeit ist es, einen Gast S. 184 aufzunehmen, einen Nackten zu bekleiden, Gefangene loszukaufen, Dürftige durch eine Geldspende zu unterstützen; Verschwendung ist es, bei kostspieligen Gelagen und reichlichem Weingenuß zu schlemmen. Daher lasest du: „Eine Verschwendung ist der Wein und eine Schande die Trunkenheit“. Verschwendung ist es, um der Gunst der Leute willen sein Vermögen zu vergeuden, was jene tun, welche mit Zirkus- oder mit Theaterspielen, sowie mit Gladiatorenkämpfen oder aber mit Jagden ihr Vermögen vergeuden, um Berühmtheiten aus den höheren Kreisen noch zu übertrumpfen. Ist doch all das, was sie treiben, eitel Ding, da es sogar ungeziemend ist, in Aufwendungen für gute Werke das rechte Maß zu überschreiten.

110. Rechte Freigebigkeit hält selbst gegen Arme Maß, um für eine größere Anzahl genügend zu haben, und geht auch aus Gunsthäscherei nicht über das Maß hinaus. Nur was aus reiner und aufrichtiger Gesinnung kommt, ist geziemend: nicht an unnötige Bauten heranzutreten, notwendige nicht zu unterlassen.

Gerade dem Priester geziemt Maß in der Freigebigkeit.

111. Am meisten schickt sich für den Priester folgendes: den Gottestempel mit geziemendem Schmuck zu zieren, damit der Palast des Herrn auch im Schimmer solcher Gottesverehrung erstrahle; häufige Spenden zu reichen, wie es sich für die Barmherzigkeit gebührt; nötigenfalls Fremden mitzuteilen, nicht in Überfluß, sondern was sich gehört, nicht in Übermaß, sondern was der Menschenfreundlichkeit angemessen ist. Er soll nicht mittels des Armenaufwandes fremde Gunst erschleichen, gegen die Kleriker weder zu knauserig noch zu freigebig sich erweisen. Das eine verstieße gegen die Menschenfreundlichkeit, das andere wäre Verschwendung, wenn einerseits die Mittel zur Linderung der Not derer, die man schmutziger Erwerbstätigkeit S. 185 entziehen sollte, fehlen, andrerseits zu Vergnügen in Überfluß vorhanden sein würden.

XXII. Kapitel: Vom Nützlichen

Zu große Nachsicht und zu große Strenge ist zu vermeiden

112. Sogar auch in Wort und Befehl ist Maßhalten angezeigt. Es soll hierbei weder zu große Nachsicht noch zu große Strenge zutage treten. So mancher möchte lieber etwas nachsichtig sein, um gut zu erscheinen. Doch das ist gewiß: keine Heuchelei und Verstellung hat mit wahrer Tugend etwas gemein. Ja sie pflegt auch gar nicht von langer Dauer zu sein. Anfänglich gedeiht sie, allmählich verweht und vergeht sie wie eine schwächliche Blüte. Das Wahre und Aufrichtige aber schlägt tiefe Wurzel.

Alles Unwahrhaftige ist nicht von Dauer. Absalons abschreckendes Beispiel

113. Um nun unsere Behauptungen durch Beispiele zu erhärten, daß Heuchelei nicht von Dauer sein kann, sondern wie vergängliche Blüte rasch abfällt, wollen wir zum Belege nur einen Fall von Heuchelei und Trug aus jener Familie herausgreifen, der wir schon so viele Beispiele zu unserer Tugendförderung entnommen haben.

114. Absalon war ein Sohn König Davids, von einzigartiger Schönheit, herrlicher Gestalt, ausnehmender Jugendlichkeit, so daß sich kein solcher Mann in Israel fand, ohne Fehl von der Fußsohle bis zum Scheitel. Derselbe „schaffte sich Wagen und Rosse an und fünfzig Mann, die vor ihm hergingen. Er stand in der Frühe auf und stellte sich vor das Tor an den Weg, und wenn er jemand sah, der des Königs Entscheidungen S. 186 suchte, trat er zu ihm hinzu und fragte: Aus welcher Stadt bist du? Wenn er dann erwiderte: Aus einem von den Stämmen Israels bin ich, dein Diener, da versetzte Absalon: Deine Worte sind gut und recht; und ist dir niemand vom Könige bestellt, der dir Gehör schenkt? Wer will mich als Richter aufstellen? Und wer immer zu mir kommt, wer immer ein Urteil braucht, gegen den werde ich recht handeln“. Mit solchen Reden suchte er jeden zu gewinnen. „Und wenn die Leute ihm nahten, um ihm ihre Ehrfurcht zu bezeugen, streckte er ihnen die Hände entgegen, faßte sie und küßte sie“. So nun gewann er sich aller Herzen, indem solche Schmeicheleien die Gefühlssaite der innersten Seele berühren.

115. Jene gemächlichen und ehrgeizigen Leute aber zogen das vor, was sie für einen Augenblick ehrte und angenehm und wohltuend berührte. Als ein kleiner Aufschub (im Kampf gegen Absalon) statt hatte, den der klügste Prophet von allen durch eine kurze Pause eintreten lassen zu sollen glaubte, konnten sie’s nicht leiden und ertragen. Schließlich empfahl David, der am Siege nicht zweifelte, seinen Sohn den Kriegern, die zum Kampf bereit standen, daß sie seiner schonten. Eben darum wollte er auch nicht selbst am Kampfe teilnehmen. Es sollte nicht scheinen, daß er auch nur zur Gegenwehr wider den die Waffen ergreife, der zwar dem Vater nach dem Leben strebte, aber doch sein Sohn war.

116. So ist denn klar, daß nur das von Dauer und Bestand ist, was wahr ist, und was man lieber ehrlich denn hinterlistig gewinnt; daß hingegen das, was man sich durch Heuchelei und Schmeichelei verschaffte, nicht von langer Dauer sein kann.

XXIII. Kapitel: Vom Nützlichen

Wer durch Geld erkauft oder durch Schmeichelei gewonnen wird, ist nicht verlässig

S. 187 117. Wer möchte sich von jenen Treue versprechen, deren Gehorsam durch Geld erkauft wird? Oder von jenen, die nur durch schmeichelhafte Worte sich dazu bestimmen lassen? Erstere wollen sich oftmals verkaufen lassen, letztere vermögen strenge Befehle nicht zu ertragen. Durch ein leichtes Schmeichelwörtchen lassen sie sich unschwer gewinnen; auf ein Tadelwort hin murren sie, reißen aus, laufen verbittert davon und verlassen einen tief gekränkt. Sie wollen lieber befehlen als gehorchen und glauben von ihren Vorgesetzten, die sie für solche halten sollten, sie seien ihnen gleichsam durch Wohltun (ihrerseits) verbunden und müßten ihnen daher willfährig sein.

118. Wer nun möchte sich von Leuten Treue erwarten, die er sich, sei es durch Geld, sei es durch Schmeichelei verpflichten zu sollen glaubte? Der Geldempfänger würde sich nur gering und verächtlich eingeschätzt erachten, wenn er nicht oftmals wiedergekauft würde: er erwartet daher häufig seinen Preis. Der offensichtlich an Bitt- und Schmeichelworte Gewöhnte will immer nur gebeten sein.

XXIV. Kapitel: Vom Nützlichen

Strebsamkeit, nicht Strebertum die Vorstufe zu (kirchlichen) Ehrenämtern.

119. Durch gutes Handeln und in reiner Absicht, glaube ich, soll ein Ehrenamt, besonders ein kirchliches, angestrebt werden. Es sollte hierbei weder hochnäsige Anmaßung oder gleichgültige Nachlässigkeit, noch schimpfliches Strebertum und unziemlicher Ehrgeiz hervortreten. Gerade, aufrechte Gesinnung genügt zu allem und empfiehlt sich hinlänglich selbst.

Nicht zu große Strenge und nicht zu große Milde der Leitstern bei deren Ausübung.

120. Im Amte aber soll geziemenderweise weder schroffe Strenge noch zu große Nachgiebigkeit walten, um uns nicht den Anschein zu geben, es sei uns bloß um Ausübung der Macht zu tun, oder aber wir füllten keineswegs den übernommenen Dienst aus.

Unparteilichkeit ein erstes Erfordernis bei deren Besetzung

121. Auch soll man sich bestreben, recht viele sich durch Wohltaten und Dienstgefälligkeiten verbindlich zu machen und die dankbare Gesinnung, die sie gegen einen hegen, zu erhalten, damit sie, wenn sie sich einmal schwer beleidigt fühlen, des genossenen Wohltuns mit Recht nicht vergessen. Denn es kommt erfahrungsgemäß oft vor, daß man Leute, die man begünstigte oder zu irgendeiner höheren Stufe beförderte, abstößt, wenn man ihnen jemand zu Unrecht vorziehen zu sollen glaubt. Aber auch dem Priester geziemt es, daß er seine Gewogenheit, die er in seinen Wohltaten und Entscheidungen zum Ausdruck bringt, unter Wahrung der Gerechtigkeit betätigt und einem Presbyter oder Kirchendiener wie einem Bruder Achtung bezeugt.

Der Priester halte sich fern von Eifersüchtelei gegen tüchtige Kleriker

S. 188 122. Diese dürfen, weil sie einmal als erprobt befunden wurden, nicht anmaßend werden, sondern lieber im Bewußtsein der empfangenen Gnade demütig bleiben; der Priester aber soll nicht Anstoß daran nehmen, wenn ein Presbyter oder ein Diener oder sonst ein Mitglied des Klerus durch seine Mildtätigkeit oder Enthaltsamkeit oder Unbescholtenheit oder Gelehrsamkeit S. 189 oder Schriftbelesenheit in der Achtung steigt. Denn die Gunst der Gemeinde bedeutet Lob für den Lehrer. Gut, wenn das Wirken eines Klerikers Lob findet, doch so, daß ihm jede Ruhmsucht fern liegt. Des Nächsten Lippen, und nicht sein eigener Mund sollen ihn loben, sein Wirken, nicht Strebertum ihn empfehlen.

letztere von Anmaßung und Nörgelei gegen ersteren

123. Sollte übrigens jemand dem Bischof nicht gehorchen und darauf ausgehen, sich selbst zu überheben und großzumachen, die Verdienste des Bischofs dagegen durch erheuchelte Gelehrsamkeit oder Demut oder Mildtätigkeit in Schatten zu stellen, so ist er ein vom Wahren abgeirrter, hochmütiger Mensch; denn die Regel der Wahrheit verlangt, nichts zur eigenen Empfehlung zu tun um den Preis der Verkleinerung eines anderen, und nicht das Gute, das man etwa hat, zur Bemängelung und Verunglimpfung des Nächsten zu betätigen.

Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person der oberste Grundsatz in der Rechtsprechung

124. Tritt nicht für einen Schlechten ein und glaube nicht einem Unwürdigen das Heilige anvertrauen zu sollen! Umgekehrt bedrücke und befehde keinen, dem du auf kein Verbrechen gekommen bist! Denn wenn Ungerechtigkeit an allen leicht Anstoß erregt, dann am meisten in der Kirche, wo Gleichheit herrschen soll, so daß sich der Mächtige nicht mehr anmaßen, der Reiche nicht mehr aneignen darf. Ob reich oder arm: in Christus ist das einerlei. Auch ein Heiliger darf nicht größere Ansprüche machen; denn für ihn geziemt sich noch größere Demut.

125. Sodann aber fort mit jeder Rücksichtnahme auf die Person des Nächsten bei der Rechtsprechung! Fort mit Begünstigung! Nach Gebühr soll der Fall entschieden werden. Nichts belastet den Ruf, oder vielmehr den Glauben so sehr, als wenn man in der Rechtsprechung die Sache eines Niedereren dem Mächtigeren ausliefert, oder einen unschuldigen Armen beschuldigt, den schuldigen Reichen entschuldigt. Ist doch das Menschengeschlecht geneigt, Höhergestellte zu begünstigen, damit sie sich nicht beleidigt, nicht, weil unterlegen, S. 190 gekränkt fühlen. Doch fürs erste brauchst du, wenn du Anstoß fürchtest, das Urteil nicht übernehmen, brauchst, wenn du Priester oder sonst jemand bist, nicht den Herausfordernden machen. Es ist dir gestattet, wenn es sich lediglich um eine Geldangelegenheit handelt, zu schweigen, obschon Charakterfestigkeit ein Eintreten für Recht und Gerechtigkeit verlangte. In einer Sache Gottes aber, wo das allgemeine Wohl auf dem Spiel steht, wäre schon bloßes Schweigen aus Verstellung keine geringe Sünde.

XXV. Kapitel: Vom Nützlichen

Gib lieber dem Armen als dem Reichen! Das gebieten religiöse,

126. Was aber nützte dir die Begünstigung eines Reichen? Oder geschieht es, weil er seinem Gönner eher lohnt? Nur zu oft gilt ja denen unsere Gunst, von denen wir eine Vergeltung derselben erwarten. Um so mehr aber gebührt es sich, uns des Schwachen und Dürftigen anzunehmen, indem wir uns statt vom Armen, der nicht dazu in der Lage ist, vom Herrn Jesus den Lohn erhoffen. Er stellte ja unter dem Bilde des Gastmahles die allgemeine Regel auf, daß wir lieber denen unser Wohltun zuwenden sollen, die es uns nicht erwidern können, indem er zeigte, wie zu Gastmahlen und Gelagen nicht die Reichen, sondern die Armen zu laden sind. Denn Reiche — den Anschein weckt es — bittet man zu Gaste, daß auch sie uns hinwiederum zu Gaste laden: Arme, die nicht in der Lage sind, für das Empfangene eine Gegenleistung zu bieten, machen uns den Herrn zum Vergelter, der sich als Bürgen für den Armen erboten hat.

das empfehlen selbst weltliche Erwägungen.

S. 191 127. Auch rein weltlich betrachtet, hat das Wohltun gegen Arme mehr für sich als das gegen Reiche, weil der Reiche auf Wohltun verzichtet und Dankespflicht als beschämend empfindet. Ja er schreibt anmaßend die Wohltat, die ihm erwiesen wurde, seinen Verdiensten zu: die empfangene Gabe sei ihm entweder gleichsam geschuldet gewesen, oder aber deshalb gespendet worden, weil der Spender vom Reichen eine um so ansehnlichere Gegengabe erwarte. Reiche glauben also, wenn sie eine Wohltat entgegennehmen, gerade wegen dieses Entgegennehmens mehr Geber denn Nehmer zu sein. Der Arme hingegen stattet, wenn er auch kein Geld zur Wiedererstattung hat, Dank ab und erstattet damit sicherlich mehr, als er empfangen hat. Geldschuld trägt sich mit dem Hinzählen des Geldes ab, Dankbarkeit erschöpft sich nimmer. Der Geldsäckel leert sich mit der Rückzahlung, Dankbarkeit hingegen erstattet man dadurch, daß man sie hat, und hat man dadurch, daß man sie erstattet. Was ferner dem Reichen widerstrebt: der Arme gesteht zu, daß er sich als Schuldner verpflichtet fühle und hält es nicht unter seiner Würde, daß er unterstützt wurde. Er ist überzeugt davon, daß ihm die Kinder geschenkt, das Leben zurückgegeben, die Familie erhalten worden sei. Wieviel besser also ist es, seine Wohltat Guten statt Undankbaren in die Hand zu legen!

Der wahre Jünger Christi ein Verächter des Geldes.

128. Daher die Mahnung des Herrn an seine Jünger: „Besitzet nicht Gold, nicht Silber, noch Geld!“ Wie mit einer Sichel schnitt er damit die in der Brust des Menschen wuchernde Habsucht ab. Desgleichen beteuert Petrus dem Lahmen, den man vom Mutterleibe an tragen mußte: „Silber und Gold habe ich nicht; aber was ich habe, gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi des Nazareners steh auf und wandle!“ Nicht Geld S. 192 spendete er, die Gesundheit spendete er. Wie unvergleichlich besser ist Gesundheit ohne Geld, als Geld ohne Gesundheit! Der Lahme konnte sich erheben, was er nicht erwartete; Geld empfing er nicht, das er erwartete. Doch diesen Edelmut der Geldverachtung trifft man kaum bei Heiligen an.

XXVI. Kapitel: Vom Nützlichen =

Die Habsucht ein uraltes Laster, wie aus vielen Beispielen der Hl. Schrift erhellt.

129. Übrigens ist die Bewunderung des Reichtums so Sitte bei den Menschen geworden, daß niemand als der Reiche für ehrenwert gilt. Dieser Brauch ist nicht neu. Schon längst, und das ist noch schlimmer, hat sich vielmehr dieses Übel im Menschengeiste eingebürgert. Machte doch, als die große Stadt Jericho auf den Schall der Priestertrompeten eingestürzt war und Jesus Nave den Sieg davon trug, letzterer die Beobachtung, daß die Tugend des Volkes durch Habsucht und Goldgier geschwächt sei. Denn als Achan von der Beute der eingeäscherten Stadt ein goldenes Gewand und zweihundert Doppeldrachmen Silber und eine goldene Zunge fortgenommen hatte, vermochte er es, vor den Herrn gestellt, nicht zu leugnen, sondern gestand den Diebstahl ein.

130. Etwas Uraltes ist sonach die Habsucht. Ihr Anfang fällt mit dem Eintritt des göttlichen Gesetzes selbst zusammen, ja gerade zu ihrer Unterdrückung S. 193 wurde das Gesetz gegeben. Aus Habsucht, so meinte Balak, lasse sich Balaam durch Belohnungen gewinnen, dem Volke der Väter zu fluchen. Und die Habsucht hätte auch den Sieg davongetragen, hätte nicht der Herr ihm befohlen, von der Verfluchung abzustehen. Aus Habsucht war Achan gefallen und hatte das ganze Vätervolk ins Verderben gestürzt. Jesus Nave, der die Sonne zum Stillstehen zu bringen vermochte, daß sie nicht weiter rückte, konnte der Habsucht nicht Einhalt tun, daß sie nicht um sich greife. Auf sein Wort hielt die Sonne inne, die Habsucht hielt nicht inne. Beim Stillstand der Sonne errang Jesus einen glänzenden Sieg, beim Fortschreiten der Habsucht verlor er beinahe den Sieg.

131. Wie? Beirrte nicht des Weibes Dalila Habsucht den Stärksten von allen, Samson? Er, der einen brüllenden Löwen mit seinen Händen zerriß; der gebunden und den Fremden ausgeliefert, allein die Fesseln sprengte, ohne daß ihm jemand half, und tausend Mann von ihnen tötete; der Seile, aus Sehnen geflochten, wie schwache Spartonfäden zerriß: er beugte seinen Nacken auf die Knie eines Weibes, ließ sich scheren und verlor so den Schmuck seines unbesieglichen Haares, den einzigartigen Vorzug seiner Kraft. Das Geld floß in den Schoß des Weibes, und die Gnade wich vom Helden.

132. Verderblich also ist die Habsucht, verführerisch das Geld, das die Besitzenden mit Schuld befleckt, den Nichtbesitzenden nicht frommt. Gesetzt aber, das Geld komme einmal auch einem Geringeren zunutze, freilich auch ihm nur, weil er danach verlangte: warum wendet man sich mit seinem Interesse nicht auch jenem zu, der nicht danach verlangt, der nicht darauf ausgeht, der kein Bedürfnis nach solcher Hilfe empfindet? S. 194 Warum nur anderen, wenn nämlich der Besitzende besonders vermöglich ist? Ist dieser vielleicht deshalb ehrenwerter, weil er einen Besitz hat, durch den die Ehrenhaftigkeit so oft verloren geht? Eine Habe, die er mehr zu bewahren als zu besitzen hat? Denn nur das besitzen wir, was uns zum Gebrauch dient; was darüber hinausgeht, das bringt wahrlich keine Besitzfrucht, sondern nur die Gefahr der Bewachung.

XXVII. Kapitel: Vom Nützlichen

Die Verachtung des Geldes ein Ausfluß der Gerechtigkeit

133. Um abzuschließen, so wissen wir, daß die Verachtung des Geldes eine Form der Gerechtigkeit ist. Eben darum müssen wir die Habsucht meiden und mit allem Eifer uns bestreben, nie etwas wider die Gerechtigkeit zu tun, sondern sie in all unserem Tun und Wirken zu wahren.

134. Wenn wir uns bei Gott empfehlen wollen, so laßt uns Liebe haben, einträchtig sein, der Demut folgen, indem einer den anderen für über sich erhaben hält; denn das ist Demut, wenn einer sich nichts zugute tut und sich für den Niedrigeren hält. Der Bischof bediene sich der Kleriker, insbesonders der dienenden, die in Wahrheit seine Söhne sind, wie seiner Glieder. Nur wen er für ein Amt tauglich sieht, dem übertrage er es.

Sonstige Tugenden des Klerus (134). Von der Strafe der Exkommunikation.

135. Mit Schmerzen schneidet man ein Glied am Körper, selbst wenn es ein faules ist, weg und behandelt es lange, ob es sich nicht durch Arzneimittel ausheilen lasse. Ist das nicht möglich, dann wird es von einem tüchtigen Arzt weggeschnitten. Solcher Gesinnung ist S. 195 auch ein guter Bischof. Er trachtet, Kranke zu heilen, um sich fressende Geschwüre zu beseitigen, das eine und andere auszubrennen, nicht wegzuschneiden, und schließlich, was unheilbar ist, zu seinem schmerzlichen Bedauern wegzuschneiden. So findet also jenes herrliche Gebot eine um so wirksamere Beleuchtung: Wir sollen nicht an das, was unser ist, denken, sondern an das, was der anderen ist. Auf diese Weise nämlich wird keine Gefahr bestehen, daß wir aus Unwillen unserer Leidenschaft Gehör schenken, oder aus Gewogenheit mehr, als recht wäre, unserem Wunsche stattgeben.

XXVIII. Kapitel: Vom Nützlichen

Rechtfertigung der von den Arianern beanstandeten Einschmelzung der Kirchengefäße zum Loskauf von Gefangenen.

136. Der stärkste Beweggrund zur Barmherzigkeit ist das Mitleid mit fremdem Elend und das Verlangen, nach Kräften, mitunter sogar über unsere Kräfte der Not der anderen zu steuern. Denn es ist besser, das Mitleid rechtfertigen zu müssen oder auch sich begeifern zu lassen, als Hartherzigkeit vorzuschützen. So haben auch wir uns einmal gehässige Vorwürfe zugezogen, weil wir die gottesdienstlichen Gefäße zerbrechen ließen, um damit Gefangene loszukaufen. Nur den Arianern konnte das mißfallen. Es handelte sich auch weniger um das Mißfallen an dem Vorgang als darum, an uns etwas zu tadeln zu haben. Wer aber wäre so felsenhart, grausam, eisern, daß ihm der Loskauf eines Mannes vom Tode, einer Frau von den Schändlichkeiten der Barbaren, die noch härter denn der Tod sind, von Jünglingen und Knaben, ja Kindern von der S. 196 ansteckenden Seuche des Götzendienstes, von der sie sich aus Angst vor dem Tode verunreinigen ließen, mißfiele?

137. Obwohl wir diesen Schritt ohne irgendwelche Rechenschaft zu schulden tun konnten, haben wir uns gleichwohl auch beim Volke darüber in dem Sinn geäußert, daß wir offen darlegten, es sei viel zweckdienlicher gewesen, die Seelen als das Gold dem Herrn zu bewahren. Er, der die Apostel ohne Gold aussendete, hat auch die Kirche ohne Gold vereinigt. Die Kirche besitzt das Gold nicht, um es aufzubewahren, sondern um es aufzuwenden, um den Nöten abzuhelfen. Was braucht es auch eine Sache nutzlos aufbewahren? Oder wissen wir nicht, wieviel Gold und Silber die Assyrer vom Tempel des Herrn fortgeschleppt haben? Schmelzen nicht die Priester, wenn es sonst an Mitteln gebricht, es zum Unterhalt der Armen besser ein, als daß ein frevler Feind es verunehrt und fortschleppt? Würde nicht der Herr sprechen: Warum hast du es gelitten, daß so viele Arme des Hungers sterben? Und doch hattest du Gold. Hättest du dafür Nahrung geboten! Warum wurden so viele Gefangene als Kriegsbeute abgeführt und vom Feinde getötet, ohne daß man sie loskaufte? Besser wäre es gewesen, die lebendigen Gefäße zu bewahren als die metallenen.

138. Auf diese Fragen ließe sich keine Antwort geben. Wie hätte man entgegnen können: Ich fürchtete, es möchte dem Tempel Gottes an Schmuck gebrechen? Er hätte erwidert: die Geheimnisse verlangen kein Gold; und was sich um Gold nicht kaufen läßt, verdankt auch Goldesglanz nicht seinen Reiz. Der Loskauf der Gefangenen gereicht den Geheimnissen zur Zierde. Kostbare Gefäße fürwahr sind jene, welche die Seele vom Tode erkaufen. Das ist der wahre Schatz des Herrn, der bewirkt, was das Blut Christi bewirkt hat. Da erkennt man das Gefäß mit dem Blute des Herrn, wenn man in beiden Erlösung schaut: im Kelch die Erlösung derer S. 197 vom Feinde, welche das Blut von der Sünde erlöste. Wie schön, wenn sich von den Scharen der Gefangenen, welche von der Kirche losgekauft wurden, sagen läßt: Diese hat Christus losgekauft! Sieh, ein Gold, das erprobt ist! Sieh, ein Gold, das frommt! Sieh, das Gold Christi, das vom Tode befreit! Sieh, das Gold, durch das die Keuschheit erkauft, die Reinheit bewahrt wird!

139. Diese Gefangenen nun wollte ich euch lieber als Befreite übergeben denn das Gold aufbewahren. Diese Zahl, diese Reihe von Gefangenen ist kostbarer als der Glanz der Becher. Diesem Zwecke sollte das Gold des Erlösers dienen: dem Loskauf der Gefangenen. Ich erkenne, wie das Blut Christi im Goldgefäß nicht nur leuchtete, sondern auch demselben durch seine Erlösungstat die Kraft seiner göttlichen Wirksamkeit mitteilte.

Das Beispiel des hl. Laurentius.

140. Solches Gold wahrte der heilige Märtyrer Laurentius dem Herrn auf. Als man nämlich von ihm die Kirchenschätze forderte, versprach er dieselben aufzuzeigen. Am folgenden Tage führte er die Armen vor. Auf die Frage, wo die Schätze wären, die er versprochen hatte, zeigte er auf die Armen und sprach: Das sind die Schätze der Kirche. Und fürwahr Schätze, die Christus in sich bergen, die Christi Glauben in sich bergen! So sprach auch der Apostel: „Wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen“. Welche bessere Schätze hätte Christus als jene, denen er selbst nach seiner Versicherung innewohnt? Denn so steht geschrieben: „Ich hungerte, und ihr gabt mir zu essen; ich dürstete, und ihr gabt mir zu trinken; ich war fremd, und ihr nahmt mich auf“. Und im folgenden: „Denn was ihr einem von diesen getan habt, das habt ihr mir getan“. Welche bessere Schätze hat Jesus als die, worin er selbst geschaut zu werden wünscht?

141. Diese Schätze zeigte Laurentius vor, und er S. 198 blieb Sieger, weil selbst der Verfolger sie nicht rauben konnte. Als Joachim bei der Belagerung das Gold zurückhielt, statt es zur Beschaffung von Nahrungsmitteln zu verwenden, mußte er sehen, wie einerseits das Gold geraubt, andrerseits er selbst in die Gefangenschaft abgeführt wurde. Laurentius, der das Gold der Kirche lieber an die Armen verteilen, als für den Verfolger aufbewahren wollte, empfing für seine einzigartig geistreiche Deutung die heilige Martyrkrone. Hat man nun etwa dem Laurentius entgegengehalten: Du durftest die Schätze der Kirche nicht aufwenden, die gottesdienstlichen Gefäße nicht verkaufen?

Die notwendigen Vorbedingungen zu solchem Vorgehen.

142. Erforderlich ist, daß einer ein solches Handeln in reiner Absicht und aus offensichtlicher Fürsorglichkeit vollbringt. In der Tat, wenn jemand Aufwendungen zu seinem Vorteil macht, so ist es ein Verbrechen; wendet er es für die Armen auf, kauft er einen Gefangenen los, so ist es Barmherzigkeit. Denn niemand kann sagen: Wozu lebt der Arme? Niemand kann den Loskauf von Gefangenen bedauern. Niemand kann Klage erheben, daß ein Tempel Gottes erbaut wurde. Niemand kann darüber ungehalten sein, daß man zur Bestattung der leiblichen Überreste der Gläubigen geräumige Plätze schuf. Niemand kann es leid tun, daß die Toten ihre Ruhe in den Grabstätten der Christen finden. Auf solche dreifache Art ist es gestattet, Kirchengefäße, selbst geweihte, zu zerbrechen, einzuschmelzen und zu veräußern.

143. Darauf ist notwendig zu sehen, daß kein geformter gottesdienstlicher Becher aus der Kirche fortkomme, damit der heilige Kelch nicht lasterhaftem Gebrauche dienstbar gemacht werde. Man sah sich darum innerhalb der Kirche zunächst nach den ungeweihten Gefäßen um, schlug sie hierauf klein, schmolz sie endlich ein und verteilte sie in kleinen Stücken unter die Dürftigen. Ebenso kamen sie den Gefangenen zugute. Fehlt es an neuen und ungeweihten Gefäßen, können meiner Überzeugung nach alle zu solchen Zwecken, wie S. 199 wir sie oben aufführten, mit gutem Gewissen verwendet werden.

== XXIX. Kapitel

Vom Nützlichen: Die Hinterlagen der Witwen und der Gläubigen überhaupt sind treu zu bewahren.

144. Darauf fürwahr ist sorgfältig zu achten, daß die Hinterlagen von Witwen unangetastet bleiben und ohne jede Gefährdung aufbewahrt werden — nicht bloß von Witwen, sondern auch von allen anderen; denn allen ist die Treue zu wahren; obenan steht freilich die Sache der Witwen und Waisen.

Heliodors abschreckendes Beispiel.

145. Ausschließlich auf diesen Namen der Witwen wurde denn auch, wie wir in den Büchern der Makkabäer lesen, die ganze Summe, die dem Tempel anvertraut war, aufbewahrt. Als nämlich Anzeige von den Geldern erstattet wurde, die, wie der gottlose Simon dem Könige Antiochus verriet, in großer Menge im Tempel zu Jerusalem zu finden waren, wurde Heliodor als Sachwalter abgesandt. Er kam zum Tempel und eröffnete dem Hohenpriester die traurige Anzeige und den Grund seiner Ankunft.

146. Darauf erklärte der Priester, es sei die Hinterlage zum Unterhalte der Witwen und Waisen. Als Heliodor trotzdem an deren Raub gehen und sie dem königlichen Fiskus zu eigen machen wollte, warfen sich die Priester, mit der priesterlichen Kleidung angetan, vor den Altar und riefen unter Tränen zum lebendigen Gott, der das Gesetz über die Hinterlage gegeben hatte, er S. 200 möchte sich als Beschützer seiner Gebote zeigen. Die Gesichtsfarbe des Hohenpriesters aber war verändert und verriet den Schmerz der Seele und den Kummer des tieferschütterten Herzens. Alles weinte, weil die Stätte der Verachtung anheimfallen müsse, wenn nicht einmal mehr im Tempel Gottes sich eine verlässige, sichere Hut durchhalten lasse. Weiber, die Brust umgürtet, und weltabgeschlossene Jungfrauen klopften an die Türe: die einen liefen den Mauern zu, andere lugten zum Fenster heraus; alles streckte die Hände zum Himmel und flehte, der Herr möge seine eigenen Gesetze schützen.

147. Aber auch hierdurch ließ Heliodor sich nicht abschrecken. Er beschleunigte sein Vorhaben und hatte eben mit seinen Trabanten den Tempelschatz umringt. Da erschien ihm plötzlich ein furchtbarer Reiter, in goldener Waffenrüstung blitzend; sein Roß aber war mit einer Prachtdecke geschmückt. Noch weitere zwei Jünglinge erschienen, von leuchtender Kraft und holder Anmut, in herrlichem Glanze und kostbarem Gewande. Sie umringten ihn und geißelten den Tempelschänder ununterbrochen mit fortgesetzten Hieben. Wozu viele Worte? Von Finsternis umgeben, stürzte er zur Erde und lag — ein augenscheinlicher Beweis von Gottes Eingreifen — entseelt am Boden, und kein Hoffnungsstrahl auf Rettung ruhte auf ihm. Da überkam die Fürchtenden Freude, die Übermütigen Furcht, und niedergeschmettert baten einige von den Freunden Heliodors den Onias, er möchte um dessen Leben bitten. Schon lag er nämlich in den letzten Zügen.

148. Während nun der Hohepriester betete, erschienen dem Heliodor wiederum die nämlichen Jünglinge im nämlichen Gewande mit der Aufforderung: Dem Hohenpriester Onias sage Dank; denn um seinetwillen ward dir das Leben wieder geschenkt! Du aber geh, nachdem du die Geißel des Herrn gekostet, und verkündige all den Deinigen, wie groß des Tempels Heiligkeit und Gottes Macht ist, die du kennen lerntest! Nach diesen Worten waren sie nicht mehr zu sehen. S. 201 Heliodor nun brachte, nachdem er den Lebensodem zurückerhalten hatte, dem Herrn ein Opfer dar, sprach dem Priester Onias seinen Dank aus und kehrte mit dem Heere zum König zurück, zu dem er sprach: Hast du einen offenen Feind oder einen geheimen Gegner deiner Sache, schicke ihn dorthin, und du wirst ihn gezüchtigt zurückbekommen.

Dem Übergriff der Mächtigen muß der Klerus wehren,

149. So verlangen denn, meine Söhne, hinterlegte Gelder Treue und Sorgfalt. Herrliches Licht fällt auf euren Dienst, wenn der unerträglichen Bedrückung, sei es einer Witwe, sei es von Waisen durch einen Mächtigen mit Hilfe der Kirche ein Damm gesetzt wird; wenn ihr zeigt, daß bei euch das Gebot des Herrn mehr gilt als die Gunst eines Reichen.

wie Ambrosius selbst wiederholt und der Bischof von Ticinum erst jüngst dem Kaiser Widerstand geleistet haben.

150. Ihr erinnert euch selbst, wie oft wir Übergriffen der Regierung gegenüber den Kampf für der Witwen, ja für jedermanns Hinterlagen aufgenommen haben. Ich teile mich in eure Aufgabe. Ein neues Beispiel aus der Kirche von Ticinum möchte ich anführen. Sie stand in Gefahr, die Hinterlage einer Witwe, die sie übernommen hatte, zu verlieren. Auf die Aufforderung des Beamten, der kraft kaiserlichen Reskriptes dieselbe zu sich nehmen wollte, wahrten die Kleriker ihren Standpunkt nicht. Da ihnen auch noch Ehre angetan und die Vermittlung übertragen wurde, berichteten sie, man könne doch den Verordnungen des Kaisers nicht entgegentreten. Der Erlaß, der nur in allzu bestimmter Form lautete, und die Weisungen des obersten Beamten wurden verlesen, das ausführende Organ drohte. Kurz, der Auslieferung war stattgegeben worden.

151. Der heilige Bischof jedoch nahm, nachdem er mit mir Rat gepflogen hatte, die Schränke, wohin jene Hinterlage der Witwe, wie er wußte, gebracht war, in Beschlag. Da man sie also nicht fortschaffen konnte, wurde ein schriftliches Protokoll darüber aufgenommen. Später wurde das Geld neuerdings schriftlich gefordert. Wiederholt hatte der Kaiser Befehl gegeben zu einer persönlichen Zusammenkunft mit uns. Sie wurde S. 202 abgelehnt. Erst nachdem dem Kaiser die Autorität des göttlichen Gesetzes und der Text der (einschlägigen) Schriftlesung sowie Heliodors Gefahr auseinandergesetzt worden waren, nahm er endlich zur Not Vernunft an. Auch später noch wurde ein Anschlag versucht. Doch der heilige Bischof kam dem zuvor. Er gab der Witwe das Empfangene zurück. Inzwischen ist die Treue unbehelligt; kein Druck zur Einschüchterung wird ausgeübt: Heute steht die Sache, nicht die Treue in Gefahr.

XXX. Kapitel: Schlußmahnungen an die Kleriker. =

152. Meine Söhne, flieht die Gottlosen, hütet euch vor den Neidern! Zwischen dem Gottlosen und dem Neider ist dieser Unterschied: der Gottlose ergötzt sich am eigenen, der Neider quält sich über fremdes Gut; jener liebt das Schlechte, dieser haßt das Gute. Fast erträgt man jenen, der sich Gutes wünscht, lieber als jenen, der allen Schlechtes wünscht.

153. Meine Söhne, denkt, bevor ihr handelt! Und erst, wenn ihr länger überdacht habt, dann tut, was ihr für gut findet! Gibt sich Gelegenheit zu einem rühmlichen Tod, ist sie unverzüglich zu ergreifen. Aufgeschobener Ruhm entflieht und läßt sich nicht leicht zurückgewinnen.

154. Liebt den Glauben! Denn durch Glaube und Andacht erwarb sich Josias von seinen Gegnern große Liebe, weil er im achtzehnten Jahre (seiner Regierung) wie keiner vor ihm das Pascha des Herrn feierte. Alle übertraf er sonach an Eifer. Faßt auch ihr, meine Söhne, Eifer für Gott! Gottes Eifer dränge euch und verzehre euch, so daß ein jeder von euch ausrufen kann: S. 203 „Der Eifer für Dein Haus drängte mich“. Ein Apostel Christi hieß ‚der Eiferer‘. Was beziehe ich mich auf einen Apostel? Der Herr selbst beteuerte: „Der Eifer für Dein Haus verzehrt mich“. Eifer für Gott also herrsche, nicht jene menschliche Eifersucht, die der Neid erzeugt!

155. Der Friede, der allen Begriff übersteigt, walte unter euch! Liebet einander! Nichts ist süßer als die Liebe, nichts köstlicher als der Friede. Und ihr selbst wißt, daß ich euch stets mehr als alle anderen geliebt habe und liebe. Wie Söhne eines Vaters seid ihr in der Bruderliebe geeint.

156. Haltet fest am Guten! Und der Gott des Friedens und der Liebe wird mit euch sein im Herrn Jesus, dem Ehre, Ruhm, Herrlichkeit und Macht gebührt samt dem Heiligen Geist in alle Ewigkeiten. Amen.

Drittes Buch: Vom Verhältnis des Nützlichen zum sittlich Guten

I. Kapitel

Nicht erst Scipio, schon David,

S. 204 1. Der Prophet David lehrte uns, in unserem Herzen wie in einem geräumigen Hause wandeln und mit ihm wie mit einem guten Wohnungsgenossen verkehren, wie er selbst auch mit sich redete und plauderte. So heißt es: „Ich sprach: ich will acht haben auf meine Wege“. Auch sein Sohn Salomo mahnt: „Trink Wasser aus den eigenen Gefäßen und aus den Quellen deiner Bronnen“, d. i. schöpfe aus der eigenen Einsicht! Denn „tiefes Wasser ist die Einsicht im Herzen des Mannes“. „Kein Fremder“, fährt er fort, „teile sich mit dir darein! Dein Wasserquell gehöre dir allein, und deine Freude habe an dem Weibe, das dein eigen von Jugend auf! Ein freundschaftlicher Hirsch und ein freundliches Füllen mögen mit dir plaudern!“

Moses ,

2. Nicht Scipio war also der erste, der es verstand, nicht allein zu sein, wenn er allein war, und ebensowenig S. 205 müßig, wenn er müßig war. Vor ihm verstand es Moses, der, da er schwieg, schrie, da er müßig stand, kämpfte, und nicht bloß kämpfte, sondern auch über die Feinde, ohne mit ihnen in Berührung gekommen zu sein, triumphierte: so müßig, daß andere ihm sogar die Hände stützten, und doch nicht weniger tätig wie die übrigen, indem er mit seinen müßigen Händen den Feind bezwang, den die Kämpfenden nicht zu besiegen vermochten. So also redete Moses im Schweigen und war tätig in der Muße. Wessen Tätigkeit aber überträfe an Bedeutung seine Muße? Empfing er doch nach vierzigtägiger Zurückgezogenheit auf dem Berge das ganze Gesetz. Selbst in jener Einsamkeit fehlte es nicht an jemand, der mit ihm sprach. Daher denn auch Davids Wort: „Ich will hören, was Gott der Herr in mir spricht“. Und wie unvergleichlich mehr bedeutet Gottes Sprechen mit einem als das Selbstgespräch, das einer führt!

die Apostel,

3. Die Apostel gingen vorüber, und ihr Schatten heilte die Kranken. Man berührte ihre Kleider und erlangte Gesundung.

Elias,

4. Elias sprach nur ein Wort, und der Regen hielt inne und fiel drei Jahre und sechs Monate nicht mehr zur Erde. Wiederum sprach er, und der Mehltopf nahm nicht ab, und das Ölgefäß wurde während der ganzen Zeit der langen Hungersnot nicht leer.

Elisäus

5. Und weil man so gern an Kriegsereignissen seine Freude hat: was ist großartiger, mit wuchtigen Armen oder mit bloßen Verdiensten das Ende einer Schlacht herbeigeführt zu haben? Elisäus blieb am gleichen S. 206 Platz sitzen, und der König von Syrien zog mit großer Kriegsmacht wider das Vätervolk heran, bedrohte es einmal über das andere Mal mit mannigfachen tückischen Anschlägen und suchte ihm mit Hinterlist und Hinterhalt beizukommen. Doch der Prophet durchschaute alle seine Vorkehrungen, deckte den Seinigen, im Geiste mit Gottes Gnade überall zugegen, die Absichten der Feinde auf und machte auf die Orte aufmerksam, vor denen man sich zu hüten hätte. Sobald das dem Könige von Syrien kundgetan ward, sandte er ein Heer aus und ließ den Propheten einschließen. Elisäus betete und bewirkte, daß all jene, die gekommen waren ihn einzuschließen, mit Blindheit geschlagen wurden und Samaria als Gefangene betraten.

verstanden es, in der Einsamkeit nicht vereinsamt, in der Muße nicht müßig zu sein. Wie unterscheidet sich die Muße eines Elisäus von der gewöhnlichen (6)!

6. Vergleichen wir solche Muße mit der Muße anderer. Andere pflegen zum Ausruhen ihren Geist von Beschäftigungen abzulenken, vom Verkehr und Umgang mit Menschen sich zurückzuziehen und entweder auf das stille Land zu gehen und einsame Plätzchen aufzusuchen, oder aber in der Stadt den Geist abzuspannen und der Ruhe und Erholung zu frönen. Elisäus hingegen teilt in der Einsamkeit durch sein Hindurchgehen den Jordan, so daß er in seinem Unterlauf abfließt, in seinem Oberlauf zur Quelle zurückflutet. Oder er verhilft auf dem Karmel einer Unfruchtbaren unerwartet zur Leibesfrucht, nachdem er das Hindernis der Zeugung beseitigt hatte; oder erweckt Tote; oder benimmt Speisen ihre Bitterkeit und macht sie durch Beimischung von Mehl schmackhaft; oder läßt zehn Brote verteilen und die Reste nach der Sättigung des Volkes sammeln; oder macht ein Axteisen, das abglitt und in die Tiefe des Jordanflusses sank, mittels eines ins Wasser S. 207 gehaltenen Holzstückes an der Oberfläche schwimmen; oder schafft einem Aussätzigen durch Reinigung, oder in der Zeit der Dürre durch Regen, oder in der Zeit der Hungersnot durch Fruchtbarkeit Wandel.

Der Gerechte lebt in Gemeinschaft mit Gott; sein Maßstab ist das Ewige.

7. Wann wäre denn der Gerechte allein, nachdem er stets mit Gott weilt? Wann wäre er vereinsamt, nachdem er nimmer von Christus sich trennt? „Wer wird uns“, so heißt es, „von der Liebe Christi trennen?“ „Wie ich vertraue, weder Tod, noch Leben, noch ein Engel“. Wann aber ruht er von Tätigkeit aus, nachdem er nimmer vom Verdienst ausruht, das sein Mühen krönt? Auf welche örtliche Grenzen aber soll er beschränkt sein, dem die ganze Welt voll Reichtümer zu eigen ist? Welchen Maßstab soll man zu seiner Beurteilung anlegen, da der Leute Urteil ihn nimmer voll und ganz würdigt. Er ist sozusagen ein Unbekannter, und doch kennt man ihn; sozusagen ein Sterbender, und sieh, er lebt; sozusagen ein Trauernder, und doch stets heiter; ein Dürftiger, und freigebig; einer, der nichts hat und alles besitzt. Denn der Gerechte richtet seinen Blick nur auf das Beständige und sittlich Gute. Daher ist er, ob er auch einem anderen arm dünkt, sich selbst reich; denn nicht das Vergängliche, sondern das Ewige bildet den Maßstab zu seiner Beurteilung.

II. Kapitel: Nach christlicher Auffassung decken sich die Begriffe ‚sittlich gut‘ und ‚nützlich‘ =

8. Weil wir die beiden früheren Abschnitte, worin wir das sittlich Gute und Nützliche behandelten, bereits S. 208 besprochen haben, so ergibt sich nun die Frage, ob wir nicht das sittlich Gute und das Nützliche untereinander vergleichen und untersuchen sollen, was zu befolgen sei. Wie wir nämlich oben erörtert haben, ob diese und jene Handlung sittlich gut oder schimpflich, in zweiter Reihe, ob sie nützlich oder schädlich sei, so glaubten einige in ähnlicher Weise an dieser Stelle die Frage aufwerfen zu sollen, ob sie sittlich gut oder nützlich sei.

9. Wir aber besorgen, wir möchten den Anschein wecken, als würden wir diese Begriffe sozusagen als Gegensätze einführen, nachdem wir doch oben bereits gezeigt haben, daß sie sich decken, daß nur das Nützliche sittlich gut, und nur das sittlich Gute nützlich sein kann. Wir folgen ja nicht der Weisheit des Fleisches, bei welcher der Nutzen, der im Geldgewinste liegt, am schwersten wiegt, sondern der Weisheit, die aus Gott ist, vor der das Große in den Augen dieser Welt als Nachteil gilt.

Der Unterschied zwischen Erstpflichten und Mittelpflichten,

10. Dieses κατόρθωμα [katorthōma] nämlich, d. i. die vollkommene und vollendete Pflicht, entspringt nur der wahren Tugendquelle. Auf sie folgt in zweiter Reihe die gewöhnliche Leistung, die, wie schon das Wort andeutet, nicht Sache angestrengter und einzigartiger Tugend ist, sondern der großen Mehrzahl gemeinsam sein kann. Nach Geldgewinst haschen, ist vielen eigen, an feinerem Mahl und köstlicheren Speisen sich ergötzen, ist etwas S. 209 Gewöhnliches; dagegen ist Fasten und Enthaltsamkeit Sache weniger, und Freisein von Begierde nach fremdem Gut eine Seltenheit. Das Gegenteil vom letzteren aber ist der Wunsch, den Nächsten zu benachteiligen, die Unzufriedenheit mit dem Seinigen: hierin begegnet man sich mit der großen Mehrzahl. So gibt es denn teils Erstpflichten, teils Mittelpflichten. Die Erstpflichten sind Gemeingut weniger, die Mittelpflichten Gemeinbesitz der Mehrheit.

zwischen Tugend und Tugend überhaupt.

11. So liegt denn häufig in ein und denselben Worten ein verschiedener Sinn. In einem anderen Sinn heißen wir Gott, in einem anderen den Menschen gut. In ähnlicher Weise nennen wir in einem anderen Sinn Gott, in einem anderen den Menschen gerecht. Auch im Evangelium werden wir darüber belehrt: „So seid denn auch ihr vollkommen, wie euer Vater, der im Himmel ist, vollkommen ist!“ Selbst von Paulus lese ich, er sei vollkommen und nicht vollkommen gewesen. Denn nachdem er erklärt hatte: „Nicht daß ich es schon erreicht hätte oder schon vollkommen wäre; ich strebe aber danach, ob ich’s etwa erreichen möchte“, fügte er sogleich hinzu: „So viele nun von uns vollkommen sind“. Es gibt nämlich zweierlei Arten von Vollkommenheit: eine halbvollendete und eine ganzvollendete; eine diesseitige und eine jenseitige; eine nach Maßgabe des Menschenmöglichen, eine nach Maßgabe der künftigen Vollkommenheit. Gott aber ist in allem gerecht, über alles weise, in allem vollkommen.

12. Auch zwischen den Menschen selbst besteht ein Abstand. In einem anderen Sinn ist Daniel weise, von dem es heißt: „Wer ist weiser als Daniel?“, in einem S. 210 anderen Sinn sind es sonstige Weise, in einem anderen Sinn Salomo, der mit einer Weisheit erfüllt war, die alle Weisheit der Alten und alle Weisen Ägyptens überragte. Denn zwischen der gewöhnlichen Weisheit und der vollkommenen Weisheit ist ein Unterschied. Die Weisheit des gemeinen Weisen bewegt sich um das Zeitliche, bewegt sich um das eigene Ich, um von dem Nächsten etwas zu ergattern und sich anzueignen. Dem vollkommenen Weisen liegt es fern, auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein; sein ganzes Sinnen und Trachten geht vielmehr auf das Ewige, auf das Schickliche und sittlich Gute, indem er nicht seinen Nutzen, sondern den der Allgemeinheit sucht.

Der Gerechte, bezw. der Weise lebt nicht sich, sondern anderen

13. Um also auf jenen beiden Gebieten des Sittlichguten und Nützlichen nicht in die Irre zu gehen, bleibe das die Losung: der Gerechte glaube nicht, den Nächsten beeinträchtigen zu sollen, und wünsche nicht, daß ihm aus der Benachteiligung des Nächsten Vorteil erwachse! Diese Norm schreibt dir der Apostel mit den Worten vor: „Alles ist erlaubt, doch nicht alles frommt; alles ist erlaubt, aber nicht alles erbaut. Niemand suche das Seinige, sondern was des Nächsten ist“, das heißt: niemand suche seinen Vorteil, sondern den des Nächsten; niemand suche seine Ehre, sondern die des Nächsten! Daher mahnt er auch an einer anderen Stelle: „. . . . indem einer den anderen höher achtet als sich selbst, ein jeder nicht an das Seinige denkt, sondern auf das, was der anderen ist“.

14. Niemand gehe ferner auf Selbstgefälligkeit, niemand auf Eigenlob aus, sondern auf des Nächsten Lob. Das finden wir klar auch im Spruchbuche ausgesprochen, in dem der Heilige Geist durch Salomo mahnt: „Mein Sohn, wenn du weise bist, so sei weise zu deinem und des Nächsten Vorteil; wirst du aber böse, schlürfe allein das Böse ein!“ Denn auch der Weise ist auf S. 211 andere bedacht, wie der Gerechte, nachdem ja beide Tugendnormen auf das gleiche hinauszielen.

III. Kapitel: Die Gleichförmigkeit mit Christus, =

15. Wer aller Wohlgefallen wünscht, suche nicht seinen Nutzen, sondern den der großen Mehrheit, wie ihn Paulus suchte. Denn das heißt Christus gleichförmig werden: nicht nach fremdem Gute auslangen, nichts vom Nächsten ergattern, um es sich anzueignen. Christus der Herr nämlich, da er doch in Gottes Gestalt war, entäußerte sich, so daß er Menschengestalt annahm, um sie mit den Tugendschätzen seines Wirkens zu bereichern. Du nun willst den berauben, den Christus ausstattete? Du willst den ausziehen, den Christus bekleidete? Denn das tust du, wenn du zum Nachteil des anderen deine eigenen Glücksgüter zu mehren trachtest.

ja der bloße Name Mensch,

16. Bedenke, o Mensch, woher du deinen Namen bekommen hast! Von der Erde doch, die niemand S. 212 etwas nimmt, sondern allen alles gibt und allen Lebewesen ihre mannigfaltigen Früchte zum Genusse darbietet. Daher der Name Menschlichkeit für jene besondere, dem Menschen eignende Tugend, die sich dem Nebenmenschen hilfreich erweist.

seine soziale Stellung als Glied der menschlichen Gesellschaft,

17. Schon die Gestalt deines Leibes und die Tätigkeit deiner Glieder mag dich belehren. Maßt sich etwa ein Glied an dir die Dienste eines anderen an? Maßt sich das Auge den Dienst des Mundes, oder der Mund den Dienst des Auges, oder die Hand den Dienst der Füße, oder der Fuß den Dienst der Hände an? Ja selbst die rechte und die linke Hand haben vielfach ihre unterschiedlichen Dienste, so daß es naturwidrig wäre, würde man die Tätigkeit der beiden vertauschen. Eher ließe sich der ganze Mensch verkehren als die Dienste seiner Glieder: wenn man mit der Linken Speise nähme, oder mit der Rechten eine Tätigkeit der Linken verrichtete, wie die Beseitigung von Speiseresten, es würde denn der Notfall es erfordern.

18. Setze den Fall und gib dem Auge die Kraft, daß es dem Haupte den Sinn, den Ohren das Gehör, dem Geiste die Gedanken, der Nase den Geruch, dem Munde den Geschmack nehme und sich selbst aneigne: würde das nicht die ganze Anlage der Natur aufheben? Daher der schöne Ausspruch des Apostels: „Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo wäre das Gehör? Wenn der ganze Leib Gehör wäre, wo wäre der Geruch? Alle sind wir sonach ein Leib und dessen verschiedene Glieder, doch alle dem Leibe notwendige Glieder. Denn es kann nicht ein Glied vom anderen sagen: es ist mir nicht vonnöten. Vielmehr sind sogar die anscheinend schwächeren Glieder weitaus die notwendigeren und erfordern zumeist die größere Sorgfalt für ihren Schutz. Und wenn ein Glied leidet, leiden alle mit ihm.

Naturgesetz

S. 213 '19. Wie sündhaft ist es also, einen irgendwie zu schmälern, mit dem wir Mitgefühl haben sollten, und einen zu hintergehen und zu schädigen, dem wir teilnehmenden Dienst schulden! Ist dies doch ein Naturgesetz, das uns zu jeglicher Menschlichkeit verpflichtet: Wir sollen gegenseitig, einer dem andern, als Glieder eines Leibes zu Diensten stehen und nicht glauben, uns irgendeine Schmälerung erlauben zu dürfen, nachdem schon das Nichthelfen wider das Naturgesetz verstößt. Denn also treten wir ins Leben, daß zwischen den Gliedern Übereinstimmung herrscht, eines dem anderen anhängt, in gegenseitiger Dienstleistung untereinander Willfährigkeit herrscht. Läßt es nur eines an seiner Verrichtung fehlen, werden alle anderen behindert. Risse beispielsweise die Hand das Auge aus, hätte sie sich nicht damit die Ausübung ihrer Tätigkeit abgeschnitten? Würde sie den Fuß verletzen, wie viele ersprießliche Handlungen würde sie sich selbst versagen! Wie unvergleichlich schlimmer wäre die Schädigung des ganzen Menschen als die eines Gliedes! Liegt nun in einem Gliede die Verletzung des ganzen Leibes vor, so wird auch in einem Menschen die Gemeinschaft der ganzen Menschheit untergraben: man verletzt die Natur des Menschengeschlechtes und die Gemeinschaft der heiligen Kirche, die durch die Einheit des Glaubens und der Liebe zu einem fest verbundenen und gefügten Leibe ersteht. Auch wird es Christus den Herrn, der für alle gestorben ist, schmerzen, wenn er den Preis seines Blutes vereitelt sieht.

wie göttliches

20. Lehrt uns doch auch das Gesetz des Herrn selbst die Norm festhalten, den Nächsten nicht um des eigenen Vorteils willen zu benachteiligen, wenn es gebietet: „Verrücke die Grenzen nicht, die deine Väter gesetzt haben!“; wenn es befiehlt, man solle das herumirrende Kalb seines Freundes zurückbringen; wenn es auf Diebstahl die Todesstrafe setzt; wenn es S. 214 verbietet, den Taglöhner um den schuldigen Lohn zu betrügen; wenn es die Rückzahlung des Geldes ohne Zinsforderung verlangte. Dem Mittellosen zu Hilfe zu kommen, ist Menschlichkeit; Hartherzigkeit hingegen ist es, mehr zu erpressen, als man hingegeben hat. Denn wenn er deshalb deiner Hilfe bedurfte, weil er nicht imstande war, aus eigenen Mitteln eine Heimzahlung zu leisten: wäre es nicht gottlos, unter dem Scheine der Menschlichkeit von einem, der außerstande war, eine geringere Summe heimzuzahlen, eine größere zu fordern? Du willst einem anderen einen Schuldner vom Halse schaffen, um ihn zum eigenen zu verurteilen: und das willst du Menschlichkeit nennen, wo Unrecht auf Unrecht sich häuft?

und staatliches Gesetz

21. Das haben wir vor den übrigen lebenden Wesen voraus, daß die einen Arten von ihnen nichts von einem Mitteilen wissen, die wilden Tiere aber auf Raub ausgehen, der Mensch mitteilsam ist. Daher des Psalmisten Wort: „Der Gerechte ist mitleidig und teilt aus“. Wohl gibt es Wesen, denen auch die wilden Tiere etwas zutragen. Sie nähren ja durch Zutragen ihre Brut. Und auch die Vögel atzen ihre Jungen mit Speise. Dem Menschen allein aber war es verliehen, allen Nahrung zu reichen, als wären sie die Seinigen. Er schuldet das schon kraft des Naturgesetzes. Wenn nun schon ein Nichtgeben pflichtwidrig wäre, wie könnte eine Benachteiligung erlaubt sein? Belehren uns nicht auch die Gesetze hierüber? Verlangen sie doch in erhöhtem Maße Rückerstattung des Schadens, der einem unter persönlicher oder unter Sachverletzung zugefügt wurde, um so den Dieb, sei es durch Strafen von Schädigung abzuschrecken, sei es durch Geldbuße davon zurückzuhalten.

verbieten, den Nächsten um des eigenen Vorteils willen zu benachteiligen

22. Nimm jedoch den Fall, es wäre einer imstande, vor Strafe sich nicht zu fürchten, oder über die Strafe sich lustig zu machen: wäre es deshalb für jemand S. 215 geziemend, dem Nächsten etwas zu entwenden? Das wäre das Laster der Sklaven, heimisch im niedrigsten Stande, so naturwidrig, daß es scheinen möchte, daß mehr die Not hierzu nötigte, als die Natur riet. Sklavenart ist heimlicher Diebstahl, der Reichen Art öffentliche Erpressung.

23. Was aber wäre so naturwidrig, als die Schädigung des Nächsten um eines eigenen Vorteiles willen, da doch das natürliche Gefühl einem die Pflicht nahelegt, auf alle seine Sorge auszudehnen, für sie Beschwerden auf sich zu nehmen, der Mühe sich zu unterziehen; da es für jeden als rühmlich gilt, wenn er unter eigenen Gefahren für die Ruhe und den Frieden der Allgemeinheit eintritt; jeder es für viel edler erachtet, wenn er lieber den Untergang des Vaterlandes denn eigene Gefahren abwendete; es für vorzüglicher hält, daß er sein Wirken dem Vaterlande weihte, statt unter tausend Genüssen in Muße ein ruhiges Leben zu führen?

IV. Kapitel

Jede Benachteiligung des Nächsten ist ein Verstoß gegen das natürliche

24. Daraus folgt nun, daß der Mensch, der in seiner natürlichen Anlage die Weisung trägt, der Natur zu folgen, unmöglich dem Nächsten schaden darf; daß der Vorteil, den er zu erlangen glaubt, wenn er einen schädigt, die Natur verletzt und nicht so groß ist als der Nachteil, der ihm daraus ersteht. Welch schwerere Strafe gäbe es denn als ein wundes Gewissen im Innern? Welch strengeres Gericht als das eigene, kraft dessen jeder sich vor sich selbst schuldig weiß, sich selbst anklagt, daß er in unwürdigem Verhalten dem Bruder Unrecht getan hat? Die Schrift verurteilt das nicht wenig scharf mit den Worten: „Aus dem Munde der Toren dringt die Rute der Schmach“. Der Torheit S. 216 wird sonach der Mensch geziehen, der Schmach zufügt. Ist das nicht mehr zu fliehen als der Tod, als Verlust, als Not, als Verbannung, als schmerzliche Krankheit? Wer wollte denn ein Leibesgebrechen oder einen Vermögensverlust nicht geringer anschlagen als ein Gebrechen der Seele oder die Einbuße des guten Namens?

25. So hat denn, wie sich klar ergibt, jedermann darauf zu sehen und daran festzuhalten, daß nur das, was der Gesamtheit nützt, zugleich dem einzelnen frommt, und darf nichts für vorteilhaft erachten, was nicht gemeinnützig ist. Wie könnte denn auch das, was allen zum Schaden ist, dem einzelnen von Nutzen sein? Ich wenigstens glaube nicht, daß einer, der der Allgemeinheit nicht nützt, sich selbst nützen kann. Denn wenn es nur ein Naturgesetz für alle gibt, dann gibt es doch auch nur einen Nutzen für alle; dann sind wir durch das Naturgesetz zur Sorge für alle verpflichtet. Wer also für den Nächsten, wie es naturgemäß ist, gesorgt wissen will, dem liegt es fern, ihm wider das Naturgesetz zu schaden.

26. Wenn die Kämpfer, die in der Rennbahn laufen, wie es heißt, derart geschult und angeleitet werden, daß jeder durch Schnelligkeit, nicht durch Übervorteilung das Ziel anstreben und durch möglichst flinkes Laufen dem Ziel entgegeneilen soll, ohne sich zu erdreisten, dem anderen ein Bein zu stellen oder mit der Hand ihn zu Fall zu bringen: wieviel mehr müssen wir in diesem unseren Lebenslaufe ohne Trug und Übervorteilung des Nächsten den Sieg anstreben?

und christliche Sittengesetz. (Forts.)

27. Manche werfen die Frage auf, ob ein Weiser, wenn er bei einem Schiffbruch einem Nichtweisen ein Brett entreißen könnte, es müsse. Ich nun pflichte, ob es auch für das Gemeinwohl zweckdienlicher S. 217 erscheinen mag, daß lieber ein Weiser als ein Unweiser dem Schiffbruch entgehe, gleichwohl nicht der Meinung zu, daß ein gerechter und weiser Christ sich sein Leben um den Preis des Unterganges eines anderen sich zu erhalten suchen soll. Darf er doch selbst im Fall, daß er einem bewaffneten Räuber in die Hand fällt, dem Schlagenden den Schlag nicht zurückversetzen, um nicht bei der Verteidigung seines Lebens die Liebe zu verletzen. Hierüber steht in den Evangelienschriften der klare und deutliche Ausspruch: „Stecke dein Schwert ein! Denn jeder, der mit dem Schwerte schlägt, wird mit dem Schwerte geschlagen werden“. Wer wäre ein verabscheuungswürdigerer Räuber als der Häscher, der gekommen war, Christus zu töten? Doch Christus wollte sich nicht um den Preis der Verwundung seiner Verfolger verteidigen lassen: er, der durch seine Wunden alle heilen wollte.

28. Warum wolltest du dich denn für besser halten als den Nächsten? Ist es doch Christenart, dem anderen den Vorzug vor sich zu geben, nichts sich anzumaßen, keine Ehre für sich in Anspruch zu nehmen, keinen Preis für sein Verdienst sich zu verlangen. Ferner warum wolltest du es dir nicht zur Gepflogenheit machen, lieber eigenen Nachteil zu erleiden, als fremden Vorteil an dich zu reißen? Was wäre so naturwidrig, als mit dem eigenen Besitz nicht zufrieden zu sein, nach fremdem Gut zu streben, schimpflich danach zu fahnden? Denn ist das Sittlichgute naturgemäß — alles hat ja Gott überaus gut gemacht —, so ist doch das Schändliche das Gegenteil davon. Es läßt sich darum zwischen dem Sittlichguten und dem Schandbaren kein Bund eingehen, da sie sich nach dem Naturgesetze gegenseitig ausschließen.

V. Kapitel

Der wahre Weise handelt auch im geheimen recht.

S. 218 29. Doch um nun auch in diesem Buche ein Ziel uns zu setzen, gleichsam einen Endpunkt für unsere Abhandlung, auf den wir mit unserem Satz, nur das Sittlichgute sei erstrebenswert, hinauszielen: so handelt der Weise in allem voll Aufrichtigkeit, ohne Trug, und tut, auch wenn er verborgen bleiben kann, nichts, worin er sich irgendwie in Schuld verstricken würde. Denn eher als vor anderen, fühlt er sich vor sich selbst schuldig; und schwerer wiegt bei ihm die Beschämung vor dem Gewissen als jene, welche das Offenkundigwerden einer Schandtat mit sich führt. Das können wir nicht nur an erdichteten Fabeln, wie die Philosophen es bei ihren Besprechungen tun, sondern an völlig wahren Beispielen von gerechten Männern aufzeigen.

Zum Beweis dessen bedarf es nicht der Erdichtung der Gygessage,

30. Ich brauche also keinen Erdspalt erdichten, indem die Erde auf angebliche heftige Regenschauer hin zerriß und auseinanderbarst. Gyges soll hier nach Plato hinabgestiegen und auf jenes fabelhafte Roß aus Erz gestoßen sein, das an seinen Seiten Türen hatte. Sogleich nach Öffnung derselben habe er einen goldenen Ring am Finger eines Toten bemerkt, dessen entseelter Leichnam daselbst lag, und aus Goldgier den Ring genommen. Da er sich aber zu des Königs Hirten, zu deren Zahl er selbst gehörte, zurückbegeben hatte, sah er, als er einmal zufällig die Fassung jenes Ringes nach der flachen Hand gedreht hatte, seinerseits alle, S. 219 während er selbst niemand sichtbar war; sodann aber, als er den Ring an seinen Platz zurückgedreht hatte, ward er wiederum allen sichtbar. Mit diesem Wunder vertraut, nahte er mit Hilfe des Ringes der Königin und entehrte sie gewaltsam, tötete den König und ermordete die übrigen, die er töten zu müssen glaubte, um ihm nicht hinderlich im Wege zu stehen, und erlangte so das lydische Königreich.

31. Gib, so fordert man, diesen Ring einem Weisen, daß er im Fall eines Fehltrittes mit Hilfe desselben verborgen bleiben könne! Er wird die Befleckung der Sünde nicht weniger fliehen, als wenn er nicht verborgen bleiben könnte. Denn nicht der Schlupfwinkel, sondern die Schuldlosigkeit verbürgt dem Weisen die Zuversichtlichkeit seiner Straffreiheit. So ist denn auch „das Gesetz nicht dem Gerechten auferlegt, sondern dem Ungerechten“. Denn der Gerechte hat zum Gesetz seinen Geist und zur Norm seine Rechtlichkeit und Gerechtigkeit. Darum hält er sich nicht aus Furcht vor Strafe, sondern kraft der Norm des Sittlichguten von Schuld fern.

32. So laßt uns denn, um auf unseren Gegenstand zurückzukommen, nicht fabelhafte Beispiele an Stelle wahrer, sondern wahre an Stelle fabelhafter vorführen! Wofür hätte ich denn vonnöten, einen Erdspalt, ein ehernes Roß und einen goldenen Ring zu erdichten, der am Finger eines Toten gefunden worden sei, einen Ring, dessen Kraft so groß sei, daß der, welcher ihn ansteckte, nach Belieben, wann er wolle, sichtbar erscheinen, wann er nicht wolle, dem Blick der Anwesenden sich entziehen könne, so daß er, obschon gegenwärtig, unsichtbar bleibe? Auf die Frage zielt doch die Fabel ab, ob der Weise auch dann, wenn ihm jener Ring zur Verfügung stünde, mit dem er seine Schandtaten verbergen und eine Krone gewinnen könnte, gleichwohl nicht sündigen wollte und die verbrecherische Befleckung für schlimmer halten würde als die qualvollen S. 220 Strafen hierfür; oder aber ob er die Straflosigkeit, die in Aussicht stünde, zur Begehung eines Verbrechens ausnützen würde. Was hätte ich, so wiederhole ich, einen erdichteten Ring vonnöten, da ich aus der Geschichte zeigen kann, wie ein weiser Mann, da er sah, daß er im Fall der Versündigung die Möglichkeit nicht bloß zum Verborgenbleiben in der Sünde, sondern auch zur Erlangung der Herrschaft hatte, während er umgekehrt im Fall der Nichtbegehung des Verbrechens augenscheinlich für sein Leben Gefahr lief, lieber zur Meidung des Verbrechens die Lebensgefahr der Schandtat vorzog, mit der er sich die Herrschaft hätte verschaffen können?

sondern genügt der Hinweis auf wahre Begebenheiten aus der Geschichte Davids

33. David nämlich hat, als er vor König Saul floh, weil der König mit auserlesenen dreitausend Mann in der Wüste ihm nach dem Leben strebte, nicht bloß seinerseits dem Könige, als er in dessen Lager eindrang und ihn schlafend antraf, nichts zuleide getan, sondern ihn sogar geschützt, daß er von keinem anderen, der zugleich eingedrungen war, ums Leben gebracht würde. Denn als Abisai zu ihm sprach: „Heute hat der Herr deinen Feind in deine Hände geliefert, und nun will ich ihn töten“, erwiderte er: „Vernichte ihn nicht; denn wer wird an den Gesalbten des Herrn seine Hand legen und rein bleiben?“ Und er fügte bei: „So wahr der Herr lebt, wenn der Herr ihn nicht schlägt, oder wenn seine Stunde nicht gekommen ist, daß er sterbe, oder wenn er nicht in den Kampf geht und mir sich gegenüberstellt, so bewahre mich der Herr, daß ich meine Hand an den Gesalbten des Herrn lege“.

34. So ließ er denn nicht zu, daß man ihn tötete, sondern nahm nur die Lanze zu seinen Häupten und das Trinkgefäß hinweg. Während alle schliefen, verließ er das Lager, ging hinüber auf die Spitze eines S. 221 Berges und begann die Trabanten des Königs und allen voran dessen Kriegsobersten Abner zu beschuldigen, daß er seinem König und Herrn so gar keine treue Wache angedeihen lasse; er möge ferner zeigen, wo die Lanze des Königs und das Trinkgefäß zu dessen Häupten wären. Und er gab sogar auf die Aufforderung des Königs die Lanze zurück. „Und der Herr“, so fügte er hinzu, „vergelte jedem seine Gerechtigkeit und seine Treue, so wie der Herr dich heute in meine Hände gegeben hat, und ich meine Hand nicht an den Gesalbten des Herrn legen wollte“. Während er dies sprach, mußte er doch dessen Nachstellungen fürchten, seinen Wohnsitz mit der Verbannung vertauschen und fliehen. Und dennoch ging ihm sein Wohl nicht über seine Schuldlosigkeit. Er hatte, obschon sich ihm bereits zum zweiten Mal die Möglichkeit bot, den König zu töten, die vorteilhafte Gelegenheit nicht benützen wollen, die ihm, dem Fürchtenden, die Sicherheit des Lebens, dem Verbannten die Königskrone bot.

35. Wo bedurfte Johannes des gygeischen Ringes? Hätte er geschwiegen, wäre er von Herodes nicht getötet worden. Sein Schweigen hätte ihm den Vorteil gebracht, am sichtbaren Leben zu bleiben und nicht ermordet zu werden. Weil er aber nicht bloß keine persönliche Sünde zum Schutz seines Lebens zuließ, sondern nicht einmal eine fremde Sünde dulden und ertragen konnte, darum beschwor er selbst die Ursache zu seiner Ermordung herauf. Sie, die von jenem Gyges leugnen, daß er dank jenem Ringe verborgen bleiben konnte, können sicherlich nicht leugnen, daß jener die Möglichkeit hatte, zu schweigen.

36. Aber entspricht auch der Fabel keine Wirklichkeit, hat sie doch den Sinn, daß der Gerechte, ob er auch verborgen bleiben könnte, dennoch die Sünde meidet, als könnte er nicht verborgen bleiben; und daß er, S. 222 wenn nicht mit dem Ringe angetan, seine Person, so doch, mit Christus angetan, sein Leben verborgen hält nach des Apostels Wort: „Unser Leben ist mit Christus verborgen in Gott“. Niemand suche denn im Diesseits zu glänzen! Niemand maße sich etwas an! Niemand poche auf sich! Christus wollte hier keine Anerkennung, wollte nicht, daß sein Name im Evangelium gepriesen werde, solange er auf Erden weilte. Er kam, um vor dieser Welt sich zu verbergen. So laßt denn auch uns nach dem Beispiel Christi unser Leben verborgen halten! Laßt uns Prahlerei fliehen, nicht nach Lob haschen! Besser ist es, hier in Niedrigkeit, dort in Herrlichkeit zu sein. „Wenn Christus erscheint“, so heißt es, „dann werdet auch ihr mit ihm erscheinen in Herrlichkeit“.

VI. Kapitel

Fort mit Preistreiberei und Lebensmittelhinterziehung in der Zeit der Teuerung! Zurückweisung von Einwendungen und Beschönigungen. ===

37. Nicht soll das Nützliche über das Sittlichgute, sondern das Sittlichgute über das Nützliche den Sieg davontragen. Ich meine unter dem Nützlichen das, was nach der gewöhnlichen Auffassung darunter verstanden wird. Habsucht soll ertötet werden, Begehrlichkeit ersterben. Ein Heiliger bekennt, sich deshalb nicht mit Handel befaßt zu haben, weil die höheren Preise, die man erstrebt, nicht die Frucht der Ehrlichkeit, sondern der Geriebenheit sind. Und ein anderer spricht: „Wer S. 223 nach Getreidepreisen Jagd macht, ist beim Volke verflucht“.

38. Der Sinn steht fest. Er läßt für Wortstreit keinen Raum. Eine solche Art Wortgezänk pflegen die Sprüche zu sein, die der eine macht: der Ackerbau gelte doch bei allen für löblich; die Früchte der Erde wüchsen sonder Falsch; je mehr Mühe einer auf die Aussaat verwende, um so mehr Lob verdiene er; der fleißigeren Bewirtschaftung mangle es nicht an reichlicheren Erträgnissen; man pflege doch mehr die Nachlässigkeit und Sorglosigkeit, mit der man ein Land unbebaut lasse, zu tadeln.

39. Ich habe, macht man geltend, mit besonderem Fleiß gepflügt, mit besonderem Eifer angebaut und guten Ertrag geerntet, mit besonderer Sorgfalt ihn in die Scheuer gebracht, treu aufbewahrt, umsichtig behütet. Jetzt zur Zeit der Hungersnot verkaufe ich ihn, komme den Hungernden zu Hilfe; verkaufe nicht fremdes, sondern mein Getreide, nicht teurer als die übrigen, sondern sogar billiger. Wie kann da von Trug die Rede sein, da doch viele in Gefahr kommen könnten, wenn sie nichts zu kaufen hätten? Will man eifriges Wirtschaften zum Verbrechen stempeln? Will man die Rührigkeit tadeln? Will man die Fürsorglichkeit schelten? Vielleicht mag er einwenden: Auch Joseph sammelte Getreide in Fülle, verkaufte es in der Zeit der Teuerung. Will man einen zu noch teuererem Einkauf zwingen? Will man gegen den Käufer Gewalt anwenden? Jedem wird Gelegenheit zum Kaufe geboten, keinem geschieht Unrecht.

40. Gegen diese Ausführungen nun, wie sie jeder nach seiner Art vorbringt, erhebt sich ein anderer und spricht: Ja, gut ist der Ackerbau, der allen seine Früchte darbietet; der mit redlichem Fleiß die Fruchtbarkeit der Gefilde mehrt, ohne Trügerisches, ohne Falsches darein zu säen. Unstatthaftes irgendwelcher Art S. 224 würde denn auch mehr Nachteil stiften. Denn nur wer die Saat gut bestellt, wird eine bessere Ernte erzielen; und wenn er lauteres Weizenkorn sät, wird er auch reinere, lautere Frucht einheimsen. Nur ein fruchtbarer Boden gibt vielfältig zurück, was er aufgenommen hat; nur ein tüchtiger Acker pflegt seine Erzeugnisse mit Zinseszins heimzuzahlen.

41. Du darfst nun vom Ertrag der ergiebigen Scholle deiner Mühe Lohn erwarten, von der Fruchtbarkeit des fetten Bodens die gebührenden Einkünfte erhoffen. Warum willst du das rege Schaffen der Natur in Trug kehren? Warum ihre Erzeugnisse, die für alle da sind, neidisch dem menschlichen Gebrauch entziehen? Warum deren Fülle dem Volk verringern? Warum heuchlerisch Mangel vorschützen? Warum bewirken, daß die Armen sich lieber Unfruchtbarkeit wünschten? Denn wenn sie wegen deiner Preistreiberei, wegen deiner Getreidehinterziehung vom Segen der Fruchtbarkeit nichts spüren, wünschen sie sich lieber keine Erzeugnisse als die Geschäfte, die du mit der allgemeinen Teuerung machst. Dir kommt die Getreidenot und der Lebensmittelmangel erwünscht, du bedauerst reichliche Bodenerzeugnisse, klagst über allgemeine Fruchtbarkeit, trauerst über volle Getreideschuppen, hältst dich auf der Lauer, so oft ein dürftigerer Ertrag, ein spärlicheres Wachstum einfällt. Freudig begrüßt du den Fluch, der deinen Wünschen lächelte, daß niemand die geringsten Erzeugnisse erzielte. Da ist deine Ernte gekommen, dir zur Wonne; da raffst du dir aus dem allgemeinen Elend deine Schätze zusammen. Und das heißt du wirtschaften, das nennst du Rührigkeit, was nur geriebene Schlauheit, listige Gaunerei ist! Und das nennst du Hilfeleistung, was nur nichtsnutzige Berechnung ist! Soll ich das Raub oder Wucher nennen? Wie beim Raub werden nur die günstigen Augenblicke erspäht, um als hartherziger, hinterhältiger Mensch in den ureigenen Besitz der Leute einzudringen. Man treibt den Wucherpreis hinauf und gefährdet dadurch in noch höherem Grade das Leben. Dir aber erwächst hundertfacher Ertrag aus der heimlich hinterzogenen S. 225 Erntefrucht. Du hältst wie ein Wucherer das Getreide zurück und schraubst als Verkäufer dessen Preis in die Höhe. Wozu gegen jedermann die schlimm gemeinte Versicherung, die Hungersnot werde künftig noch größer, weil es angeblich keine Früchte mehr gebe; weil ein noch größeres Mißjahr folge? Dein Gewinst geht zu Schaden der Allgemeinheit.

42. Der heilige Joseph öffnete jedermann die Scheune, verschloß sie nicht. Es war ihm auch nicht um wucherische Getreidepreise zu tun, sondern um die Erschließung einer nachhaltigen Hilfsquelle. Für sich erwarb er nichts, sondern traf in fürsorglicher Anordnung Vorkehrung, wie sich auch für künftig die Hungersnot überwinden ließe.

43. Ihr habt gelesen, wie der Herr Jesus im Evangelium einen solchen Getreidepreiswucherer bloßstellt. Sein Besitz trug ihm reiche Früchte ein, und gleichwohl sprach er, als wäre er in Nöten: „Was soll ich tun? Ich habe keinen Raum mehr, um etwas unterzubringen. Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen“. Und doch konnte er nicht wissen, ob nicht seine Seele schon in der folgenden Nacht von ihm abverlangt würde. Er wußte nicht, was er tun solle; er schwebte in der ungewissen Angst, es möchten ihm die Lebensmittel ausgehen; die Scheunen faßten das Getreide nicht — und er glaubte darben zu müssen.

44. Mit Recht nun urteilt Salomo: „Wer das Getreide zusammenhält, wird es (fremden) Völkern hinterlassen“, nicht den Erben, weil der Ertrag der Habsucht nicht in den Rechtsbesitz von Nachfolgern übergeht. Was nicht rechtmäßig erworben wird, wird wie vom Winde unter fremde Besitzer zerstreut, die es an sich reißen. Und er fügte bei: „Wer wucherisch das Getreide aufkauft, ist verflucht beim Volke; der Segen desselben S. 226 aber ruht auf dem Haupte dessen, der es verteilt“. Es schickt sich wohl, wie du siehst, den Getreideverteiler, nicht den Preisjäger zu machen. Es ist das kein Nutzen, bei dem das Sittlichgute mehr Einbuße als das Nützliche Zuwachs erhält.

VII. Kapitel

Die Fremden sollen zur Zeit einer Hungersnot nicht aus der Stadt verwiesen werden

45. Aber auch denen darf man keineswegs beipflichten, welche den Fremden den Aufenthalt in der Stadt verbieten wollen, sie in dem Augenblick, da sie ihnen helfen sollten, fortjagen, ihnen den Anteil an der gemeinsamen Mutter (Erde) versagen, deren Erzeugnisse, die für alle hervorgebracht sind, verweigern, die bereits eingegangene Lebensgemeinschaft mit ihnen abbrechen, in der Zeit der Not mit ihnen den Unterhalt nicht teilen wollen, nachdem sie im gemeinschaftlichen Rechtsverkehr mit ihnen gestanden. Die wilden Tiere stoßen ihresgleichen nicht aus: und der Mensch will den Menschen ausstoßen! Tiere und Bestien betrachten die Nahrung, welche die Erde darbietet, als allen gemeinsam; sie sind auch hilfreich gegen ihresgleichen: der Mensch will feindselig sein, dem nichts Menschliches fremd sein sollte!

Richtiger handelte auf den Rat eines alten Stadtbeamten

46. Wieviel richtiger handelte jener Stadtpräfekt! Da er schon bejahrt war und die Bürgerschaft Hungersnot litt und das Volk, wie es unter solchen Umständen zu gehen pflegt, verlangte, es sollten die Fremden aus S. 227 der Stadt ausgewiesen werden, berief er, da die Stadtverwaltung vor allen anderen gerade seiner Obsorge anvertraut war, die angesehenen und wohlhabenderen Männer zusammen und forderte sie auf, zum allgemeinen Besten Rats zu pflegen. Dabei äußerte er, wie grausam es sei, die Fremden auszuweisen; wie unmenschlich, einem Sterbenden die Nahrung vorzuenthalten. Keinen Hund lassen wir ohne Futter vor unserem Tische, den Menschen stoßen wir hinaus. Wie zwecklos ferner gehen ganze Volksmassen als Opfer der unseligen Hungerpest der Welt verloren! Wie viele gehen der Stadt verloren, die derselben, sei es für die Lebensmittelbeschaffung, sei es für den Handelsmarkt, ihre helfenden Dienste zu leihen pflegten! Niemand ist mit dem Hunger anderer geholfen. Er kann den Tag möglichst lange fristen, der Not nicht steuern. Im Gegenteil, wenn so viele Landbebauer mit Tod abgehen, so viele Ackersleute dahinsterben, werden auch die Getreidemittel für die Zukunft dahinschwinden. Wir weisen daher nur jene aus, die uns den Lebensunterhalt zu beschaffen pflegen. Jene wollen wir in der Stunde der Not nicht nähren, die uns jederzeit mit Nahrung versehen haben? Wieviel wird uns selbst noch in dieser Zeit von ihnen geboten! „Nicht vom Brote allein lebt der Mensch“. Unsere eigenen Leute befinden sich daselbst, so manche sind sogar unsere Verwandten. Vergelten wir ihnen, was wir empfangen haben!

47. Doch wir fürchten hierdurch die Not zu vermehren. Vor allem findet Barmherzigkeit nimmer leere, sondern hilfreiche Hände. Sodann wollen wir die Getreidemittel, die für dieselben aufzuwenden sind, durch eine Sammlung aufbringen, mit Gold erstehen. Oder müssen wir nicht offenbar, wenn jene Landbebauer verschwinden, andere um Geld dingen? Wieviel billiger kommt es, einen Landbebauer zu ernähren als zu dingen! Wo dann Ersatz hernehmen? Wo den neuen Ackersmann auftreiben? Wenn du ihn auftreibst, nimm hinzu, daß du einen (des Feldbaues) Unkundigen, der S. 228 eine andere Beschäftigung gewohnt war, wohl der Zahl, nicht der Arbeit nach als Ersatz rechnen kannst.

in dieser Beziehung Mailand (48)

48. Wozu noch mehr? Man sammelte Gold und brachte Getreide zusammen. So griff er den Vorrat der Stadt nicht an und versorgte die Auswärtigen mit Nahrung. Wie sehr empfahl dies den so heiligmäßigen Greis bei Gott! Wieviel Ruhm trug es ihm bei den Menschen ein! Das war ein in Wahrheit bewährter Großer, der wirklich auf die Bevölkerung der ganzen Provinz zeigen und zum Kaiser sprechen konnte: Diese alle habe ich dir erhalten; sie verdanken ihr Leben deinen Ratsherren; deine Behörde hat sie dem Tode entrissen.

als Rom, das durch solche Ausweisung ebensoviel Unrecht wie Schaden stiftete

49. Wie unvergleichlich zweckmäßiger war dies gegenüber dem, was jüngst zu Rom geschah! Leute, die bereits den größten Teil ihres Lebens dortselbst zugebracht hatten, jagte man aus der so weitausgedehnten Stadt. Mit Tränen in den Augen zogen sie mit ihren Kindern fort, deren Verbannung man beweinte, weil sie als Bürger nicht davon hätten betroffen werden sollen. Zwischen so vielen wurden die Bande der Verwandtschaft zerschnitten, die Bande der Schwägerschaft zerrissen. Und doch hatte ein fruchtbares Jahr gelächelt. Die Stadt allein nur bedurfte der Getreideeinfuhr. Es hätte geholfen werden können, wenn man von den Bewohnern Italiens, deren Kinder man vertrieb, Getreide angefordert hätte. Eine größere Schmach kann es nicht geben: einen wie einen Landfremden forttreiben und gleichsam den eigenen Bruder hinausstoßen! Wie darfst du ihn fortjagen, der sich vom Seinigen nährt? Wie darfst du ihn fortjagen, der dich ernährt? Den Sklaven behältst du, den Bruder stößt du fort. Das Getreide nimmst du entgegen, Mitgefühl bringst du nicht entgegen. Den Lebensunterhalt erpreßt du, Gnade läßt du nicht ergehen.

50. Wie abscheulich, wie nutzlos ist das! Wie könnte denn auch etwas von Nutzen sein, was sich nicht geziemt? Um wie viele Hilfsmittel ward Rom unlängst S. 229 betrogen, die ihm von seiten derer zuzufließen pflegten, die ihm einverleibt waren! Es stand ebenso in seiner Macht, dieselben nicht auszuweisen, wie günstige Winde und die erhoffte Schiffszufuhr abzuwarten und so der Hungersnot zu entgehen.

51. Wie gut und nützlich war hingegen das oben erwähnte Vorgehen! Was wäre denn auch so geziemend und gut, als daß den Dürftigen durch die Beiträge der Reichen geholfen, den Hungernden der Lebensbedarf gereicht werde und keinem es an Nahrung fehle? Was wäre so nützlich, als daß dem Felde der Bebauer erhalten bleibe und das Landvolk nicht aussterbe?

Nur das Gute ist zugleich nützlich

52. Das Sittlichgute ist sonach nützlich und das Nützliche sittlichgut; und umgekehrt das Schädliche ungeziemend, das Unziemliche aber zugleich schädlich.

VIII. Kapitel

Auch nach Gottes Urteil ist nur das Sittlichgute nützlich, das Gegenteil schädlich und sträflich, wie aus der Geschichte Josues und Kalebs ersichtlich ist

53. Wie hätten unsere Altvordern je der Knechtschaft entrinnen können, wenn sie nicht die Dienstbarkeit gegen den König der Ägypter nicht bloß für schändlich, sondern auch für schädlich gehalten hätten?

54. Desgleichen meldeten Jesus und Kaleb, die zur Erkundung des Landes ausgesendet waren, das Land sei wohl fruchtbar, werde aber von sehr wilden Volksstämmen bewohnt. Aus Angst vor dem Kriege entmutigt, wollte das Volk auf den Besitz jenes Landes verzichten. Die ausgesandten Kundschafter Jesus und Kaleb versicherten überzeugend, das Land sei nutzbringend und hielten es für ungeziemend, vor den S. 230 Volksstämmen zurückzuweichen. Sie zogen es vor, sich lieber steinigen zu lassen — damit drohte das Volk — als vom Guten zu lassen. Die anderen rieten ab. Das Volk weigerte sich. Es meinte, es werde mit gar gefährlichen und grimmigen Völkern zum Kriege kommen; es müsse im Kampfe fallen; ihre Weiber und Kinder würden ein Opfer des Raubes werden.

55. Da entbrannte des Herrn Zorn, so daß er alle dem Untergange weihen wollte. Doch auf des Moses Bitte milderte er das Urteil und verschob die Rache. Er hielt dafür, die Treulosen seien hinlänglich gestraft, auch wenn er einstweilen Schonung übe und die Ungläubigen nicht schlage. Doch zu jenem Lande, das sie verschmäht hatten, sollten sie ob ihres Unglaubens nicht gelangen; wohl aber sollten die Kinder und Weiber, die nicht gemurrt hatten und teils ihres Geschlechtes, teils ihres Alters wegen Nachsicht verdienten, das verheißene Erbe jenes Landes empfangen. So sanken denn auch alle, die seit zwanzig Jahren und darüber in der Wüste waren, leiblich dahin. Für die anderen aber ward die Strafe verschoben. Jene hingegen, die mit Jesus hinaufzogen und abraten zu sollen glaubten, starben, von unseliger Strafe getroffen, auf der Stelle. Jesus und Kaleb dagegen zogen mit dem Alter, bezw. dem Geschlechte, das keine Schuld traf, ins Land der Verheißung ein.

56. Der bessere Teil zog sonach die Ehre dem Wohle vor, der schlimmere das Wohl der Ehrenhaftigkeit. Gottes Urteil aber gab denen recht, die der Überzeugung lebten, daß das Tugendhafte dem Nützlichen vorgehe; jene hingegen verurteilte es, bei denen das ausschlaggebend war, was mehr dem Wohle als der Tugendhaftigkeit dienlich zu sein schien.

IX. Kapitel

Die Kleriker sollen sich vor Habsucht, ===

S. 231 57. Das Häßlichste ist, wenn man keine Liebe zur Tugendhaftigkeit hat, gleichsam geschäftsmäßig sein Sinnen und Trachten voll Unruhe und Sorge auf niederen Erwerb aus gemeinem Handel richtet, im Herzen von Habsucht entbrennt, Tag und Nacht nach der Schädigung fremden Vermögens lechzt, seinen Geist nicht zum Glanz der Tugendhaftigkeit erhebt, seinen Sinn nicht auf die Schönheit wahren Lobes lenkt.

insbesonders vor Erbschleicherei hüten

58. Daher die Erbschleichereien unter der Maske der Selbstlosigkeit und der Vornehmheit, doch im Widerspruch mit der christlichen Gesinnung. Denn alles, was künstlich herausgelockt und trügerisch ergattert wird, mangelt des Verdienstes der Ehrlichkeit. Selbst an denen, die keinen Kirchendienst übernommen haben, hält man Erbschleicherei für ungehörig. Wer an seinem Lebensende steht, soll selbst die Entscheidung haben und frei nach Gutdünken seine letztwilligen Verfügungen treffen, indem er nachher nichts mehr gut machen kann. Wäre es doch sittlich unstatthaft, anderen die bezüglichen Beträge, die ihnen gebühren oder für sie ausgeworfen sind, zu hintertreiben; geziemt es doch einem Priester oder Kirchendiener, womöglich jedermann zu nützen, niemand zu schaden.

und Vermittlungsdienste in Geldsachen ablehnen.

59. So empfiehlt es sich denn auch im Fall, daß man dem einen nicht nützen kann, ohne dem anderen zu schaden, lieber keinem zu helfen, als einem wehe zu tun. Es kann eben darum auch nicht Sache des Priesters sein, S. 232 in Geldsachen die Mittlerrolle zu spielen. Es läßt sich nämlich dabei nicht vermeiden, daß häufig der Teil, der den kürzeren zieht, glaubt, er sei durch die Schuld des Mittlers unterlegen, und den Beleidigten spielt. Pflicht des Priesters ist es, keinem schaden, allen nützen zu wollen: das Können aber steht nur bei Gott. In einer Sache, in der das Leben auf dem Spiele steht, einem schaden, dem man in der Gefahr zu helfen verpflichtet ist, geht nicht ohne schwere Sünde ab. Dagegen in einer Geldsache sich Haß zuziehen wollen, wäre Unverstand. Für das Leben des Menschen sind schwere Opfer wohl am Platz; selbst einer Gefahr dafür sich zu unterziehen, ist ehrenvoll. An der eben aufgestellten Norm soll denn im Priesteramte festgehalten werden. Der Priester schade niemand, selbst wenn er gereizt und durch irgendein Unrecht gekränkt wurde! Ein edler Mensch, der da gesprochen hat: „Wenn ich denen, die mir Böses vergolten, wieder vergolten habe“. Welcher Ruhm wäre es denn, einem nichts zuleid zu tun, der auch uns nichts zuleid getan hat? Das aber ist Tugend, wenn man als Beleidigter verzeiht.

Trotz Unrecht von seiten des Nächsten ist an der Norm des Sittlichguten gegen ihn festzuhalten. Beispiel Davids

60. Wie tugendhaft, daß David des Königs, seines Feindes, obwohl er ihm schaden konnte, lieber schonte! Wie vorteilhaft aber auch, weil es dem Nachfolger zugute kam, daß alle ihrem König Treue wahren, nicht anmaßend ihre Hand nach der Herrschaft ausstrecken, sondern sie achten lernten! So ward dem Sittlichguten der Vorrang vor dem Nützlichen, dem Nützlichen der Platz nach dem Sittlichguten eingeräumt.

61. Nicht genug, daß er desselben schonte. Er ging noch weiter und betrauerte und beweinte ihn bitterlich, da er im Kriege gefallen war, und klagte: „Ihr Berge von Gelboe, weder Tau noch Regen falle auf euch! Ihr Todesberge! Denn dort ward weggenommen die Schutzwehr der Helden, die Schutzwehr Sauls. Nicht mit Öl S. 233 und dem Blute der Verwundeten und aus dem Fett der Kriegführenden wurde er gesalbt. Der Pfeil Jonathas kehrte nicht zurück und das Schwert Sauls nicht leer wieder. Saul und Jonathas, die Lieblichen und Liebsten, die Unzertrennlichen im Leben, wurden auch im Tode nicht getrennt. Leichter wie Adler, stärker wie Löwen waren sie. Töchter Israels, weinet über Saul, der euch zu eurem Schmuck hinzu mit Purpur kleidete; der eure Gewänder mit Gold besetzte! Wie fielen doch die Helden inmitten der Schlacht! Jonathas ward tödlich verwundet. Ich trauere über dich, Bruder Jonathas, ein Bild mir von unvergleichlicher Schönheit! Wie Frauenliebe war deine Liebe mir zuteil. Wie fielen die Helden und sind zunichte die Waffen, die begehrenswerten!“

62. Welche Mutter würde ihr einziges Kind so beweinen, wie dieser seinen Feind beweinte? Wer würde einem Gönner so hohes Lob spenden, wie dieser es dem Gegner spendete, der nach seinem Haupte fahndete? Wie kindlich trauerte, wie innig seufzte er! Die Berge vertrockneten auf den Fluch des Propheten, und Gottes Kraft erfüllte des Fluchenden Spruch. So vollzogen die Elemente die Strafe für das Trauerspiel des Königsmordes.

und Naboths

63. Was aber soll man vom heiligen Naboth sagen? Was anders war die Ursache seines Todes als das Sittlichgute, das er im Auge behielt? Denn als der König von ihm den Weinberg forderte und Geld dafür anbot, wies er den Kaufpreis als eine Entehrung des väterlichen Erbes zurück und wollte einer solchen Schmach lieber mit dem Tode aus dem Wege gehen. „Das“, sprach er, „geschehe mir nicht vom Herrn, daß ich dir das Erbe meiner Väter gebe“, das heißt: so große Schmach komme nicht über mich; Gott verhüte die Erpressung einer so großen Schandtat! Nicht von den Weinstöcken ist die Rede; denn nicht an den Weinstöcken liegt Gott S. 234 und nicht an einem Stück Landes. Für das Recht der Väter tritt vielmehr sein Wort ein. Er hätte ja einen anderen Weinberg von denen des Königs nehmen und so dessen Freund bleiben können. In solcher Freundschaft pflegt man keinen geringen irdischen Gewinn zu erblicken. Doch was schändlich ist, so sagte er sich, ist offenbar nicht nutzbringend. Und er wollte lieber in Ehrenhaftigkeit Gefahr laufen, als einen Nutzen mit Schande erzielen. Den Nutzen im gewöhnlichen Sinn meine ich, nicht jenen, der zugleich den Vorzug des Sittlichguten in sich schließt.

64. Der König seinerseits hätte ja auch Erpressung üben können, aber er hielt sie für schamlos. Aber auch den Getöteten bedauerte er. Ebenso ließ der Herr ankündigen, daß sein unmenschliches Weib, das, des Sittlichguten vergessend, schändlichem Gewinn den Vorzug gab, die gebührende Strafe treffen sollte.

65. Schändlich ist jeglicher Trug. So ist denn selbst im Kleinen falsches Gewicht und trügerisches Maß verabscheuungswürdig. Wenn man aber den Trug auf dem Verkaufsmarkte, bei Handelsgeschäften mit Strafe belegt, kann er im Tugenddienste als unsträflich erscheinen? Salomo ruft aus: „Zu großes und kleines Gewicht und doppeltes Maß sind unrein vor Gott“. Auch im vorausgehenden warnte er: „Falsche Wage ist dem Herrn ein Greuel, das rechte Gewicht aber ist ihm genehm“.

X. Kapitel

Wie in allem, so ist auch bei Verträgen Betrug unerlaubt und strafbar. Etwaige Mängel des Kaufs- oder Vertragsgegenstandes müssen aufgedeckt werden,

S. 235 66. In allem geziemt sich Treue, berührt Gerechtigkeit angenehm, Billigkeit wohltuend. Was soll ich aber von den Verträgen überhaupt und vom Güteraufkauf, oder von den Vergleichen und Abmachungen im besonderen sprechen? Gibt es nicht Bestimmungen, wonach böswilliger Trug zu unterbleiben und derjenige, welcher auf Trug ertappt wird, doppelte Strafe zu gewärtigen hat? Überall ist hier die Rücksicht auf das Sittlichgute ausschlaggebend, das den Trug ausschließt, die Hintergehung verpönt. Mit Recht sprach daher der Prophet David mit den Worten: „Und er tat dem Nächsten nichts Böses an“, einen allgemein gültigen Grundsatz aus. Nicht allein also bei Verträgen, bei welchen vorschriftsmäßig auch die Mängel an den Verkaufsgegenständen angegeben werden müssen und welche, wenn sie der Verkäufer nicht angibt, selbst im Fall, daß er die Gegenstände bereits dem Käufer rechtlich gutschreiben ließ, wegen trügerischen Handelns null und nichtig sind, sondern überhaupt bei allem ist Trug zu meiden, der einfache Tatbestand aufzudecken, die Wahrheit anzugeben.

eine Forderung nicht sowohl der Juristen, als vielmehr der Patriarchen. Beispiel Josues und der Gabaoniter.

67. Diese alte Rechtsbestimmung über den Trug stammt aber nicht von den Juristen, sondern ist ein Grundsatz der Patriarchen. Klar und deutlich sprach das die göttliche Schrift in jenem alttestamentlichen Buch aus, das den Titel Jesus Nave (Josue) führt. Denn S. 236 als die Kunde zu den Völkern drang, beim Durchzug der Hebräer sei das Meer vertrocknet, aus dem Felsen sei Wasser geströmt, so vielen Tausenden des Volkes werde täglich in Fülle Nahrung vom Himmel geboten, die Mauern Jerichos seien auf den heiligen Posaunenschall, auf den Anlauf und das Geschrei des Volkes zusammengestürzt, der König der Gethäer ferner sei besiegt und bis zum Abend ans Holz gehängt worden: da fürchteten die Gabaoniter die starke Hand (Josues), nahten listig und stellten sich, als seien sie aus einem fernen Lande und hätten auf der langen Wanderung die Schuhe zerrissen, die Oberkleider zerschlissen, wobei sie die Stellen zeigten, die deren Abtragung verrieten; der Grund ihrer so großen Anstrengung aber sei ihr sehnlicher Wunsch, sich des Friedens mit den Hebräern würdig zu erweisen und Freundschaft mit ihnen zu schließen. Und sie begannen Jesus Nave um den Abschluß eines Bündnisses mit sich zu bitten. Und weil dieser des Landes noch unkundig war und dessen Bewohner nicht kannte, durchschaute er ihr listiges Vorgehen nicht, fragte auch den Herrn nicht, sondern schenkte ihnen voreilig Glauben.

68. So heilig war zu jenen Zeiten die Treue, daß man es nicht für möglich hielt, daß es Leute gebe, die betrügen. Wer möchte das an den Heiligen tadeln, wenn sie andere nach der eigenen Gesinnung beurteilen und, weil sie selbst Freunde der Wahrheit sind, nicht glauben, daß jemand lüge; nicht wissen, was betrügen heißt; gern glauben, was sie selbst sind, und was sie nicht sind, nicht einmal argwöhnen können? Daher Salomos Ausspruch: „Der Unschuldige glaubt jedem Wort“. Ihre Leichtgläubigkeit ist nicht zu tadeln, wohl aber ihre Güte zu loben. Vom Schadenzufügen nichts wissen, das heißt ein Schuldloser sein. Und wird er auch von jemand hintergangen, urteilt er doch gut über alle, weil er allen Glaubwürdigkeit zutraut.

S. 237 69. Durch diesen seinen frommen Sinn zur Vertrauensseligkeit verleitet, ging nun Jesus Nave den Bund ein, schloß Frieden und machte das Bündnis rechtskräftig. Sogleich nach der Ankunft in deren Lande jedoch entdeckte man die Täuschung, daß sie sich fälschlich für Fremdlinge ausgegeben hatten, während sie benachbart waren, und das Vätervolk begann über seine Überlistung zu ergrimmen. Jesus aber glaubte gleichwohl den Frieden, den er gewährt hatte, nicht wieder brechen zu sollen, weil er durch einen heiligen Eid bekräftigt war. Er wollte nicht, während er fremde Treulosigkeit der Schuld zieh, selbst treubrüchig werden. Doch strafte er sie mit der Auflegung einer niedrigeren Dienstleistung. Das Urteil fiel milder aus, hatte aber eine nachhaltigere Wirkung. Die Strafe für die vor alters begangene Hinterlist dauert nämlich fort in den Verrichtungen, in der erblichen Dienstleistung, die ihnen bis zum heutigen Tage auferlegt ist.

XI. Kapitel

Jede Art des Truges ist verpönt. Abschreckende Beispiele aus dem Leben,

70. Ich will nicht Notiz nehmen vom Fingerschnalzen und Tanzen eines nackt auftretenden Erbfolgers beim Antritt von Erbschaften: es ist ja männiglich bekannt; nicht von den zubereiteten Fischmengen aus einem erdichteten Fischfange, wodurch die Kauflust geködert werden sollte. Warum auch ließ sich der S. 238 Käufer als Genußmensch und Feinschmecker ertappen, um solchem Trug zum Opfer zu fallen?

71. Wofür soll ich von jenem lieblichen und stillen Aufenthalt in Syrakus und der Hinterlist jenes Siziliers sprechen, der einen Fremden antraf und denselben, als er merkte, daß er Lust zum Ankauf eines Parkes habe, zur Tafel in seinen Park lud; daß der Geladene zusagte und am nächsten Tage auch erschien; daß er dort eine große Menge Fische vorfand, eine mit reichlichen und ausgesuchten Speisen besetzte Tafel; daß vor den Augen der Tafelrunde, vor den Gartenanlagen, wo nie zuvor Netze ausgeworfen lagen, Fischer aufgestellt waren? Jeder brachte um die Wette seinen Fang den Schmausenden. Haufenweise lagen die Fische auf dem Tische, bei ihrem Aufhüpfen eine Augenweide für die Zecher. Der Gast wunderte sich über die Unmenge Fische und die Unzahl Kähne. Auf seine Frage erhielt er die Antwort, es sei dort eine Bucht. Des süßen Wassers wegen kämen zahllose Fische dorthin. Kurz, er reizte den Gast, ihm den Park — abzupressen: er ließ sich nötigen, obschon er dessen Verkauf wünschte, und nahm (anscheinend) schweren Herzens den Kaufpreis entgegen.

72. Am folgenden Tage kommt nun der Käufer in Begleitung von Freunden zu dem Parke. Er findet kein Fahrzeug. Auf seine Erkundigung, ob etwa die Fischer an diesem Tage Feiertag hätten, erhält er die Antwort: nein. Auch sei hier nie außer gestern gefischt worden. Welchen Grund zur Beschwerde wegen Übervorteilung hätte der Lebemensch, der so schimpflich nach Genüssen haschte, gehabt? Wer den Nächsten der Sünde zeiht, muß selbst von Sünde frei sein. Ich will darum solche Flausen nicht vor das Forum des kirchlichen S. 239 Gerichtes rufen, das ganz allgemein jedes Haschen nach schändlichem Gewinn verurteilt und mit kurzen Worten leichtfertiges und hinterlistiges Gebaren ausschließt.

73. Was soll ich denn von einem sagen, der auf Grund eines Testamentes, das er, wenn auch von anderen gefertigt, doch als gefälscht erkennt, Anspruch auf eine Erbschaft oder ein Vermächtnis erhebt und aus fremdem Verbrechen Nutzen zu ziehen sucht? Bestrafen doch sogar die staatlichen Gesetze einen, der sich wissentlich einer falschen Urkunde bedient, als Verbrecher. Die Norm der Gerechtigkeit aber ist bekannt: Es ziemt dem Guten nicht, von der Wahrheit abzuweichen, jemand ungerechten Schaden zuzufügen, irgendwelche Hinterlist damit zu verbinden oder Trug zu ersinnen.

74. Was ist bekannter als das Verhalten des Ananias? Er behielt vom Erlös seines Ackers, den er selbst veräußert hatte, trügerisch etwas zurück und legte einen Teilbetrag des Erlöses für die volle Summe den Aposteln zu Füßen. Es war ihm doch freigestellt, auch nichts anzubieten, und er hätte dies ohne Trug tun können. Aber weil er solchen unterlaufen ließ, trug er keinen Dank für seine Freigebigkeit davon, sondern erntete vielmehr Strafe für seine Falschheit.

75. Auch der Herr wies im Evangelium jene, die in Arglist ihm nahten, mit den Worten ab: „Die Füchse haben Gruben“; er befiehlt uns nämlich in Einfalt und Unschuld des Herzens zu leben. Desgleichen rügt David: „Wie ein scharfes Schermesser übtest du Trug“. Er beschuldigt den Verräter der Bosheit, insofern dieses S. 240 Instrument wohl zur Verschönerung des Menschen dient, so manchmal aber auch zur Verwundung. Wenn daher jemand nach dem Beispiele des Verräters Doeg Wohlwollen zur Schau trägt und dabei den Trugfaden knüpft, um einen, den er schützen sollte, dem Tode auszuliefern, so paßt auf ihn der Vergleich mit jenem Instrumente. Es verletzt gern bei vorhandener Trunkenheit sowie bei zitternder Hand. So beschwor jener vom Wein der Schlechtigkeit trunkene Mensch mit seiner unseligen verräterischen Anzeige für den Priester Abimelech den Tod herauf, weil derselbe einen Propheten (David) gastlich aufgenommen hatte, den der König, vom Stachel des Hasses gereizt, verfolgte.

XII. Kapitel

Ein unehrenhaftes Versprechen,

76. Rein und aufrichtig soll die Gesinnung sein. Schlicht sei darum die Rede, die einer vorbringt; in Heiligkeit trage er sein Gefäß; er täusche den Bruder nicht mit listigen Worten und mache kein unehrenhaftes Versprechen. Und wenn er eines gemacht hat, wäre es erträglicher, es nicht zu halten, als etwas Schändliches zu tun.

selbst in Eidesform, bindet nicht. So hatte der Schwur des Herodes,

77. Häufig bindet sich gar mancher selbst durch einen Eidschwur. Und obschon er merkt, das S. 241 Versprechen sollte nicht gegeben worden sein, löst er gleichwohl mit Rücksicht auf den Eid das Gelübde ein. Das haben wir oben in unserer Schrift beispielsweise von Herodes gezeigt, welcher der Tänzerin ein schimpfliches Versprechen machte und es grausam einlöste. Schimpflich war es, ein Reich für einen Tanz zu versprechen; grausam, um der Heiligkeit des Eides willen den Tod eines Propheten als Geschenk zu bieten. Wie unvergleichlich erträglicher wäre ein Meineid gewesen als ein solcher Eid, wenn man das überhaupt Meineid hätte nennen können, was ein Trunkener bei Wein beschworen, was ein Entmannter beim Reigen der Tanzenden versprochen hatte. Man bringt auf einer Schüssel das Haupt des Propheten herein: und das hielt man für Eidestreue, was nur Ausfluß von Raserei war.

78. Nimmer auch könnte ich zum Glauben bewogen werden, der Feldherr Jephte habe nicht unvorsichtig sein Gelübde gemacht, Gott zu opfern, was immer ihm bei seiner Rückkehr auf der Schwelle seines Hauses begegnen würde. Bereute er doch selbst sein Gelübde, da ihm seine Tochter begegnet war. So zerriß er denn seine Kleider und klagte: „Wehe mir, o Tochter, du hast mich verwirrt, zum Stachel des Schmerzes bist du mir geworden“. Obschon er aus religiöser Scheu und Angst das bittere Opfer der schmerzlichen Einlösung (des Gelübdes) brachte, hinterließ er doch selbst für die Folgezeit die Anordnung einer jährlichen Trauerfeier. Ein hartes Gelübde, noch bitterer dessen Erfüllung. Wie mußte jener selbst es bedauern, der es machte! So wurde denn folgende Vorschrift und Anordnung für ewige Zeiten erlassen: „Es ergingen sich“, so lautete sie, „die Töchter des Volkes Israel vier Tage im Jahre in Trauer über die Tochter des Galaditers Jephte“. Ich kann den Mann nicht der Schuld zeihen, der sich zur Erfüllung seines Gelübdes verpflichtet S. 242 hielt. Bedauerlich aber bleibt eine Pflicht, die mit Kindesmord eingelöst wird.

das Gelübde des Jephte keine bindende Kraft.

79. Besser kein Gelöbnis als ein Gelöbnis, dessen Erfüllung derjenige, dem es gemacht wird, nicht wünschen kann. So haben wir denn an Isaak ein Beispiel hierfür, indem der Herr statt seiner das Opfer eines Widders sich ausbedingte. Nicht immer darf jedwedes Versprechen eingelöst werden. So ändert auch der Herr selbst häufig sein Urteil, wie die Schrift bezeugt. Auch in jenem Buche, das den Titel Numeri trägt, hatte er sich vorgenommen, über das Volk Tod und Untergang zu verhängen, ließ sich aber nachher auf Bitten des Moses mit seinem Volke wieder versöhnen. Und wiederum sprach er zu Moses und Aaron: „Sondert euch ab von dieser Gemeine, und ich will sie mitsammen vertilgen“. Während sie sich von der Rotte entfernten, teilte sich plötzlich die Erde mit tiefem Spalt und verschlang den Dathan und Abiron, die gottlosen.

Herrlicher als der Pythagoreer Damon sein Versprechen,

80. Herrlicher und älter ist das obige Beispiel von der Tochter Jephtes als das in philosophischen Kreisen gerühmte von den zwei Pythagoreern. Der eine von ihnen nämlich bat, als er vom Tyrannen Dionysius zum Tode verurteilt war, am festgesetzten Todestage um die Erlaubnis, nach Hause gehen zu dürfen, um für die Seinigen noch Sorge zu treffen. Um nun die Glaubwürdigkeit seiner Rückkehr außer Zweifel zu setzen, stellte er einen Todesbürgen mit dem Anerbieten, daß, falls er selbst zum bestimmten Termin nicht da wäre, sein Bürge die Verpflichtung anerkenne, für ihn zu sterben. Der bestellte Bürge lehnte auch die Bürgschaft, wie sie lautete, nicht ab und harrte standhaft des Tages S. 243 der Hinrichtung. Der eine Freund kannte kein Sichweigern, der andere kehrte auf den Tag zurück. Das war etwas so Wundervolles, daß der Tyrann sie zu Freunden annahm, deren Leben er eben aufs äußerste gefährdete.

löste Jephtes Tochter des Vaters Gelübde ein.

81. Was nun an angesehenen und gebildeten Männern voll des Staunenswerten ist, das findet sich noch viel großartiger und viel glänzender bei der Jungfrau eingelöst, die dem seufzenden Vater zuredete: „Tu mit mir gemäß dem Worte, das aus deinem Munde kam!“ Doch einen Zeitraum von zwei Monaten erbat sie sich, um mit den Altersgenossinnen gemeinschaftlich auf den Bergen zu weilen: sie sollten mit liebevoller Teilnahme ihre dem Tode geweihte Jungfrauschaft beweinen. Weder rührten die Tränen der Genossinnen das Mädchen, noch stimmte deren Schmerz es um, noch ließ deren Seufzen es zaudern. Des Tages vergaß sie nicht, die Stunde entging ihr nicht: da kehrte sie zum Vater zurück, kehrte gleichsam zur Gelübdeerfüllung wieder und drang aus eigener Entschließung in den Zögernden und bewirkte kraft ihres freien Entschlusses, daß die übereilte Tat seines frevlen Beginnens zu einem Opfer der Frömmigkeit wurde.

XIII. Kapitel

Judith eine sieghafte Streiterin

82. Sieh, da kommt dir Judith entgegen, die wunderbare, da sie dem Holofernes naht, dem Schrecken der Völker, umgeben von der siegreichen Heerschar der Assyrer. Erst berückte sie ihn mit dem Zauber ihrer Gestalt und der Anmut ihres Gesichtes, sodann bestrickte sie ihn mit der Lieblichkeit ihrer Rede. Ihr erster Triumph bestand darin, daß sie ihre Reinheit S. 244 unversehrt aus dem Zelte des Feindes zurückbrachte; der zweite darin, daß sie als Weib über einen Mann den Sieg davontrug, durch ihren Entschluß Völker in die Flucht schlug.

83. Schrecken überkam die Perser ob ihrer Kühnheit. Fürchtete sie doch keine Todesgefahr, was man freilich auch an jenen beiden Pythagoreern bewundert, aber auch keine Gefahr für ihre Reinheit, was edlen Frauen schwerere Sorge macht. Sie kannte keine Angst vor dem Schwertstreich eines einzelnen Schergen, aber auch keine vor den Geschossen eines ganzen Heeres. Eine Frau, stand sie mitten unter Kriegerscharen, unter sieghaften Waffen, dem Tode ruhig ins Auge schauend. Anbetrachts der riesigen Gefahr war ihr Gang ein Todesgang, anbetrachts des Glaubens ein Waffengang.

für das Sittlichgute und eben darum für das Nützliche.

84. Dem Sittlichguten galt Judiths Schritt, und sie erzielte, da sie ihn ausführte, zugleich das Nützliche. Eine sittliche Forderung war es ja, zu verhindern, daß das Gottesvolk einem unheiligen Kult sich ergab; daß es seine väterlichen Bräuche und heiligen Geheimnisse entweihte; daß es seine heiligen Jungfrauen, ehrwürdigen Witwen, keuschen Frauen der Unreinheit der Barbaren preisgab; daß es seine Belagerung mit der Übergabe beendigte. Eine sittliche Forderung war es, lieber für alle Gefahr zu laufen, um alle aus der Gefahr zu erretten.

85. Wie muß es doch etwas unvergleichlich Erhabenes um das Sittlichgute sein, daß ein Weib über die wichtigsten Dinge zu einem Plane sich entschließt, ohne ihn den Ältesten des Volkes zu unterbreiten! Wie muß es etwas unvergleichlich Erhabenes um das Sittlichgute sein, daß es Gott als Helfer voraussetzen durfte! Wie muß es etwas unvergleichlich Gnadenvolles darum sein, daß es ihn als Helfer fand!

XIV. Kapitel

Das Verhalten des Elisäus gegen die gefangenen Syrer, das einen ähnlichen Vorgang aus der griechischen Geschichte in Schatten stellt,

S. 245 86. Was anderem aber als dem Sittlichguten ging Elisäus nach, als er das syrische Heer, das zu seiner Belagerung erschienen war, gefangen nach Samaria führte? Er hatte dessen Augen mit Blindheit geschlagen und bat: „Herr, öffne ihnen die Augen, daß sie sehen! Und sie sahen“. Als nun der König von Israel die eingetretenen Syrer niedermetzeln wollte und vom Propheten die Erlaubnis dazu sich erbat, verbot dieser das Gemetzel, nachdem er ihre Gefangennahme nicht durch Kriegsgewalt und -waffen bewirkt hatte, sondern befahl, sie lieber durch Lebensmittelreichung zu unterstützen. So glaubten denn auch die syrischen Piraten, die reichlich mit Speisen erquickt worden waren, nie mehr neuerdings ins Land Israel einfallen zu sollen“.

87. Wie unvergleichlich erhabener liest sich diese Begebenheit als jene griechische! Zwei Völker lagen danach um Ruhm und Herrschaft im Kampfe, und eines von ihnen hatte es in seiner Macht, die Schiffe des anderen heimlich zu verbrennen. Doch es hielt das für schimpflich und wollte lieber weniger Macht in Ehren als mehr Macht in Schanden haben. Sie konnten es ja nicht ohne Schandtat verüben, das Volk, welches zur Beendigung des Perserkrieges ein Bündnis mit ihnen eingegangen hatte, mit solcher Hinterlist zu S. 246 übervorteilen. Wohl hätten sie dieselbe ableugnen können, der Scham hierüber hätten sie sich jedoch nicht entschlagen können. Elisäus hingegen wollte die Syrer, die zwar auch Betrogene waren, aber nicht durch Überlistung, sondern von der Macht des Herrn getroffen, lieber retten als verderben, weil es geziemend war, den Feind zu schonen und dem Gegner das Leben zu schenken, das er wohl hätte nehmen können, wenn er nicht Schonung geübt hätte.

88. So ist denn klar: was geziemend ist, ist stets auch nützlich. Denn auch die heilige Judith machte durch die schickliche Hintansetzung ihres eigenen Wohls der Gefahr der Belagerung ein Ende und verschaffte durch ihre Tugendhaftigkeit der Allgemeinheit Nutzen. Und für Elisäus war es ruhmvoller, daß er Verzeihung angedeihen als ein Blutbad anrichten ließ; und er stiftete dadurch den größeren Nutzen, daß er die gefangenen Feinde am Leben erhielt.

sowie das des Täufers

89. Was anders aber hatte Johannes im Auge als das Sittlichehrbare, so daß er selbst beim Könige kein unehrbares Ehebündnis dulden mochte und sprach: „Es ist dir nicht erlaubt, jene zur Gattin zu haben“? Er konnte schweigen, hätte es ihm nicht für unziemlich geschienen, aus Furcht vor dem Tode die Wahrheit nicht zu sagen, dem prophetischen Ansehen dem Könige gegenüber etwas zu vergeben und seinem Verhalten den Anschein von Schmeichelei zu geben. Er wußte recht wohl, daß ihm der Widerstand gegen den König das Leben kosten werde, aber er zog die Tugendhaftigkeit dem Leben vor. Und doch, was hätte größeren Nutzen gebracht als ein Verhalten, das dem heiligen Mann den Ruhm des Martyriums eintrug?

und der Susanna bestätigen, daß das Sittlichgute und Nützliche unzertrennliche Begriffe sind.

90. So auch die heilige Susanna, als sie die schauerliche Kunde von dem falschen Zeugnisse vernommen hatte. Da sie sich einerseits von Gefahr, andrerseits von Schande bedrängt sah, wollte sie lieber durch S. 247 einen ehrenvollen Tod der Schande entgehen, als aus Sorge um ihr Wohl ein schimpfliches Leben führen und ertragen. Indem sie sich nun der Ehrenhaftigkeit befleißigte, rettete sie zugleich das Leben. Hätte sie einem Scheinvorteil für das Leben den Vorzug gegeben, hätte sie keinen so großen Ruhm erlangt. Ja vielleicht wäre ein solches Verhalten, das nicht bloß keinen Vorteil, sondern sogar eine Gefahr in sich barg, der Strafe des Verbrechens nicht entronnen. So sehen wir denn, daß das Schimpfliche nicht nützlich, und umgekehrt das Ehrbare nicht schädlich sein kann; denn das Nützliche hat das Ehrbare und das Ehrbare das Nützliche zum unzertrennlichen Begleiter.

XV. Kapitel

Ältere und herrlichere Beispiele sittlichguten Handelns als die Profangeschichte

91. Als denkwürdig feiern die Redner die Begebenheit, daß ein römischer Feldherr (C. Fabricius), als der Arzt des feindlichen Königs (Pyrrhus) mit dem Anerbieten zu ihm gekommen war, den König vergiften zu wollen, denselben gebunden zum Feind zurücksandte. Und es war in der Tat ein rühmliches Handeln, daß er, der den tapferen Kampf auf sich genommen hatte, nicht durch Hinterlist den Sieg erlangen wollte. Er setzte nämlich die Ehrenhaftigkeit nicht in den Sieg, sondern erklärte offen den Sieg, wenn er nicht in Ehren errungen würde, für schimpflich.

bietet die biblische Geschichte, so die Geschichte des Moses.

92. Kehren wir zu unserem Moses zurück und wenden wir uns erneut den obigen Beispielen zu, um je S. 248 ältere, desto herrlichere anzuziehen! Der König von Ägypten wollte das Vätervolk nicht ziehen lassen. Da sprach Moses zum Priester Aaron, er solle seinen Stab über alle Wasser Ägyptens ausstrecken. Aaron streckte ihn aus, und das Wasser des Flusses ward in Blut verwandelt. Und niemand konnte das Wasser trinken, und alle Ägypter waren daran, vor Durst umzukommen. Für die Väter aber strömte reines Wasser in Überfluß. Jene warfen Glutasche gen Himmel, und an Menschen und Tieren entstanden Geschwüre und brennende Blattern. Sie ließen Hagel unter flammendem Feuerregen niedergehen: alles auf dem Lande ward vernichtet. Da legte Moses Fürbitte ein, und alles wandte sich wiederum zum Besten. Der Hagel legte sich, die Geschwüre heilten, und die Flüsse boten das gewohnte Trinkwasser.

93. Eine dreitägige Finsternis bedeckte hinwiederum das Land von dem Augenblick, da Moses die Hand erhoben und Finsternis darüber ausgegossen hatte. Alle Erstgeburt Ägyptens starb, während keinem Sprößling der Hebräer Leids geschah. Gebeten, er möchte auch diesem Unheil ein Ende machen, flehte Moses und erflehte es. Darin verdient er Lob, daß er nicht auf Trug sich verlegte; darin Bewunderung, daß er die von Gott zugedachten Strafen kraft seiner Tugend selbst vom Feinde abwendete: fürwahr über die Maßen sanft und mild, wie es geschrieben steht. Er wußte, daß der König mit seinen Versprechungen nicht Wort halten werde; dennoch dünkte es ihn für ehrenhaft, auf Bitten zu flehen, auf Beleidigungen zu segnen, auf Verlangen zu verzeihen.

Zwei seiner Wunderzeichen Vorbilder des Gottmenschen Christus.

94. Er warf seinen Stab hin, und er wurde zur Schlange, welche die Schlangenstäbe der Ägypter verschlang. Er deutete damit die Menschwerdung des S. 249 Wortes an, welche das Gift der unheilvollen Schlange durch Vergebung und Nachlaß der Sünden tilgen würde. Der Stab bedeutet ja das Richt-, das Herrscher-, das Machtwort, das Abzeichen der Herrschaft. Der Stab ward zur Schlange, weil derjenige, der Gottes Sohn war, von Gott Vater erzeugt, Menschensohn wurde, aus Maria geboren. Gleich der Schlange am Kreuze erhöht, träufelte er Heil in die Wunden der Menschheit. Daher beteuert der Herr selbst: „Gleichwie Moses die Schlange in der Wüste erhöhte, so muß der Menschensohn erhöht werden“.

95.' So bezieht sich auch noch ein anderes Zeichen, das Moses tat, auf den Herrn Jesus: „Er steckte seine Hand in den Busen und zog sie hervor, und seine Hand ward wie Schnee. Wiederum steckte er sie hinein und zog sie hervor, und sie hatte das Aussehen menschlichen Fleisches“. Er deutete damit den ursprünglichen Glanz der Gottheit des Herrn Jesus und dessen nachmalige Menschwerdung an, eine Glaubenslehre, an welche alle Völker und Nationen glauben sollten. Mit Recht steckte er die Hand hinein, weil Christus die Rechte Gottes ist. Glaubt jemand nicht an seine Gottheit und Menschwerdung, verfällt er als Verruchter der Strafe gleich jenem Könige (Pharao), der, weil er den offensichtlichen Zeichen nicht glaubte, darauf gezüchtigt wurde und um Gnade flehte. Wieweit nun tugendhafte Gesinnung gehen muß, ergibt sich schon aus dem Bisherigen, am meisten aber daraus, daß Moses sich selbst für das Volk darbot und bat, Gott möge demselben verzeihen, oder aber ihn selbst aus dem Buche der Lebendigen löschen.

XVI. Kapitel

Tobias und Raguel als Vorbilder sittlichguten Handelns.

S. 250 96. Auch Tobias stellte ein besonders leuchtendes Vorbild des Sittlichguten dar, als er das Mahl verließ, die Toten begrub und die Notleidenden zur Armentafel lud; desgleichen in hervorragendem Grade Raguel, der in Rücksicht auf das Sittlichgute, als er um die Hand seiner Tochter gebeten wurde, selbst deren Fehler nicht verschwieg, um sich nicht den Anschein zu geben, durch Verschweigen derselben den Freier täuschen zu wollen. Als daher Tobias, der Sohn des Tobis, um das Mädchen anhielt, erwiderte derselbe, sie gebühre ihm zwar von Rechtswegen als Verwandten, doch habe er sie bereits sechs Männern zur Ehe gegeben, und alle seien gestorben. Der gerechte Mann fürchtete sonach mehr für andere und wollte lieber, daß ihm seine Tochter unverheiratet bliebe, als daß Fremde durch die Vermählung mit ihr in Gefahr gerieten.

Wie weit überragt letzterer die Philosophie!

97. Wie kurz löste er sämtliche Fragen der Philosophen! Diese handeln von den Schäden eines Hauses, ob sie vom Verkäufer verheimlicht oder aufgedeckt werden müssen. Unser Heiliger glaubte nicht einmal die Fehler seiner Tochter verhehlen zu sollen. Auch war es ihm sicherlich gar nicht darum zu tun, sie wegzugeben, er wurde vielmehr darum gebeten. Wie hoch er jene an Tugendhaftigkeit überragte, darüber können wir nicht im Zweifel sein, wenn wir bedenken, wieviel höher die Sache einer Tochter über dem Geldwert für ein feiles Ding steht.

XVII. Kapitel

Das Sittlichgute ging auch den Altvordern in der babylonischen Gefangenschaft über alles. Daher ihre Sorge für das heilige Feuer

S. 251 98.' Erwägen wir eine andere Begebenheit. Sie trug sich in der Gefangenschaft zu und behauptete den Preis der Schönheit im sittlichguten Handeln. Dieses läßt sich nämlich durch keinerlei Widerwärtigkeiten beirren. Herrlicher noch strahlt es und großartiger leuchtet es hier als im Glück. Inmitten von Fesseln, inmitten von Waffen, von Flammen, von Knechtschaft, der allerschwersten Strafe für Freie, inmitten der qualvoll Sterbenden, der Vernichtung des Vaterlandes, der Angst der Überlebenden, des Blutes der Ermordeten büßten gleichwohl unsere Altvordern die Sorge um das Sittlichgute nicht ein, vielmehr glänzte und strahlte dieselbe inmitten der Asche und Lohe des vernichteten Vaterlandes in ihrer frommen Gesinnung wider.

99. „Als nämlich unsere Väter, die damals fromme Verehrer des allmächtigen Gottes waren, nach Persien abgeführt wurden, nahmen die Priester des Herrn das Feuer vom Altar und verbargen es heimlich in einem Tale.“ Dort befand sich anscheinend ein offen zugänglicher Brunnen, wegen Wassermangels aber nicht betreten und für eine Benützung der Leute tatsächlich unzugänglich, an unbekannter, von Zeugen unbehelligter Stelle. Hier versiegelten sie mit einem heiligen Zeichen ebenso wie mit Verschwiegenheit das verborgene Feuer. Nicht darum war es ihnen zu tun, Gold zu vergraben, Silber zu verbergen, um es den Nachkommen aufzubewahren; sie waren vielmehr in ihrer äußersten Not auf das Sittlichgute bedacht und glaubten das heilige Feuer wahren zu müssen, daß nicht die Unreinen es schändeten oder das Blut der Toten es auslösche oder ein wirrer Trümmerhaufe es verschütte.

S. 252 100. Nun zogen sie nach Persien, nur in der religiösen Gesinnung frei; denn nur sie konnte ihnen durch die Gefangenschaft nicht entrissen werden. Nach gar langer Zeit aber, da es Gott gefiel, gab er dem Perserkönig in den Sinn, Befehl zu geben zur Wiedererbauung des Tempels in Judäa und zur Wiederherstellung der rechtmäßigen religiösen Bräuche. Mit dieser Aufgabe betraute der Perserkönig den Priester Nehemias. Dieser nun führte die Enkel jener Priester mit sich, welche beim Verlassen des heimatlichen Bodens das heilige Feuer verborgen hatten, daß es nicht zugrunde ginge. Als sie aber kamen, fanden sie, wie der Väter Wort überlieferte, nicht Feuer, sondern Wasser vor. Und als es an Feuer für den Altardienst gebrach, befahl ihnen der Priester Nehemias, das Wasser zu schöpfen und es ihm zu bringen und das Holz damit zu besprengen. Da nun ein sichtbares Wunder! Obschon der Himmel mit Wolken bedeckt war, leuchtete plötzlich die Sonne auf, ein großes Feuer entfachte sich, so daß alle ob der so augenscheinlichen Gnadentat des Herrn von Staunen ergriffen und von Freude erfüllt wurden. Nehemias betete, die Priester sangen Gott ein Loblied. Und als das Opfer verzehrt war, befahl Nehemias nochmals mit dem noch übrigen Wasser die größeren Steine zu begießen. Daraufhin entzündete sich eine Flamme. Das Licht aber, das vom Altare erstrahlte, ward auf der Stelle verzehrt.

101. Als dieses Zeichen bekannt wurde, befahl der Perserkönig, daß an der Stelle, an der das Feuer verborgen war und nachher das Wasser gefunden wurde, ein Tempel erbaut würde. Man brachte eine große Menge Weihegaben dahin. „Die Begleitung des heiligen Nehemias aber nannte ihn Ephtar, was Reinigung bedeutet: die Mehrzahl nennt ihn Nephte“. „In den Aufzeichnungen des Propheten Jeremias aber findet man, daß er den künftigen Nachkommen befahl, vom Feuer zu nehmen“. Das ist das Feuer, das auf das S. 253 Opfer des Moses fiel und es verzehrte, wie geschrieben steht: „Feuer ging aus vom Herrn und verzehrte das ganze Brandopfer, das auf dem Altare lag“. Mit diesem Feuer mußte das Opfer geheiligt werden. Daher ging auch über die Söhne Aarons, die fremdes Feuer heranbringen wollten, wiederum Feuer vom Herrn aus und verzehrte sie, so daß man sie tot aus dem Lager hinauswarf.

102. „Als aber Jeremias an die Stelle kam, fand er eine Behausung nach Art einer Höhle vor, brachte dahin das Zelt und die Lade und den Rauchopferaltar und verrammte den Eingang. Und obwohl die, welche mit ihm gekommen waren, genauer Obacht gaben, um sich den Platz zu merken, konnten sie ihn keineswegs mehr aufspüren und auffinden. Sobald aber Jeremias erkannte, was sie im Sinne gehabt hatten, sprach er: Der Ort wird unbekannt bleiben, bis Gott das Volk wieder sammeln und gnädig sein wird. Dann wird der Herr dies offenbar machen und die Herrlichkeit des Herrn erscheinen“.

XVIII. Kapitel

Ein Exkurs über das mystische Feuer, das des Nehemias, des Aaron, des Elias Opfer verzehrte. Es war ein Sinnbild der sündetilgenden, neubelebenden Kraft des Hl. Geistes im Taufsakramente.

103. Wir halten an der Gemeinschaft des (gläubigen) Volkes fest, sind uns der Versöhnung mit Gott unserem Herrn bewußt, die uns der Versöhner durch sein Leiden bewirkt hat: ich glaube, wir können auch über jenes Feuer nicht im unklaren sein, wenn wir lesen, S. 254 wie nach der Versicherung des Johannes im Evangelium der Herr Jesus im Heiligen Geist und dem Feuer tauft. Mit Recht wurde das Opfer verzehrt, weil es ein Sündopfer war. Jenes Feuer aber war das Sinnbild des Heiligen Geistes, der nach des Herrn Himmelfahrt herabsteigen und allen Sündenvergebung bringen sollte, der wie Feuer den gläubigen Sinn und Verstand entfacht. Daher der Ausspruch des Jeremias nach dem Empfang des Geistes: „Und es ward mir im Herzen wie brennend Feuer, flammenschlagend in meinen Gebeinen, und ich bin allseits erschöpft und kann es nicht ertragen“. Aber auch in der Apostelgeschichte lesen wir, wie bei der Herabkunft des Heiligen Geistes über die Apostel und viele andere, welche die Verheißungen des Herrn erwarteten, Zungen wie Feuer sich zerteilten. So feurig wallte denn auch das Innere eines jeden auf, daß man glaubte, sie, welche die verschiedenen Sprachen empfangen hatten, seien des Weines voll.

104. Was anders bedeutet es, daß Feuer zu Wasser ward und das Wasser Feuer entfachte, als daß des Geistes Gnade unsere Sünden durch Feuer ausbrennt, durch Wasser reinigt? Denn ausgebrannt und abgewaschen wird die Sünde. Daher des Apostels Beteuerung: „Wie beschaffen das Werk eines jeden ist, wird das Feuer erproben“. Und im Folgenden: „Fängt jemandes Werk Feuer, wird es Schaden erleiden; er selbst wird das Heil erlangen, doch so wie durch Feuer“.

105. Das führten wir deshalb an, um zu beweisen, daß die Sünden durch Feuer ausgebrannt werden. Es ist sonach klar, daß dies in Wirklichkeit das heilige Feuer ist, das damals zur Sinnbildung der künftigen Sündenvergebung auf das Opfer herabstieg.

106. Dieses Feuer nun wird zur Zeit der Gefangenschaft, in der die Schuld herrscht, verborgen gehalten, S. 255 in der Zeit der Freiheit hervorgeholt. Und wenn auch scheinbar in Wasser gewandelt, wahrt es doch seine Feuernatur, um das Opfer zu verzehren. Wundere dich nicht, wenn du liest, wie Gott Vater gesprochen: „Ich bin ein verzehrend Feuer“; und an einer anderen Stelle: „Mich haben sie verlassen, den Quell des lebendigen Wassers“. Auch der Herr Jesus selbst entflammt wie ein Feuer die Herzen seiner Zuhörer und erquickt sie gleich einem Quell. Denn er selbst versichert in seinem Evangelium, er sei deshalb gekommen, daß er Feuer auf die Erde sende und den Trank lebendigen Wassers den Durstenden reiche.

107. Desgleichen fuhr zur Zeit des Elias Feuer herab, damals als er die heidnischen Propheten aufforderte, den Altar ohne Feuer anzuzünden. Und als jene es nicht zu tun vermochten, übergoß er seinerseits dreimal sein Opfer mit Wasser, und das Wasser ergoß sich rings um den Altar. Und er rief, und Feuer vom Herrn fiel vom Himmel und verzehrte das Brandopfer.

Andere alttestamentliche Vorbilder der Taufe und der Buße.

108. Dieses Opfer bist du. Erwäge still das Einzelne. Auf dich steigt das lohende Feuer des Heiligen Geistes herab, dich scheint es auszubrennen, wenn es deine Sünden verzehrt. So war denn auch das Opfer, das unter Moses verzehrt wurde, ein Sündopfer. Daher der Ausspruch des Moses, wie im Buch der Makkabäer geschrieben steht: „Weil das Sündopfer nicht gegessen wurde, ward es verzehrt“. Dünkt es dich nicht wie ein Verzehrtwerden, wenn im Sakramente der Taufe der ganze äußere Mensch untergeht? Unser alter Mensch ist mit ans Kreuz geheftet, ruft der Apostel aus. Da wird, wie der Väter Beispiele dich lehren, der Ägypter versenkt, und taucht, vom Heiligen Geist erneut, der Hebräer auf, der auch ungehinderten Fußes S. 256 durchs Rote Meer hindurchzog, wo die Väter „unter der Wolke und im Meere getauft wurden“.

109. Ebenso starb bei der Sintflut zur Zeit Noës alles Fleisch; der Gerechte jedoch wurde mit seiner Nachkommenschaft gerettet. Geht nicht auch der Mensch unter, wenn dieses Sterbliche vom Leben abgetan wird? Der äußere Mensch verfällt ja dem Untergang, der innere aber wird erneut. Und nicht allein bei der Taufe, sondern auch bei der Buße geht der Lehre der Apostel zufolge das Fleisch zum Besten des Geistes unter, indem Paulus erklärt: „Ich habe wie anwesend über den, der so handelte, die Entscheidung getroffen, einen solchen dem Satan zum Untergang des Fleisches zu übergeben, damit der Geist gerettet werde am Tage unseres Herrn Jesus Christus“.

110. Ob des wunderbaren Geheimnisses zog sich sichtlich unser Exkurs etwas in die Länge, indem uns daran lag, dasselbe, nachdem es geoffenbart ist, ins vollere Licht zu stellen. Ist es doch so voll des Sittlichguten, daß es geradezu voll des Göttlichen ist.

XIX. Kapitel

Wie sehr die Altvordern auf das Sittlichgute hielten, beweist ihre Bekriegung und Bestrafung der Gabaoniter wegen Schändung der Frau eines Leviten.

111. Wie sehr lag den Altvordern die Sorge um das Sittlichgute am Herzen, so daß sie das einem einzigen Weibe zugefügte Unrecht von Wüstlingen, die ihr Gewalt antaten, mit Krieg rächten und nach der Besiegung des Stammes Benjamin schwuren, den Angehörigen S. 257 desselben ihre Töchter nicht mehr zur Ehe geben zu wollen! Dem Stamme wäre kein Weg zu einer Nachkommenschaft übrig geblieben, hätte er nicht den Ausweg notgedrungener List zugestanden erhalten. Gleichwohl scheint auch dieses Zugeständnis nicht der gebührenden Strafe für ihre Unenthaltsamkeit zu entbehren, da ihnen nur allein gestattet wurde, Verbindungen auf dem Wege der Entführung, nicht der sakramentalen Ehe einzugehen. Und es war in der Tat gebührend, daß sie, die ein fremdes Eheband gelöst hatten, selbst der herkömmlichen Form der Eheschließungen verlustig gingen.

112. Wie voll des Ergreifenden aber ist die Geschichte! Ein Mann, so heißt es, ein Levite, hatte sich eine Frau genommen. ‚Beischläferin‘ ist sie (in der Schrift) genannt, wie ich glaube, vom Beischlaf. Diese begab sich nun eines Tages, durch gewisse Vorkommnisse, wie es zu gehen pflegt, gekränkt, zu ihrem Vater und blieb vier Monate dort. Da brach ihr Mann auf und zog in das Haus seines Schwiegervaters, um sich mit seiner Gattin wiederum auszusöhnen, sie zurück- und heimzuführen. Die Frau kam ihm entgegen und führte den Gatten ins Haus ihres Vaters.

113. Der Vater der jugendlichen Frau war erfreut darüber, ging ihm entgegen und weilte drei Tage mit ihm zusammen. Man speiste und pflegte der Ruhe. Am folgenden Tage wollte der Levite aufbrechen. Der Schwiegervater hielt ihn zurück: er möge doch nicht so schnell das liebtraute Zusammensein abbrechen! Und auch am zweit- und drittfolgenden Tage gab der Vater des Mädchens die Abreise seines Schwiegersohnes nicht zu, bis nicht das Maß aller gegenseitigen Freude und Liebenswürdigkeit voll wäre. Doch als derselbe am siebten Tage, da der Tag sich schon zum Abend neigte, nach Tisch und frohem Gelage den nahen Anbruch der folgenden Nacht vorschützte und lieber bei den Seinigen als bei Fremden die Nachtruhe zubringen zu sollen S. 258 glaubte, vermochte er ihn nicht mehr zurückzuhalten und entließ ihn samt seiner Tochter.

114. Nach Zurücklegung einer Strecke Weges aber meinte der Diener, da der Abend schon bald hereinzubrechen drohte und man der Stadt der Jebusäer sich genähert hatte, sein Herr solle hier zukehren. Sein Herr aber gab dem nicht statt, weil es keine Stadt der Söhne Israels war, sondern trachtete noch bis Gabaa zu gelangen, das von den Stammesgenossen Benjamins bewohnt war. Niemand fand sich da, der die Ankömmlinge gastlich aufgenommen hätte, außer einem Fremdling in fortgeschrittenen Jahren. Als nun dieser ihrer ansichtig wurde und den Leviten fragte: wohin gehst du? bezw. woher kommst du? da entgegnete dieser, daß er auf der Reise begriffen sei und ins Gebirge Ephraim zurückkehre. Und als niemand sich fand, der ihn aufnahm, bot er ihm gastlich eine Herberge an und richtete ein Mahl zu.

115. Nachdem man sich aber beim Mahl gesättigt hatte und der Tisch aufgehoben war, stürzten verkommene Mannspersonen heran und umringten das Haus. Da bot der Greis den lasterhaften Menschen seine Tochter an, eine Jungfrau, gleichalterig mit ihrer Schlafgenossin, nur um der fremden Gastfreundin nicht Gewalt antun zu lassen. Als aber mit Vernunft nur zu wenig auszurichten war und die Gewalt siegte, ließ der Levite von seinem Weibe. Und sie erkannten sie und trieben die ganze Nacht ihr Spiel mit ihr. Dieser Grausamkeit, oder aber dem Schmerz über die angetane Schmach erlag sie. Sie warf sich vor die Schwelle des Gastes, bei dem ihr Mann eingekerkert war, hin und hauchte ihren Geist aus. In den letzten Zügen liegend wahrte sie noch treu die Liebe einer guten Gattin: sie ermöglichte dem Gatten wenigstens noch die Bestattung ihres Leichnams.

116. Auf die Kunde davon entbrannte, um mich kurz zu fassen, fast das ganze Volk Israel zum Krieg. Obwohl der Kampf bei schwankendem Erfolg erst S. 259 unentschieden blieb, fiel doch beim dritten Waffengang das Volk Benjamin dem Volke Israel in die Hand und mußte so kraft göttlichen Strafurteiles seine Unenthaltsamkeit büßen. Es wurde sodann auch verurteilt, daß niemand ihm aus der Zahl der Väter seine Tochter zur Ehe geben durfte, und zwar wurde dies durch einen Eidschwur bekräftigt. Doch von Reue ergriffen, daß sie gegen ein Brudervolk ein so hartes Urteil fällten, milderten sie dessen Strenge dahin, daß sie sich elternlose Jungfrauen, deren Väter für ein Vergehen hingerichtet wurden, zur Frau nehmen durften, bezw. auf dem Wege der Entführung eine Verbindung eingehen konnten. Einer Ehewerbung machten sie sich ja angesichts der verübten Schandtat als Verletzer fremden Eherechtes unwürdig. Aber damit das Volk auch nicht einen Stamm verliere, machte man nachsichtig ihrer List ein Zugeständnis.

117. Wie sehr die Altvordern auf das Sittlichgute bedacht waren, geht nun daraus hervor, daß vierzigtausend Mann wider ihre Brüder vom Stamme Benjamin das Schwert zogen. Sie wollten die Verletzung der Reinheit rächen und keine Schänder der Keuschheit dulden. So wurden denn in jenem Kriege fünfundsechzigtausend Streiter auf beiden Seiten niedergemacht und Städte verbrannt. Und obschon das Volk Israel anfänglich unterlag, ließ es sich gleichwohl durch die Furcht eines unglücklich verlaufenden Krieges nicht einschüchtern und den Schmerz nicht einschlafen, um die verletzte Keuschheit zu rächen. Es stürzte sich in den Kampf, bereit selbst mit dem Blute die Schmach der verübten Schandtat zu tilgen.

XX. Kapitel

Vorbildlichen Eifer für das Sittlichgute und Schickliche bewiesen auch die vier Aussätzigen von Samaria im syrischen Lager.

S. 260 118. Was Wunder auch, wenn dem Volke Gottes jenes Schickliche und Sittlichgute so am Herzen lag, da selbst Aussätzigen, wie wir in den Büchern der Könige lesen, der Sinn für das Sittlichgute nicht fehlte?

119. Große Hungersnot herrschte in Samaria wegen der Belagerung durch das syrische Heer. Der König hielt voll Besorgnis Nachschau bei den Kriegswachen auf der Mauer. Da redete ihn ein Weib an und sprach: Diese Frau hat mich beredet, meinen Sohn herzugeben, und ich gab ihn her, und wir kochten und aßen ihn. Und sie gab ihr Wort, daß auch sie daraufhin ihren Sohn hergeben werde, und daß wir zusammen sein Fleisch essen würden. Jetzt aber versteckt sie ihren Sohn und will ihn nicht hergeben. Der König, tief ergriffen, daß die Frauen, wie er sah, nicht bloß von Menschen-, sondern von den durch eigene Mutterhand getöteten Kindesleichen sich nährten, und erschüttert über den Vorfall, der das schauerliche Elend beleuchtete, ließ dem Propheten Elisäus den Tod ankündigen, weil er glaubte, es läge in dessen Gewalt, die Belagerung aufzuheben, die Hungersnot zu vertreiben; oder aber weil er dem König nicht gestattet hatte, die Syrer niederzumetzeln, die er mit Blindheit geschlagen hatte.

120. Elisäus weilte bei den Ältesten in Bethel. Und bevor noch des Königs Bote zu ihm eintrat, sprach er zu den Ältesten: Habt ihr gesehen, daß der Sohn jenes Mörders (Achab) hergeschickt hat, mir das Haupt S. 261 abzuschlagen? Da trat der Bote ein und überbrachte den Auftrag des Königs mit der Meldung, daß es sich augenblicklich um seinen Kopf handle. Der Prophet erwiderte ihm: Morgen um diese Stunde kostet das Maß Weizenmehl einen Sekel und zwei Maß Gerstenmehl einen Sekel am Tore Samarias. Und als der Königsbote das nicht glaubte und meinte, wenn der Herr Getreide in Überfluß vom Himmel regnen ließe, nicht einmal auf solche Weise wäre dies möglich, da sprach Elisäus zu ihm: Weil du nicht geglaubt hast, sollst du es mit deinen Augen sehen und nicht davon essen.

121. Da plötzlich entstand im syrischen Lager eine Art Gerassel von vierspännigen Wagen und ein großes Geschrei von Reitern und das Geschrei eines großen Kriegsheeres und ein ungeheurer Schlachtenlärm. Da meinten die Syrer, der König von Israel habe den König Ägyptens und den König der Amorrhäer zur Teilnahme an der Schlacht herbeigerufen, und sie flohen bei Tagesanbruch und ließen ihre Zelte zurück aus Furcht, sie möchten durch die Ankunft der neuen Feinde überwältigt werden und den vereinten Streitkräften der Könige nicht widerstehen können. In Samaria wußte man nichts davon. Von Furcht übermannt und von Hunger erschöpft, wagte man sich solches nicht einmal zu denken.

122. Es hielten sich aber am Stadttore vier Aussätzige auf, denen das Leben Qual und das Sterben Gewinn war. Und sie sprachen zueinander: Sieh, wir sitzen hier und sterben. Betreten wir die Stadt, werden wir Hungers sterben; bleiben wir hier, erübrigt uns nichts zum Leben. Laßt uns ins syrische Lager gehen! Das wird entweder unser rascher Tod, oder aber unser Heil und unsere Rettung sein. Sie zogen also fort und betraten das Lager: und sieh, alles war leer von den Feinden. Sie gingen in die Zelte. Da fanden sie zunächst S. 262 Nahrungsmittel und stillten damit ihren Hunger; hierauf nahmen sie Gold und Silber, soviel sie konnten. Und obwohl ihr Sinnen und Trachten nur der Beute galt, beschlossen sie doch, den König von der Flucht der Syrer zu benachrichtigen, weil sie das für ehrenhafter hielten, als die Anzeige zu unterdrücken und nur listigem Raube zu frönen.

123. Auf diese Anzeige ging nun das Volk hinaus und plünderte das syrische Lager. Und der Vorrat der Feinde brachte Überfluß, schaffte wiederum billiges Getreide, und das Maß Weizenmehl kostete gemäß dem Worte des Propheten einen Sekel und zwei Maß Gerstenmehl den gleichen Preis. Bei diesem Freudentaumel des Volkes wurde jener Bote, auf welchen der König sich (beim Gehen) zu stützen pflegte, ans Tor gestellt. Da wurde er im Gedränge der hastig Hinausstürmenden und freudig Zurückkehrenden von den Leuten zertreten und starb.

XXI. Kapitel

Auch die Königin Esther stellte die Ehrenhaftigkeit über das Leben, der Perserkönig über die Freundschaft;

124. Wie? hat nicht die Königin Esther zur Rettung ihres Volkes aus Gefahr sich dem Tode ausgesetzt ohne Furcht vor der Wut des grausamen Königs? Eine schöne und gute Tat! Selbst auch der grimme und stolze Perserkönig hielt es für schicklich, dem Manne, der die Nachstellungen aufgedeckt hatte, die ihm bereitet wurden, Gnade widerfahren zu lassen, das freie Volk von der Knechtschaft zu entbinden, vom Tode zu S. 263 erretten und keine Schonung gegen den zu üben, der so Unziemliches geraten hatte. So überantwortete er denn den Würdenträger, der die zweite Stelle nach ihm einnahm und unter allen Freunden den Vortritt hatte, dem Kreuzestod, weil er seine Ehre durch dessen hinterlistige Ratschläge mit Schmach bedeckt sah.

denn Ehre geht vor Freundschaft.

125. Nur die Freundschaft nämlich, welche auf Ehrenhaftigkeit hält, ist lobenswert und dann freilich Reichtümern und Ehren und Gewalten vorzuziehen. Doch der Ehrenhaftigkeit pflegt sie nicht vorzugehen, sondern nachzugehen. Solcher Art war die des Jonathas, der aus Freundesliebe weder vor der Ungnade des Vaters noch vor Lebensgefahr zurückschauderte; solcher Art die des Abimelech, der den Pflichten der Gastfreundschaft zuliebe eher dem Tode sich weihen als den fliehenden Freund verraten zu dürfen glaubte.

XXII. Kapitel

Das Sittlichgute die Norm für die Freundespflichten,

S. 264 126. Nichts also darf dem Sittlichguten vorgezogen werden. Daß man sogar im Interesse der Freundschaft nicht davon abgehen darf, auch das lehrt die Schrift über die Freundschaft. Von den Philosophen nämlich werden so manche Fragen aufgeworfen: ob einer aus Willfährigkeit gegen den Freund um des Freundes willen Anschläge wider das Vaterland machen dürfe oder nicht? Ob er in der Rücksicht und Absicht, dem Freunde Vorteile zu verschaffen, wortbrüchig werden solle?

so für die Zeugenaussagen eines Freundes.

127. Wohl sagt die Schrift: „Keule und Schwert und ein eiserner Pfeil, so ist der Mensch, der falsches Zeugnis ablegt wider seinen Freund“. Doch bedenke, was sie sagen will! Nicht die Zeugenaussage gegen den Freund, sondern nur das falsche Zeugnis tadelt sie. Denn wie? wenn jemand um der Sache Gottes willen, wie? wenn er um der Sache des Vaterlandes willen gezwungen wäre, Zeugnis abzulegen? Darf etwa die Freundschaft der Gottesfürchtigkeit, darf sie der Liebe zu den Mitbürgern vorgehen? Doch muß auch in diesen Fällen auf der Forderung der Wahrheit des Zeugnisses bestanden werden, damit nicht der Freund infolge der Treulosigkeit des Freundes gerichtlich belangt werde, statt durch dessen Treue losgesprochen zu werden. So darf denn der Freund einerseits dem schuldigen Freunde nicht zuhalten, andrerseits gegen den schuldlosen nicht hinterhältig sein.

Zu den Freundespflichten gehören vor allem Zurechtweisung,

128. Ist man wirklich, wenn man am Freunde einen Fehler gewahrt, als Zeuge hierüber zu sprechen gezwungen, übe man insgeheim Zurechtweisung. Will er nicht hören, weise man ihn offen zurecht. Denn Zurechtweisungen sind gut und so manchmal besser als stumme Freundschaft. Und sollte sich der Freund auch verletzt fühlen: du weis ihn dennoch zurecht! Und wenn das S. 265 Bittere der Zurechtweisung seinem Herzen wehe tut: du weis ihn dennoch zurecht und fürchte nicht! Denn „erträglicher sind Freundeswunden als Schmeichlerküsse“. Den irrenden Freund weis sonach zurecht, den unschuldigen Freund laß nicht im Stich! Denn die Freundschaft muß fest, in der Liebe beständig sein. Wir dürfen nicht nach Kinderart schwankenden Urteils die Freunde wechseln.

Offenherzigkeit, Zuvorkommenheit und Hilfsbereitschaft,

129. Öffne dem Freunde dein Herz, daß er dir treu sei, und du süße Lebenslabe von ihm schöpfest! Denn „ein treuer Freund ist Arznei des Lebens und Unsterblichkeitsgenuß“. Komm dem Freunde wie deinesgleichen entgegen und schäme dich nicht, dem Freunde mit deinem Dienste zuvorzukommen! Denn die Freundschaft kennt keine Selbstüberhebung. Daher des Weisen Mahnung: „Einen Freund zu grüßen, schäme dich nicht!“ Laß den Freund nicht im Stich und verlaß ihn nicht und versage ihm nicht deine Hilfe! Denn Freundschaft ist des Lebens Stütze. Laßt uns darum nach des Apostels Lehre unsere Lasten tragen! Denen schärft er es ein, welche das Liebesband des gleichen Leibes (der Kirche) verknüpft. Wenn der Freund im Glück dem Freunde hilft, warum soll nicht auch im Unglück des Freundes Hilfe dem Freunde bereitstehen? Helfen wir ihm mit Rat, bezeugen wir ihm unser Interesse, teilen wir das Leid mit ihm!

ferner Opferwilligkeit,

130. Tut es not, laßt uns auch herbe Opfer um des Freundes willen ertragen! So manchmal erheischt die Unschuld des Freundes Feindseligkeiten, oft Grobheiten auf sich zu nehmen, wenn man Widerstand oder Widerrede gegen Beschuldigungen und Anklagen wider den Freund betätigen soll. Laß dich solche Kränkung nicht verdrießen! Denn des Gerechten Stimme spricht: „Ob mir auch Schlimmes begegnet, ich ertrage es um S. 266 des Freundes willen“. Im Unglück bewährt sich ja der Freund; im Glück scheinen alle Freunde zu sein. Aber wie im Unglück des Freundes Dulden und Ertragen nottut, so geziemt sich im Glück Achtung, um den Übermut eines sich überhebenden Freundes zu dämpfen und zurechtzuweisen.

131. Wie schön fordert Job im Unglück: „Habt Erbarmen mit mir, Freunde, habt Erbarmen!“ Das heißt nicht verzweifelt klagen, sondern seine Meinung sagen. Da er nämlich von den Freunden zu Unrecht getadelt wurde, entgegnete er: „Habt Erbarmen mit mir, Freunde!“ Das heißt: Barmherzigkeit solltet ihr üben; statt dessen bedrängt und bekämpft ihr einen Menschen, mit dessen Nöten ihr aus Freundschaft Mitleid haben solltet.

Treue,

132. So wahret denn, Söhne, die Freundschaft, die ihr mit Brüdern eingegangen habt! Es gibt nichts Schöneres im Leben als sie. Sie ist ein Trost in diesem Leben. Du hast jemand, dem du dein Herz erschließen, dem du deine Geheimnisse mitteilen, dem du das Verborgene deines Herzens anvertrauen kannst; du gewinnst dir einen treuen Menschen, der sich im Glück mit dir freut, das Leid mit dir teilt, in Verfolgungen dir Mut zuspricht. Wie gute Freunde waren nicht die hebräischen Jünglinge, die nicht einmal die Flamme des Feuerofens von der gegenseitigen Liebe trennen konnte! Wir haben früher über diese Stelle gesprochen. Trefflich ruft der heilige David aus: „Saul und Jonathas, die Lieblichen und Lieblinge: unzertrennlich in ihrem Leben, wurden sie auch im Tode nicht getrennt!“

Gleichgesinntheit,

133. Das ist die Frucht der Freundschaft. Nimmer darf dem Glauben um der Freundschaft willen Eintrag geschehen. Denn niemand kann eines Menschen S. 267 Freund sein, der Gott die Glaubenstreue bricht. Eine Hüterin der Liebe ist die Freundschaft und eine Lehrerin der Gleichheit. Der Höhere soll dem Niedereren, der Niederere dem Höheren gegenüber sich gleich fühlen. Denn bei Ungleichheit im Verhalten kann es keine Freundschaft geben; holde Übereinstimmung muß zwischen beiden herrschen. Dem Niedereren soll es, wenn es die Sache fordert, nicht an Ansehen, dem Höheren nicht an Demut fehlen: er höre ihn wie seinesgleichen, wie einen Altersgenossen an! Jener aber mahne, tadle als Freund, nicht in hochmütiger Absicht, sondern in liebevoller Gesinnung!

Liebe selbst bei Tadel und Uneigennützigkeit.

134. Die Mahnung soll nicht bitter, der Tadel nicht kränkend sein. Denn Freundschaft soll ebensosehr von Anmaßung sich frei halten als Schmeichelei fliehen. Was ist denn auch der Freund anders als ein Genosse der Liebe, an den man sein Herz hängt und schmiegt; mit dem man es so verschmilzt, daß man aus zweien eins machen möchte; dem man sich wie einem zweiten Ich anvertraut; von dem man nichts fürchtet, nichts Unrechtes um des eigenen Vorteils willen verlangt? Keine Geldquelle ist Freundschaft, sondern ein Füllhorn des Schicklichen, ein Füllhorn des Anmutigen. Eine Tugend ist die Freundschaft, keine Erwerbsquelle. Denn nicht um Geld, sondern um Liebe, nicht mit gesteigertem Preisangebot, sondern mit wetteiferndem Wohlwollen wird sie erworben.

Die Freundschaften zwischen Unbemittelten sind meist besser als die der Bemittelten.

135. So sind denn auch meist die Freundschaften zwischen Unbemittelten besser als die zwischen Vermöglichen. Und häufig haben Reiche keine Freunde, während Arme eine übergroße Zahl besitzen Denn es gibt keine Freundschaft, wo falsche Schmeichelei herrscht. Gerade die Reichen haben so gern ihre Liebediener, die ihnen schmeicheln: gegen den Armen spielt niemand den Heuchler. Jedes Entgegenkommen gegen den Armen beruht auf Wahrheit; die Freundschaft mit ihm erregt keinen Neid.

Freundschaft ein köstliches Gut. Ihr Band verknüpft den Menschen mit Gott und den Engeln,

136. Was ist köstlicher denn Freundschaft, deren Band Engel und Menschen gemeinschaftlich verknüpft? S. 268 Daher die Mahnung des Herrn Jesus: „Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, die euch in die ewigen Wohnungen aufnehmen!“ Gott selbst macht uns aus armseligen Dienern zu Freunden, wie er selbst beteuert: „Nunmehr seid ihr meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete“. Er gab damit die Norm der Freundschaft, die wir zu befolgen haben: wir sollen dem Freund zu Willen sein; alle unsere Heimlichkeiten, die wir in der Brust tragen, dem Freunde erschließen und auch in seine Geheimnisse nicht uneingeweiht bleiben. Eröffnen wir ihm unser Herz, mag auch er uns das seinige erschließen. Daher „nannte ich euch Freunde“, versichert er, „weil ich alles, was ich von meinem Vater gehört, euch kundgetan habe“. Nichts verheimlicht der Freund, wenn er ein wahrer Freund ist. Er schüttet sein Herz aus, wie der Herr Jesus es mit den Geheimnissen des Vaters machte.

wenn er Gottes Gebote beobachtet, eines Sinnes mit ihm ist.

137. Wer also Gottes Gebote beobachtet, der ist sein Freund und verdient diesen Ehrennamen. Wer eines Sinnes mit ihm ist, der ist sein Freund; denn Freunde haben nur einen Sinn. Und niemand ist verächtlicher, als wer die Freundschaft verletzt. Als das schwerste Unrecht am Verräter, dessentwegen er seine Ruchlosigkeit verurteilte, fand der Herr gerade dies, daß er nicht Wohlwollen mit Wohlwollen erwiderte und ins Gastmahl der Freundschaft das Gift des Übelwollens mischte. Daher sein Vorwurf: „Du aber, Mann eines Sinnes mit mir, mein Führer und Vertrauter, der du stets süße Speisen mit mir genossest!“ Das heißt: das ist unerträglich, daß du, der eines Sinnes mit mir war, nun gegen den losgehst, der dir nur Wohlwollen geschenkt hatte. „Denn wenn mein Feind mich geschmäht hätte, hätte ich es immerhin ertragen; und vor meinem Hasser würde ich mich verbergen“ Dem Feinde läßt sich aus dem Wege gehen, dem Freunde nicht, wenn er einem nachstellen will. Vor jenem, den S. 269 wir in unsere Absichten nicht einweihen, können wir uns in acht nehmen, vor diesem nicht, den wir eingeweiht haben. Um daher das Gehässige der (Judas-) Sünde in seiner ganzen Größe zu zeigen, sprach er nicht: du aber, „mein Diener, mein Apostel“, sondern: „eines Sinnes mit mir“, das heißt: nicht mein, sondern zugleich dein Verräter bist du, nachdem du den verraten, der eines Sinnes mit dir war.

Die fürbittende Kraft der Freundschaft.

138. Der Herr selbst, ob auch von den drei Königen beleidigt, die dem Job kein Entgegenkommen gezeigt hatten, wollte ihnen lieber um des Freundes willen verzeihen. Die fürbittende Freundschaft sollte ihnen Sündenvergebung werden. Job flehte, und der Herr verzieh. Die Freundschaft frommte ihnen, während der Übermut ihnen schadete.

139. Dies meine Hinterlage an euch, meine Söhne. Ihr sollt sie in eurem Herzen bewahren! Ob sie einigen Nutzen bringt, werdet ihr selbst erproben. Vorerst bietet sie eine große Menge Beispiele. Denn beinahe sämtliche Beispiele der Altvordern, dazu zahlreiche Aussprüche derselben sind in diesen drei Büchern enthalten. Mangelt auch der Rede jeglicher Schmuck, mag doch der Inhalt gleichsam mit seinem kurzen Abriß des (biblischen) Altertums recht viel des Belehrenden bieten.

Weblinks