Adolphe Tanquerey: Grundriss der aszetischen und mystischen Theologie: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 1. August 2022, 16:47 Uhr

Grundriss der aszetischen und mystischen Theologie
Adolphe Tanquerey, 1923-1924

Quelle: Grundriss der aszetischen und mystischen Theologie von Adolphe Tanquerey, (vom Französischen) ins Deutsche übertragen von P. Johannes Sternaux SJ, Société de Saint Jean L'Evangéliste, Desclée & Cie, paris, Tournai (Belg.) Rom 1935 (1104 Seiten + Anhang und Sachregister 32*; Imprimatur Tournaci, die 28. Jsnuarii 1931, J. Blampain, Vic. Gen.).

Vorlage:Überarbeiten

DER JUNGFRAU UND MUTTER,

DIE UNS JESUS SCHENKTE,

DURCH IHN UNS ALLES GAB,

DIE UNS DURCH JESUS

ZU GOTT FÜHRT,

SEI DIESES BÜCHLEIN

DARGEBOTEN ZUM ZEICHEN

KINDLICHEN VERTRAUENS.


VORWORT

ZUR SECHSTEN AUFLAGE.

Wie der Titel besagt, sind diese kurzen AusfÜhrungen keine vollständige Abhandlung, sondern ein Auszug, der eingehenderen und tiefschürfenderen Studien als Rahmen dienen könnte. Um jedoch die Trockenheit einer so knapp gefassten Darbietung zu vermeiden, haben wir es uns angelegen sein lassen, neben geeigneten zur Frömmigkeit anregenden Erwägungen jene Punkte weiter auszuführen, die wesentlich zur Gestaltung des inneren Lebens beitragen. Solche sind das Einwohnen des Hl. Geistes in der Seele, unsere Einverleibung in Christus, der Anteil der Gottesmutter an unserer Heiligung, das 'Wesen der Vollkommenheit und die Notwendigkeit, danach zu streben. Dasselbe gilt beim Betreten der drez" Wege. Was die Seelen zum Vertrauen, zur Liebe und zur Übung der Tugenden führen kann, bei dem verweilen wir länger.

Da das Dogma nach unserer Überzeugung die Grundlage der aszetischen Theologie bildet und die Darlegung von dem, was Gott für uns getan hat und noch unaufhörlich tut, bei uns der wirksamste Antrieb zur wahren Frömmigkeit ist, waren wir darauf bedacht, kurz an die Glaubenswahrheiten zu erinnern, auf die sich das innere Leben gründet. Unsere Abhandlung ist also zunächst belehrend und darauf angelegt, zu zeigen, dass die christliche Vollkommenheit logisch aus unseren Dogmen, besonders aus dem Zentraldogma der Menschwerdung, sich ergibt. Sie ist aber gleichzeitig auch von

viii

VORWORT.

praktischem Werte, denn nichts ist so geeignet, uns zu stärken und zu beharrlichen Anstrengungen zu befähigen, welche die eigene Besserung und die Tugenden erfordern, als ein erleuchteter und lebendiger Glaube. Daher sind wir schon im ersten Teile bemüht,aus unsern Dogmen die daraus sich von selbst ergebenden praktischen Schlussfolgerungen zu ziehen, die allgemeinen Mittel zur Vollkommenheit daraus herzuleiten und unsere Leser anzuregen, das in die Tat umzusetzen, was sie aufmerksam gelesen haben. "Es tote factores verbi et non auditores tantum. " I

Im zweiten, ausserordentlich praktischen Teile werden wir ebenso unsere Folgerungen auf die im ersten Teile dargelegten Dogmen stützen, besonders auf unsere Einverleibung in Christus und das Wohnen des .BI. Geistes in uns. Die Reinigung der Seele vollzieht sich auf vollkommene Weise nur dadurch, dass wir demjenigen einverleibt werden, der die Quelle aller Reinheit ist. Die positive Übung der christlichen Tugenden ist nie leichter, als wenn wir denjenigen in uns hinabziehen, der sie in ihrer Fülle besitzt und so sehnlich wünscht, sie uns mitzuteilen. Was dz'e innige und gewohnheitsmässige Vereinigung mit Gott angeht, so wird diese sich nur dann ganz verwirklichen, wenn sie unter dem Auge und der Leitung der in uns wohnenden heiligsten Dreifaltigkeit sich vollzieht. So wird unser Fortschritt in den drei gros sen Abstufungen des geistlichen Lebens d. h. unsere allmähliche Einverleibung in Christus und unsere immer mehr sich vervollständigende Zugehörigkeit zum Geiste, dem Heiligmacher, gekennzeichnet werden.

, Epistel des M. Jakobus, I, 22.

VORWORT.

IX

Diese enge Verbindung mit dem menschgewordenen Worte und seinem göttlichen Geiste schliesst eine sehr tätige Aszese nicht aus, setzt sie vielmehr voraus. Der hl. Paulus, der unsere Einverleibung in Christus und unsere Verbindung mit Gott so herrlich beleuchtet hat, betont nichtsdestoweniger die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Neigungen des alten Menschen, gegen die Welt und die Geister der Finsternis. Ebendeshalb haben wir bei der Behandlung der drei Wege oft vom g-ezstlzdzen Kampfe gesprochen, von energischen Anstrengungen, von Abtiitung, Versuchungen, Niederlagen, Erhebungen, nicht nur für Anfänger, sondern auch für fortgeschrittene Seelen. Man muss immer der WirkHcllkeÜ Rechnung tragen, daher bei Besprechung der innigen Vereinigung mit Gott und dem Frieden, der daraus hervorgeht, daran erinnern, wie die hl. Therese es tut, dass der geistliche Kampf erst mit dem Tode aufhöre.

Aber dieser unaufhörliche Kampf, dieser Wechsel von Tröstungen und Prüfungen, hat nichts Furchtbares für die grossmütigen Seelen, die in der Stille ebenso wie im Sturme immer mit Gott vereint sind.

Wir schreiben besonders für Semz·narz·sten und prz'ester, aber wir hoffen, dass das Buch auch den relzgiösen Genossenschaften von Nutzen sein wird, ebenso wie zahlreichen Laien, die das innere Leben pflegen, um das Apostola t desto wirksamer a usz uü ben.

Vor allem werden wir die szchaen oder allg"emein angenommenen Lehren darlegen, den strittigen Fragen nur sehr beschränkten Raum schenken. Ohne Zweifel gibt es im geistlichen Leben viele Methoden. Die besonnensten Vertreter derselben

x

VORWORT.

stimmen in dem, was für die Seelenleitung wirk·lich von Bedeutung ist) überein. Dieses allgemein Angenommene ist es, was wir darlegen wollen. Wir werden versuchen, es in möglichst tOgzScJle1 und psychologzscher Folge zu tun. Hie und da werden wir freilich eine gewisse Vorliebe für die Geistesrichtung der franzäszschen Schute des I7. Jahrhunderts zeigen, die sich auf den Lehren eines hl. Paulus und eines hl. J ohannes aufbaut und so ganz mit der klassischen Lehre des hl. Thomas übereinstimmt. Wir erklären jedoch in aller Offenheit dass wir voller Hochschätzung für die anderen Schulen sind und dass wir vieles ihnen zu entlehnen gedenken. Im übrigen werden wir darauf mehr bedacht sein, das sie Verbindende als das sie Trennende hervortreten zu lassen.

Dem menscJlgewordenen Logos und seiner hl.

Mutter, dem Sitze der göttI. Weisheit, widmen wir in Demut diese bescheidene Arbeit. Wir werden uns überglücklich schätzen, wenn sie unter ihrem Schutze, zur Ehre der hlst. und anbetungswürdigsten Dreifaltigkeit einiges beitragen kann.

" Ut in omnibus l101Torijicelu1 Deus per Jesum ChnSIUIIZ!" 1

Einige kleine Veränderungen, die wir in dieser sechsten Auflage anbrachten, - wohlwollenden Bemerkungen Rechnung tragend - haben den Inhalt nicht verändert. Wir danken von Herzen denen, die uns ihre Beobachtungen mitteilten.

solz"tude d'lssy (Seine), a71l Feste der hist.

DrezfaltigkeÜ, 3. Junz I928.

AD. T ANQUEREY.

, I. Brie; des M. Petrus, IV, II.

EINIGE ANERKENNUNGSSCHREIBEN.

Es sei uns gestattet, von den zahlreichen Anerkennungsschreiben, die uns zugeschickt wurden, einige der wichtigsten wiederzugeben.

Paris, am 5. I!. 1924.

Sehr geehrter, hochw. Herr Superior!

Ihr "Preds de Theologze ascetz"que et mystique" hat bei Ihren Lesern bereits sehr günstige Aufnahme gefunden. "Das Buch verdient sie und ich stimme ihr bei.

Das Werk vervollständigt eine Trilogie, die glücklich begonnen und nun gut zu Ende geführt wurde. Nach der Dogmenlehre und der Moral, die in einer durch Genauigkeit und Knappheit ausgezeichneten "Brevior syncpszs" zusammengefasst wurden, wird nun auch die aszetische und mystische Theologie in einem kurzen Abrz'ss dargeboten, der allen leicht zugänglich ist, den Klerikern sowohl, wie den Gläubigen, welche die christliche Vollkommenheit und den Weg zu ihr besser kennen zu lernen wünschen. Auf den Bahnen, die Sie ihnen weisen, laufen sie keine Gefahr, sich zu verirren. Sie sind den Seelen ein erleuchteter Lehrer, ein sicherer Ratgeber, ein frommer Führer. Hie!". finden wir die Schule des Evangeliums, der echten Uberlieferung der Väter, der grossen Theologen und der berühmten Lehrer des geistlichen Lebens, als deren meist zu verehrender Vertreter im 17· J ahrh. der edle Olier uns gilt.

Ihr neues Werk, dem soviele andere vorausgegangen, die sich an unseren theologischen Bildungs-

XII EINIGE ANERKENNUNGSSCHREIBEN.

anstalten allgemeiner Beliebtheit erfreuen, vermehrt Ihre Verdienste und gereicht der werten Gesellschaft der Sulpizianer zur Ehre.

Ich fühle mich glücklich, bei dieser Gelegenheit Ihnen, werter und hochwürdiger Herr Superior, die aufrichtigen Gefühle dank barer Verehrung und treuer Ergebenheit zum Ausdruck zu bringen.

+ LOUIS, Card. DUBOIS, Erzbischof von Paris.

Paris, den 4. März 1926.

Sehr verehrter, hochwürdiger Herr Superior!

Nicht nur danken möchte ich Ihnen für die freundliche Zusendung Ihres Buches" Priels de ... ", beglückwünschen möchte ich Sie vor allem zu dieser schönen Arbeit, die in so passender Weise Ihre Abhandlung über dogmatische und ethische Theologie krönt.

Bei Abfassung dieses Buches kamen Ihnen nicht nur die Sicherheit betreffs der Lehre, sondern auch die hervorragenden Eigenschaften der Klarheit zugute, die alle Welt in so hohem Masse an Ihren Werken schätzt und die als die Frucht einer langen und sehr erfolgreichen Lehrtätigkeit, Ihre Handbücher zum Unterricht der jungen Kleriker so wertvoll machen.

Es ist daher mein Wunsch, dass diese sich ausgiebig Ihres Priels de Thiologz"e asc. et 1n. bedienen. Sie werden sowohl aus Ihren Erfahrungen wie aus Ihren Forschungen Nutzen ziehen und die den Priestern unentbehrliche Wissenschaft der Seelenleitung daraus kennen lernen. Für sich selbst werden sie darin die \i\Teisung finden, die ihnen den

EINIGE ANERKENNUNGSSCHREIBEN. Xlll

Fortschritt auf den Wegen der inneren Vollkommenheit, nach der sie mit ihrem ganzen priesterlichen Herzen streben sollen, erleichtern wird.

Empfangen Sie, werter hochw. Herr Superior, den Ausdruck meiner aufrichtigen Ergebenheit in Christus, unserem Herrn.

Card. CERRETTI.

Apostolischer Pro-Nuntius.

Rouen, 15. I. 1925.

Sehr geehrter Herr Superior!

Seit vielen Tagen mache ich mir Vorwürfe darüber, dass ich Ihnen noch nicht für Ihr Buch gedankt. Ich bedaure jedoch mein Versäumnis nur halb, denn es ermöglichte mir, mich des Buches verschiedene Male zu bedienen und die darin verborgenen Schätze zu werten. Wie jede theologische Abhandlung, liefert dieses Handbuch lehrreichen und erbaulichen Predigtstoff, ja, mehr als irgend ein anderes Werk, weil es direkt das Seelenleben ins Auge fasst. Es ordnet die Gedanken, die wir bei einer grossen Anzahl von Verfassern gefunden haben, verdeutlicht infolgedessen im Geiste die Lehre, die wir in Ausübung unseres Lehr- und Hirtenamtes vorzutragen haben.

Empfangen Sie, werter Herr Superior, meinen herzlichsten Dank.

+ ANDREAS.

Erzbischof von Rouen.

XIV EINIGE ANERKENNUNGSSCHREIBEN.

GENOSSENSCHAFT

VOM

Paris, am 15. Nov. I924.

HL. GEISTE

Mein lieber Freund!

Nicht länger will ich zögern, Ihnen den guten Eindruck mitzuteilen, den auf unsere N ovizenmeister und auf die Novizen der" Pricz"s de Thiol. ascii. et myst. " machte, den Sie ihnen gütigst zur Verfügung gestellt haben.

Wäre der Ausdruck nicht schon so abgedroschen, so möchte ich zunächst sagen, das Werk komme zur rechten Stunde und fülle eine grosse Lücke aus und zwar in einer Zeit, da man allerwärts, bei Katholiken und Nichtkatholiken grosses Interesse für die Dinge, die das geistliche Leben betreffen, bekundet. Wir bedurften einer methodischen und vollständigen Abhandlung, die in der Lehre zuverlässig, in der Darbietung klar, im Verständnisse weit, allen Gottsuchern, Laien oder Ordensleuten oder Priestern zugänglich und nutzbringend sei: Das ist es nun, was Sie uns gegeben haben.

Das vorausgeschickte, chronologische Verzeichnis der Schriftsteller auf dem Gebiete des geistlichen Lebens, von den patristischen Zeiten an bis auf unsere Tage, bietet einen guten Überblick und zugleich eine erste wertvolle Einführung. Die darauffolgende dogmatische Darlegung ist die notwendige Grundlage wissenschaftlicher und praktischer Bildung, besonders wertvoll für junge Leute wie Novizen und Seminaristen, die den theologischen Studien noch fremd gegenüberstehen. Von dieser Grundlage aus erhebt man sich stufenweise aus den Uranfängen des übernatürlichen Lebens zur Kenntnis und Unterscheidung der aussergewöhnlichen, mystischen Vorgänge.

Mit Umgehung dessen, was in diesen heiklen Gegenständen die- manchmal em pfindlichen- Spe-

EINIGE ANERKENNUNGSSCHREIBEN. xv

zialforscher trennt, erscheint im " Pricis " die Frömmigkeit in allen ihren wechselden Formen als das regelrechte Aufblühen des Lebens Gottes in uns oder das Wohnen des Hl. Geistes in der Seele: So erschliesst sich, ohne ein Wunder der Gnade, ein gewisses Verständnis für die höchsten Höhen des mystischen Schauens. Das ist recht der Geist der von Ihnen so genannten französischen Schule, der Geist des verehrungswürdigen Olier und, wie Sie es selbst bemerkten, der Geist des Ehrw. Libermann.

Hervorgehoben zu werden verdient das harmonische Verhältnis zwischen den einzelnen Teilen des \iVerkes. Die Grundlehre z. B. nimmt einen recht ansehnlichen Platz ein. Von den drei Wegen ist der erste und allgemeinste, daher auch wichtigste, am eingehendsten behandelt. Die aussergewöhnlichen Vorgänge samt den strittigen Fragen, sind weise auf' s Ende verwiesen.

Herrn Tanquerey spendet man auch das Lob, er sei Meister in Darlegung einer Lehre, eines Systems, eines Gedankens. Sein Stil sei klar, sagt man, massvoll, schwungvoll und natürlich, wie es sich gehöre. Der Stoff ist sorgfältig eingeteilt, um das Verständnis zu erleichtern. Eine taktvolle Unparteilichkeit beherrscht das Ganze.

Ich füge diesen Anerkennungen nichts bei, mein lieber Freund, aber ich schätze mich glücklich, sie nachzuschreiben. Es gereicht mir ebenfalls zu grosser Befriedigung, Ihre Abhandlungen über Dogmen und über Moraltheologie durch diese weitere Abhandlung über aszetz'sche und mystz"sche Theologie in so natürlicher Weise ausgebaut und gekrönt zu sehen. In Ihrem stillen und arbeitsreichen Leben als Sulpizianer haben Sie also eine" Summa" der katholischen Theologie geschaffen, die durch ihre hervorragende Einheit, ihre weitgehenden U ntersuchungen, ihre klare Darbietung, und nicht zuletzt durch den sie belebenden Geist des Glaubens und

XVI EINIGE ANERKENNUNGSSCHREIBEN.

der Frömmigkeit bei Schülern und Lehrern Bewunderung und Dankbarkeit auslöst.

Seien Sie, mein lieber Freund, meines aufrichtigsten Wohlwollens versichert.

ALEXANDER LE Ro~ Erzbischof von Caria, Generalsuperior.

Vannes, am 24· 9. I924.

Geehrter, hochw. Herr 'Superior!

Die liebenswürdige Aufmerksamkeit, die Sie mir durch Zusendung Ihres" Prids" erwiesen, hat mich sehr gerührt. Ich danke Ihnen für diesen Dienst, den Sie unseren jungen Seminaristen geleistet haben, die mehr begünstigt sind, als wie zu unserer Zeit.

Die Erfahrung, die ich an mir selber machte, könnte genügen, um den älteren Herren zu beweisen, dass Ihr Buch auch ihnen sehr nützlich sein kann. Das Buch kam mir sehr gelegen. Ich gebrauchte es während meiner alljährlichen Exerzitien und, wie ich hoffe, zu meinem grössten Nutzen!

Findet man so die etwas verstreuten Gedanken geordnet wieder, so fühlt man eine wahre geistige Befriedigung, welche die Andacht fördert. Schon oft hat man festgestellt, dass viele Christen unserer Tage klare Begriffe haben übet Einzeldinge, dass ihnen jedoch eine gewisse Übersicht fehlt. Sie verlieren si.~h in Kleinigkeiten. Da ihnen der verbindende Uberblick mangelt, kommen sie nicht von der Stelle.

Gegen diesen Übelstand insbesondere wenden sich Werke wie die von P. Marmion, P. Plus, namentlich aber das Ihrige. Somit ist man zur

EINIGE ANERKENNUNGSSCHREIBEN. xvii

Hoffnung berechtigt, der gleiche Erfolg werde auch Ihrem" Precis de Theologie ascitique et mystz'que" zuteil werden.

Gern will ich dazu beitragen, das Werk in meiner Umgebung bekannt zu machen. Möge es mir vergönnt sein, auf diese Weise die Dankeschuld abzutragen, die schon seit langer Zeit gegen meinen ehemaligen Lehrer von St. Sulpiz auf mir lastet. Neben anderen wertvollen Dingen haben Sie mich gelehrt, die Wahrheit suchen, ohne Voreingenommenheit und ohne Leidenschaft, um ihrer selbst willen und zur Ehre der Kirche ...

Mögen Sie, sehr verehrter hochw. Herr Superior, der Fortdauer dieses Gefühles versichert sein in der Seele eines Bischofs, der sich in Dankbarkeit und Ergebenheit zeichnet

+ Alcimus, Bischof von Vannes.

Oran, den 24. 10. I924.

Sehr werter, hochw. Herr Direktor!

Mit lebhafter Dankbarkeit und grosser Freude nehme ich die Widmung entgegen, die Sie mir in so liebenswürdiger Weise darbringen. Das Buch, aus dem ich täglich meine geistliche Lesung mache, wird mir um so wertvoller sein, weil es von Ihnen verfasst ist. Ausserdem bietet es mir Gelegenheit, wie beim Durchlesen aller Ihrer theologischen Werke, Ihnen zu wiederholen, dass ich von Tag zu Tag mehr von Bewunderung erfüllt bin wegen der vollkommenen, harmonischen Einteilung des ganzen theologischen Werkes, ferner wegen der grossen Beflissenheit für die Richtigkeit der Lehre, der Klarheit in der Darbietung und der wohltuenden Salbung des Ausdrucks.

xviii EINIGE ANERKENNUNGSSCHREIBEN.

Muss ich hinzufügen, dass ich meinen Alumnen, wie ehemals meinen Schülern, dringend ans Herz lege, Ihrem Handbuch die möglichst grösste Aufmerksamkeit zuzuwenden, um aus Ihren auf Erfahrung sich stützenden Lehren Nutzen zu ziehen?

Empfangen Sie, sehr geehrter hochw. Herr Direktor, meine besten Glückwünsche und die Versicherung meiner aufrichtigen Ergebenheit, verbunden mit innigen Segenswünschen in Jesu Corde et Man'a Matre.

+. LEO DURAND, Bischof von Oran.

ABTEI

BRICQUEBEC (Manche)

Geehrter, hochw. Herr Superior!

Im Auftrage meines hochw. Herrn Abtes, der seit letzter Zeit etwas leidend ist, spreche ich Ihnen für die Zusendung Ihrer beiden Bände seinen wärmsten Dank aus. S. Gnaden kann Ihnen nur GlÜck wünschen und freut sich sehr Über die so rasche Verbreitung Ihres "Pricis." Der hochw. Herr Abt ist glücklich, in Ihrer Ausgabe die Gedanken wiederzufinden, die Sie im Verlaufe eines Gespräches austauschten, als Seine Gnaden das Vergnügen hatte, über die in Ihrer Arbeit enthaltenen Fragen sich mit Ihnen zu verständigen I ...



3333 INHALTSVERZEICHNIS.

Chronologische .und methodische Zusammenstellung der bedeutendsten aszetischen Schriftsteller.

Das Patristische Zeitalter. Das Mittelalter:

Benediktinische Schule Schulp. von St. Viktor Schule der Dominikaner Schule der Franziskaner

Flämische Schule (Neuere Andacht). Schule der Karthäuser

Schriftsteller ausserhillb dieser Schulen

Die Neuzeit:

Alte Schulen

N euere Schulen. Schule des hl. Ignati:Js

Theresianische oder Karmelitanisehe Schule Salesianische Schule.

Französische Schule des 17. Jahrh .. Schule des hl. Alfons v. Liguori. Schriftsteller ausserhalb dieser Schulen

XXXIII

xxxv

Xxxv XXXVI XXXVI XXXVll XXXVI II

XXXIX XXXIX

xl xl xliii xliii xlvi

xlviii xlix liii liv

Einleitung.

Wesen der aszetischen Theologie Ihre Quellen

Ihre Methode .

Vortrefflichkeit und Notwendigkeit Einteilung der aszetischen Theologie

2 9 17 25 35

ERSTER TEIL: Die Grundsätze.

1. KAPITEL. Die Anfänge des übernatürlichen Lebens. 41 I. ABSCHN. DAS NATÜRLICHE LEBEN DES MENSCHEN. 41 11. ABSCHN. SEINE ERHEBUNG ZUM ÜBERNATÜR-

LICHEN LEBEN 45

II!. ABSCHN. SÜNDENFALL UND STRAFE 49

IV. ABSCHN. DIE ERLÖSUNG UND IHRE WIRKUNGEN. 55

xx

INHALTSVERZEICHNIS.

I!. KAPITEL. Das Wesen des christlichen Lebens 63

1. ABSCHN. ANTEIL GOTTES AM CHRISTLICHEN LEBEN. 67

§ 1. Anteil der hlst. Dreifaltigkeit 67

Wie sie in uns wohnt 67

Unsere Pflichten gegen sie 75

Wie sie in uns einen übernatürlichen Organismus

gestaltet. . .... 79

Zunächst die heiJigmachende oder habituelle Gnade. 81

Die Tugenden und die Gaben. . 91

Die wirkende oder aktuelle Gnade . 96

§ 11. Anteil des Heilandes am christlichen Leben 103

Christus als Ursache der Verdienstlichkeit dieses

Lebens . 103

Christus die vorbildliche Ursache dieses Lebens 106

Christus die Quelle dieses Lebens oder das Haupt eines mystischen Leibes, dessen Glieder wir sind. I IO

Die Andacht zum Fleischgewordenen Worte . II6

§ Ir1. Anteil der sel. Jungfrau, der Engel und der

Heiligen. II 8

1. Anteil Maria' s, der Gottes Mutter und Mutter der

Menschen . 119

Verdienstliche und vorbildliche Ursache 121

Allgemeine Gnadenvermittlerin. 124

Andacht zur seI. J u'ngfrau . . 126

11. Anteil der Heiligen am christlichen Leben. 137

II1. Antei,l der Engel am christlichen Leben. 141

11. ABSCHN. AUFGABE DES MENSCHEN IM CHRIST-

LICHEN LEBEN 146

§ 1. Kampf gegen die geistlichen Widersacher 149

Gegen die dreifache Begierlichkeit 149

Gegen die Welt. 161

Gegen den Teufel 169

§ I1. Das Wachstum des inneren Lebens durch die

Verdienste 176

Das Wesen des Verdienstes 177

Bedingungen, die unser Verdienst vermehren. . 182

Bedingungen, die aus dem Verdienenden sich

ergeben. 182

Bedingungen, die sich auf den Gegenstand oder

den verdienstlichen Akt gründen. 188

Notwendigkeit und Mittel, alle Handlungen zu hei-

ligen 191

INHALTSVERZEICHNIS. XXI

§ II1. Zunahme des christlichen Lebens durch die

hl. Sakrammte 192

Die sakramentale Gnade oder Sakramentsgnade 193

Innere Verfassung, um aus derselben Nutzen zu

ziehen 197

Innere Verfassung, um aus dem hl. Sakrament der

Busse Nutzen zu ziehen. 199

Verfassung, um aus der hl. Messe Nutzen zu

ziehen. . 204

Verfassung, um aus der hl. Kommunion Nutzen zu

ziehen 21 I

Zusammenfassender RÜckblick auf das 2. Kapitel . 221

III. KAPITEL: Die Vollkommenheit des christlichen

Lebens . 225

1. ABSCHN. FALSCHE BEGRIFFE VON DER VOLLKOM-

MENHEIT 226

11. ABSCHN. RICHTIGER BEGRIFF VON DER CHRIST-

LICHEN ·VOLLKOMMENHEIT. 231

Sie besteht wesentlich in der Liebe . 233

Liebe setzt auf Erden das Opfer voraus 241

·Wechselseitiger Anteil der Liebe und des Opfers 246

Wechselseitiger Anteil der Gebote u. der Räte 250

Die verschiedenen Stufen der Vollkommenheit 254

Die Schranken der Vollkommenheit. 256

IV. KAPITEL: Von der Verpflichtung, nach der Voll-

kommenheit zu streben . 26 I

1. ABSCHN. FÜR DIE PRIESTER ODER GEWÖHNLICHEN

GLÄUBIGEN . 261

Die Verpflichtung als solche. . . . . 261

Die BeweggrÜnde, welche diese Pflicht erleichtern. 269

I I. ABSCHN. FÜR DIE ORDENSLEUTE . 272

Verpflichtung, die sich auf die Gelübde grÜndet 274

Verpflichtung, die sich auf die Konstitutionen u. die

Regeln grÜndet 277

I 11. ABSCHN. FÜR DIE PRIESTER. 280

Lehre Jesu und des h1. Paulus . 282

Lehre des Pontifikale .. . 287

Verpflichtung, die aus den priesterlichen Verrich-

tungen hervorgeht. 292

SCHLUSSFOLGERUNG : Notwendigkeit eines hdligen

Lebenswandels für den Priester 299

xxii

INHALTSVERZEICHNIS.

V. KAPITEL: Die allgemeinen Mittel zur Vollkom-

menheit . 303

I. ABSCHN. INNERE HILFSMITTEL. 305

§ 1. Das Verlangen nach Vollkommenheit 305

Wesen dieses Verlangens. 305

Dessen Notwendigkeit und Wirksamkeit. 307

Eigenschaften, die es haben muss 311

Mittel, es zu erregen. 314

§ II. Die Erkenntnis Gottes und seiner selbst 317

I. Die Erkenntnis Gottes. 318

Was wir von Gott erkennen mÜssen. 318

Mittel, diese Kenntnis zu erwerben . 323

SCHLUSSFOLGERUNG: Die Übung der Gegenwart Gottes. 328 I1. Die Erkenntnis seiner selbst 330 Notwendigkeit und Gegenstand dieser Erkenntnis. 331

Mittel, sie zu erlangen. 336

Methode der allgem. GewissensprÜfung . 336

Methode der besonderen Gewissenserforschung 338

§ I I I. Von der Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes. 346 Gleichförmigkeit mit dem geoffenbarten Willen

Gottes .. . 346

Gleichförmigkeit mit dem Willen des Wohlgefallens

Gottes . ... . . 352

Stufen der Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes. 357 Bedeutung, die dieser Gleichförmigkeit fÜr die Hei-

ligung zukommt 358

§ IV. Vom Gebet. 36r

Wesen des Gebetes, seine verschiedene Arten. 362

Das Vaterunser, das schönste Gebet 372

Anteil des Gebetes bei der Heiligung 373

Wie man seine Handlungen in Gebet verwandeln

kann 377

II. ABSCHN. ÄUSSERE MITTEL ZUR VOLLKOMMENHEIT. 382 ~ 1. Die Seelenleitun/;, das gewöhnliche JVfittel fÜr den

Fortschritt 383

Beweis von deren Notwendigkeit durch Zeugnis

urteilsfähiger Menschen 383

Durch die Erfordernisse des Fortschrittes 386

Gegenstand der Seelenleitung . 390

Pflichten des SeelenfÜhrers . 393

Pflichten des der Leitung Untergebenen. 397

INHALTSVERZEICHNIS.

XXl11

§ I!. Von der Lebensordllullg 402

Deren Nutzen. . 402

Deren Eigenschaften 406

Art und Weise, diese Ordnung einzuhalten 409

§ II 1. Geistliche Lesungen und Unterweisungen. 41 I

Von der hl. Schrift. . 41 I

Geistliche Schriftsteller und geistl. Gespräche. 4' 3

Verfassung um aus diesen Lesungen Nutzen zu

~ehen 415

§ IV. GesellscJuiftliche Beziehungen 417

Allgemeine Grundsätze 4,8

Familienbeziehungen 420

Freundschaftsbeziehungen 425

Amtsbeziehungen 434

Apostolatsbeziehungen 437

Allgemeine Zusa1llmenfassung der ersten Teiles 441

ZWEITER TEIL : Die drei Wege.

VORBEMERKUNGEN ÜBER DIE DREI WEGE. 445

Warum man sie unterscheidet. 446

Art und Weise, aus dieser Unterscheidung Nutzen

zu ziehen 45'

Nutzen des Nachsinnens Über die drei Wege. 454

ERSTES BUCH. Reinigung der Seele

oder der Reinigungsweg.

Unterscheidende Merkmale dieses Weges 456

Das zu erreichende Ziel. . 460

Einteilung des ersten Buches . 461

I. KAPITEL. Das Gebet der Anfänger.

1. ABSCHN. NOTWENDIGKEIT DES GEBETES UND DIE

BEDINGUNGEN FÜR DASSELBE 464

§ I. Notwendif?keit des Gebetes 464

§ I1. Wesentliche Bedingungen für dasselbe 466

11. ABSCHN. GEBETSÜBUNGEN DER ANFÄNGER 474

!II. ABSCHN. DIE BETRACHTUNG DER ANFÄNGER 477

§ 1. Allgemeinbef?rijfe . 477

§ II. Vorteile und Notwendif?keit. 480

XXIV

INHALTSVERZEICHNIS.

§ I I 1. Merkmale dieser Betrachtung . . 487

§ IV. Die hauptsächlichsten Betrachtungsmethoden 492

Methode des hl. Ignatius . . . 495

Methode von Sankt-Sulpitius . . 500

II. KAPITEL. Die Busse zur Sühne für die Vergangenheit.

Die Tugend des Bussgeistes : Notwendigkeit und

B~riff . 5~

1. ABSCHN. ABSCHEU UND FLUCHT VOR DER SÜNDE. 509

§ 1. Die Todsünde 510

§ I1. Die lässliche Sünde 519

11. ABSCHN. SÜHNE FÜR DIE SÜNDE 527

Beweggründe zur Busse 527

Bussgesinnungen 533

Busswerke. 535

III. KAPITEL. Die Abtötung zur Vermeidung der Fehler.

I. ABSCHN. ART DER ABTÖTUNG . 539

I1. ABSCHN. NOTWENDIGKEIT 542

III. ABSCHN. ÜBUNG DER ABTÖTUNG . 552

§ 1. Abtötung des Leibes 554

§ II. Abtötung der inneren Sinne 559

§ III. Abtötung der Leidenschaften 561

Psychologie der Leidenschaften 562

Wirkungen der Leidenschaften. 564

Guter Gebrauch der Leidenschaften. 568

§ IV. Abtötung der geistigen Fänigkeiten 574

Schulung des Verstandes. 575

Erziehung des Willens 578

IV. KAPITEL. Der Kampf gegen die Hauptsünden.

1. ABSCHN. DER HOCHMUT UND DIE IHM VERWAND-

TEN LASTER.

§ 1. Der Hochmut im eigentlichen Sinne § I1. Neid und Eifersucht .

§ III. Zorn.

I1. ABSCHN. DIE SÜNDEN DER SINNLICHKEIT § 1. UmnässigkeÜ im Essen und Tn'nken

§ 11. Unkeuschheit

§ II 1. Trägheit .

I I 1. ABSCHN. DER GEIZ.

584 584

.601

605 6II 611 616 624 629

V. KiU'll J::!.L. uer r;..ampr gegen OIe versucnungen.

1. ABSCHN. DIE VERSUCHUNGEN IM ALLGEMEINEN 635

Absichten der Vorsehung bei der Versuchung. 636

Psychologische Untersuchung der Versuchung 638

Stellungnahme in bezug auf die Versuchung. 642

11. ABSCHN. VERSUCHUNGEN DER ANFÄNGER 648

Täuschungen bezÜglich der Tröstungen und der

Trockenheiten. 648

N.1angel an Beharrlichkeit. 655

Ubertriebener Eifer. 656

Skrupel 658

NACHTRAG. Rej(eln für die UnterscheidunI( der Geister. 669

Zusammenfassung des I. Buches 671

ZWEITES BUCH. Der Weg der.Erleuchtung.

FÜr wen dieser Weg ist . 675

Das Ziel: J esus, der Mittelpunkt unseres Lebens 677

Die frommen Seelen und die eifrigen Seelen. 68 I

I. KAPITEL. Das innere Gebet der Fortgeschrittenen.

1. ARSCHN. WESEN DES INNEREN GEBETES 684

I1. ABSCHN. DESSEN VORZÜGE 688

II1. ABSCHN. DESSEN GEFAHREN. 690

IV. ABSCHN. ARTEN DES INNEREN GEBETES 693

11. KAPITEL. Die sittlichen Tugenden der Fortge-

schrittenen.

Vorbegrijft 7Jon eingegossenen Tugenden 699

Die eingegossenen Tugenclen im allgemeinen. 699

Die sittlichen Tugenden im besonderen 706

1. ABSCHN. DIE TUGEND DER KLUGHEIT 710

Ihr Wesen. 710

Ihre Notwendigkeit. 716

Hilfsmittel zur Ubung derselben 718

11. ABSCHN. DIE TUGEND DER GERECHTIGKEIT. 723

§ 1. Die Gerecldigkeit im et'gentlicllen Sinne 723

§ 11. Die Tugend der Religion 729

§ II1. Die Tugend des Gehorsams 736

[11. ABSCHN. DIE TUGEND DES STARKMUTES 749

§ 1. Wesen und Stufen. 750

§ II. Die dem Starkmut verwandten Tugenden 754

XXVI

INHALTSVERZEICHNIS.

§ I Il. Mittel, um sich in dieser Tugend zu vervoll-

kommnen 762

IV. ABSCHN. DIE TUGEND DER MÄSSIGKEIT 765

§ 1. Die Keuschhdt 766

Die Keuschheit im Ehestande. .. 767

Die Enthaltsamkeit oder Jungfräulichkeit 770

§ 11. Die Demut. 783

Wesen und Grundlage. 784

Verschiedene Grade der Demut 787

Vortrefflichkeit dieser Tugend. 793

Mittel zur Ubung derselben . 796

III. KAPITEL. Die göttlichen Tugenden.

1. ABSCHN. DIE TUGEND DES GLAUBENS Ihr Wesen. . . .

Ihre heiligende Tätigkeit .

Ihre zunehmende Ubung .

I1. ABSCHN. DIE TUGEND DER HOFFNUNG.

Ihre Bestandteile . . .

Ihre Tätigkeit bei unserer Heiligung Wie man sie vollkommener Übt

813 813 816 821

I I 1. ABSCHN. DIE TUGEND DER LIEBE Bemerkungen Über die Liebe im allgemeinen

§ 1. Die Dottesliebe

Gebot und Beweggrund der Gottesliebe

Ihre heiligende Tätigkeit. . .

Fortschreitende Übung der Gottesliebe

§ 11. Die Nächstenliebe Ihr Wesen.

Ihr Anteil bei unserer Heiligung Wie sie zu Üben ist .

§ II1. Das heiligste Herz Jeslt Vorbild und der Liebe

Das heiligste Herz J eSll und das innere Leben.

826 826 829 832

838 838 840 840 844 847

854 854 855 856

Quelle

863 867

IV. KAPITEL. Erneute Angriffe des bösen Feindes.

1. ABSCHN. WIEDERAUFLEBEN DER HAUPTSÜNDEN . 871 11. ABSCHN. DIE LAUHEIT . 875 NACHTRAG: Die Unterscheidung der Geister auf dem

Erleuchtungs~lJege. 881

Zusammenfassung des zweiten Buches 883

INHALTSVERZEICHNIS.

XXVll

DRITTES BUCH. Der Weg der Einigung.

Das zu verfolgende Ziel

Die unterscheidenden Merkmale weges

Die Beschauung

des Einigungs-

886 888 891

1. KAPITEL. Der gewöhnliche Einigungsweg.

1. ABSCHN. DIE GABEN DES HL. GEISTES 897

§ I. Die Gaben im allgemeinen 898

Wesen und Vortrefflichkeit 898

Pflege dieser Gaben . 902

§ 11. Jede Gabe im besonderen 908

Die Gabe des Rates. 908

Die Gabe der Frömmigkeit 91 I

Die Gabe der Starkmutes. 914

Die Gabe der Furcht Gottes 917

Die Gabe der Wissenschaft 920

Die Gabe des Verstandes. 924

Die Gabe der Weisheit 927

§ II 1. Mitwirkung der Gaben während des Gebetes

und der Beschauung 930

§ IV. Die FrÜchte des Hf. Geistes und die Sel(f[keiten. 936

11. ABSCHN. DIE EINFACHE BESCHAUUNG • 938

§ 1. Ihr Wesen: Die dreI/adle VereinfadlUng 939

§ I1.1hre VorzÜge . 943

§ II 1. Art und Weise, sie vorzunehmen . 946

§ IV. 1st es eine erworbene oder verlie/zene Beschau-

ung.? . 95 I

11. KAPITEL. Die verliehene Beschauung.

1. ABSCHN. DIE VERLIEHENE BESCHAUUNG IM ALL-

GEMEINEN 955

§ 1. Wesen dieser Besdlauung 955

Beschreibung. . . 955

Anteil Gottes bei der Beschauung 957

Anteil der Seele. 961

§ 11. VorzÜge der Beschauung 969

§ III. Die BejähigunE{ zur Beschauung 972

Wem schenkt Gott die Gnade der Beschauung? 972

Anzeichen eines baldigen Rufes zur Beschauung 976

xxviii

INHALTSVERZEICHN IS.

11. ABSCHN. DIE VERSCHIEDENEN WANDLUNGEN BEI

DER BESCHAUUNG 979

§ 1. Das Gebet des Rultens in Gott 981

1. Das empfindungslose Ruhen oder die Verdun-

kelung der Sinne. 981

Die damit verbundenen Vorteile 987

Wie man sich dabei verhalten muss. 989

11. Das sanfte'Ruhen 991

Die passive, innere Sammlung. 992

Ruhen im eigentlichen Sinne 995

Schlummer der Seelenkräfte 1001

§ 11. Das Gebet der vollständigen Vereinig·ung, 1002

§ II 1. Extatische Vereinigung( Geistliche Verlobung). 1005

1. Sanfte extatische Vereinigung . 1005

Wesen und verschiedene Wandlungen 1006

Hauptwirkungen 1010

11. Empfindungslose Vereinigung oder Nacht des

Geistes 1012

§ I V. Verwandelnde Vereinigung ( Geist!. Vermählung). 1015

Wesen derselben 1016

Wirkungen derselben IOI9

NACHTRAG : Der Quietismus oder der falsche Mysti-

zismus . I 1022

Der Quietismus des Molinos 1023

Der Quietismus des Fenelon 1025

Der Halb-Quietismus. 1026

III, KAPITEL. Aussergewöhnliche mystische Vorgänge.

1. ABSCHN. GÖTTLICHE EINWIRKUNGEN 1028

PrivatojJenbarungen : deren Wesen 1028

Anleitung zu deren Beurteilung 1033

Psycho-j'Jhysiologische Erscheinungen 1045

Von der Stigmatisation im besonderen 1049

Unterscheidendes von den krankhaften Erschei-

nungen.

II. ABSCHN. TEUFLISCHE EINWIRKUNGEN.

Das Besitzergreifen des Teufels Die Besessenheit

Heilmittel fÜr die BesessenheIt.

1055 1056 1059 1064

IV. KAPITEL. Strittige Fragen,

Ursache dieser Streitfragen. . 1068

Ist die Beschauung mittelbar oder unmittelbar? 1070

INHALTSVERZEICHNIS.

XXIX

Ist der Ruf zur Beschauung allgemein? . 1074

Wann kann man von Beschauung sprechen? 1083

SCHLUSS: Leitung beschaulicher Seelen. 1085

NACHWORT : Die drei Wege und der liturgische Festkreis 1090

Das Gebet: 0 Jesus vivens in Maria •. 1097

ANHANG

1. Die Spiritualität des Neuen Testamentes Die Spiritualität der Synoptiker

Die Spiritualität des hl. Paulus

Die Spiritualität des hl. Johannes

I I. Charakterstztdien .

In bezug auf das Gemüt.

In bezug auf die Fähigkeiten des Geistes. In bezug auf das gesellschaftliche Leben.

1* 1* 5* 9*

II* 13* 16* 18*


_.-



Im Namen des hochw. Herrn Abtes, FR. GERMANUS.

, Im Sommer 1923 hatten wir nämlich die Ehre, mit dem hochwst.

Abt, Dom Lehodey, der Trappistenabtei in Bricquebec eine längere Unterredung zu führen und festzustellen, dass unsere Anschauungen mit denen des so verehrten und in mystischen Fragen so erfahrenen Lehrmeisters Übereinstimmten. Wir benÜtzen jetzt die Gelegenheit, ihm für seine, auf jahrelanger Erfahrung beruhenden AufschlÜsse zu danke!].

CHRONOLOGISCHES UND METHODISCHES VERZEICHNIS

DER WICHTIGSTEN ZU RATE GEZOGENEN SCHRIFTSTELLER.

Anstatt einfach eine alphabetische Quellenangabe vorauszuschicken, schien es uns im Interesse der Leser geratener, ein gleichzeitig chronologisches und methodisches Verzeichnis der zu Rate gezogenen Schriftsteller zu geben, vom Mittelalter an mit Nennung der Schulen, an die sie sich anlehnen. Wir zählen aber nur die wichtigsten auf, oder wenigstens jene, die wir für die wichtigsten halten. I

1. - DAS PATRISTISeHE ZEITALTER.

In diesem Zeitalter wird der Stoff herausgearbeitet, aus dem sich die Wissenschaft vom geistlichen Leben aufbauen wird. Wir finden bereits zwei Zusammenfassungen, die von Kassian im Westen und die des M. Joh. Klilllacltus im Osten.

I. WÄHREND DER ERSTEN DREI JAHRHUNDERTE:

Der hl. KJemens, Lettre a l'eglise de Corinthe (um 95). Er empfiehlt Eintracht, Demut und Gehorsam. P. G., I, und Ausgabe Helllmer-Lt;jay.

Hermas, Le Pasteur (140-155) P. G., II, 891-1012, behandelt weitläufig die Bedingungen der Rückkehr zu Gott durch die Busse 2.

Klemens von Alexandrien, Pädagogus (nach 195), P. G., IX, 247-794, u. Ausgabe Berolinensis, schildert, wie der wahre Gnostiker durch die Aszese zur Beschauung gelangt. 3

Der hl. Cyprian, (200-258), De habitu virginulll, de dOlllinica oratione, De opere et eleelllosynis, de bono patientice, dt zelo et livore, de lapsis, P. L., IV. Die beste Ausgabe ist jedoch die von Harte!, Wien, 1868,1871.4

2. VOM 4.-7. JAHRHUNDERT:

A) In der Kirche des Westens.-

Der hl. Ambrosius, (333-397), De OtJiciis lIlinistrorum, De virginibus, de viduis, de virginitate, P. L., XVI, 25-302, u. die Wiener Ausgabe.

I Zur Vervollständigung dieser Hinweise siehe das vortreffliche Werk von P. POURRAT, La Spiritualittf cltrtlienne, 2 in-12, Paris, Gabalda, 1918-192I.

2 CAVALLERA, Rev. d'As. tt de Myst., Okt. 1920, S. 351-360.

3 P. GUILLOUX, Rev. d'As. et de Myst., Juli 1922, S. 282-399· DOM MENAGER. Vie spirituelle, Jan. 1923. S. 407-430.

4 A. D'ALES, Rev. Ase. et l11yst., Juli 1921, S. 256-268.

N° 683. - b

Zu RATE GEZOGENEN SCHRIFTSTELLER. xxxv

cOllsubstalltia1i Trinitate, P. G., LXXV, wo man die Beziehungen der Seele zu der hlst. Dreifaltigkeit erforschen kann.

Ps.-Dionysius, (um 500), De divinis nominibus, De ecc!esiastica hierarchia, De mystica t/le%gia, P. G., III. Seine Lehre von der Beschauung war fast fÜr alle späteren Schriftsteller massgebend.

Der hl. Joh. Klimakus, (t 649), Scala Paradisi, P. G., LXXXVIII, 632-1164. Überblick der Aszetik und Mystik fÜr die Mönche des Ostens, älmlich demjenigen Kassians fÜr den Westen.

Der hl. Maximus der Bekenner, (580-662), hat die l.ehre des Dionysius Über die Beschauung ergänzt und verdeutlicht, indem er sie an die Lehre vom menschgewordenen Sohne Gottes (Logos) anschloss, der zur Erde kam, um uns zu vergöttlichen. Anmerkungen Über Dionysius, P. G., IV, Liber asceticus, P. G., XC, 912-956. Mystagogia, P. G., XCI, 657-717.

N. B. Wir fÜhren die Schriftsteller vom 8.-Il. Jahrhundert nicht an, da sie zum Aufbau der geistlichen Wissenschaft nichts Wichtiges beitrugen.

II. - DAS MITTELALTER.

Es bilden sich schon Schulen, welche die in den Werken der Väter verstreuten Bestandteile der geistlichen Wissenschaft ausarbeiten und zusammenfassen. Wir wollen also die Schrifsteller der wichtigsten Schulen angeben.

1. DIE BENEDIKTINISCHE SCHULE:

In der Abtei von Bec, in der Normandie : Der hl. Anselmus, (1033-1109), dessen MIditations und Prieres sowohl dogmatischer als innerlicher Frömmigkeit voll sind. P. L., CLVIII, 109-820, 855-1016. ' Cur Deus hOIllO, P. L., CVIII, 359-432, wo sich grÜnd-' liehe Erwägungen finden über die unendliche Beleidigung, die Gott durch die SÜnde zugefÜgt wird, sowie über die Kraft der SÜhneleistungen Christi.

In der Abtei von Citeaux : Der hl. Bernhard, (1090-II53), dessen i1lnige und praktische Frömmigkeit ungeheuren Einfluss auf das ganze Mittelalter ausÜbte: Ser1ll0nes de tempore, de sauctis, de diversis, in Cantica Callticorunl, de Consideratione. Tr. de gradibus et /lUlIlilitatis et supe,-bice. Liber de diligendo Deo. P. L., CLXXXII-IV,

Im Kloster Rupertsberg bei Bingen: Die hl. Hildegard, (t 1179), Liber di7IiIl07'Zt11l operul1l, P. L., CXCVII. 2

Im Kloster Hel/ta in Sachsen : Die hl. Gertrud die Grosse, (1256-13°1), Die hl. Mechtilde v. Hackeborn, (t 1298), u. Mechtilde von Magdeburg, (128o); ihre Ojtellbarzm,Re1/ zeichnen sich durch einfache, innige Frömmigkeit aus und bekunden zarte Andacht zum hlst. Herzen Jesu. 3

, Eine franz. Übersetzung ist soeben in der Sammlung "Pax" BrÜgge, Desclee, De Brouwer & Cie, erschienen.

2 M. SALYAYRE, S. Bernm-d, maUre de vie spirituelle, Avignon, 1909. 3 Revelationes Gertrudiance ac Mechtildiance, h.~rausgegeben von den Benediktinern von Solesmes, 1875-1877. Fra!)z. Uhers. : Le H!raut de l'amo1l,. divi7l, 1878. Oder fnsinuations de la divi7le pitt!, 1918;

XXXVI VERZEICHNIS DER WICHTIGSTEN

Im Klosler Alvastra in Schweden: Die hl. Brigitta, (1302-1273), deren Offenbarungen in lebhafter, greifbarer Weise die Geheimnisse, besonders das Leiden des Heilandes schildern. Röm. Ausg. i. J. 1628.

Im Kloster Caste!, Oberpfalz : Jean de CasteI, De adhcerendo Deo, lange Zeit dem se!. Albertus Magnus zugeschrieben. De 11lmine 'increato, 1410. I •

In Italien: Der hl. Laurentius Justinianus, (1380-1455), Reformator der italienischen Kongregationen und des Weltklerus, hat mehrere Werke über das praktische innere Leben geschrieben: De (ompu"ction~ et eomplanctu ehristiallce peifectionis, De vita solitaria, de contelllptu mundi, de obedientia, de humilitate, de perfectionis gradibus, de illcendio amoris divini, de regimine prcelatorum. (Bd. II. der Opera 011l11ia, Venedig 1751).

In Spanien: Garcia de Cisneros, (1510), der in seinem Ejereitatorio de la vida espiritual ein geist!. Lebensprograqlm entwirft.

2. DIE SCHULE VON ST. VIKTOR: .

Drei sind die hauptsächlichsten Vertreter derselben : Hugo, (t II41), De sacramentis christiance fidei, De Va/litate mundi, Soliloquiu11l de arr1za anilllce. De laude caritatis. De modo orandi. De amore sponsi ad spollsam. De meditando. P. L., CLXXVI.

Richard, (t 1173), Benjamin minor seu de prreparatione ad con· templationem; Benjamin major seu de gratia contemplationis; Expositio in Cantica Canticorulll. (P. L., CXCVI.)

Adam, (t 1177), Sequentice. P. L., CXCVI. Der eigentliche

Dichter dieser Schule. -

Alle drei gehen vom S}"JZbolislllus des Universums aus, um durch die Beschauung zu Gott zu gelangen.

3. DIE SCHULE DER DOMINIKANER. 2

Das geistliche Leben beruht auf dogmatischer 'unO. moralischer Theologie, verkörpert sich mit ihr und verbindet Gebet und Beschauung mit tätigem Leben und dem Apostolat : Contefllplari et C01ltemplata aliis tradere.

Der hl. Dominikus, (1170-1221), Stifter des Predigerordens.

Arbeitete seine Konstitutionen nach denen der Prämonstratenser aus und zwar im Hinblick auf die Heranbildung von tüchtigen Predigern, die fähig wären, die Religion gegen die gelehrtesten Gegner zu verteidigen.

Albertus Magnus, (1206-1280), COllllllmtarii in Diollysiulll Areopagitalll. In quatuor lib,-os Sentent., Summa Theologia;. De sacrijicio 1Ju"SStE. 3

Exercices spirituels de Ste Gertrude (Art catholique); Ste Gertrude, sa vie interieure, von D. G. DOLAK, Sammlung Pax. 1922.

t DOM 1. HUYBEN, Vie spirit., Nov. 1922, Jan. 1923, S. 22, 80 U. ff.

2 Siehe den Artikel in " Vie spirit. " Aug. 1921, die Spiritualität der Dominikaner; P. MANDONNET, S. Dominique, l'idee, l'ho",me et l' ~uvre, 1921.

3 Paradisus anima; ins Französische übertragen von P. Vanhamme, unter dem Titel: Le Paradis de l'iime (Saint Maximin, 1921), und" De adhce"endo Deo", fr<. übers. von P. Berthier, unter dem Titel " L' Union avec Dielt ". Beide Werke sind nicht von ihm, sonderu sehr erbauliche Schriften aus dem 14. oder 15· Jahrhundert.

ZU RATE GEZOGENEN SCHRIFTSTELLER. XXXVll

Der hl. Thomas, der engl. LelLrer, (1225-1274), hat alle wichtigen Fragen der Aszetik und der Mystik ausgezeichnet in seinen Werken behandelt, besonders in der Summa theologica, in den COII/menta,ien zum hl. Paulus, dem Canticum Canticorum, den Evanr;elien, ferner in dem kleinen Werke De perfectione vitlZ spiritualis und im OiJicium S. Sacramenti, so voll inniger und lehrreicher Frömmigkeit. Diese verschiedenen Stellen wurden von Th. de Vallgornera, logisch geordnet in Mystica theologilZ D. ThollllZ. Barcinome, 1665, und Augustinre Taurinorum, 1889 u. 1911.

Der hl. Vincenz Ferrier, (1346-1419), De vita spirituali, ein wahres, kleines Meisterstück, das der hl. Vincenz von Paul Tag und Nacht bei sich trug.

Die hl. Katharina von Siena, (1347-1380). Der Dialog und ihre Briefe. Die Heilige rühmt die göttI. Barmherzigkeit, die uns erschaffen und geheiligt hat und sich sogar in den Strafen offenbart, die unsere Heiligung bezwecken. Die beste Ausgabe ihrer gesammten Werke in italienischer Sprache ist die von Gi,·olamo Gigli, Siena, 1707. '

Meister Eckart, O. P., (t 1327), von seinen vVerken sind nur BruchstÜcke vorhanden. Aus ihnen lässt sich seine Lehre nicht aufbauen. Übrigens wurden meherere seiner Sätze nach seinem Tode von Johannes XXII. verurteilt. (s. Denzinger, n. 501-529.)

Tauler, (1' 1361), Verfasser von Predigten, die wegen ihrer vortrefflichen Lehre wie auch wegen ihres Bilderreichtums bei den Zeitgenossen lebhaften Beifall fanden. Lat. Übersetzung von L. Surius. Durchgesehene deutsche Ausgabe von Vetter, 1910. Die " Instittltions" wurden nicht von ihm verfasst, enthalten aber den Inbegriff seiner Lehre.

Der seI. Heinr. Suso, O. P., (t 1365), dessen Werke von P. DeniJle in deutscher Sprache veröffentlicht worden sind : Die Sc1,riften des H. Suso.

4. DIE FRANZISKANISCHE SCHULE:

FÜhrt sowohl spekulativ als affektiv zur Liebe des gekreuzigten Heilandes, um die kreuzigenden Tugenden, bes. die_ Armut, lieben und freudig üben zu lehren.

Der hl. Franz v. Assisi, (Il81-1226), Opuscula, verbesserte Ausgabe von Quarrachi, 1904·

Der hl. Bonaventura, (1221-1274), hat ausser seinen theol. vVerken viele aszetische u. mystische Abhandlungen verfasst, die im VIII. Bd. der Ausg. von Quarracchi, im bes. De triplire via (auch Incendiulll amoris genannt) Ligm"It vitlZ, Vitis mystica. Das Itinerarium mentis ad Deu", und das Breviloquium, den theologischen Werken beigezählt (Bd. V ... Ausg. Qtlarracchi) enthalten vorzÜgliche aszetische und mystische Uberblicke.

Der unbekannte Verfasser der Meditationes VitlZ Christi, eines Werkes, das lange Zeit dem hl. Bonaventura zugeschrieben wurde, hat grossen Einfluss auf das Mittelalter ausgeÜbt. Auf affektive

'Vgl. Vie spirituelle, Aprilnummer 1923.

XXXVlll VERZEICHNIS DER WICHTIGSTEN

Weise behandelte 'er die Geheimnisse unseres Herrn, besonders sein Leiden. Der Verfasser war ein SchUler des b1. Bonavenlura.

David von Augsburg, (t 1271), Formt/la novitiorum de exten·o· ris l101Ilz'nz"s 1~eformatione, - de in/erioris hOlllint"s rejormatz"olle, Ausgabe Quarrachi, 1899.

Die seI. Angela v. Foligno, (t 1309), Le livre des visions ef illstructiolls, übers. von E. Hdlo, neue Ausg., Paris, Tralin, 1914. Schildert besonders die Transzendenz GOI les u. die Leiden J esu.

Die hl. Katharina v. Bologna, (1413-1463), lehrt in Les sept armes spirituelles contre les eJlnemis de l'äme, praktische Hilfsmittel zum Besiegen der Versuchungen.

5. DIE FLÄMISCHE Sp1ULE.

Der seI. Joh. Ruysbroeck, (1293-1381). Er ist der Gründer dieser Schule. Von den Benediktiner" der Abtei von S. Paul in vVisques wurden seine Werke aus dem Flämischen in's Französische übertragen. Die hauptsächlichsten sind: Le 1I1iroz·,- du Salut itemel. Le Livre des 7 cliJtures ou des renoncements. L' O",zement des noces spirituelles. Er ist einer der grössten Mystiker unter den Gottesge· lehrten, tief und innig. Seine Ausdrucksweise ist zuweilen schwer verständlich und bedarf näherer Erklärung. '

Die BrÜder vom gemeillscllaftlicllen LebeIl u. die "egulären Kanoniker von Windes/teim, die zwar weniger spekulativ, dafür aber praktischer u. klarer sind, können als seine Schülerangesehen werden. Von ihnen seien erwähnt:

Gerard Groot, (t 1384), Verfasser verschiedener kleiner An-

dachtsbUcher.

Florent Radewijns, (t 1400), T1-actatlllus devotus de exti,patione vitiorum et de acquisitiolle vera,..um virtutttlll.

Gerard van Zutphen, De asceltsiollibus. De nfol"1llatione virium

anillla, 1493.

Gerlach Peters, (1378-1411), dessen Hauptwerk das Soliloquiullt ist; in Köln i. J. 1616 unter dem Titel" Ignitum cu'" Deo colloqllittm" im Druck erschienen. Neuere frz. Ubersetzung von Dom E. Asse",aiue, " Soliloque el/jlamme ", St. Maximin. Die Lehre ähnelt der Nachfolge C/L1-isti.

Thomas a Kempis, (1379-1471). Verfasser verschiedener sehr frommer kleiner Werke Z in denen sich die Gedanken und zuweilen auch die Ausdrücke der Nacllfolge Cllristi wiederfinden. Soliloquiulll anillla, Hortulus "osarum, Vallis lihon,m, Cantica. De elevatione 1/teJItis. Libelltts spiritualis exercitii. De Iribus tabernaculis. Heute halten ihn die meisten Schriftsteller fUr den Verfassser der Nac!ifolge Cllristi, des" schönsten Buches, das aus der Hand des 1\1enschen hervorging, da das Evangelium nicht menschlichen Ursprungs ist. " Diese Meinung scheint uns sehr annehmbar.

'Vgl. MGR WAFFELAERT, Bischof v .. ):lrügge, der seine Lehre in "L' Union de l'time avec Dieu" darstellt. Ubers. von R. Hoornaert. DOM J. HUYBEN, Jean Ruysbroek in Vie spirit., Mai 1922, S. I'JO-II4· 2 Eine vollständige und kritische Ausgabe aller seiner Werke ist soeben von M. J. POIlL veröffentlicht worden: " Tl101IZa Hemerken a Kempis ... 0Jera omnia. " 7 Bände, Herder, Freiburg, 1922•

ZU RATE GEZOGENEN SCHRIFTSTELLER. XXXIX

Jan Mombaer oder Mauburne, (1494). Verfasser des Rosetum exercitiorulil spiritualiullt. Er behandelt darin die wichtigsten Punkte des geist!. Lebens, besonders die Betrachtungsweisen. '

6. DIE SCHULE DER KARTHÄUSER.

Hugo de Balma (od. de Palma), der in der 2. Hälfte des 13. Jahr. lebte und sehr wahrscheinlich der Verfasser der Theologia mys/ica ist, welche lange Zeit hindurch dem hl. Bonal'entura zugeschrieben wurde.

Ludolph v. Sachsen oder der Karthä.user, (1300-137°), schrieb ein Leben Unseres I-Iernt, das sehr grossen Einfluss auf die christI. Frömmigkeit hatte. Durch fromme Anmerkungen aus den Vätern bereichert, ist es mehr ein Betrachtungsbuch als ein geschichtliches

W~ .

Dionysius der Karthäuser, der extatische Doktor, (14°2-1471), ist der Verfasser zahlreicher Werke (44 Bände in 4°, neue Ausgabe 1896, begonnen von den Icart!"i·usern VOll Montreui!-sur-lIler) u. a. aszetischer Schriften: De arcta via saltttis et conteillptu Ilmndi. De gravitate et enor1llitate peccati. De conversione pecratoris. De relllediis tentatiom/m. Spuulum cOllversiollis jJlIystische Schriften: De jonte lucis et semitis vitce. De contelllplatiolle. De discretiolle spiri/tlttlJl, ohne ~eine Komlllentarien zum hl. Dionysius zu nennen.

Joh. Landsperge, (t 1539) berÜhmt durch seine Andacht zuin Herzen J esu. Sein bedeutendstes ·Werk A tloquiulIl Christi ad allimam fideleIlt, erinnert an die Nachfolge Christi. Die Karthäuser von Montreuil haben seine Opuswla spiritualia neu herausgegeben.

L. Surius, (1522-1578), vervollkommnete das Werk des A. Lipc pomani Über das Leben der Heiligen, veröffentlichte 6 Bände in fol. De prof'atis SanctorulIl historiis, wobei er mehr Frömmigkeit als historische Genauigkeit aufweist.

Der Karthäuser Molina, (165°-1612). Instmccion de Sacerdotes.

Viele Ausgaben u. Übersetzungen. Exercicios espiritua!es, worin er Über Vorzug u. Notwendigkeit des inneren Gebetes handelt.

7. AUSSERHALB DIESER SCHULEN:

Pierre d'Ailly, (1350-1420). Dejalsis prophetis (Bd. 1. der Opera olllllia von Gerson) Ausg. Ellies du Pin, Antwerpen, 1706.

Gerson, (1363-1429), hat beinahe alle aszetischen u. mystischen Fragen sowohl doktrilla! als aifok/iv behandelt: Le livre de !a vie spirituelle de I'eime. Des passions de !'dllle, Les teutatiolls. La conscience scr"p"/euse. La priere. La Coltlllllmion. La iWontagne de la Contelllp!ation. La Thtolo[(ie lIlystique spÜulative et pratique. La pelfection du caur, u. s. w. Er gab eine vortreffliche Abhandlung De parvulis ad Christulll trahendis u. Considerations Stil' S. Joseph, denn er war einer der ersten, der die Andacht zu diesem Heiligen förderte.

W. Hnton, (1" 1396), Scalaperfectionis. Eng!. Übersetzung" The scale of pe7fection " von R. P. Guy.

Juhana von Norwich, in England (t 1442), Revelations of divine love (Offenbarungen der göttI. Liebe). Neue Ausgabe, London, 1907·

, VgL H. WATRIGANT, La Meditation methodique et Jean Mauburnus. Rev. d'As. et de Mystique, Jan. 1923, S. 13-29.

xl VERZEICHNIS DER WICHTIGSTEN

Die hJ. Katharina von Genua, (1447-1510), Zwiegespräch zwischen der Seele u_ dem Leibe, dem Geiste und der Menschheit unstr~.s Herrn. Abhandlung über das Fegfeuer, sehr bemerkenswert. Frz. Ubers. von Bussiere, Paris, Tralin.

III. - DIE NEUZEIT.

Die alten Schulen fahren fort, ihre Lehre genauer zu bestimmen.

Neue Schulen entstehen u. erneuern das geistliche Leben unter dem Einflusse des Konzils von Trient und der dadurch eingeleiteten Reformbewegung. Daher manche Streitigkeiten in Einzelpunkten. Die Grundlage jedoch der Lehre bleibt die gleiche und festigt sich durch die Diskussionen_

Drei alte Schulen entwickeln sich weiter: die benedildinische, die dominikanische und die jranziskanische Schule.

L DIE BENEDIKTlNlsCHE SCHULE behält ihre Überlieferung von affiktiver u_ lÜ:Risc!ter Frömmigkeit bei und fügt ibr doktrillale genauere Bestim1Jlullgen hinzu.

Ludwig v. Blois, (1506-1566), hat eine Menge kleiner geist!.

Werke veröffentlicht. Das wichtigste davon ist" Institutio sp;,-itualis". Als aszetische u. mystische Zusammenfassung enthält es das Wesentliche der andern_ Ausser der Antwerpener Ausgabe, 1632, die alle Werke enthält, lese man: fr/anuale vita: sp;"itualis continens Ludovici Blosii opem spiI-itualia seleeta. Herder, Freiburg, .1907· Leider fehlt darin die /nstitutio spiritualis. Die beste frz. Ubersetzung ist die der Benediktiner von S. Paul de Wisques. (Euvres spiniuelles du V. L. de Blois, 2 Bde. Mame. '

Juan de Castaniza, (1" 1598), De laperfecion de la vida clwistiana, Institutiom"" divilla: pietatis libri quinque.

D. A. Baker, (1575-1641), verfasste verschiedene Abhandlungen, deren Inhalt von S. Cressy in einem Buche" Sancla Sopltia" kurz zusammengefasst wurde. Eine kleine Abhandlung über die Beschauung. Neue Ausg. London, Bums et Oates.

Kardinal Bona, (16°9-1674). Generaloberer der Bernhardiner Mönche. lJ:JaJluductio ad ea:l1lm. Principia et documenta vita: eh ,-istiana:. De sacrificio missa:. De discretione sPi1-ituu1/l, etc. Zall1feiche Ausgaben, besonders Venedig, 1752-1764. Auszüge bei I-Ierder, Freiburg. Opuscula aseetica selecta, 191 L

Schram, (1658-1720). Iltstitutiones theologia: mystira:, didaktische Abhandlung über Aszetik und Mystik, mit ausgezeichneten Ratschlägen für Seelenführer. Neue Ausgabe Paris, 1868.

V. B. Ullathorne, (1806-1889), The Endowlllents of man (die Ausstattung des Menschen), G,'otmdwork of the christian vi,ÜteS (Grundlage der christ!. Tugenden), Christian patience (Christ!. Geduld). Das letzte Werk wurde in's Französische übersetzt u. gehört zur Sammlung Pax (Desclee, De Brouwer & Cie, Briigge).

Dom Gueranger, (18°5-1875). Wiederhersteller des Benediktinerordens in Frankreich. Hat durch seine" Amzee liturgique" den

, Englische Übersetzungen: A book 0/ spiritual illstructioll, Landon, 1900; Comfort tor the faintltearted, 1902; Mirror for 1Il01lks, 1872.

ZU RATE GEZOGENEN SCHRIFTSTELLER. xli

Seelen einen unschätzbaren Dienst geleistet. Die ersten neun Bände hat er selbst verfasst, die anderen wurden von seinen Schülern vollendet und das Ganze im " Cattc1zisme liturgique" von D01Jl Leduc kurz zusammengefasst. Dieser wurde vervollständigt von Dom Baudot, 1921, Mame.

Dom Vital Lehodhey, Abt von N. D. de Gr3ce. Les .voies de ,'oraison mentale, 1908. Le saint Abandon, 1919. Directoire spintuel a l'usage des Cisterciens r4!ormes, 1910. Werke, die sich durch Klarheit, Genauigkeit und Sicherheit der Lehre auszeichnen.

L'Abbesse de Ste Cecile, (C. Bruyere). La vie spi1-ituel/e el l'oraison. Neue Ausg. 1922.

D. Columba Marmion, Le Christ, Vie de l'time. Le Christ dans ses mysteres. Le Christ, Ideal du moine, (Abtei von Maredsous u. Paris, Desclee). '

Hedley, The Holy Eucharist, Re/reat. Das erste von Roudib'e ins Französische übersetzt. La Ste Eucharistie. Das zweite von

J. Bruneau. (Lethielleux).

Kard. Gasquet, Religio Religiosi. Ziel und Zweck des klösterlichen Lebens. Desclee, Rom, 1919.

Dom J. B. Chautard. L'time de tout apostolat, 5· Ausg. 1915. Dom G. Morin, L'idtial 1Il0nastique et la vie chritienne des premiers jours. Sammlung Pax.

2. DIE DOMINIKANIsCHE SCHULE schliesst sich auf's engste an die Lehre des h!. Thomas an, erklärt, ordnet und fasst seine Unterweisungen über Aszetik und Beschauung zusammen. Alles mit Klarheit und Methode.

Thomas Cajetan, (1469-1534), in seinem Kommentar zur Summa des hl. Thomas, der tiefgründlich und genau ist.

Ludwig von Granada, (1504-1588), hat gründlich und salbungsvoll alles behandelt, was die christI. Vollkommenheit betrifft, ohne eine aszetische Theologie als solche zu schreiben. Le Guide des PIcheurs. Traite de l' oraison et de la meditation. Le memorial de la vie chrttienne. Diese und noch andere Werke von Girard, Paris, 1667, in's Französische übersetzt.

D. Barthelemy des Martyrs, Erzbischof vom Braga. Compendium doctrintE spiritualis, 1582, eine sehr inhaltsreiche Zusammenfassung über das geist!. Leben.

Joannes a S. Thoma, 1589-1644, der in seinem Lehrgang der Theologie, in welchem er den hl. Thomas kommentiert, in bemerkenswerter Weise alles darlegt, was die Gaben des HI. Geistes betrifft.

Thomas de Vallgornera, (t 1665). Mystica Theologia D. ThomtE, Barcinonre, 1662, Taurini, 1890, 1911 ; darin ist die gesamte Lehre des hl. Thomas über die drei Wege gesammelt und geordnet.

V. Contenson, 1641-1674. Theologia ·mentis et cordis. Am Ende jeder Frage findet sich eine Anzahl aszetischer Folgerungen.

A. Massoulie, (1632-1706). Traitti de l'amour de Dieu. TraiN de

'Gegenwärtig veröffentlichen die Benediktiner in der Sammlung "Pax" eine Reibe von Werken über das geistliche Leben, welche einen sehr grossen Anklang finden wird, namentlich bei Seelen, die nach Vollkommenheit streben.

N° 683. - b*

xlii VERZEICHNIS DER WICHTIGSTEN

la veritable oraison. Meditations snr les trois voies. Neue Ausg. erschienen bei Goemare, Brüssel. Lethielleux u. Bonne Presse, Paris. Der Verfasser bemüht sich die Lehre des hl. Thomas gegen die quietistischen Irrtümer darzulegen.

A. Piny, (164°'1709). L'Abandon a la volonte dc Dieu. L'oraiso1t du caur. La clif du pur amour. La presence de Dieu. Le plus paifait, etc. Der Zentralgedanke aller dieser Werke ist, dass die Vollkommenheit in der Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes und in heiliger Hingabe besteht. Neuere Ausg. bei Lethielleux, Tequi.

R. P. Rousseau, Avis sur les divers etatsd'ol'aison, 1710. Neuere Ausg. 1913, bei Lethielleux.

C. R. Billuart, Summa S. Thoma: hodiernis academiarulll 1IIori-

bus accolllmodata, 1746.1751.

H. Lacordaire, (1802-1861). Lettres a un ieune homme sur la vie

chrttienne. Lcttres ades jeunes gens.

A. M. Meynard, Traite de la vie interieure, kleine Summa der aszetischen und mystischen Theologie nach dem Geiste und den Grundsätzen des h1. Thomas, Anpassung an das Werk von Vallgornera, Clermont-Ferrand und Paris, 1884 u. 1899.

B. Froget, De l' habitation du St. Esprit dam les limes justes, Lethiellieux, 1900. Sehr inhaltsreiche, theologische Forschung.

M. J. Rousset, Doctrine spirituelle, Lethielleux, 1902, worin er vom geistl. Leben und der Vereinigung mit Gott handelt, u. zwar nach katholischer Überlieferung und nach dem Geiste der Heiligen.

P. Cormier, Instructions des novices, 1905. Retraite ecc!esiastique d'apres l'Evangile et la vie des Saints, Rom, 1903·

P. Gardeil, Les dons du SI. Esprit dans les Saints dominicains, Lecoffre, 19°3, u. Artikel über denselben Gegenstand im Dictionnaire de Theologie.

P. Et. Hugueny, Psaumes et Cantiques du Breviaire ROlllain,

Brüsse1.

P. M.-A. Janvier, Exposition de la M01'ale catholique, Conf. geh. in N. D., Paris. Lethielleux. In beredter Weise wird darin die christliche Sittenlehre dargelegt. Ebenso die Aszese.

R. P. Joret, La contemplation mystique, 1923.

R. P. Garrigou-Lagrange, Pelfection clzret. cf contemplation, 1923. La vie spil'ituelle, aszetische und mystische Rundschau, 1919. ' La vida sobrenatural, 1921, in Spanien gegründet.

3. DIE FRANZISKANISCHE SCHULE. Sie bewahrt ihre Merkmale evangelischer Einfachheit, freudig ertragener Armut, inniger Andacht zum Jesuskinde und zum leidenden Heilande.

Fr. De Osuna, Abecedario espiritual, 1528 u. ff.; dessen dritter Band lange Zeit hindurch der h1. Therese als Leitfaden diente.

Der hl. Petrus von Alcantara, (t 1562) einer der Seelenführer der hl. Therese. La oracion y meditacion, kl. Abhandlung über das innere Gebet. Sie wurde in fast alle Sprachen übersetzt.

, Librairie de Ja Vie Spirituelle, Juvisy (Frankreich); die Dominikaner veröffentlichen darin auch eine Sammlung von aszetischen und mystischen Meisterwerken, die zur Förderung und Stärkung des christlichen Lebens sehr viel beitragen können.

ZU RATE GEZOGENEN SCHRIFTSTELLER. xliii

Alphonso de Madrid, L'Art de se?'Vir Dieu. Zuerst in spanischer Sprache veröffentlicht, Alcala, 1526, dann in viele andere Sprachen.

Juan de Bonilla, Traite de la paix de I 'time, Alcala, 1580, Paris, 1912.

Matthias Bellintani de Salo, Pratique de l'oraison mentale,

Brescia, 1573.

Jean des Anges,. Obras misticas, besonders Los trionfos del amor de Dios, 1590, neue Ausg. Madrid, 1912-17.

Joseph du Tremblay, die graue Eminenz, Introdtte#on a la vie spirituelle par unefaeile Methode d'oraison, 1626.

Marie d'Agreaa, La mystique eitt de Dieu, 1670. Frz. Übers.

v. Crozet, 1696.

Yves de Paris, P1-0gres de l'amour divin, 1642. Misericordes de

Dieu, 1645.

Bernardin de Paris, L'esprit de S. Franfois, 1660. P. de Poitiers, Lejour mystique, Paris, I67r.

Louis-Fr. d'Argentan, (t 1680), Conßrences sur fes Grandeurs de Dieu. Exereiees du ehretien interieur.

Brancati de Laurea, De oratione ehristiana, 1687, Abhandlung

über inneres Gebet u. Beschauung, oft von Benedikt XIV. angeführt.

Maes, Theologia mystica, 1669.

Thomas de Bergame, (t 1631), Fuoeo d'amore, Augsburg, 1681. Ambroise de Lombez, TraittJ de la paix interieure. 1757. Klas-

sisch gewordenes, zur Heilung der Skrupulanten sehr geeignetes Werk. Zahlreiche, neuere Ausgaben.

Didace de la Mere de Dieu, Ars mystiea, Salamanca, 1713. . Ludovic de Besse, La scienee de la priere, Rom, 1903. La seienee du Pater, 1904. Eclai1-cissemettts sur les (Euvres mystiques de S. Jean Ife la C1-oix, 1895.

Adolphus a Denderwindeke, O. M. C., Compendium theologiO! aseetieO! ad vi/am saeerdotalem el re!igiosam rite instituendalll. Kapuzinerkloster, Herenthals (Belgien), I921,mit reichen Belegen versehenes Werk. Im 2. Band findet man eine ausgiebige Bibliographie liber jede besprochene Frage.

Unter den neuen Schulen sind fünf besonders bemerkenswert:

I. DIE IGNATIANIsCHE SCHULE: Reges, ene1-gisehes, praktisches, inneres Leben, mit dem Bestreben, im Hinblick auf die eigene Heiligung u. das Apostolat den 'Villen zu schulen.

Der hl. Ignatius, 1491 oder 1495 geb. 1556 gest., Stifter der Gesellschaft J esu : Die Exercitia spiritualia', Arbeitsmethode, um eine Seele zu reformieren u. zu transformieren, indem man sie dem göttI. Vorbild, Jesus Christus, gleichförmig macht. "Dieses Werk ", sagt P. Watrigant 2, umfasst in knapper Form ein weites Seelen- u.

, Die beste Ausgabe ist die von Madrid, 1919 ... Exercitia spiritualia

S. 19natii de Loyola et eorum Di1-ectoria ... Man findet dari,!. vier gleichlaufende Texte: die spal))sche Urschrift, die lateinische Ubersetzung oder Vulgata, die erste Ubersetzung und die des P. Roothaan. Eine französische Ausgabe ist bei Jennesseaux erschienen .

• Etudes religieuses,t. CIX, S. 134. - Unter der Leitung des P. Watrigant veröffentlicht man in Belgien die .. Bibliotheque des Exercices de

xliv

VERZEICHNIS DER WICHTIGSTEN

Gedanken~ebiet, das sich langsam in den vorhergehenden Jahrhunderten entwickelt hatte. Ausgangspunkt einer grossen Woge geistlichen Lebens, die seit dem 16. Jahrh. ihre Wellen immer weiter ausbreitet, gleichzeitig der Endpunkt verschiedener Strömungen, die das Mittelalter durchziehen und deren Quellen zu denen des Christentums

aufsteigen. "

Um ganz seinen Geist kennen zu lernen, lese man auch die Kon-

stitutitmett und seine Briefe " sowie den" Ricit du peterin. " •

Der seI. B. Len~vre, das Melllo1'l·al, eingehender Bericht liber eines seiner Lebensjahre, von Juni 1542 bis 1543· Eine der Perlen aszetischen Literatur.

Alvarez de Paz, (1560-1620), De vita spirituali ejusquc pe'fectione,3 in fo!., Lyon, 1602-1612, vollständige Abhandlung liber das geist!. Leben zum Gebrauch der Ordensleute.

Suarez, (1548-1617), De Religione. Fast alles, was sich auf das geist!. Leben bezieht, ist darin enlhalten, besonders aber Gebet, Betrachtung, Gelübde, Gehorsam den Regeln gegenüber.

Lessius, (1554-1623), De summo bono. De pe1fectionibus 1IIoribusque divinis. De divillis ~tOmillibus.

Der hl. Rob. Bellarmin, (1542-1621), De ascensiollc mentis in Deulll per scalas creaturarum. De CEte1'lza felicitate sanctorum. De gelllitu columbCE sive de bono laC1J1'Jtat·um. De septem verbt"s a Christo in eruce prolatis. De arte beue tIlOl·ietzdi.

Le Gaudier, (t 1622), De pe,fectione vilt. spiritualis, vollständige Abhandlung über das geist!. Leben 3 Bände in 8, neuere Ausg. 1857.

Alph. Rodriguez, !t 1616), La Pmtique de la pe'fedio1t chri· tiennc. Ein hervorragendes Werk. Alles Spekulative beiseite gelassen. Die Tugenden nur von ihrer praktischen Seite aus behandelt. Unzählige Ausgaben.

Der hl. Alphons Rodriguez, (t 1617)· Laienbruder der Gesell-

schaft Jesu, zu erhabener Beschauung erhoben. Zwei k!. Werke, Auszüge aus seinen Werken, wurden vor kurzem veröffentlicht (Desclee, Lilie) De l'ullion et de la tm1tsfol"1llation de l'time eil Dieu. Explications et demandes du Pater.

Dupont (Louis) de la Puente, (t 1624), Guide spirituel. De la pClfection du cllritiett ett tous ses etats. De la peifection du chritien dans l'etat ecclesiastique. Meditations sur les lIlysteres de 11ob·efoi. Vie du B. Baltllazar Alvanz. Seelenflihrer der h!. Therese, mit

Beschauung begabt.

Et. Binet, (1569.1639), Les attmits tout-puissallts de l'amour de Jisus- Christ. Le grand chef-d' o;uvre de Dieu .et les souveraincs perfectiolts de la Ste Vierge.

J. B. de Saint- Jure, (1588.1657), De la comtaissallce et de l'amow· deJ .. Chr. Le livre des Elus ou Jisus crucifie. L'tmioll avee N. s. I-ChI'. L'holllllle spirituel. In den beiden letzteren Werken nähert er sich der Französischen Schule des I7· Jallrll.

S. 19naee" (Ebenso bei Lethielleux, Paris), wo man alles findet, was vom geschichtlichen und wissenschaftlichen Standpunkte aus zum besseren Verständnisse der Exerzitien beitr.:).ß"en kann.

, Lelb'es de S. 19nace de Loyola, franz. Ubersetzung von P. M. BOUIX, Paris, 1870. - • Herausgegeben von E. THIBAUT, Louvain, 1922•

ZU RATE GEZOGENEN SCHRIFTSTELLER. xlv

Michael Godines (oder Wading), (1591-1644), Practiea de la te%gia mistiea : P,-axis Theologia: 1Ilystiea:, latine redditum, ab Ignatio de la Reguera. Neue Ausg. Paris, Lethielleux, 1920.

Nouet, (16°5-1680), Conduite de l'homme d'oraison dans les voies de Dieu, 1674.

Der Ehrw. P. de la Colombiere, (t 1682), Journal de ses retraites, neue Ausg. Desclee, De Brouwer & Cie 1897, besonders die G,-ande Retraite, worin er die Gnaden und Erleuchtungen, die Gott ihm während seiner Exerzitien i. J. 1674, schenkte, aufgezeichne that.

Bourdaloue. (1632-17°4), Sermons, in denen christ!. Sittenlehre u .. Aszese ausführlich u. gründlich dargelegt sind. Retraite.

F. Guillore, (1615-1684), Maximes spirituelles, pour la conduite des times. Les Secrets de la vie spirituelle. '

J. Galliffet, De I' excellence de la devotion au Cceur adorable de

I-C., Lyon, 1733·

Petit-Didier, (t I756), Exercitt"a spiritualia tertio probatiollis anno a Patribus Societatis obeunda. Mehrere Ausg. bes. Clermont, 1821. Einer der hesten Kommentare zu den Geist!. Übungen.

C. Judde, (1661-1735). Retraite de 30 jours, sehr gründ!. Kommentar zu den Exercices. Zahlreiche Ausg., bes. Lenoi1--Dupare,

1833.

A. Bellecius, (17°4-1752), Virtutis solidee pracipua impedimenta,

subsidia et incitamenta. Medulla asceseos.

P. Lallemant 2, (t 1635), von welchem P. Rigoleue, " La doctrine spirituelle" veröffentlichte, ein kurgefasstes, inhaltreiches Werk. Es wird darin veranschaulicht, wie häufiges, liebendes Gedenken des in uns wohnenden Gottes Reinheit des Herzens u. Fügsamkeit gegen den H!. Geist zur Beschauung führen kann.

J. Surin, (t 1665), CattchiJlIle spirituel. Les FOlldements de la vie spirituelle. La Guide spirituelle, etc. Darin ist die Lehre des P. Lallemant entwickelt. Die italienische Übersetzung des Catechismus jedoch steht auf dem Index.

J. Crasset, La vie de Mde Hetyot, 1683. Considerations chrttiemlCs

pour tous les jours de I' amlCe.

V. Huby3, Retraite, 1690, Motifs d'aimer J.-C., Motifs d'aimcr

Dieu.

P. de Caussade. (1603-1651), Abandon a la divine P,·ovidence.

Jnstructions spi1-ituelles su,- les divers etats d' oraison. Neu gedruckt in Z in-1z, 1892-95, bei Lecoffre.

P. Segneri, Accord du travail et du repos dans l'oraison, 1680,

gegen die quietistischen Irrlehren des Molinos.

J. P. Pinamonti, (1632-17°3). II direttore della peifezione eristiatla. La via det cielo (Opere, Venedig, 1762), Franz. Übers. Le di1-ecteur dans les voies du salut, 1728.

1 Eine neue Ausgabe ist soeben von P. Wattrigant, Lethielleux, 1922, veröffentlicht worden.

2 Vgl. H. BREMOND, Histoire litteraire t. V. L'Ecoledu P. Lallemant

et la tradition mystique dans la Compagnie de Jesus, Paris, 1920•

3 P. BAINVFl., Les ecrits spirituels du P. Huby, Rev. Asct!t. et Mystique, April 1920, S. 161-170. Juli 1920, S. 241-263. Der Verfasser bereitet eine kritische Ausgabe dieser Schriften vor.

xlvi VERZEICHNIS DER WICHTIGSTEN

Scaramelli, (1687-1752), Direttorio ascetico. In's Franz. übersetzt von Pascal: Guide ascltique (Vives). Direttorio mistico, übers. von Catoire, Directoire mystique (Casterman). Eine der vollständigsten Abhandlungen über Mystik. Stellt die verschiedenen Formen der gleichen Beschauungsstufe als von einander unterschiedene

Sturm dar.

J. N. Grou, (1731-1803), Maximes spirit., Meditations en forme

de retraite sur l' amour de Dieu. Retraite spirit. sur la connaissance et l'amour de N. S. J.-Chr. Ausg. mit Anmerkungen von P. Watrigant, Lethielleux, 1920. Manuel des limes interieures. Die in diesen Werken niederg;elegte Lehre ähnelt der von P. Lallemant.

P. Picot de Clorivlere, Wiederhersteller der Ges. J esu in Frank· reich. Considerations sur l'exercice de la priere, 1862. knappe Darlegung dessen, was das gewöhnliche u. aussergewöl:lnliche Gebet

betrifft.

H. Ramiere, (1821-1884) dessen Werk über die Divinisation du

ckdtim eine Rückkehr zu den überlieferten Lehren bedeutet, die

dem geistl. Leben als Grundlage dienen.

P. Olivaint, Journal de ses retraites annuelles, 8. Ausg. 1911,

Tequi, Paris.

B. Valuy, Les vertus religt"euses. Le Directoire du pretre. Neue

Ausg., Tralin, 1913.

J. B. Terrien, La grlice et la gloire, 1<)01, Lethielleux. La Mere

de Dieu et la mere des kommes, Lecoffre. 1900.

R. de Maumigny, Pratique de l'orai;on mentale, ordinaire et

extraordinaire, Zahlreiche Ausgaben bei Beauchesne, Paris.

A. poulain, Des Grlices d'oraison. Abhandlung über myst. Theologie. Letzte Ausgabe mit Anmerkungen von P. Bainvel, 1922.

Bucceroni, Exercices spirit. a l'usage des pretres, des religieux et des religieuses, aus dem Italienischen übers. v. P. Mazoyer, Lethiel-

leux, 1916.

Gh. de Smedt, Notre vie sUr1laturelle, son principe, ses facultes,

les conditions de sa pleine activite, Brüssel, 1913.

Longhaye, Retraite annuelle de 8 jours, notes, plans, cadres,

developpements. Casterman, 1920.

A. Eymieu, Le gouvernement de soi-mtme, Paris, Perrin, 1911' 1921.

J. V. Bainvel, La devotion au S. C. de Jesus, doctrine, histoire,

4. Aufl., 1917. Le St. Creur de Marie, vie intime de la Ste Vierge, 1918. La vie intime du catkolique, 1916.

R. Plus, Dieu en .taus. Vivre avec Dieu. Dans le Christ Jesus,

1923. Anpassung der Grundlehren der franz. Schule des 17· Jahrh.

REVUE D'Asd:TIQUE ET DE MvsTIQUE, erscheint alle drei Monate in Toulouse, seit dem I. Jan. 1920 unter der Leitung des B. J. de Guibert. Untersuchung der wichtigsten Fragen der A~zetik u. Mystik vom historischen, doktrinalen u. psychologiscken Stand-

punkte aus.

2. DIE THEREsANIsCHE ODER KARMELlTANIsCHE SCHULE :

Das innere Leben beruht auf dem Prinzip" Alles von Gott" und auf dem Nichts des Menscken. Lehrt die vollständige Losschälung, um, wenn es Gott gefällt, zur Beschauung zu gelangen. Sie lehrt die Ausübung des Apostolates durch Gebet, Beispiel u. Opfer.

ZU RATE GEZOGENEN SCHRIFTSTELLER. xlvii

Die hl. Therese, (1515-1582), Vorbild u. Lehrmeisterin der höchsten Heiligkeit. Ihre Lehre legt uns die Kirche zum Studium und zur Übung vor. "Ita adestis "jus doctrina: pabulo nutriamur, et pia: devotionis erudiamur atfectu. " Ihre Werke liefern die reich- 5ten Belege über mystische Zustände. Die Darbietung ist wohlgeordnet u. äusserst lebendig. Eine kritische Ausgabe wurde in Spanien veröffentlicht : Obras de Sta Te,-esa, editadas y anotadas por eI P. Silverio de Sta Teresa, 6 Bde, Burgos, 1915-1920. Kleine Ausgabe der hauptsächlichsten Werke in einem Band, 1922. Frz. übers. von den Karmeliterinnen von Paris, unter Mitarbeit v. Mgr. M. Polit, 6 Bde, Paris, Beauchesne. Zu ergänzen durch die Lettres de Sie Thirese, übers. von P. Gregoire de S. Joseph, 3 Bde,

2. Ausg. 1900.

Der hl. Johannes vom Kreuz, (1543-1591), Schüler der hl.

Therese. Seine Werke bilden eine vollständige Abhandlung über Mystik. La Montte du Carmel zeigt die zu besteigenden Stufen, um zur Beschauung zu gelangen. " La Nuit obseure" schildert die dabei zu erleidenden Prüfungen. " La vive flamme d'amour" veranschaulicht die wunderbaren Wirkungen der Liebe. Le Cantique spiritue! fasst in lyrischer Form die Lehre, die in den anderen Werken ent· halten ist, zusammen. Krit. span. Ausg. von P. Gerard in Toledo. Franz. übersetzung von H. H001'11aert, Desc!t~e, De Brouwer & Cie, neue Ausg., 1920-23.

Juan de Jesus-Maria, (1564-1615). Diseiplina clausf1-alis, 4 in fol., wo sich verschiedene aszetische Abhandlungen finden, u. a. Via vita:. Theologia mystica. Neu herausgegeben 19II bei Herder. Instructio novitiorum, frz. übers. von P. Eerthold Ignaee de Ste A,me, Dessain, Mecheln, 1883. De virorulll eec!esiastt"eorum peifectione, etc.

Joseph de Jesus-Marie, (1562-1626). Subida dei alma a Dios.

Madrid, 1656.

Die sei. Maria von der Menschwerdung (Mme Acarie), hat zwar keine Schriften hinterlassen, aber ihre Lehre und ihre Tugenden werden in dem Buche von Andre Duval, " La vie admirable de Mlle Acarie" eingehend geschildert, 1621. Neue Ausg., 1893.

Die Ehrw. Anna vom hl. Bartholomäus, Selbstbiographie, neue Ausg., Bonne Presse.

Marguerite Acarie, Conduite ehretienne et relt"gieuse selon !es sentiments de sainte M. Marguerite. Von P. J. M. Vernon,

2. Ausg. 1691.

Thomas de Jesus, (1568-1627), De contemplatione divina libri VI, Bd.

Nicolas de J esus Maria, welchen Bossuet den gelehrtesten Ausleger des hl. Joh. v. Kreuz nennt. Phrasium mystictE Theologia:

Vel!. P. Joannt"s a Cruee ... e!ueidatio, frz. übers. in den" Etudes Ca,-metitaines. " 19II·1914·

PhiIippe de la Ste Trinite, ("r 167 I), Summa theologitE mystica:, 3 in-8, klass. Werk, worin klar und wohl geordnet die drei Wege der Vollkommenheit geschildert werden. Neue Ausg. Brlissel und Paris, 1874.

xlviii

VERZEICHNIS DER WICHTIGSTEN

Antoine du St Esprit, Directorium mysticum, J677 veröffentlicht ähnliches Handbuch wie das vorhergehende, aber kürzer, in einem einz. Bande. Neue Ausg_ Paris 1904·

Die Theologie von Salamanca, (1631-1679). Einer der besten Kommentare zur theolog. Summa. Behandelt viele Fragen, auf denen das innere Leben beruht.

Honore de Ste Marie, (1651-1729), Tradition des Feres et des auteurs eccUsiastiques sur la contemplation. Wichtiges, historisches Werk über diesen Gegenstand.

joseph du St Esprit, Cursus theologite mystico-scholasticte,

Sevilla, (1710-174°) Neudruck bei Beyaert, Bruges.

Elisabeth de la Trinite, (1880-1906), Souvenirs, Reflexions et Pensees, Dijon u. Paris, Libr. S. Paul.

Ste Therese de l'Enfant-jesus, (1873-1897), Histoire d'une

ame, Lettres, Foesies.

LES ETUDEs CARMELlTAINES, dreimal i. J. erscheinende Rund,chau. Seit 191 I unter der Leitung von F. Marie-Joseph, veröffentlichen interessante Arbeiten über verschiedene aszetische u. mystische Fragen zum besseren Verständnis der Lehre der hl. Therese u. des hJ. Joh. v. Kreuz.

3. DIE SALEsIANIsCHE SCHULE:

Konzentriert sich fast ganz auf ihren Stifter, den hl. Franz

v. Sales, (1567-1622). dem das grosse Verdienst zukommt, bewiesen zu haben, dass Frömmigkeit, ja selbst Heiligkeit in allen Berufsständen geübt werden können. Als frommer Humanist, vollendeter Weltmann, Apostel u. Seelenführer verstand er es, die Frömmigkeit liebenswürdig zu machen, ohne ihr etwas von ihrer Strenge zu nehmen. L' Introduction a la vie devote ist im Grunde eine echte aszetische Abhandlung, wodurch die Seelen auf den Reinigungsweg u. Erleuchtungsweg geführt werden. Der Traite de I' Amour de Dieu erhebt sie zum Einigungswege. Mit der Wissenschaft des Theologen und der Seelenkenntnis des erfahrenen Mannes wird die Beschauung darin geschildert. Die " Vrais Entreliens spirituels" wenden sich zunächst an die Schwestern von der Heimsuchung, üben aber auf alle Seelen eine heilsame Wirkung aus. Seine zahlreichen Briefe ( Lettres) gehen jede Seele an. Sie enthalten die praktische Anwendung der in seinen Büchern festgelegten, allgemeinen Grunsätze. Hervorragende Seelenkenntnis, grosses Taktgefuhl, grosse Offenheit und Einfachheit sind darin zu finden. ' Die beste Ausgabe seiner Werke ist die, welche von den Ordensfrauen des ersten Klosters von Annecy veröffentlicht wird.

j._P. Camus, Freund des hl. Franz v. Sales, ein weitschweifiger Schriftsteller. Man beschränke sich auf "L' Esprit du B. Fr. de Safes, 16:,g-I641" La Charite, ou le portrait de la vraie Charite. Catechisme spirit_ 1642.

Die hl. johanna Chantal, Sa vie et ses ceuvres, Paris, Pion,

7 Bde, 1877-1893.

t Um seine Spiritualität gut Zl1 verstehen, siehe F. VINCENT,

s. Franrois de Sales directeur d'times, Beauchesne, 1923' Cfr. H_ BRtMOND, Histoire littb-aire du sentiment religieux, t. I und 11.

ZU RATE GEZOGENEN SCHRIFTSTELLER. xlix

Mere de Chaugy, Memoires sur la vie et les vertus de Ste leanne de Chantal, Paris, Pion, 1893.

Ste Marguerite-Marie, (Euvres, herausgegeben von Mgr Gau-

they, Poussielgue.

Tissot, L' Art d'utiliser ses fautes d'apres S. P,-. de Sales, 3. Ausg.

Paris, Beauchesne, 1918. La vie intb·ieure simplijiie (Buch eines Karthäusers)_ '

P. Million, Manrl!se Saltsien, meditations tirees des CEuvres de

S. Fr. de Sales.

L'Abbe H. Chaumont, (1838-1896), GrÜnder der drei salesianischen Genossenschaften, veröffentlichte selbst oder durch andere eine Anzahl kleiner Werke, die von der Lehre des hl. Fr. v. Sales durchdrungen sind. Sie sind flir die erwähnten Genossenschaften geschrieben worden.

4. DIE FRANZÖSISCHE SCHULE DES 17. JAHRHUNDERTS. 2

Ihr inneres Leben geht aus den Glaubensdogmen hervor, besonders aus dem Dogma der Menschwerdung : Durch die hl. Taufe Christus, dem Herrn, einverleibt, sind wir auch im Besitze des HI. Geistes, der in unserer Seele Wohnung nimmt. So mÜssen wir in Vereinigung mit dem menschgewordenen göttlichen Worte, durch kräftigen Widerstand gegen die Neigungen des Fleisches oder des alten Menschen Gott in uns verherrlichen u. die inneren Tugenden J esu nachahmen : Hoc enim sentite in vobis quod et in Clzristo Jes" .. , exspoliantes vos veterem hominem et induen/es novum.

Dieser Schule, deren Grlinder Kardinal Berulle ist, schliesst sich nicht nur das Oratorium an, sondern zu ihr gehören der hl. Vinzenz v. Paul, M_ Olier, die Genossenschaft S_-Sulpice, der hl. Eudes u. die Eudisten, Grignion de Montfort u. der hl. J. B. de la Salle, der Ehrw. P. Libermann u. die Patres v. II!. Geist, de Renty, de Bernieres, Boudon u. Gay.

Kard. de Berulle, (1575-1629), Grlinder des Oratoriums in Frankreich, (Euvres compUtes veröffentlicht v_ P. Bourgoing, 2. Ausgabe, Paris, 1657. And. Ausg. Migne, Paris, 1856. Sein Hauptwerk ist" Discours de l' Estat et des G,-andeu,-s de Jtsus ", jedoch zur vollständigen Kenntnis seiner Lehre muss man auch seine kleineren Werke lesen. Er ist der Apostel des menschgewordenen Gottes, dem wir anhängen, den wir in uns mit seinen Tugenden zum Leben bringen mÜssen. Das aber geschieht durch die Losschälung von den Geschöpfen u. von uns selbst.

,Es ist dieses Buch hauptsächlich für Seelen geschrieben, die nach dem Vereinigungsweg streben. Man kann es daher Anfängern nur unter der Bedingung in die Hände geben, dass man sie gegen gewisse Frömmigkeitsformen, die nur fortgeschrittenen Seelen geziemen, verwahrt.

2 H. BREMOND, Histoire litteraire du sentiment religieux, t. III, 1921, legt in kurzer Zusammenfassung die Lehre dieser Schule hervorragend dar. Beim .!Zapitel .. Aszese" jedoch lässt er die Selbstverleugnung und die Ubung kreuzigender Tugenden (Abtötung, Demut, Armut) beiseite. Die Schule aber betrachtet sie als notwendige Mittel. um zur Vereinigung mit Jesus zu gelan·gen. Nur dann vereint man sich mit J esus, wenn man sich von sich selbst und von den Geschöpfen freimacht und sein Fleisch oder den alten Menschen kreuzigt.

VERZEICHNIS DER WICHTIGSTEN

Ch. de Condren, (1588-1641), (Euvres comptetes, nach seinem Tode veröffentlicht. Erst 1668, dann 1857 v. Abbe Pin. Besonders hervorzuheben ist "L'idtfe du sacerdoce et du sacriJice" und " Lettres". Er ergänzt die Lehre betreffs Priestertum u. Opfer :

J esus Christus, einziger Anbeter seines Vaters geworden, bringt ihm durch seine Vernichtung ein würdiges Opfer dar. Wir schliessen uns ihm an, indem wir uns mit ihm erniedrigen.

F. Bourgoing, (1585-1662), Vtfrith et excellences de JesusChrist ... disposees eil meditations, 32. Ausg. von P. Ingold, Paris, 'fequi, 1892.

Der hl. Vinzenz von Paul, (1576-1660), Stiiter der Missionspriester u. der Barmh. Schwestern : Correspondance, Entretiens, DoCltlltents, Ausg. m. Anmerkungen versehen u. veröffentlicht v. P. Coste, 1920. SchÜler von Berulle, jedoch einzig in seiner Art, selbständig. Später selbst Lehrmeister von genialer Klugheit und hervorragendem Scharfsinn. '

J.-J. Olier, (1608-1657), Stifter der Genossenschaft S. Sulpice.

Er allein stellt die Allgemeinlehre (der Französischen Schule) in der ganzen Ausdehnung ihrer Grundsätze u. in ihren Anwendungen dar. 2 Ausser zahlreichen Handschriften hinterliess er : Catecllis711e c!tritien pour la vie interieure, in welchem er darlegt, wie man durch die Übung der kreuzigenden Tugenden zur innigen u. gewohnheitsmässigen Vereinigung mit Jesus gelangt. Introduction a !a vie et aux vertzts c!tritiellnes erklärt im einzelnen die Tugenden, oie diese Vereinigung vervollkommnen. " journtfe c!tritieIlJle" eine Reihe von Aufblicken, um diese Vereinigung in allen Handlungen u. Umständen des Lebens zu üben. Traiti des Ss. Ordres zur Vorbereitung des jungen Klerikers, welcher" le religieux de Dielt" der Religiose Gottes werden soll. Dieses vollzieht sich durch seine Verwandlung in J esus, den höchsten Priester, Opferer u. Opfergabe. Die Lettres (Briefe) ergänzen diese Lehre dur~h ihre Anwendung auf die Seelenleitung. Pietas Seminarii S. -Sulpitii gibt eine Zusammenfassung aller Sulpizianischen Andachten. Um zu erkennen, welchen Nutzen man zur Befruchtung der Andacht aus den Dogmen ziehen kann, lese man "Esprit de M. Olier", Auszug aus seinen l\1anuskripten, von denen ein kleiner Abriss von M. G. Letourneau unter dem Titel erschien Pensees choisies de M. Olier, Gabalda,

2. Ausg. 1922. 3

J. Blanlo, (1617-1657), L'mfance c!tretienne d. i. Anteilnahme um Geiste u. an der Gnade des göttI. Kindes, des fleischgewordenen Wortes. Neuere Ausg. bei Lethielleux.

A. de Bretonvilliers, (1620-1676), L'esprit d'zm di,·ecteltr des dilles. Nach den Gesprächen u. der LebensfÜhrung Olier's gesammelt. Journal spirit., Manuskript, 3 Bde in 4°·

, Cfr MAY~!ARD, Vertus et doctrine spirituelle de S. Vincent de Paul, Paris, 1882,

2 H. BREMOND, t. III, S. 460 ..

3 Was die verschiedenen Ausgaben der Schriften Olier's u. seiner SchÜler anbetrifft, siehe IJ. BERTRAND, Bibliotheque sulpiciemze, Paris, Picard, 1900, 3 vol.in-So.

ZU RATE GEZOGENEN SCHRIFTSTELLER. li

Ch. de Lantages, Catlchisllle de fa Joi et des 1IIom1'5 chdtien1les.

InstructioJ!S ecclisiastiques über WÜrde u. Heiligkeit des Klerus, 1692- Gesammtwerke veröffentl. Mt~crne 1857.

Tronson L., (1622-17°0), Forma cln-i, secundum exemplar fluod Ecclesi~e, Sanctisque Patribus a Christo Domino Summo Sacerdote monstratum est, 1727, 1770, etc. Examens part,icuZiers sur divers sujets propres aux eccihiastiques et a tOitfes fes perso111zes qui veu!ent s' avancer da1lS" la pnfeetion, ein "Verk, das von Olier u. de Pousse begonnen u. v. L. T,-oflson vollendet wurde. Es gehört zu den wertvollsten für das geistl. Leben u. wurde in's Italienische, Lateinische u. Englische Übersetzt. Die letzten Ausgaben von L. Brauchereau durchgesehen u. erneuert. Verschiedene Abhandlungen Über den Gehorsam, die Demut_ iWanltel du Shuinariste. Esprit de M. Olier, Manuskript von M. Goubin vervollständigt, 2 Bde in-4°, lithogr. 1896. Die vollständigen Werke von lVligne herausgegeben.

2 Bde 1857.

J. Planat, Schola CI,risti, purgativa seu exspoliatio veteris hominis, illuminativa seu novi hominis renovatio, per/ectiva seu christiformitas, ttlzitiva seu deiformitas.

J. de Chetardye, (1636-1714), Retraite pour les Ordinal1ds, 17°9· Entretiens ecclisiast., 1711. (Euvres compldes, 2 Bde, lVIigne.

J. B. La Sausse, (I740-I826), Co",-s de meditations ecclisiast.

Vie sacerdotaZe et pastorate. La devotion aux lIlysteres de Jisus et de Marie. Er hat auch die Schola Christi von Planat in's Französische

ühertragen.

J.-A. Emery, (1732-I8II), L'Esprit de Ste Therhe, I775, in

seinen (Euvres, Ausg. Migne, I857·

J.-B.-M. David, (I76I-1841), The Ime piety (Die echte Frömmigkeit) A spiritual,-etreat of 8 days, herausg von Spaldil1g, Louis-

ville, I864_

J. Vernet, Nepotien ou l'eleve du sanctuaire, I837·

A.-J.-M. Hamon, (I795-I874), Meditations a l'usage du CZerge et des Fidi!les, I872, oft neugedruckt, Paris, Gabalda_

G. Renaudet, (I794-I880), Le mois de Marie a I'usage des semi,tairts, I833' ZahlL Ausg. Paris, Letouzey. Sujets d'oraison " l'wage des prftres, ·1874 u. I88r.

N.-L. Bacuez, (I820-I892), S. Frall(ois de 5·ales, lJiodl!le et guide du pretre, I86r. Du saint Olfta au point de vue de la pitte, Paris, 1867· Letzte Ausg. durchges. u. vervollständigt v. Vigottrel. Du divin sacrifice et du pdtre qui le dIebre, I888 u. I895·

H.- J. Icard, (I805- I893), Vie int""ieure de la Ste Vierge, nach Schriften von Olier, 1875 u. I880. Doctrine de M. Olier expliquee par sa vie et par ses ecrits, I889 u. I89I, Paris, Lecoffre. Traditions de la Cie de S. -Sulpice.

M.-J. Ribet, La Jl.fystique .divine distinguee des cOlltre{a(ons diaboliques et des ana!ogies humail1es, Paris, Poussielgue, I879· L'Ascelique c!tretienue, 3. Ausg. I902. Les Verltts et !es Dons dans la vie chritie1l1ze, Lecoffre, I901.

J.-M. Guillemon, La vie ehretiemu, I894·

lii VERZEICHNIS DER WICHTfGSTEN

J. Guibert, Contribution a I'education des clercs, Beauchesne, 1914. Ch. Sauve, Dieu intime.Jlsus intime. L'AlIge intime. L'homme intime, etc. Dogmatische Erhebungen über die Dogmen, mit sehr vielen AuszÜgen aus den besten Schriftstellern. Etats lIlystiques.

J. Mauviel, Tmite de Thiol. ascltiqueet mystique, lithogr. 1912. ' C. Beimon, Manuel du 5bm:nm'iste soldat, Paris, Roger, 1904. L. Guarriguet, La Vierge Marie, 1916. Le 5acre-Cceul· deJlsus,

1920, Paris, Bloud: historische u. doktrinale Studie.

V. Many, La zwaie vie, Gabalda, 1922.

Der hl. J. Eudes, (1601-16So), Schüler von Berulle u, Condren.

Stifter der Genossenschaft von J esus n. Maria (Eudisten) u. vom Orden N. D_ de Charite. Hat sich in vollkommener Weise den Geist von Berulle zu eigen gemacht, ihn auf klare, leicht fassliche Weise dargelegt u. verstand es, die inneren Tugenden mit der Andacht zu den hlst. Herzen Jesu und Mariä zu verbinden. Daher wird er in der Seligsprechungsbulle der Vater, Lehrer u. Apostel der Andacht zu diesen hlsten. Herzen genannt. Unter seinen Werken, die vor kurzer Zeit wieder erschienen sind, u. zwar in 12 Bänden in-So, Paris, 19°5, ragen hervor: La vie et le royaulJle de Jisus dans les ames chrltiennes, worin er das christI. Leben als das Leben Jesu in UllS erklärt u. zeigt, wie alle Handlungen in Jesus u. für Jesus sein können. Le contrat de I' homme avec Dieu par le saint baptellle; Le Cceur admirable de la mh'e de Dielt, dessen 12. Buch von der Andacht zum Herzen Jesu handelt. Es ist das bedeutendste Werk des Heiligen. Le Mblt01'ial de la vie eccltfsiast., Regles et Constitutions de la Congregation de J. et M. Die Regeln bestehen aus biblischen Texten, die logisch gruppiert sind. Die Konstitutionen sind deren praktischer, in die Tat umzusetzender Kommentar.

P. Le Dore, Le P. Eudes, premier ApiJtre des 55. Cceurs de Jtfsus et de .Marie, 1870. Les 55. CceUI'S et saint J. Eudes, IS91. La devotion au 5.-C. et saintJ. Eudes, IS92.

P. Boulay, Vie de saint J. Eudes, 4 in-So. 1905. Dort findet sich gleichzeitig eine Übersicht seines Geisteslebens.

Ch. Lebrun, La devotion alt Cceur de Marie, histor. u. belehrende Studie, Lethielleux, 1917-

P.-E. Lamballe, La COlltemplation od. Principes de Thlologie lIlystique, Tequi, 1912.

Der seI. L. Grignion de Montfort, (1673-1716), Stifter der Missionsbrüder Mariens u. der Filles de la Sagesse, war in das berullianische Geistesleben im Seminar von S. Sulpice eingefÜhrt worden u. hat es in klarer, fasslicher Weise im Tmite de la vraie devotion a la 5te Vielge, Seeret de Mm-1e dargelegt. Lettre circulaire aux amis de la croix. Zahlr. Ausgaben, zur Zeit bei Mame.

P. Lhoumeau, La vie spirituelle a ,'icole du B. Grignioll, Paris, 1913.

Der hl. J. Baptiste de la Salle, (1651-hI9), Stifter der ChristI.

Schul brÜder, in S. Sulpice herangebildet, passte den berullianischen

, Der Verfasser hat uns noch kurz vor seinem Tode die Erlaubnis erteilt, seine Arbeit zu benützen, wir haben es gern getan.

ZU RATE GEZOGENEN SCHRIFTSTELLER. liji

Geist dem Institut der BrÜder an. Seine bedeutendsten Werke sind:

Les Regles et Constilutions; Meditations pour les dimanehes et fetes; Meditations pour le temps de la retraite; L' Explieation de la methode d' oraison ; Recueil de petits traiNs a l'usa.~e des Freres.

Der Ehrw. F.-M. P. Libermann, (18°3-1852). Stifter der Kongregation v. hl. Herzen Mariens, die später mit der v. hl. Geiste vereinigt wurde. Seine Heranbildung vollzog sich im Seminar von S. Sulpice. Er hat in seinen Schriften den bernllianischen Geist dargelegt: L' oraison; L' oraison d' aiJection, La vie interieure, La sainte vertu d' humilite, besonders in seinen LetN-es, wovon 3 Bde bei Poussielgue.

An diese Schule kann man noch vier berÜhmte Schriftsteller angliedern: M. de Renty, (t 1649), dessen Lehre sich in seiner von P. de St Jure geschriebenen Biographie befindet, 1652.

Jean de· Bemieres, (1602.1659). Le chn!tien interieur, u. a.

Werke, nach seinem Tode herausgegeben, 1659. Die ital. Übersetzung ist wegen Spuren des Quietismus auf dem Index.

Der Ehrw. Boudon, Erzbischof von Evreux (1624-1702). Le regne de Dieu en l'oraison mentale, u. a. AndachtsbÜcher. Neue Aufl., Migne, 1856.

Mgr Gay, (1816-1892), ebenfalls in S. Sulpice herangebildet, hat mehrere Werke geschrieben, die das Merkmal sowohl des sulpizianischen als auch des salesianischen Geistes an sich tragen. Die wichtigsten sind: De la vie et des vertus chretiennes ; Conft!rences aux mb-es ehretiennes; EMvations sur la vie et la dodrine de N. S . .f.-Ch1-.; Let/res de direction. Zahlr. Auflagen, Oudin u. Mame.

5· DIE LIGORIANIsCHE SCHULE. Zeichnet sich durch einfache, affektive u. praktische Frömmigkeit aus. Auf die Liebe zu Gott u. zum Erlöser gegrÜndet, empfiehlt sie als Mittel zur Erreichung des Zieles Gebet u. AbtiJtzmg.

Der hl. Alphons v. Liguori, (1696-1787), einer der fruchtbarsten Schriftsteller. Ausser seinen Werken Über Dogma u. Moral, hat er Über fast alle Gegenstände aszetische Abhandlungen geschrieben. Über die christI. Vollkommenheit im allgemeinen: Les Maximes eternelles; La voie du salut; Pratique de l'alllour enversJ.-Chr.; Rijlexions sur la Passion; Les Gloires de Marie; Visites alt S. SacrelIIent; Maniere de eonverser familierement avec Die,,; Le grand tllOyen de la priere. Über die klösterliche Vollkommenheit: La veritable epollse du Christ od. La Re!igieuse sanclifiee (aszetische Abhdl.) Über priesterliche \' ollkommenheit : Se/va ou recueil de materiaux pour une retraite ecc1esiastique. Du sacrijice de J. - Christ.

Diese Werke wurden mehrfach aufgelegt. Italienisch in Neapel, 1840. Französisch von den PP. Dujardin u. Jules Jacques, Tournai, 1856. Deutsch von den PP. Hugues u. Hatinger, Regensburg, 1869. Englisch von P. Grimm, Baltimore, 1887 u. ff.

P. Desurmont, Provinzial der Redemptoristen. La Charite sacerdotale oder Elementarlehre der Pastoraltheologie. 2 in-8o, Paris, 1899, 1<)01. Le Credo et la Providence; La vie vrailllent chritienne, etc., Paris, II, rue Servandoni.

P. Salnt-Omer, Pratique de la peifection d'apres S. Alpbonse, Tournai, 1896.

liv VERZEICHNIS DER WICHTIGSTEN

P. J 0 Dosda, L' Union a7JeC Dielt, ses COllllllCnCClliCnts, ses progres, sa peifectio1Z, 1912.

Jos. Schryvers, Les Prilleipes de la vie spirituelie, BrÜssel, 1913, 1922• Le Don de soi. Le Divin ami, pensees de retraite, 1923.

F. Bouchage, Pratique des vertztS. !ntrodllction a la vie saeerdotale. Cattfcltisme ascetique et pastoral des jeunes cla'es, 1916, Beauchesne.

6. AUssERHALB DIESER SCHULEN NENNEN WIR NOCH:

L. Scupoli, .(153°-1610), Le Combat spirituel. Mit Recht vom h!.

Fr. von Sales als eine der besten kleinen Abhandlungen Über das geist!. Leben geschätzt. Beste frz. Übersetzung ist die von A. Mo,teau, mit vorausgehendem ausführlichen Plane des Buches u. am Rande kurze Zusammenfassungen jeden Abschnittes, Beauchesne, 191 I.

Die Ehrw. Marie de I'Incarnation, (!599-1672), Autobiograpilie, die sich auch bei Dom Claude, "La vie de la V. M. Marie de l'!ncarnatioll", findet. Aus ihrem Briefen u. Manuskripten, 1677· Briife der Eilrw. M. .11arie, 1681. Meditations et retraites ... a7Jec une exposition sueeinete du Cantique des Ca1ltiques.

Bossuet, (1627-1704). Ausser seinen polemischen Schriften gegen den Quietismus u. seinen Se,.,,,ons, aus denen man eine aszetische Abhandlung machen könnte, hat er mehrere, sehr wertvolle Abhandlungen oder k!. Werke verfasst, darunter: Instntctiol1 sur les etats d'oraisoll, 2. Abhand!., Allgemeine Grundsätze fÜr das innere Gebet des Christen, ein nicht herausgegehenes Werk, das von C. Levesque veröffentlicht wurde, Didot, 1897. Les Eltfvatiolls stil' les lIIysteres. Meditations sur l'Evangile. Tr. de la COllcupiseence. Opuscules sur l'Abandon, l'oraison de simplicite, etct, vereinigt in Doctrine spi"ÜlIelle de Bossuet, Auszug aus seinen Werken, Tequi, 1908.

Fenelon, (1651-1715), ausser Maxi1/les des Saints u. seiner Polemik in Sachen des Quietismus verfasste er mehrere kleine Andachtswerke, vereinigt in Bd. XVIII. seiner Werke, Ver!. Lebei, 1823. Mehrere seiner Lettres de direction wurden von M. Cagnac herausgegeben, 1902. Ein Gesamtbild seiner Geisteslehre veröffentlichte D1'2ton : Doctrine spirituelle de Filze/on, extraite de ses «ttvres, Lethielleux.

Courbon, !llstructions falllilieres 51W 1'0raisoll mentale, Paris, 1685, 1871.

Eusebe Amort, (1692-1775). De reZielationibus ... ,-egul{/' tuta, ein gelehrtes, etwas verworrenes Werk.

Benedikt XIV. (P. Lambertini), (1675-1758). De servorU1il Dei beatificatiolle et beatorulJt callonizatione, Venedig, 1788, worin sich die Methode aufgezeichnet findet, die heroischen Tugenden, die Wunder u. Offenharungen der Heiligen festzustellen.

J. H. Newman, (1801-189°). Ausser seinen Sermons, die viel Ausgezeichnetes; Über das christ!. Leben enthalten, und seine Repoltse a Pusey Über die Verehrung der sei Jungfrau, in Difficulties of Anglicans eingefÜgt, hinterliess er ein Andachtswerk, 1895, herausgegeben, Meditations alld devotions, von Pb'ate in's Französische übersetzt: Meditations et prie,.es, Bloud.

ZU RATE GEZOGENEN SCHRIFTSTELLER. Iv

H. E. Manning, (1808-1892), Tlte internal mission 0/ the Holy Ghost (Studie über Gnade u. Gaben des hl. Geistes). The glories '!f the Sacred Heart. "Les Gloires du S.-C. " (Cattier). The Eten,al PriestllOod, frz. "Le sacerdoce eiernei" (Aubane! et Casterman). Siu and its Consequences (Die SÜnde u. ihre Folgen) frz. (Aubane!), Le Ptfche et ses cOl1sequences.

F. W. Faber, (1814-1863), verfasste eine grosse Anzahl von Andachtswerken, die sich durch Salbung u. feine Seelenkenntnis auszeichnen: Alifor Jesus; Bethle/tellt; Tlte Blessed Sacramellt; The precious blood; Tlte foot of the Cross; Creator and Cnature; Growth in holiness; Spi,-itual cOI1:!erellces. Frz. Übersetzungen bei Tequi, Paris. TOllt pour Jesus; Bethlehem (le mystere de l'Incarnation), etc. Le Progres de l' ame fasst seine Geisteslehre kurz zusammen.

Rev. A. Devine, A manuel of Ascetical Theology, London, 1902.

A Manuel oj Mystical Tluology, 1908, frz. v. C. Maillet, AubaneJ, Avignon.

J. Card. Gibbons, The Ambassador oj Christ, Baltimore, 1896.

Franz. v. G. Alldrtf: L'Ambassadeur du Ch,-ist, ed. Lethiellellx.

L. Beaudenom, (1840-1916). Pratiqueprogressi71e dela confession et de la direction; Les Soul"Ces de la Piite; Formation a I' humilite; Formation nligieuse et morale de la jeu ne fille; Meditations a.!fectives, Librairie S. Paul, Paris.

A. Saudreau, Les degrfs df. la vie spirituelle, 5. Aufl., 1920. La voie qui 1Ithze aDieu; La vie d'union aDieu, 5. Aufl., 1921. L'Etat lIlystique, sa nature, ses pllases et les faits extraOl'dillaires de la vie spirituelle, 2. Aufl., 1921.

Mgr Lejeune, Mallllel de theologie lIlystique, 1897. Introduction a la vie mystique, 1899. L'oraisoll rendue facile, 1904. Ve,'s lafe,.veu,., (Lethielleux).

Mgr Waffelaert, Meditations tlttfologiques, 1919, BrÜgge, Paris, Lethielleux. L'union de l'allle aimante avec Dieu; La Colombe spi,-ituelle ou les trois voies du chemin de la perfection, 1919, Desclee, De Brouwer & Cie, BrÜgge.

Kardinal Mercier, A mes seminariste,.; La vie interieure; Appe! aux ames sacerdotales, 1919, Paris u. BrÜssel, Beallchesne.

Mgr Gouraud, Directoire de vie sacerdotale.

Mgr Lelong. Le Saint Pdtre, conferences sur les vertus sacerdotales, 190!, Le Bon Pasteu,., sur les obligations de la charge pastorale, 1893, Tequi.

Der Ehrw. A. Chevrier, Le pd!re selon I'Evaugile ou le Vb.,.table discip/e de N. S.Jifsus-Christ, Lyon, Paris (Vitte), 1922.

Mgr A. Farges, Les PhblOlIlh,es lIlystiqlles distillgues de Imn confl'efa,ons humaines et diaboliqlles, Paris, Bonne Presse, 1920. lNponses aux Controve,-<Cs de la P,-esse, 1922.

Mgr Landrieux, Bischof von Dijon, SU1- !es pas de S. Jean de la Croix dans le deser! et dans la uztit; Le diviu Mtfconnu Oll les dons du Saint Esprit.

EINLEITUNG I

Der eigentliche Gegenstand der aszetischen und mystischen Theologie ist die Vervollkommnung des christlichen Lebens.

1. Der Güte Gottes verdanken wir nicht nur das natürliche Leben der Seele, sondern auch ein übernatürliches Leben, das Gnadenleben. Dieses besteht in einer Teilnahme am Leben Gottes selbst, wie wir in unserer Abhandlung über die Gnade 2 dargelegt haben. Da uns durch die unendlichen Verdienste J esu Christi dieses Leben verliehen wird und J esus Christus selbst das vollkommenste Vorbild desselben ist, nennt man es mit Recht christliches Leben.

Jedes Leben muss sich vervollkommnen. Es geschieht durch Annäherung an sein Ziel. Die absolute oder unbedingte Vollkommenheit besteht in der Erreichung dieses Zieles. Erst im Himmel werden wir sie erlangen: Dort nämlich werden wir Gott durch die beseligende Anschauung und durch die reine Liebe besitzen. Unser Leben wird zu voller Entfaltung gelangt sein. Dann werden wir wirklich Gott ähnlich sein, weil wir ihn so, wie er ist, sehen werden, similes ei erimus quoniam videbi11lus eum sicuti est 3. Hienieden können wir nur eine relative oder bedingte Vollkommenheit erreichen und zwar durch eine beständige Annäherung an diese innige Vereinigung mit Gott, die uns auf die beseligende Anschauung Gottes vorbereitet. Von dieser relati-

I TH. DE VALLGORNERA, O. P., Mystica 7heologia D. T1101I1eE. t. I, qu. 1. - E. DUBLANCHY, Asdtique in Dict. de T/zeol., t. I, co!. 2038- 2046. _ GIROUX, Enseigllement de la theologie ascttique, Berioht, der auf dem Kongress der Vereinigung der Priesterseminare verlesen wurde, t. VI (I9II), p. 154-17I.

2 Diese Abhandlung befindet sich in unserer Synopsis TheologieE dogmatieeE, t. 1I1. - 3 loh., UI, 2_

N° 683.-1

2

EINLEITUNG.

ven oder bedingten Vollkommenheit nun wollen wir sprechen. Erst legen wir die allgemeinen Grundsätze über das Wesen des christlichen Lebens dar. Ferner über die Vollkommenheit des letzteren, über die Verpjlz'chtung, nach dieser zu streben und über die allgemeinen Mittel, sie zu erreichen. Darauf werden wir nacheinander die drei Wege behandeln, den Reinigungs-, Erleuclztungs- und Einigungszveg, auf denen die grossmütigen, nach geistlichem Fortschritt begierigen Seelen wandeln.

In einer kurzen Einleitung müssen wir jedoch erst einige vorausgehende Fragen beantworten,

2. In dieser Einleitung werden wir fünf Fragen behandeln.

I. Wesen der aszetischen Theologie 11. Ihre Quellen

II 1. Ihre Lehrzveise

IV. Ihre Vortrejjlicltkeit und ~Notzvendigkeit V. Ihre Einteilung'.

§ 1. Das Wesen der aszetischen Theologie, Um besser das Wesen der aszetischen Theologie zu erklären, werden wir darlegen I. die lzauptsäclllicllsten Jolalllen, mit denen man sie bezeichnet hat. 2. ihren Platz unter den theologischen Wissenschaften, 3. ihre Bezieltungen zum Dogma und zur Moral und 4. den Unterschied zwischen Aszetik und Mystik.

I. DIE VERSCHIEDENEN NA!lJEN.

3. Die aszetische Theologie bezeichnet man verschiedenartig,

a) Man nennt sie die vVissenscltaft der Heiligen.

Mit Recht. Sie stammt von den Heiligen her, die sie selbst mehr erlebten als lehrten, Zweck der

EINLF.ITUNG.

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Aszetik ist, Heilige zu gestalten. Sie lehrt uns das Wesen der Heiligkeit und die Mittel, die zu ihr führen.

b) Andere nennen sie geistliche Wisse1lschaft, denn sie bildet geistliche, innerliche, vom Geiste Gottes beseelte Menschen heran.

c) Da sie aber eine praktische Wissenschaft ist, nennt man sie auch die !(U1lst der Vollkommenlleit, Ihr Zweck ist, die Menschen zur christlichen Vollkommenheit zu führen. Man bezeichnet sie ebenfalls mit dem Namen die Kunst der Künste, weil es keine höhere Kunst gibt als die, eine Seele in ihrem edelsten Leben, dem ÜbernatÜrlichen nämlich, zu vervollkommnen.

d) Die gegenwärtige, häufigste Bezeichnung jedoch ist aszetisclte und mystische Theologie.

I. Das Wort aszetisclt kommt aus dem Griechischen &ClX{lcr(~ (Übung, Anstrengung) und bezeichnet jede mühevolle Handlung, die sich auf die körperliche oder sittliche Erziehung des Menschen bezieht. Nun aber setzt die christliche Vollkommenheit Anstrengungen voraus, Der hl. Paulus vergleicht sie gern mit jenen Leibesübungen, welchen die Kämpfer sich unterzogen, um siegessicher zu sein. So war es also begreiflich, mit dem Namen Aszese diejenigen Anstrengungen der christlichen Seele zu bezeichnen, die um die Erreichung der Vollkommenheit kämpft, Das taten auch Kle7nens VOll A/exandrien I und OrigeJZes 2 und nach ihnen viele von den Vätern, Es darf uns daher nicht wundern, dass der Name Aszetik auf die vVissenschaft überging, die von den notwendigen Anstrengungen

, In dem Ptdagogue,1. I, eh. 8, P. G., VIIl, 3,8, nennt KLEMEKS den JRcob nach dem Kampfe mit dem Engel einen Aszelen.

2 ORIGENILS (In lerem., home\, 19, n. 7, P. G., XIII, 518) bezeichnet mit dem Namen Aszeten eine Sort<:: von eifrigen Christen, welche Abtötung übten u. andere fromme Ubungeu christ1. Vollkommenheit vollzogen.

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EINLEITUNG.

zur Erwerbung der christlichen Vollkommenheit handelt.

2. Immerhin überwog lange Jahrhunderte hindurch der Ausdruck .lWystische Theologie zur Bezeichiiung dieser Wissenschaft. lVIuOtfj<; (geheimnisvoll, Geheimnis, besonders religiöses Geheimnis), weil sie die Geheimnisse der Vollkommenheit darlegte. Dann kam eine Zeit, da beide Bezeichnungen in gleichem Sinne gebraucht wurden. Schliesslich aber nannte man Aszetik jenen Teil der geist!. Wissenschaft, der von den ersten Stufen der Vollkommenheit bis zur Schwelle der Beschauung handelt. Mystik aber jenen Teil, der sich auf die Beschauung und den Einigungsweg bezieht.

e) Aus allen diesen Begriffsbestimmungen geht hervor, dass die Wissenschaft mit der wir uns befassen, gewiss die Wissenschaft der christlichen Vollkommenhez't ist. Das nun erlaubt uns, den ihr gebührenden Platz auf dem allgemeinen Gebiete

der Theologie anzuweisen.

11. IHR PLATZ IN DER THEOLOGIE.

4. Die organische Einheit, die in der theologischen Wissenschaft zu finden ist, hat niemand so vortrefflich darzustellen verstanden wie der hl, Thomas. Er teilt seine Summa in drei Teile. Im ersten spricht er von Gott als dem Urgrund und betrachtet ihn in sich, in der Einheit seines Wesens und in der Dreifaltigkeit seiner Personen, ebenso in den Werken, die er erschaffen, erhält und durch seine Vorsehung regiert. Im zweiten Teile beschäftigt er sich mit Gott als dem letzten Ziele, nach welchem alle Menschen streben sollen, indem sie unter Leitung des Gesetzes und Anregung der Gnade ihre Handlungen auf ihn richten und die göttlichen und sittlichen Tugenden üben, wie auch ihre einzelnen Standespftichten erfüllen. Der dritte

EINLEITUNG.

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Teil zeigt uns den 1Ile7Zschgezvordenen Sohn Gottes, der unser Weg zu Gott wird und die hL Sakramente einsetzt, um uns die Gnade mitzuteilen und dadurch uns dem ewigen Leben zuzuführen.

In diesem Rahmen schliesst sich die aszetische und mystische Theologie an den zweiten Teil der Summa, stÜtzt sich aber gleichzeitig auf die beiden anderen Teile.

5. Seitdem hat man die Theologie, bei aller Wahrung ihrer organischen Einheit, in drei Teile eingeteilt: Dogmatik, Moral und Aszetik.

a) Das Dogma lehrt uns, was wir von Gott glauben müssen, es belehrt uns über das göttliche Leben, über die gütige Mitteilung desselben an die vernÜnftigen Geschöpfe, besonders an die Menschen, über den Verlust dieses Lebens durch die ErbsÜnde, über dessen Wiedergewinnung durch das menschgewordene Wort Gottes, Über dessen Wirken in der wiedergeborenen Seele, über dessen Verbreitung' durch die hl. Sakramente und dessen Vollendung in der Glorie,

b) Die 1l1oral zeigt uns, wie wir dieser Liebe Gottes entsprechen sollen: das göttliche Leben, an dem er uns Teilnahme schenkte, sollen wir sorgfältig' pflegen, die SÜnde meiden, die gebotenen Tugenden üben und die Standespflichten erfüllen.

c) Will man aber dieses Leben vervollkommnen, 1.!1ehr tun als die Gebote verlangen und in der Ubung der Tugend regelrecht fortschreiten, so gibt uns die Aszetil.: durch die Regeln für Vollkommenheit darüber Aufschluss.

III. IHRE BEZIEHUNGEN ZUM DOGMA UND ZUR MORAL.

6. Die Aszetik ist also ein Teil der christlichen Moral und zwar der edelste. Er will vollkommene Christen aus uns machen. Die Aszetik ist ein

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EINLEITUNG.

besonderer Zweig der Theologie geworden, bleibt jedoch mit dem Dogma und der Moral in engster

Verbindung, .

I. Sie grÜndet sich auf das Dogma. Will sie das.

Wesei1 des christlichen Lebens darlegen, muss das Dogma ihr sein Licht leihen, Dieses Leben ist tatsächlich eine Teilnahme am Leben Gottes, Man muss infolgedessen zur heiligsten Dreifaltigkeit aufsteigen, um dort Urgrund und Ursprung jenes Lebens zu finden. Man muss den verschiedenen \Vandlungen desselben nachgehen, sehen, wie es unseren Stammeltern verliehen, durch deren Schuld verloren und von Christus, dem Erlöser, wiederhergestellt wurde. Ferner muss man den Organismus dieses göttlichen Lebens kennenlernen und sein Wirken in unserer Seele feststellen, Es ist auch von Wichtigkeit, zu erfahren, auf welchen geheimnisvollen \iVegen dieses Leben der Seele zugeführt und in ihr vermehrt wird, wie es sich im Himmel in die beseligende Anschauung Gottes umgestaltet. Alle diese Fragen werden in der dogmatischen Theologie beantwortet. Man sage nicht, man könne sie als bekannt voraussetzen, Würde man sie nämlich nicht in einer kurzgefassten Zusammenfassung oder Synthese in's Gedächtnis zurÜckrufen, so erschiene die Aszetik ohne Grundlage. Es hiesse, von den Seelen schwere Opfer fordern, wollte man nicht erst darlegen, was Gott für uns getan hat, Somit ist es wahr, das Dogma ist die Quelle der Andacht, wie einst Kardinal Manning so schön sagte,

7. 2. Sie grÜndet sich auch auf die Moral und vervollständigt sie, Die letztere ,handelt von den Geboten, die wir halten müssen, um das göttliche Leben zu erwerben und zu bewahren, Die Aszetik gibt uns die Mittel an, dasselbe zu vervollkommnen, Sie setzt augenscheinlich die Kenntnis und die Beobachtung der Gebote voraus. Es wäre eine gefährliche Täuschung, wollte man sich nicht um

EINLEITUNG.

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die Gebote kümmern, unter dem Vorwande, die Räte zu befolgen, die Ubung der höchsten Tugenden sich vornehmen, ehe man gelernt hat, den Versuchungen zu widerstehen und die Sünde zu meiden.

8. 3. Dennoch ist die Aszetik ein ganz verscJzieden er Zweig der Dogmatik und Moraltheologie, Sie hat ihren besonderen Gegenstand. Aus der Lehre des Heilandes, der Kirche und der Heiligen wählt sie alles das aus, was sich auf die Vollkommenheit des christlichen Lebens bezieht, sowie auf desselil Wesen, Verpflichtung und Mittel und ordnet alles streng wissenschaftlich. I) Sie unterscheidet sich von der Dogmatik, die uns zunächst nur Wahrheiten vorlegt, die wir glauben müssen, während sie, gestützt auf dieselben, mehr deren praktische Verwertung im Auge hat und sie ausnützt"um uns

die christliche Vollkommenheit verstehen, verkosten und verwirklichen zu lehren. 2) Sie unterscheidet sich von der Moral. Sie erinnert zwar an die Gebote Gottes und der Kirche, die Grundlage jedes wahrhaft christlichen Lebens, legt uns jedoch die evangelischen Räte und von jeder Tugend einen höheren Grad als der streng verpflichtende vor. Sie ist also gewiss die Wissenschaft der christlichen Vollkommenheit.

9. Daher ihr zweifacher Charakter als spekulative oder forschende und gleichzeitig praktische Wissenschaft. Zweifellos ist sie forschend, geht sie doch auf das Dogma zurück, um das Wesen der christlichen Vollkommenheit zu erklären, Sie ist aber auch zugleich praktisch, weil sie sich mit den jl1itteln befasst, um dieses Leben zu fördern.

In der Hand eines weisen Seelen führers ist sie sogar eine waltre Kunst. Sie besteht darin, mit Taktgefühl und Hingabe an jeder einzelnen Seele die allgemeinen Grundsätze durchzuführen, Die höchste und schwierigste aller Künste, an artiuJn regimen animarum. Die· von uns gegebenen

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EINLEITUNG.

Grundsätze und Regeln bezwecken, tüchtige SeelenfÜhrer heranzubilden,

IV. UNTERSCHIED ZWISCHEN ASZETrK UND MYSTIK.

Das bisher Gesagte ist auf beide anzuwenden, 10. A) Um sie zu unterscheiden, kann man die Aszetik jenen Teil der geistlichen Wissenschaft nennen, dessen eigentlicher G:~genstand die Theorie und Praxis oder Lehre und Ubung der christlichen Vollkommenheit ist und zwar von ihren ersten Anfängen bis zur SCltwelle der eing'eg-ossenen Besclzauung-( conte11lplatio infusa). Die Vollkommenheit beginnt mit dem aufrichtigen Verlangen nach Forts,chritt im geistlichen Leben, Die Aszetik führt die Seele durch den Reinigungs- und den Erlmclttlmgsweg- bis zur erworbenen Beschauung.

11. B) Die Mystik ist jener Teil der geistlichen \Vissenschaft, dessen eigentlich~!' Gegenstand Theorie und Praxis (Lehre und Ubung) des beschaulichm Lebens ist, von der ersten Nacht der Sinne und dem Ru/ten in Gott angefangen, bis zur geis tlichen Vermählung.

a) In unserer Beschreibung vermeiden wIr demnach, aus der Aszetik die Erforschung der gewöhnliclzcn Wege und aus der Mystik, die der aussel'gewöhnlichen zu machen, die zur Vollkommenheit fÜhren, Tatsächlich bezeichnet man heutzutage mit dem \Vorte "aussergewöhnlich" eine besondere Art mystischer Erscheinungen oder Phänomene, die auf besonderm Gnaden beruhen und sich zur Beschauung gesellen wie z, B. Extasen und Offenbarungen.

b) Unter Beschauungversteht man den eil1fachm, liebenden Blick at:tf Gott oder g-öttliche Dinge, Sie heisst erworbm, \venn sie die Frucht unserer durck

EINLEITUNG.

die Gnade unterstÜtzten Tätigkeit ist. Man nennt sie eingegossetz, wenn sie über diese Tätigkeit hinaus von Gott mit unserer Einwilligung bewirkt wird (N. 1299).

c) Absichtlich behandeln wir aszetische und mys-' tische Theologie in ein und derselben Erörterung, I) Gewiss bestehen zwischen der einen und der anderen einschneidende Unterschiede, die wir später schon hervorheben werden, aber zwischen den beiden Zuständen, dem aszetischen und mystischen, ist ein gewisser ununterbrochener Zusammenhang, Der eine ist in gewissem Sinne die Vorbereitung auf den andern. Wenn Gott es gut findet, benutzt er auch die grossmütige Verfassung des Aszeten, um ihn in mystische Zustände zu versetzen. 2) Jedenfalls erscheint die Aszetik viel lichtvoller durch das Studium der Mystik und umgekehrt. Gottes Wege stimmen harmonisch Überein, und sein machtvolles' Wirken in den mystischen Seelen, das mehr in Erscheinung tritt, lässt uns sein nicht minder starkes Wirken in den Anfängern besser erfassen. So erleichtert uns z, B. die Beschreibung, die der hl. J ohannes vom Kreuz von seinen leidensvollen, ittneren Prüfungen gibt, das Verständnis für die' gewöhnliche Trockenheit, die man in niedrigeren' Seelenzuständen empfindet. Sieht man, wie fügsam und schmiegsam eine Seele wird, die lange J <ihre hindurch sich den harten MÜhen der Aszese hinge-' geben hat, so versteht man die mystischen Wege besser. Diese beiden Teile derselben Wissenschaft werden somit gegenseitig verständlicher und gewinnen dadurch, dass sie nicht von einander getrennt werden.

§ 11. Die Quellen

der aszetischen und mystischen Theologie.

12. Als Zweig der Theologie schöpft die geistliche Wissenschaft begreiflicherweise aus denselben Quellen wie sie. Vor allem aus den Quellen, die

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EINLEITUNG.

Offenharungen.enthalten, nämlich aus der HI,ScJtrijt und aus der Uberlieje1'ung', An zweiter Stelle aus allen jenen Kenntnissen, welche uns die durch Glauben und Eifaltrung- erleuchtete Verminjt verschafft. \iVir brauchen hier also nur deren Verwendungsmöglichkeit in der aszetischen Theologie zu zeigen.

L Aus DER HL, SCHRIFT.

Freilich finden wir dort zwar keine Zusammenfassung der geistlichen \iVissenschaft, wohl aber sehr wertvolle Belege, hie und da verstreut, sowohl im Alten wie im Neuen Testament: Lell7'en, Gebote, Ratseltläge, Gebete uno Beispiele.

13. I. Spekulative Lehren über Gott, sein Wesen, seine Eigenschaften, seine Unermesslichkeit, die alles durchdringt, seine unendliche Weisheit, seine Güte, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, sein Vorsehungswirken, das sich auf alle Geschöpfe, besonders aber auf das Heil der Menschen erstreckt. Durch ,die hL Schrift erfahren wir ferner das innere Leben Gottes, die geheimnisvolle Zeugung der ewigen 'Neisheit oder des Wortes, das Hervorgehen des Heiligen Geistes, jenes gemeinschaftlichen Bandes, das Vater und Sohn umschlingt. Seine Werke, besonders, was er für den Menschen getan, um ihm eine Teilnahme an seinem göttlichen Leben zu ermöglichen, ihn nach seinem Falle durch die Menschwerdung des Logos und die Erlösung wiederherzustellen, ihn durch die Sakramente zu heiligen und ihm im Himmel durch die beseligende Anschauung und die reine Liebe ewige Freuden zu bereiten, Gewiss ist diese edle und so erhabene Lehre ein mächtiger Antrieb, unsere Liebe zu Gott und unser Verlangen nach Volkommenheit zu steigern,

14. 2, Sittliche Unterweisung, aus Geboten und Räten zusammengesetzt : Der Dekalog, der

EINLEITUNG.

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sich auf die Liebe zu Gott und zum Nächsten erstreckt und somit auf den Kultus und auf die Achtung der Rechte des Mitmenschen, Ferner die so erhabene Lehre der Propheten, die unaufhörlich an die Güte, Gerechtigkeit und Liebe Gottes fÜr sein Volk erinnert, es von der Sünde und besonders von götzendienerischen Übungen abhält, ihm Ehrfurcht und Liebe gegen Gott, Gerechtigkeit, Billigkeit und Güte gegen alle, besonders aber gegen die Schwachen und Unterdrückten, einprägt. Die kostbaren Ratschläge der WeisheitsbÜcher, die im voraus eine ganze Darlegung der christlichen Tugenden enthalten, aber vor allem die wunderbare Lehre Jesu, die in der Bergpredigt enthaltene aszetische Synthese, die noch erhabeneren Lehren in den Reden des Heilandes, wie sie uns der hl. Johannes wiedergibt und in seinen Briefen erläutert. Die geistlich~. Theologie des ltl. Paulus, die an dogmatischen Uberblicken und praktischen N utzanwendungen so reich ist. Der kurze Abriss, den wir bald davon geben werden, soll beweisen, dass das Neue Testament schon an und für sich ein Kodex der Vollkommenheit ist.

15. 3. Gebete zur Nahrung unserer Frömmigkeit und unseres inneren Lebens. Gibt es wohl schönere, als die in den Psalmen? Die Kirche hat <sie für so geeignet, Gott zu verherrlichen und uns zu heiligen, erklärt, dass sie dieselben in ihre Liturgie, in das Missale und ins Brevier übertrug. Noch viele andere findet man in den historischen und belehrenden Büchern verstreut. Hervorzuheben ist besonders das Vaterunser, das schönste, einfachste und in seiner Knappheit vollständigste Gebet, das es gibt, Ferner das hohepriesterliche Gebet J esu, ohne von den sogenannten Doxologien (Schlussversen der Lobgesänge zu Ehren der heiligsten Dreifaltigkeit), die schon in den Briefen des hl. Paulus und in der Apokalypse vorkqmmen, zu reden.

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EINLEITUNG.

16. 4, Beispiele, die uns zur Übung der Tugend anspornen. a) Das Alte Testament lässt eine ganze Reihe von Patriarchen, Propheten und anderen hervorragenden Persönlichkeiten vor unseren Augen vorüberziehen. Gewiss hatten sie ihre Schwächen, aber der hL Paulu~ 1 rühmt ihre Tugenden. Das Gleiche taten die Kirchenväter, die sie uns zur Nachahmung anempfehlen. Wahrlich, wer wollte nicht die Frömmigkeit Abels und Henl10chs bewundero, die feste Tugend N oes, der inmitten eines verkommenen Geschlechts Gutes tat, den Glauben und das Vertrauen Abrahams, die Keuschheit und Klugheit Josefs, den Mut, die Weisheit und Ausdauer des Moses, die Unerschrockenheit, Frömmigkeit und Weisheit Davids, die strenge Lebensweise der Propheten, die Tapferkeit der Makkabäer und so viele andere Beispiele, die anzuführen zu lang wären? b) Im Neuen Testament ist es vor allem J esus, der uns als der Idealtypus der Heiligkeit erscheint. Dann Maria und Joseph, seine treuen Nachahmer. Ferner die Apostel, die, anfangs unvollkommen, sich mit Leib und Seele der V~rkündigung des Evangyliums hingeben, in der Ubung der christlichen und apostolischen Tugenden aber es soweit bringen, dass sie uns mehr durch ihre Beispiele, als durch ihre Worte sagen: " Imitatores mei es tote sicut et ego Christi". Hatten auch manche dieser heiligen Männer ihre Schwächen, so verleiht die Art und Weise, wie sie dieselben überwanden, ihren Beispielen um so höheren Wert, da sie uns zeigen, wir Fehltritte durch Busse wiedergutgemacht werden.

Um einen Begriff von den in der HL Schrift enthaltenen, aszetischen Schätzen zu gebeJ,l, werden \vir im Anhangeinen zusammengefassten Uberblick über die Aszetik der Synoptiker, des Hl, Paulus und des hl. Jolzannes geben.

, Brief an die Hebräer, XI. Kapitel.

EINLEITUNG.

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11. DIE UBERLIEFERUNG.

17. pie Überlieferung erl(änzt die Hl. Schrift durch Ubermitt.1ung von Wahrheiten, die diese nicht enthält. Uberdies legt sie die Hl. Schrift authentisch oder glaubwürdig aus. Sie wird durch das feierliche und durch das gewölznliclze Lehramt kundgegeben,

I) Das feierliche Lehramt, welches hauptsächlich die Definitionen oder AussprÜche der Konzilien und der Päpste gibt, befasste sich nur sehr selten mit eigentlich aszetischen und mystischen Fragen. Es musste jedoch schon oft einschreiten, um Wahrheiten, die der Aszetik als Grundlage dienen, genau anzugeben und zu erläutern, So z, B, das göttliche Leben in seinem Ursprung, die Erhebung des Menschen in den übernatürlichen Zustand, die Erbsünde und ihre Folgen, die Erlösung, die dem wiedergeborenen Menschen mitgeteilte Gnade, das Verdienst, wodurch das göttliche Leben in uns vermehrt wird, die Sakramente, welche die Gnade übermitteln, das hl. Messopfer mit seiner Zuwendung der Erlösungsfrüchte. Im Verlaufe unserer Arbeit werden wir alle diese Definitionen zu verwenden haben.

18. 2} Das gewöhnliche Lehramt wird auf zweifache Weise ausgeÜbt: theoretisch und praktisch.

A) Theoretische Belehrung erhalten wir negativ durch die Verurteilung von Lehrsätzen falscher Mystiker, positiv durch die allgemeine Lehre der Kirchenväter und Theologen oder durch die Schlussfolgerungen, die sich aus dem Leben der Heiligen ergeben.

a) Zu verschiedenen Zeiten hat es falsche Mystiker gegeben, die den wahren Begriffvon christlicher Vollkommenheit entstellten. So z. B. die Enkratiten und die Montanisten in den ersten Jahrhunderten, die Fraticelli und gewisse deutsche Mystiker im

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Mittelalter, Molinos und die Quietisten in der neueren Zeit, Durch ihre Verurteilung hat uns die Kirche auf die Klippen aufmerksam gemacht, vor denen wir uns zu hüten haben, Gleichzeitig hat sie uns den Weg gezeigt, den wir gehen sollen.

19. b) Andererseits bildete sich nach und nach eine allgemeine Lehre bezüglich aller wichtigen Fragen des geistlichen Lebens. Sie ist gewissermassen ein lebendiger Kommentar zu den biblischen Lehren. Man findet sie bei den Vätem, den Theologen und geistlichen Verfassern, Beschäftigt man sich mit ihnen, so erstaunt man über die EinmÜtigkeit, mit der alle in den brennenden Fragen betreffs des Wesens der Vollkommenheit, der Mittel zu deren Erlangung und der hauptsächlichsten Stufen zu ihr sich äussern. Freilich bleiben einige strittige Punkte, jedoch in nebensächlichen Fragen. Durch diese Erörterungen tritt die moralische Übereinstimmung in der Hauptsache um so stärker hervor. Die stillschweigende Approbation, welche die Kirche dieser allgemeinen Lehre gibt, bürgt uns für deren Wahrheit.

20. B) Praktische Belehrung wird durch die Heiligsprechung der Heiligen, die diese geistlichen Lehren verkündeten und übten, gegeben, Mit welcher Sorgfalt die Untersuchung ihrer Schriften und ihrer Tugenden geschieht, ist eine allgemein bekannte Sache, Aus diesen Schriften lassen sich leicht geistliche Grundsätze über Wesen und Mittel zur Vollkommenheit ziehen. Man kanrl dieselben als Ausdruck der Ansicht der Kirche werten, Um einen Einblick in dieser Sache zu gewinnen, lese man das mit zahlreichen Dokumenten versehene Werk des Papstes Benedikt XIV. : De Servorul1l Dez' Beatijicatione et Canollizatione oder die Akten von Heiligsprechungen sowie die Lebensbeschreibungen von Heiligen, die nach den Grundsätzen einer gesunden Kritik nierdergeschrieben wurden.

EINLEITUNG.

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III. DIE DURCH GLAUBEN UND ERFAHRUNG ERLEUCHTETE VERNUNFT.

21. Die natürliche Vernunft ist eine Gabe Gottes und dem Menschen zur Erkenntnis der natürlichen oder übernatÜrlichen W ahrhei tun bedingt notwendig, Sie nimmt beim Studium des geistlichen Lebens, wie in allen anderen Fächern der kirchlichen Wissenschaft, einen bedeutenden Platz ein. Handelt es sich jedoch um geoffenbarte Wahrheiten, muss sie vom Lichte des Glaubens geleitet und vervollkommnet werden, Sie muss sich auf psychologische Erfahrung stützen, um die allgemeinen Grundsätze auf die Seelen anwenden zu können.

22. I. Das, was sie in der Hl. Schrift tind in der Überlieferung findet, zu sammeln, zu erklären und zu ordnen, ist ihre erste Aufgabe, Diese Angaben sind in verschiedenen Büchern niedergelegt und müssen vereinigt werden, um etwas Ganzes zu bilden. Dazu kommt noch, dass jene heiligen Aussprüche unter diesen oder jenen Umständen getan wurden, gelegentlich dieser oder jener Frage, für einen bestimmten Zuhörerkreis, Ebenso gründen sich die Stellen aus der Überlieferung auf bestimmte Zeitverhältnisse oder Personen. a) Um sie richtig zu verstehen, muss man sich in die damalige Zeit versetzen, sie mit ähnlichen Lehren vergleichen, sie gruppieren und im Lichte der gesamten, christlichen Wahrheiten auslegen. b) Ist diese erste Arbeit getan, so kann man aus diesen grundlegenden Sätzen Scltlüsse zielten, den darin enthaltenen Wert zeigen, wie auch vielfältige Nutzanwendungen für die verschiedensten Verhältnisse des menschlichen Lebens machen, c) Grundsätze und Schlussfolgerungen müssen endlich in einem umfassmdm Uberblick geordnet werden. Sie bilden eine wahre Wissenschaft.

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EINLEITUNG.

d) Der Vernunft auch steht es zu, die aszetische Lehre gegen ihre Verleumder zu verteidigen. Viele greifen sie im Namen der Vernunft und der Wissenschaft an und sehen nur Illusionen dort, wo erhabene Wirklichkeit ist. Da ist es also Sache der philosophisch geschulten und wissenschaftlich unterstÜtzten Vernunft, allen diesen Anfeindungen entgegenzutreten.

23. 2. Die Aszetik ist eine erlebte Wissenschaft.

Es ist daher wichtig, historiscJl 1'lachsuweisen, wie sie praktisch betätigt wurde, Um festzustellen, wie die aszetischen Grundsätze angewendet und in den verschiedenen Zeitabschnitten, Nationen und Standespflichten angepasst wurden, ist die Lesung von Lebensbeschreibungen der Heiligen älterer und neuerer Zeit, verschiedener Stände und Länder, notwendig. Weil es aber nicht nur Heilige in der ~irche gibt, achte man auf die Hindernisse, die der Ubung der Vollkommenheit sich entgegenstellen, und auf die geeigneten Mittel diese Hindernisse zu überwinden. Ohne psychologi~ehes Studium geht es also nicht. Lesen und beobachten!

24. 3, Der durch den Glauben erleuchteten Vernunft steht es ebenfalls zu, die allgemeine1t Grundsätse und Regeln auf fede1t einzelnen j}fensche1t iu Anwendung zu bringm. Vieles ist dabei zu berücksichtigen : Temperament, Charakter, Alter und Geschlecht, soziale Stellung, Berufspflichten und auch der Übernatürliche Zug der Gnade. Ebenso muss den Regeln bezüglich der Unterscheidung der Geister dabei Rechnung getragen werden.

Um dieser dreifachen Aufgabe sich zu entledigen, bedarf es nicht nur eines durchdringenden Verstandes, sondern auch eines gesunden Urteils, grossen Taktgefühles und guten Unterscheidungsvermögens Ausserdem muss das Studium der praktischen Psychologie, der Temperamente, der Nervenkrank_ heiten und jener krankhaften Zustände, welche

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Geist und Willen so sehr beeinflussen, u. a. m. gepflegt werden. Weil es sich hierbei um eine ÜbernatÜrliche Wissenschaft handelt, so darf nicht vergessen werden, dass das Licht des Glaubens dabei eine Hauptrolle spielt und dass die Gaben des Hl. Geis/es auf wunderbare Weise das Fehlende ergänzen. Besonders aber die Gabe der Wissenschaft, die uns vom Irdischen zu Gott erhebt, Die Gabe des Verstandes, die es uns ermöglicht, tiefer in die geoffenbarten Wahrheiten einzudringen. Die Gabe der Weisheit, die uns diese unterscheiden und verkosten lehrt. Die Gabe des Rates, die uns befähigt, sie auf den einzelnen anzuwenden,

Daher sind auch die Heiligen, die sich vom Geiste Gottes führen lassen, am meisten befähigt, die Grundsätze des geistlichen Lebens leichter zu verstehen und besser anzuwenden. Sie besitzen mit den göttlichen Dingen eine gewisse Naturgemeinsch(ift, so dass sie dieselben besser begreifen und mehr geniessen : "Abscondisti hcu a sapientibus et prudentibus et revelasti ea parvulis. 1 "

§ III. Die zu befolgende Methode. 2

Welche Methode empfiehlt sich zur besseren Verwendung der besprochenen Quellen? Ist es die auf Versuchen beruhende oder experimentale oder die deduktive Methode? Oder vielleicht die Verbindung- beider ? Von welchem Geiste soll die Verwendung dieser Methode getragen sein?

25. I) Die experimentale, beschreibende, psychologische Methode besteht darin, dass man in sich oder in anderen die aszetischen oder mystischen Vorgänge beobachtet, sie einteilt und ordnet, um daraus die jedem Zustande eigenen, charakteristi-

, Matth. XI, 25.

3 R. GARRIGOu,LAGRANGE, O. p" La vie spirituelle, 10. Okt. 19I9,

S. II.

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EINLEITUNG.

schen Zeichen und Merkmale, sowie jeder Seelenverfassung zukommenden Tugenden oder Gesinnung herzuleiten. Das muss geschehen, ohne dass man sich um Wesen oder Ursache dieser Erscheinungen kümmere, ohne dass man sich frage, ob sie von den Tugenden, den Gaben des Hl. Geistes oder von wunderbaren Gnaden herrühren. In ihrem positiven Teil besitzt diese Methode viele Vorzüge. Man muss nämlich die Vorgänge gut kennen, ehe man deren Wesen und Ursache erklärt.

26. Bedient man sich jedoch derselben aussdtliessliclt, a) so kann sie eine wahre Wissenschaft nicht ausmachen, Gewiss liefert sie die Grundlage dafür, die Vorgänge nämlich und die daraus sich ergebenden unmittelbaren Folgerungen. Sie kann sogar die anwendbaren Mittel nennen, die gewöhnlich den meisten Erfolg haben, Jedoch betreibt man eher Psychologie als Theologie, solange das innere

Wesen und die Ursache dieser Vorgänge nicht (

I?~rührt werden. Beschreibt man genau, was zur I

Ubung dieser oder jener Tugend gehört, so zeigt man nicht gepug die eigentliche Triebfeder, die zur praktischen Ubung dieser Tugend verhilft,

b) Demzufolge setzt man sich der Gefahr aus, sich schlecht begründeten Meinungen anzuschliessen, Unterscheidet man nicht bei der Beschauung das, was wunderbar ist, wie z, B. die Verzückung, das Schweben u. s, w. von dem, was zu ihrem wesentlichen Bestandteil gehört, d, i. der andauernde und liebevolle Blick auf Gott, unter dem Einflusse einer besonderen Gnade, so könnte man zu leicht daraus folgern, jede Beschauung sei ein Wunder. Das widerspricht jedoch der allgemeinen Lehre.

Viele Streitfragen über mystische Zustäncle würden aufhören, wollte man den SchiLderungen jener Zustände die vom theologischen Studium gebotenen Unterscheidungen und genauen Angaben hinzufügen. So gestattet uns die Unterscheidung

EINLEITUNG.

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zwischen erworbener und eingegossener Beschauung gewisse tatsächlich vorhandene Vorgänge in der Seele besser zu verstehen und Meinungen übereinstimmend zu finden, die auf den ersten Blick unvereinbar scheinen. Ebenso gibt es in der passiven Beschauung sehr viele Stufen. Bei einigen genügt der bessere Gebrauch der Gaben, Bei anderen bedarf es göttlichen Beistandes, um unsere Gedanken zu ordnen und uns zu befähigen, treffende Folgerungen zu ziehen. Wieder andere endlich lassen sich kaum anders als durch eingegossene Kenntnisse erklären. Alle diese Unterscheidungen ergeben sich aus langen, mühevollen Forschungen, spekulativer und praktischer Art. Würde man sie machen, so hörten viele Meinungsverschiedenheiten zwischen den Schulen auf.

27. 2) Die belehrende oder deduktive Methode besteht in dem sorgfäl~.igen Studium dessen, was uns die Hl. Schrift, die Uberlieferung, die Theologie und besonders die Summa des hl. Thomas über das geistliche Leben lehrt. Ebenso, welche Folgerungen sich bezüglich des Wesens und der Vollkommenheit des christlichen Lebens daraus ergeben, ferner betreffs der Verpflichtung und Mittel, sie anzustreben, Dabei achtet man nicht genügend auf die psychologischen Vorgänge, das Temperament und den Charakter der zu leitenden Seelen, auf deren Neigungen, auf die Wirkungen, die bei dieser oder jener Seele durch dieses oder jenes Mittel erreicht worden sind, Man untersucht nicht im einzeilnen die mystischen Phänomene, wie sie von den in dieser Hinsicht erfahrenen Heiligen, der hl. Therese, dem hl. J oh. vom Kreuz, dem hl. Franz von Sales u, a. beschrieben worden sind, oder wenigstens bringt man sie nicht genug in Rechnung. Da wir bei unseren Schlüssen sehr leicht dem Irrtum ausgesetzt sind, namentlich, wenn es sich um eine ganze Reihe von solchen handelt, ist es sehr ver-

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nünftig, sie durch das Zeugnis der Tatsachen berichtigen zu lassen. Stellt man z, B, fest, die eingegossene Beschauung sei ziemlich selten, so wird man der von einigen aufgestellten Behauptung, alle seien zu den höchsten Stufen der Beschauung berufen, nicht ohne einige Einschränkungen beipflichten, 1

28. 3) Vereinigung der beiden Methoden. A) Man muss also beide Methoden harmonisch miteinander zu verbinden verstehen.

Das tun auch tatsächlich die meisten Schriftsteller.

Ein Unterschied ist nur darin bemerkbar, dass die einen sich mehr auf Tatsachen, andere mehr auf Grundsätze stÜtzen, 2 Wir wollen versuchen, uns in der Mitte zu halten, ohne jedoch uns anzumassen, dabei Erfolg zu erzielen. a) Die von berÜhmten Meistern aufgestellten Grundsätze der mystischen Theologie, welche sie aus den geoffenbarten \Vahrheiten herleiteten, sollen uns behilflich sein, die Vorgänge besser zu beobachten, sie auf vollkommenere Weise zu analysieren, sie methodischer zu ordnen und weiser auszulegen. Dabei werden wir nicht vergessen, dass die Mystiker ihre Eindrücke schildern, oft wenigstens, ohne deren Natur erklären zu wollen. Vermöge der Grundsätze werden wir auch unter Berücksichtigung der schon bekannten Wahrheiten die Ursache der Vorgänge erforschen und sie zu einer wirklichen Wissenschaft durch gemeinsame Verbindung machen können, b) Übrigens wird die Untersucltung. der aszetischen und mystischen Vorgdng-e das verbessern, was zu starr

, Mit Recht lJefassen sich zwei Zeitschriften verschiedener Richtung, "La Vie spirituelle" und" Revue d'AsCiftique et de Mystiqlte" mit grösserer Genrtuigkeit mit dem Ruf zur Beschauung. Sie untersclieiden den allgemeinen und einzelnen, den nahen und entfernten, den wirksa~ men und genÜgenden Beruf. Je genauer man den Sinn jener Worte angibt, desto schneller wird es nicht nur zu einer besseren Verställdi, -gung. sondern auch sogar zu einer Annäherung kommen.

2 So z. B. räumt Th. de Vallgornera der deduktiven Methode den grö,sten Platz ein, während P. Poulaill in seinem Werke " Grdets d'oraison " d~r experimelltalen Methode mehr Beachtung schenkt.

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und zu absolut in rein theoretischen Schlüssen vorhanden sein könnte. Tatsächlich darf es zwischen den Leitsätzen und den Vorgängen keinen Widerspruch geben, Beweist die Erfahrung, dass die Zahl der Mystiker gering ist, so darf man nicht gleich daraus schliessen, der Widerstand, den man der Gnade gegenüber leiste, sei schuld daran, Es ist auch nicht zwecklos, sich zu fragen, warum man in den Heiligspr~chungsprozessen die Heiligkeit mehr nach der Ubzmg- heroischer Tugenden als nach der Gebetsart oder Beschauungsweise feststellt. Diese Tatsachen zeigen deutlich, dass der Grad der Heiligkeit nicht immer und nicht notwendigerweise mit der Art und der Stufe des Gebetes zusammenhängt,

29. B) Wie sind diese beiden Methoden zu verbinden? a) Zunächst ist del:.geojJenbarte Inhalt, so, wie die Hl. Schrift und die Uberlieferung samt dem gewöhnlichen Lehramt der Kirche ihn uns darbieten, durchzuarbeiten. Mittels dieses Inhaltes muss man durch die dedukti'vc Methode bestimmen, worin das christliche Leben und seine Vollkommenheit besteht, welches dessen verschiedene Stufen sind, auf welche fortschreitende \Veise man zur Bescha!:lung gelangt, nämlich durch Abtötung, durch Ubung der sittlichen und göttlichen Tugenden. Ferner, worin die Beschauung besteht, sowohl den wesentlichen Bestandteilen nach, als auch den zuweilen vorkommenden aussergewöhnlichen Begleiterscheinungen nach.

30. b) Dem belehrenden Studium muss sich die Beobaclttungsmetltode anschliessen. I) Sorgfältige Prüfung der Seelen, ihrer Vorzüge und Mängel, ihrer besonderen Physiognomie,ihrer Neigungen und Abneigungen, der Regungen von Natur und Gnade, die sich in ihnen bemerkbar machen, Diese psychologischen Mittel werden es eher ermöglichen, die für sie passenden Mittel zur Erlangung der Vollkommenheit besser und genauer anzugeben, wie

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EINLEITUNG.

auch die Tugenden, die sie besonders üben sollen und zu denen die Gnade sie einladet. Ausserdem, wie sie der Gnade entsprechen sollen, auf welche Hindernisse sie zu achten und wie, d, h, mit welchen Mitteln, sie dieselben zu Überwinden haben, 2) Um das Erfahrungsgebiet zu erweitern, soll man die Lebensgeschichten der Heiligen lesen, besonders jene, die, ohne ihre Fehler zu verbergen, die fortschreitende Art und Weise zeigen, auf welche sie dieselben bekämpft haben, wie und mit welchen Mitteln sie die Tugenden übten. Ob und wie sie vom aszetischen Leben zum mystischen übergingen und unter welchen Einflüssen. 3) Auch im Leben der Beschaulichen soll man die verschiedenen, aussergewöhnlichen Erscheinungen oder Phänomene der Beschauung erforschen, angefangen von den ersten unbestimmten Erleucbtungen, bis zu den höchsten Gipfeln, ebenso die durch diese Gnaden hervorgerufenen Wirkungen von Heiligkeit die PrÜfungen, denen sie unterworfen wurden, die Tugenden, die sie übten, Alles dieses wird zur Vervollständigung und zuweilen auch zur Berichtigung der bereits erworbenen, theoretischen Kenntnisse dienen.

31. c) Gestützt auf theologische Grundsätze und sorgfältig untersuchte, richtig gruppierte, mystische Phäl)omene kann man leichter auf das Wesen der Beschauung, deren U,'sachen und Arten schliessen und unterscheiden, was in ihr normal und was aussergewöhnlich ist, I) Man wird sich fragen, in welchem Masse die Gaben des Hl. Geistes die formellen Grundlagen der Beschauung sind und wie sie zu pflegen sind, um sich in die für die Beschauung günstige Verfassung zu versetzen. 2) Man son prüfen, ob die bereits festgestellten Vorgänge sich alle durch die Gaben des Hl. Geistes erklären lassen, ob ferner einige nicht vielleicht el'ngegossene Arten (species infusas) voraussetzen und wie sie in der Seele sich auswirken, oder ob die Liebe jene

EINLEITUNG.

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Seelenzustände hervorruft, ohne neue Kenntnisse, 3) Dann erst wird man besser sehen, worin der' passive Zustand besteht und in welchem Masse die Seele dabei tätig bleibt. Man wird auch feststellen können, was Gott und was die Seele im Zustande eingegossener Beschauung bewirkt, Ebenso, was in diesem Zustande gewöhnlich ist und was aussergewöhnlich, aussernatürlich wird, So wird man besser das Problem des Berufes zum mystischen Stande und der mehr oder weniger grossen Zahl der wirklichen Beschaulichen erforschen können.

Halten wir diesen \tVeg ein, so werden mir mehr Aussicht haben, zur Wahrheit zu gelangen und zu praktischen Schlussfolgerungen für Seelen führung. Ein solches Studium fesselt und trägt gleichzeitig etwas zur persönlichen Heiligung bei,

32.4) In welthem Geiste soll man diese Methode anwenden? Um welche Methode es sich auch immer handele, man muss mit aller Ruhe und strenger Sachlichkeit jene schweren Probleme zu lösen sich bemühen, um die Wahrhez't lcennen zu lernen, nicht aber, um das Forschungsverfahren, dem wir den Vorzug geben, um jeden Preis triumphieren zu lassen.

a) Deshalb ist es von Wichtigkeit, alles, was sicher ist und allgemein zugegeben wird, abzusondern und hervortreten zu lassen und erst in zweiter Linie von demjenigen zu sprechen, was umstritten wird, Die Seelenleitung hängt nicht von Streiifragen, sondern von allgemein anerkannten Lehren ab, Einstimmig wird von allen Schulen zugegeben, Entsagung und Nächstenliebe, Opfer und Liebe seien allen Seelen und auf allen Wegen notwendig und die harmonische Verbindung dieses zweifachen Grundstoffes hänge sehr von dem Charakter der Personen ab, die man leitet. Alle geben zu, man dürfe nie aufhören, Bussgeist zu üben, obwohl er je nach dem Gnade der Vollkommenheit verschiedene Formen annimmt.

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EINLEITUNG.

Man müsse die sittlichen und die theologischen Tugenden mit immer grösserer Vollkommenheit üben, um auf den Einigungsweg zu gelangen, Alle lehren, die Gaben des Hl. Geistes, sorgsam gepflegt, verleihen unserer Seele eine Gefügigkeit, die sie für die Eingebungen der Gnade empfänglicher mache und sie auf die Beschauung vorbereite, falls Gott sie dafür berufen habe. Man ist bezÜglich der wichtigen Tatsache einig, dass die eingegossene Beschauung wesentlich ohne unser Zutun Ci, e. gratuita) vor sich gehe und dass Gott sie schenkt, wem er will und wann er will. Dass man sich selbst also nicht in den passiven Zustand versetzen kann und dass die Erkennungszeichen eines jenem Zustande nahen Berufes diejenigen seien, welche der hL J oh, vom Kreuz so treffend beschreibt. Und gelangen Seelen zur Beschauung, so müssen sie, nach Meinung aller, in der vollkommenen Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes, in der Hingabe und besonders in der Demut Fortschritte machen, Diese Tugenden wurden von der hl. Therese beständig betont.

Man kann also sehr wohl Seelen leiten, selbst solche, die zur Beschauung berufen sind, ohne erst alle Streitfragen gelöst zu haben, die heute noch immer wieder aufgeworfen werden.

33, b) Unserer Meinung nach muss man sich in versOlznlichem Geiste mit jenen Problemen befassen, d. h, mehr dasjenige suchen, was uns nahe bringt als das, was' uns scheidet; dann wird es gelingen, zwar nicht den Streitigkeiten ein Ende zu machen, wohl aber sie abzuschwächen und teilweise zu beseitigen. In jedem System nämlich ist der Kern der Wahrheit zu finden, Das ist alles, was man hier auf Erden tun kann. Um gewisse andere schwierige Probleme lösen zu können, müssen wir die Erleuchtungen der zukünftigen, beseligenden Anschauung Gottes geduldig abwarten.

EINLEITUNG.

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§ IV. Vortreffiichkeit und Notwendigkeit der aszetischen Theologie.

Das Wenige, was wir über das Wesen, die Quellen und die Methode der aszetischen Theologie gesagt haben, gestattet uns, einen Blick auf deren Vortrefflichkeit und Notwendigkeit zu werfen,

I. VORTREFFLICHKEIT

DER ASZETISCHEN THEOLOGIE.

34. Ihre Vortrefflichkeit geht aus ihrem Gegenstande hervor. Letzterer ist einer der edelsten, mit welchem die Forschung sich befassen kann. Er besteht in einer Teilnahme am göttlichen Leben, welches der Seele mitgeteilt und von ihr mit unermüdlichem Eifer erhalten wird. Bei der ausführlichen Beschreibung dieses Begriffes werden wir sehen, wie sehr gerade dieser Zweig der Theologie unsere besondere Aufmerksamkeit verdient.

I) In erster Linie vertiefen wir uns dabei in Gottes engste Bezieltungen zur Seele: \tVie die Heiligste Dreifaltigkeit in uns wohnt und lebt, uns eine Gemeinschaft mit ihrem 'Leben gewährt, in uns wirkt bei unseren guten \Verken und uns dadurch hilft, unaufhörlich jenes Übernatürliche Leben zu ~~rmehren, unsere Seele zu reinigen, sie durch Ubung der Tugenden zu verschönern und sie umzugestalten, bis sie für die Anschauung Gottes reif wird. Kann man sich wohl etwas Schöneres vorstellen, als diese Handlung Gottes, nämlich die Seelen umzugestalten, um sich mit ihnen zu vereinigen und sie in einer so vollkommenen \\leise ihm ähnlich zu machen?

2) Wir beobachten dann die Seele selbst dis lWitarbeiterin Gottes, wie sie sich nach und nach von ihren Fehlern und von ihren Unvollkommenheiten freimacht, wie sie die christlichen Tugenden

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EINLEITUNG.

fleissig übt, wie sie sich trotz äusserer und innerer Hindernisse bemüht, die Tugenden des göttlichen Vorbildes nachzuahmen, Ferner, wie sie die Gaben des HL Geistes sorgfältig bewahrt und eine wunderbare Fügsamkeit erlangt, um den leisesten Eingebungen der Gnade zu folgen und wie sie auf diese Weise mit jedem Tage sich ihrem himmlischen Vater nähert, Legt man gegenwärtig allen Lebensfragen so grosse Bedeutung bei, was ist dann erst von einer Wissenschaft zu sagen, die vom Übernatürlichen Leben handelt, von der Teilnahme am Leben Gottes, von der Urquelle, dem Fortschritte und der Entfaltung des übernatÜrlichen Lebens im Himmel? Ist das nicht der erhabenste Gegenstand unserer Forschung? Gleichzeitig nicht auch der allernotwendigste ?

II. NOTWENDIGKEIT DER ASZETlSCHEN THEOLOGIE.

Um in einem so heiklen Stoffe grössere Klarheit zu erlangen, werden wir zunächst ihre Notwendigkeit für den Priester darlegen. An zweiter Stelle, ihren grossen /llZttgen fÜr die Laien und drittens, die praktisc!te Art, sie zu betreiben,

I. Notwendigkeit fÜr deJt Priester,

35. Der Priester soll sich und seine Mitmenschen heiligen. Von diesem zweifachen Standpunkte aus ist er verpflichtet, die Wissenschaft der Heiligen zu studieren.

A) Dass der Priester verpflichtet ist, nicht nur nach der Vollkommenheit zu streben, sondern dieselbe in einem höheren Grade als der ez'nfache Ordensmann besitzen muss, werden wir später, gestützt auf die Lehre des hl. Thomas, beweisen. Nun ist aber die Kenntnis des christlichen Lebens und der Mittel, die dazu beitragen, um es zu

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vervollkommen, .fÜr gewiihnlicll notwendig, um zur Vollkommenheit zu gelangen. Nil volitum quin prcecognitum.

a) Die Kenntnis entfacht und regt' das Verlangen an. Wissen, worin die Heiligkeit, ihre Vortrefflichkeit, ihre Verpflichtung und ihre wunderbaren W irkungen in der Seele bestehen und ihre Fruchtbarkeit kennen, heisst schon, nach ihr verlangen, Haben wir das Gute als solches erkannt, so empfinden wir sogleich ein Verlangen nach demselben. Man kann nicht lange eine köstliche Frucht betrachten, ohne dass der Gedanke in uns erwacht, davon zu kosten, Das Verlangen aber, besonders das heisse und beständige, ist bereits der Anfang einer Handlung, Es bewegt den Willen und treibt ihn zur Erreichung des von dem Verstande erkannten Guten, Es gibt ihm, sozusagen, die Schwungkraft und Energie, um dasselbe zu erreichen und unterstützt sein Bemühen, es zu gewinnen, Und zwar ist das um so notwendiger, als sich unserem geistlichen Fortschritte sehr viele Hindernisse entgegenstellen.

b) Im einzelnen die zahlreichen Gebiete in Augenschein nehmen, die durchquert werden müssen, um zur Vollkommenheit zu gelangen, ferner die gewaltigen Anstrengungen betrachten, welchen sich die l-leiligt!JZ unterzogen, um die Schwierigkeiten zu überwinden und dem heissersehnten Ziele nahezukommen, das alles entfacht den Mut, flösst mitten im Kampfe Begeisterung ein, verhindert Erschlaffung und Lauheit, besonders, wenn man gleichzeitig die Hilfe und den Trost in Erwägung zieht, welche Gott für die Seelen guten \Villens bereithält.

c) Dieses Studium ist ganz besonders in unserer Zeit notwendig. ,. Wir leben in einer Atmosphäre eines geistigen Wirrwarrs, eines Rationalismus, Naturalismus und Sensualismus, Dieser Geist erfasst unwillkürlich sehr viele christliche Seelen. Selbst bis

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EINLEITUNG.

in das Heiligtum ist er vorgedrungen." 1 Die zwei oder drei Jahre, die man in der Kaserne zubringt, bleiben nicht ohne Einfluss dieses Geistes, selbst auf die jungen Kleriker. Besonders aber auf die, welche im Elternhause keine gediegene religiöse Erziehung genossen haben. Gibt es darum gegenwärtig wohl ein besseres Mittel, gegen diese verheerenden Grundsätze zu kämpfen, als in der Gesellschaft unseres Herrn und Heilandes und der Heiligen zu leben und zwar durch methodisches Studium der Grundsätze des geistlichen Lebens, jener wichtigen Grundsätze, die zur dreifachen Begierlichkeit in direktem Gegensatz stehen?

36. B) Zur Heiligung' der Seelen, die ill11t anvertraut sind. a) Selbst, wenn es sich um SÜnder handelt, muss der Priester die Aszetik kennen, um sie zu belehren, wie sie die Gelegenheiten zur SÜnde meiden sollen, wie sie die Leidenschaften zu bekämpfen, den Versuchungen zu widerstehen und diejenigen Tugenden zu üben haben, die den Lastern entgegengesetzt sind, vor denen sie sich hüten müssen. Die Moraltheologie deutet zwar diese Dinge an, die Aszetik jedoch fasst sie zusammen und legt sie dar.

b) Aber ausserdem sind in fast allen Pfarreien auserlesene Seelen, die unter guter Führung durch ihre Gebete, ihr gutes Beispiel und tausend andere kleine Dienste den Priester in der AusÜbung des Apostolates unterstützen sollen, Jedenfalls kann man sich solche heranbilden. Unter den Kindern, denen man Religionsunterricht erteilt, und aus dem Jugendverein sucht man sich dieselben aus, Um bei diesem schwierigen Unternehmen Erfolg zu haben, muss der Priester ein guter Führer sein und die Regeln kennen, die die Heiligen hinterlassen haben und die in den Büchern des geistlichen Lebens

, GIROUX, ßerieht auf dem 6, Kongress des Verbandes der Priester· seminare 191I. S. 156.

EINLEITUNG.

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enthalten sind. Sonst hat man weder Freude an der schweren Kunst, Seelen zu leiten, noch die erforderliche Fähigkeit dazu.

37. c) Um so notwendiger ist das Studium der geistlichen Wege für die Leitung der zur Heiligkeit berufenen, eifrig'en Seelen. Selbst in den kleinsten Dörfern begegnet man ihnen. Um sie bis zum Gebete der Einfachheit und der gewöhnlichen Beschauung zu führen, muss man nicht nur die Aszetik, sondern auch die Mystik kennen. Andernfalls irrt man sich und verhindert den Fortschritt dieser Personen. Dieses betont die M. Therese, Sie schreibt: " Dazu braucht man notwencligerweise einen Führer. Es muss jedoch ein erfahrener sein ... Meine Meinung ist und wird immer sein, dass jeder Christ, wenn er es kann, mit gelehrten J/.1ännern in Verbindung bleiben muss. Je gelehrter sie sind, desto besser wird es für ihn sein. Die, welche geistliche Wege wandeln, brauchen solche mehr als andere und zwar in dem Masse, als sie innerlicher sind. Ich bin vollkommen davon überzeugt, dass der Teufel eine Person, die das Gebet pflegt, nicht durch seine KÜnste verfÜhren wird, wenn sie Gottesgelehrte um Rat fragt, ausser, sie will sich selbst betrügen. Meiner Ansicht nach, hat er eine grosse Furcht vor der demütigen und tugendhaften Wissenschaft. Er weiss, durch sie wird ihm die Maske abgerissen und mit Verlust muss er sich zurückziehen, " 1 Der hl. Johattnes vom Kreuz spricht ähnlich: " Solche Meister der geistlichen Wissenschaft (die keine Ahnung von den geistlichen Wegen haben) verstehen nicht die Seelen, die auf der Stufe der friedlichen und· einsamen Beschauung sich befinden. Sie zwingen sie, den Weg der Betrachtung und der Gedächtnisarbeit wieder einzuschlagen, innerliche

, Leben der hl. Therese. Von ihr selbst geschrieben. Frz. Ausgabe der Pariser Karmeliten. Kap. 13, S. 173-177. Man lese die betreffende Stelle ganz, Ebenso andere, die sich hie und da in ihren Werken finden.

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EINLEITUNG.

Akte zu erwecken, wo solche Seelen doch nur Trockenheit und Zerstreuung finden. Man präge sich gut ein: Der durch Unwissenheit irrt, während ihn sein Amt verpflichtet, unentbehrliche Kenntnisse zu erwerben, wird einer Bestrafung nicht entgehen. Diese wird nach der Beschaffenheit des angerichteten Schadens sein. " I

Man sage nicht: " Begegne ich solchen Seelen, so überlasse ich sie dem BI. Geiste. Er möge sie leiten." Der BI. Geist wÜrde Ihnen ant\\'orten, er habe sie Ihnen anvertraut und Sie sollen mit ihm an der FÜhrung derselben mitwirken. Gewiss kann er selbst sie leiten, aber, um jede Gefahr der Täuschung zu vermeiden, will er, dass diese Leitung der Genehmigung eines sichtbaren Führers unterstellt sei.

2. Nutzen /iir die Laieu.

38. YVir sagen Nutzen, nicht Notwendigkeit, denn die Laien können sich von einem gelehrten und erfahrenen Leiter führen lassen. Sie sind also, streng genommen, nicht verpflichtet, aszetische Theologie zu studieren. Trotzdem wird ihnen dieses Studium aus drei hauptsächlichen Gründen nützlich sein.a) Um das Verlangen nach Vollkommenheit wachzurufen und zu erhalten, wie auch, um das Wesen des christlichen Lebens und die dazu erfc>rderlichen führenden Mittel, es zu vervollkommnen, einigermassen ieennenzulernen. Man verlangt bekanntlich nicht nach dem, was man nicht kennt. Ignoti nulla cupido. Die Lesung geistlicher Bücher ruft das aufrichtige Verlangen hervor oder bestärkt den "Villen, in Praxis umzusetzen, was man gelesen hat. Wieviele Seelen z. B. begeisterten sich für die Vollkommenheit während der Lesung der" Nach-

, Die lebendige Flamme der Liebe (La vive fla1llme d'anzour) Strophe III, V. 3, § 2, S. 308-34I. Ausg. HOORNAERT.

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folge Christi ", d~s " Geistlichen Kampfes ", der " Philothea ", der Ubung der Gottesliebe ?

b) Dazu kommt noch, dass, selbst wenn man einen geistlichen FÜhrer hat, durch die Lesung einer guten aszetischen Theologie die Führung erleichtert und vervollständigt wird. Man versteht besser, was man in der Beichte oder in bezug auf die FÜhrung sagen sol!. Man begreift und behält leichter die Ratschläge des Beichtvaters, wenn man sie in einem Buche wiederfindet, das man immer wieder lesen kann. Der Seelen fÜhrer, seinerseits, braucht nicht in die vielen Einzelheiten einzugehen und kann sich begnügen, nach einigen unbedingt notwendigen Anweisungen, irgendeine aszetische Abhandlung lesen zu lassen, wo sein Beichtkind die notwendigen Erläuterungen und Ergänzungen finden wird. So beansprucht die Leitung weniger Zeit, obschon nichts von dem Nutzen verloren geht: Das Buch wird die Aktion des Führers fortsetzen und vervollständigen.

c) Schliesslich wird die Lesung einer aszetischen Abhandlung die FÜhrung gewissermassen ersetzen, die man aus Mangel an einem geistlichen Führer nicht erhalten kann oder die man nur selten empfängt. Zweifellos ist, wie wir später zeigen werden, die Führung das normale Mittel, um vollkommener zu werden. Findet man aber, aus diesem oder jenem Grunde, keinen tÜchtigen FÜhrer, so hilft Gott selbst aus. Eines der Mittel, deren er sich dabei bedient, ist besonders eines von jenen BÜchern, welche in bestimmter, methodischer Art und Weise den Weg zeigen, den man einschlagen muss, um vollkommen zu werden,

3. Wie man diese vVissenschaft betreiben soll. 39. Drei Dinge sind zur Erwerbung der für die Seelen führung notwendigen Kenntnisse erforderlich : Ein Handbuch, das Lesen grosseI' JWeister und

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EINLEITUNG.

die Übung' der christlichen und priesterlichen Tugenden.

A) Das Studiu.m eines Handbueltes. Die geistlichen Les~.ngen, die man im Priesterseminar veranstaltet, die Ubung der Leitung, besonders aber der Fortschritt in den Tugenden dienen zwar dazu, den Alumnus allmählich mit der schweren Kunst der Seelen leitung vertraut zu machen, Dazu muss sich jedoch das Studium eines guten Handbuches gesellen. I) Die geistlichen Lesungen sind vor allem eine AndachtsÜbung, eine Reihe von Unterweisungen, Ratschlägen und Ermahnungen für das geistliche Leben. Selten behandelt man darin auf methodische und vollendete Weise alle Fragen der Aszetik. 2) Haben die Alumnen kein Handbuch, worin sie in logischgeordneter Reihenfolge die verschiedenen Ratschläge, die man ihnen erteilt und die sie von Zeit zu Zeit sich wieder durchlesen können, wiederfinden, so werden sie das Gehörte bald vergessen haben und die nötigen Kenntnisse nicht besitzen. Nun ist aber gerade diese Wissenschaft eine von denen, die der junge Kleriker sich im Seminar erwerben muss, wie Pius X. mit Recht erklärte : "Scientiallt pietatis et officioru11l qua1ll asceticam vocallt. " I

40. B) GrÜndliches Studz'u17l der Meister des geistliellen Lebens, insbesondere derer, die heiliggesproclzen worden sind oder, ohne kanonisiert worden zu sein, Iteiligmässig gelebt haben. a) Der Verkehr mit ihnen stärkt das Herz. Der durch den Glauben erleuchtete Verstand erfasst leichter und verkostet bes~er als in einem anderen Lehrbuche die hauptsächlichsten Grundsätze des geistlichen Lebens. Der von der Gnade unterstützte Wille wird

, Molu p1'op1'10 9 Sept. I910, A. A. S. t. II, S. 668. - Papst Benedikt X V. hat gewünscht, dass cin Lehrstuhl für aszetische Theologie in den zwei grossen theologischen Schulen in Rom gegründet würde.

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leichter zur Übung der Tugenden mitfortgerissen, die von jenen so lebendig geschildert werden, welche sich selbst darin tapfer erwiesen. Fügt man die Lesung der Heiligenleben hinzu, so wird man noch besser verstehen, warum und wie man sie nachahmen soll. Der unwiderstehliche Einfluss ihrer Beispiele wird ihrer Lehre eine neue Kraft verleihen. " Verba movent, e::rempla trahunt. "

b) Dieses im Seminar begonnene Studium muss in der Seelsorge fortg'esetzt und vervollständigt werden. Die Seelenleitung wird es praktisch gestalten. Ebenso wie ein tüchtiger Arzt nicht aufhört, seine Studien durch die praktische AusÜbung seiner Kunst und seine Kunst durch neue Studien zu vervollständigen, so wird auch ein kluger Seelenführer seine theoretischen Kenntnisse durch den Kontakt mit den Seelen und die Kunst der Führung durch neue Studien, die sich auf die hesonderen Bedürfnisse der ihm anvertrauten Seelen beziehen, vervollkommnen.

41. C) Die (}bung der christlichen und priesterlichen Tugenden unter der Anleitung eines klugen Führers. Um die verschiedenen Stadien der Vollkommenheit richtig zu verstehen, gibt es kein wirksameres Mittel, als sie selbst durchzumachen. Ist nicht der beste Bergführer derjenige, der das Gebirge in jeder Richtung selbst erst durchwandert ist? Ist man selbst gut geführt worden, so ist man fähiger, anderen zum FÜhrer zu dienen, da man aus eigener Erfahrung weiss, wie man in einzelnen Fällen die Regeln anzuwenden hat.

Verbindet man also diese drei Dinge, so wird man die aszetische Theologie erfolgreich für sich und für die anderen studieren,

42. Lösung einiger Schwierigkeiten. A) Man wirft zuweilen der Aszetik vor, sie fälsche die Gewissen, da sie mehr als die Moral verlange und von den Seelen eine unmögliche Vollkommenheit fordere. - Dieser Vorwurf wäre

No 683. - 2

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begrÜndet, wÜrde sie nicht das Gebot von dem Rat und die zu hoher Vollkommenheit berufenen Seelen von den anderen, die es nicht sind, unterscheiden. Dem ist jedoch nicht so. Obschon sie die auserwählten Seelen auf die den gewöhnli, chen christlichen Seelen unerreichbaren Höhen drängt, vergisst sie nicht den Unterschied zwischen den Geboten und den Räten, ferner die zum Seelenheil notwendigen und die fÜr die Vollkommenheit erforderlichen Bedingungen. Aber sie weiss auch, dass zur Beobachtung der Gebote einige Räte zu befolgen sind.

43. B) Man beschuldigt sie, die Selbstsucltt zu fördern, da sie die persönliche Heiligung Über alles stelle. - Dass das Heil unserer Seele unsere erste und grösste Sorge sein muss, lehrt der Heiland selbst : " Quid enim prodest II01/1ini si mund/tin universu1lt lucretur, animce vel'o Slice detrimentum patiatur?" , Darin aber besteht keine Selbstsucht, denn die Nächstenliebe ist eine der wesentlichen Bedingungen zur Rettung der Seele. Sie zeigt sich sowohl in leiblichen, als auch in geistlichen Werken. Die Vollkommenheit erfordert, dass man seinen Mitmenschen bis zur Hingabe fÜr ihn liebe, wie J esus sich rÜr uns hingegeben hat. Ist das Selbst, sucht, so hat man sie, offen gestanden, nicht zu fÜrchten.

C) Man besteht darauf: Die Aszetik treibt die Seelen zur Beschattung an und entzieht sie dadurch dem tätigen Leben. _ Nur vollkommene Unkenntnis der Geschichte kann behaupten, die Beschauung schade dem tätigen Leben. " Die wahren Mystiker ", sagt de Montmorand, "sind praktische und arbeitsame Menschen, keine bIossen Philosophen und Theoretiker. Sie verstehen sich auf Organisation, haben FÜhrertalent und bewähren sich auch in sonstigen Angele' genheiten. Die Werke, die sie grÜnden, sind lebensfähig und dauern an. Sie beweisen in der Auffassung und Leitung ihrer Unternehmungen Klugheit und KÜhnheit und jene richtige Abschätzung von Möglichkeiten, die gesunden Verstand kennzeichnen. In der Tat scheint letzterer bei ihnen vorzu, herrschen. Er lässt sich durch keine krankhafte Übertreibung, keine Überhitzte Phantasie stören. Ihm gesellt sich ausseI" gewöhnlicher Scharfsinn hinzu." 2 Haben wir denn nicht beim Lesen der Kirchengeschichte festgestellt, dass die meisten Heiligen, die Über das geistliche Leben geschrieben haben, gleichzeitig Menschen der Wissenschaft und Tatkraft waren? Zeugen dafÜr: Klemens von Alexandrien, der h1. Basilius,

, Matth., XVI, 26.

2 Revue Philosopliique (Ribot), Dez. 1904, S. 608; M. DE MOI'TMO, RAND, Psychologie des ilfystiques, 1920, S. 20,2I.

EINLEITUNG.

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Chrysostomus, Ambrosius, Augustinus, Gregor, Anse1m, Bernhard, der seI. Albertus Magnus, der hl. Thomas. Ferner der hl. Bonaventura, Gerson, die hl. Therese, Franz von Sales, Vinzenz von Paul. Der Kardinal de Berulle, Mme Acarie, und noch viele andere, die wir unmöglich alle anführen können. Die Beschauung ist demnach durchaus kein Hindernis für das tätige Leben. Im Gegenteil, sie schenkt ihm Licht und Richtung.

Nichts ist also erhabener, wichtiger und nützlicher als die richtig verstandene, aszetische Theologie.

§ V. Einteilung der aszetisehen und mystischen Theologie.

1. VERSCHIEDENE VON DEN SCHRIFTSTELLERN EINGESCHLAGENE WEGE.

Erst schildern wir die verschiedenen, ausgeführten Pläne, dann schlagen wir denjenigen vor, der uns als der zweckmässigste erscheint. Von mehreren Gesichtspunkten aus kann man eine logische Einteilung der geistlichen Wissenschaft entwerfen.

44. 1. Die einen, welche sie als eine vor allem praktische Wissenschaft betrachten, lassen alle spekulativen Wahrheiten, auf die sie sich stÜtzt, beiseite und beschränken sich darauf, die R~geln der christlichen Vollkommenheit möglichst methodisch zu gruppieren. So machten es z. B. unter den Kirchenvätern, J. Kassian in seinen Konferenzen, der hI. Johannes Klimakus in seinem Werke" Die mystische Leiter" und, in der neueren Zeit, RoLlriguez in der" Ubung der christlichen Vollkommenheit ". Der Vorteil dieser Methode besteht darin, sich sofort mit dem Studium der praktischen Mittel, die zur Vollkommenheit fÜhren, zu befassen. Der Nachteil aber ist der, den Seelen jene Anregungen vorzuenthalten, welche die Betrachtung dessen gibt, was Gott und Jesus Christps für uns getan haben und noch tun, und die Ubung der Tugenden nicht auf jene allgemeinen und tiefen

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EINLEITUNG.

Überzeugungen zu gründen, die man in der Bett'achtung der dogmatischen Wahrheiten findet.

45. 2. Auch legen die berÜhmtesten griechischen und lateinischen Kirchenväter, wie der hl. Athanasius, der hl. Cyrillus, Augustinus und Hilarion, ferner die gros sen Theologen des Mittelalters, Richard von St, Viktor, der seI. Albertus Magnus, der hl. Thomas und der hl. Bonaventura, grosse Sorgfalt darauf, ihre geistliche Lehre auf die Glaubenssätze zu grÜnden und daran die Tugenden zu knüpfen, deren Wesen und Abstufungen sie darlegen, Besonders tat dieses die französische Schule des 17. Jahrhunderts, Berulle, Condren, Olier und Eudes. I Sie bestrebt sich, den Geist zu erleuchten und die Überzeugungen zu stärken, um uns die Übung der strengen Tugenden, die sie uns vorschlägt, dadurch zu erleichtern. Darin besteht ihr Verdienst. Man wirft ihr jedoch zuweilen vor, sich zuviel mit der Theorie und nicht genug mit der Praxis zu beschäftigen. Beides vereinigen wäre das Ideal. Mehrere versuchten es mit Erfolg. 2

46.3. Unter denen, welche diese zwei Elemente zu verbinden suchten, unterscheidet man die, welche die ontologische Ordnung der Tugenden innehalten, von denen, welche die psychologische Ordnung der Entwicklung jener Tugenden auf dem Reinigungs-, Erleuchtungs- und Einigungswege verfolgen,

A) Zu den ersteren zählt der hl. Thomas, der in der Summa nacheinander die theologischen und sittlichen Tugenden und die Gaben des BI. Geistes,

, G. LETOURNEAU, L'Ecolejrall(aisedu XVII' siede, I9I3; H. BRE, MOND, Hist. litt. du smtimmt religieux, t. lII, L'Ecole franyaise, I92I; dieses letztere Werk übertreibt indessen die Meinungsverschieden-. heiten zwischen den zwei, wie es darin heisst, wetteifernden Schulen.

2 Unter diesen ragen besondere hervor: EUDES in seinen Missionen und in seinen Werken; und L. TRONSON, "Examens particuliers", ",orin er unter Benutzung früherer Werke Olier's alle praktischen Ubungen der Aszetik Oliers zusammenzufassen verstand.

EINLEITUNG.

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die er an jede Tugend knÜpft, bespricht. Ihm folgen die hauptsächlichsten Autoren der französischen Schule des XVII. Jahrhunderts und andere. I

B) Unter die zweiten gehören alle jene, die, in der Absicht, geistliche Führer heranzubilden, das allmähliche Aufsteigen der Seele auf den drei Wegen beschrieben haben und ihren Abhandlungen nur eine kurze Einleitung über das Wesen des übernatÜrlichen Lebens vorausschicken. Zu diesen gehören : Thomas de Vallgornera, 0, P., MJ1stica Theologia Divi TholllCl!, Philipp von der hlst. Dreifal-

'tigkeit, C. D., Summa theologiCl! mysticCl!, Schram, 0, S. B" Ittstitutiones theologiCl! m.l'sticCl!, Scaramelli, S. J., Direttorio ascetico, und in unserer Zeit A. Saudreau, " Les degris de la vie spirituelle. "

47. 4. Andere endlich, wie P. Alvarez de Paz, S, J. und P. Le Gaudier. S. J. haben beide Methoden vereinigt. Sie legen ausführlich und in dogmatischer Form alles dar, was sich auf das Wesen des geistlichen Lebens und auf die wichtigsten Mittel der Vollkommenheit erstreckt und wenden dann diese allgemeinen Grundsätze auf die drei Wege an. Um dem Zweck zu entsprechen, den wir zu verfolgen beabsichtigen, nämlich Seelenfiihrer heranzubilden, ist diese Einteilung die beste, die wir finden und zur unsrigen machen können. Freilich sind mit diesem Plane notwendigerweise einige Wiederholungen verbunden und gewisse Zerstückelungen unvermeidlich. Das bringt jedoch die Teilung mit sich. Man kann Abhilfe schaffen, indem man auf bereits behandelte Gegenstände hinweist oder dieselben später ausfÜhrlicher darzulegen sich vorbehält.

I Wir können, was unsere Zeitperiode anbetrifft, MCR. GAY nennen, De la vie et des vertlls chrCtiemles. Ferner eH. DE SM~:DT, S. J., l\Totre vie surnaturetle.

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EINLEITUNG.

11. UNSER PLAN.

48. Wir teilen unsere aszetische Theologie in zwei Teile, Im erste1Z, der besonders beleltrerLd sein wird und dem wir die Überschrift" Die Grundsätze " geben, sprechen wir über den Ursprung' und das Wese1Z des christlichen Lebens, über die Vollko11lnzenheit dieses Lebens, über die Pflicht, nach dieser Vollkommenheit zu streben und über die hauptsächliclten Mittel, dahin zu gelangen.

Im zweiten Teile, der in der praktischen Anwendung der Grundsätze auf die verschiedenen Arten von Seelen bestehen wird, verfolgen wir die allmählich fortschreitenden Aufstiege einer Seele, die, von dem Verlangen nach Vollkommenheit durchdrungen, nach einander die drei Wege, nämlich den Reimgungs,- Edcuclttung-s- und Ez'nigungsweg, wandelt. Dieser sich auf die Doktrin stÜtzende, zweite Teil wird besonders psyclwlogZ~fch sein.

Der erste Teil wird uns auf unserem Wege Licht spenden. Er wird uns den göttlichen Plan unserer Heiligung zeigen, Durch die Erinnerung an die GÜte Gottes uns gegenÜber wird er unseren Eifer anspornen. In grossen Umrissen wird er uns veranschaulichen, wie wir dieser Freigebigkeit Gottes durch die gänzliche Hingabe unserer selbst entsprechen sollen. Der zweite wird durch die genaue Schilderung der aufeinanderfolgenden Etappen unsere Sclt1,itte lenken, um mit Gottes Hilfe an's Ziel zu gelangen, Auf diese Weise werden, unserer Meinung nach, die VorZÜge der anderen Einteilungen vereinigt und ausgeglichen.

ERSTER TEIL Dtt GrUnb5ät3t

ZWECK UND EINTEILUNG DES ERSTEN TEILES.

49. Dieser erste Teil bezweckt, die hauptsächlichen Dogmen, auf die sich unser übernatürliches Leben stÜtzt, kurz in's Gedächtnis zurückzurufen und das Wesen und die Vollkommenheit dieses Lebens, wie auch die allgemeinen Mittel, welche zur Vollkommenheit führen, darzulegen. Wir halten dabei die ontologische Ordnung ein und werden im zweiten Teile die psycholog-ische andeuten, in der gewöhnlich die Seelen jene verschiedenen Mittel anwenden.

I. KAP. Die Anfänge des übernatÜrlichen Lebens. Erhebung des Menschen in den übernatÜrlichen Zustand, ErbsÜnde und Erlösung,

2. KAP. vVesen des christlichen Lebens. Anteil

\. Gottes und der Seele.

~ 3, KAP. Die Vollkommenheit dieses Lebens. Die ::l I Liebe zu Gott und zum Nächsten bis zur

~ Hingabe seiner selbst.

~ 4· KAP. Verpflichtung, nach dieser Vollkommenheit zu streben für Laz'en, Ordmsleute und Priester.

5· KAP. Die allgemeinen, inneren und äusserlichen Mitte!, um diese Vollkommenheit zu verwirklichen.

50. Der Grund dieser Einteilung ist leicht erkennbar. Das erste Kapitel handelt von den

40 ERSTER TEIL - DIE GRUNDSÄTZE.

Anfängen des ÜbernatÜrlichen Lebens, um uns zu einem tieferen Verständnisse seines Wesens und seiner Erhabenheit zu verhelfen,

Das zweite schildert ausführlich das Wesen des christlichen Lebens im erlösten Menschen, Es spricht von dem Anteil Gottes an diesem Leben. Er gibt sich selbst und seinen Sohn uns hin und kommt uns durch die allerseligste Jungfrau und die Heiligen zu Hilfe. Vilir erfahren auch den Anteil des Menschen, der sielt durch hochherzige, standhafte Mitwirkung mit der Gnade Gott hingibt.

Das dritte Kapitel zeigt, wie die Vollkommenheit dieses Lebens wesentlich in der Liebe zu Gott und dem Nächsten besteht und wie auf Erden diese Liebe ohne grossmÜtige Opfer unmöglich zu erreichen ist.

Von der Verpflichtung, nach dieser Vollkommenheit zu streben, handelt das vierte Kapitel. Es spricht auch von der Bedeutung dieser Verpflichtung bezüglich Laien, Ordensleute und Priester.

Im fünften endlich erörtert man die allgemeinen Mittel, die es uns möglich machen, uns der V oll kommenheit zu nähern, Mittel zwar für alle, aber in verschiedenen Graden, welche der zweite Teil bei der Abhandlung Über die drei Wege angeben wird.


DIE ANFANGE DES ÜBERNATÜRL. LEBENS, 41

ERSTES KAPITEL.

Die Anfänge des übernatürlichen Lebens.

51. Zweck dieses Kapitels ist, besser verstehen zu lernen, welch' unverdientes, herrliches Geschenk das übernatürliche Leben sei, ebenso die grossen Eigenschaften und die Schwächen des Menschen, dem dieses Leben mitgeteilt wird. Also kurz

1. Worin das 1zatiirliche Leben des Menschen

besteht.

2. Seine Erhebung in den übernatürlichen Zustand.

3. Die ErbsÜnde.

4. Die Wiederlterstellung' des Übernatürlichen Lebens durch den göttlichen Erlöser.

1. ABSCHNITT. DAS NATÜRLICHE LEBEN DES MENSCHEN.

52. Es handelt sich darum, den Menschen zu beschreiben, wie er im Zustande einfacher Natur gewesen wäre und wie ihn die Philosophen schildern. Da unser übernatürliches Leben zu unserem natürlichen hinzukommt und dasselbe vervollkommnet, ist es von Wichtigkeit, kurz daran zu erinnern, was die gesunde Vernunft Über dasselbe lehrt.

1. Der Mensch ist eine geheimnisvolle Zusammensetzung von KO'rjJer und Seele, von Stoff und Geist. Sie vereinigen sich eng in ihm, um nur eine Natur und nur eine Person zu bilden. Er ist somit gleichsam das Bindeglied zwischen den Geistern und den Körpern, eines von den Meisterwerken der Schöpfung, eine kleine Welt, die alle 'Welten in sich umfasst, ein fL~xp6xo()p.o<;, welcher die Weisheit Gottes beweist, die zwei gänzlich verschiedene Wesen zusammenzufügen verstand.

42 ERSTES KAPITEL. - DIE ANFÄNGE

53. Eine Vielt voller Leben: Nach der Äusserung des lzl. Gregors des Grossen unterscheidet man in ihr ein dreifaches Leben. Das Leben, das sich in den Pflanzen findet oder das vegetative, ferner das sensitive und das gez'sttj;-e Leben. "Homo habet vivere CU1JZ plantis, sentire cum anilJZantibus, intelligere cum ang-elis." I Wie die Pflanze ernährt sich der Mensch, wächst und pflanzt sich fort. Wie das Tier kennt er die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände, fÜhlt sich durch das sinnliche Verlangen mit seinen Erregungen und Leidenschaften zu ihnen hingezogen und bewegt sich aus eignem Antriebe. Wie der Enge!, jedoch in geringerem Grade und auf andere Vleise, erkennt er durch den Verstand das Übersinnliche Wesen, das Wahre, und sein Wille bewegt sich frei nach dem durch die Vernunft erkannten Guten.

54.2. Diese drei Lebensarten sind nicht gleichsam aufeinander geschichtet, sondern sie durchdringen sich, fÜgen sich ineinander und unterordnen sich, um denselben Zweck zu erreichen, der in der Vollkommenheit des ganzen Seins besteht. Nach einem gleichzeitig rationellen und biologischen Gesetze kann in jedem zusammengesetzten Wesen das Leben sich nur erhalten und entwickeln, wenn sich seine verschiedenen Bestandteile verbinden, also sich dem hauptsächlichen unterordnen und sich von ihm gebrauchen lassen. Was den Menschen anbetrifft, so mÜssen also die niederen, vegetativen und sensitiven Veranlagungen der Vernunft und dem Willen untergeordnet sein. Das ist absolute Bedingung: In demselben Masse, in welchem diese fehlt, wird das Leben geschwächt oder hört ganz auf. Ist die Unterordnung nicht mehr vorhanden, so beginnt die Auflösung der Bestandteile, die

t Ausser den Abhandlungen über Philosophie, vergl. eH. DE SMEDT, Notre vie surnaturelle, I912, Einleitung, S. I-37; J. SCHRYVERS, Les principes de ta vie spirituette, I922, S. 3I.

DES ÜBERNATÜRLICHEN LEBENS. 43

Schwächung des Ganzen und schliesslich tritt der Tod ein. I

55. 3. Das Leben ist also ein Kampf. Unsere niedrigen Fähigkeiten nämlich verlangen unbändig nach sinnlichem Genuss, während die höheren nach dem sittlich Guten streben. Zwischen ihnen bricht nun oft Streit aus, Was uns gefällt, was uns nützlich ist oder zu sein scheint, ist nicht immer sittlich gut. So muss also die Vernunft, um Ordnung zu schaffen, die dem sittlich Guten entgegengesetzten Neigungen bekämpfen und die Oberhand gewinnen. Es ist dies der Kampf des Geistes gegen das Fleisch, des Willens gegen die Leidenschaft. Dieser Kampf ist oft heiss. Wie im Frühjahr der Nahrungssaft in die Bäume steigt,so gibt es zuweilen im sensitiven Teile unserer Seele hiftiges Verlangen nach sinnlichem Genusse.

56. Doch man kann ihm widerstehen. Der Wille, von der Vernunft unterstützt, übt auf jene leidenschaftlichen Erregungen eine vierfache Macht aus und zwar 1. durch die Voraussicht, die darin besteht infolge einer klugen und beständigen Wachsamkeit viele Phantasievorstellungen, Eindrücke und gefährliche Erregungen vorauszusehen und ihnen zuvorzukommen. 2. durch das Verhindern und das Mässigen. Gehen heftige ErschÜtterungen in unserer Seele vor, so vermögen Vernunft und Wille sie zu ordnen oder wenigstens zu mässigen. So z. B. kann ich meine Augen daran hindern, dass sie sich auf einen gefährlichen Gegenstand richten, ich kann meine Phantasie vor schlechten Bildern schützen. Steigt Zorn in mir auf, so kann ich ihn mässigen. 3. durch die Anregung zu starken Willensakten. 4. durch die Fülzrung, die uns gestattet, diese Bestrebungen auf

, A. EYMIEU, Le gouvernement de soi-merne, t. III" La loi de la vie, livre III, S, 128.

44 ERSTES KAPITEL. - DIE ANFÄNGE

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das Gute zu richten und dadurch sie vom Schlechten abzuwenden.

57. Ausser diesen inneren Kämpfen kann es noch andere geben und zwar zwischen der Seele und iltrem Schlipfer. Durch den gesunden Verstand sehen wir zweifellos ein, oass wir uns vollständig demjenigen zu unterwerfen haben, der unser höchster Herr ist. Aber dieser Gehorsam wird uns schwer. In uns ist ein gewisser Drang nach Unabhängigkeit uno Freiheit, der uns geneigt macht, uns der göttlichen Autorität zu entziehen. Das ist der Stolz. Nur durch das demÜtige Geständnis unserer Unwürdigkeit und Ohnmacht können wir ihn besiegen, ferner durch die Anerkennung der unverjährbaren Rechte des Schöpfers auf sein Geschöpf. Im N aturzustande hätten wir deshalb gegen diese dreifache Begierlicltkeit zu kämpfen gehabt.

58.4. ErfÜllt der Mensch seine Pflicht und gibt er seinen bösen Neigungen nicht nach, so darf er mit Recht eine Belohnung erwarten. Sie besteht fÜr seine unsterbliche Seele in einer erweiterten und tieferen Kenntnis der 'Wahrheit und Erkenntnis Gottes, die jedoch stets seiner Natur angemessen ist, d. h. in einer analytischen oder auf Schlussfolgerungen beruhenden, und in einer reineren und standhafteren Liebe. Übertritt er in wichtigen Dingen freiwillig das Gebot und bereut er es nicht vor seinem Tode, so verfehlt er sein Ziel und verdient eine Strafe. Diese besteht in dem Verluste Gottes, verbunden mit Qualen, deren Grösse von der Schwere der SÜnden abhängt.

Das wäre also das Leben des Menschen im Zustande reiner lira/ur gewesen, der übrigens nie vorhanden war, da der Mensch, sei es im Augenblicke seiner. Erschaffung, wie der hl. Thomas lehrt, sei es unmittelbar darauf, wie der hl. Bonaventura meinte, in den übernatÜrlichen Zustand erhoben worden ist.

DES ÜBERNATÜRLICHEN LEBENS. 45

Gott in seiner unendlichen Güte begnÜgte sich nicht damit, dem Menschen natürliche Gaben zu verleihen, er hat ihn durch ausser- und Übernatürliche Gaben in einen übernatÜrlichen Zustand erheben wollen.

I1. ABSCHNlTT. DIE ERHEBUNG DES MENSCHEN IN DEN ÜBERNATÜRLICHEN ZUSTAND. I

1. Begriff des ÜbernatÜrlichen.

59. In der Theologie unterscheidet ma~! bekanntlich zwei Arten von unbedingt (absolut) Ubernatürlichem. Das unbedingt ÜbernatÜrliche dem Wesen n.ach Ci. e. quoad substantiam) und das absolut UbernatÜrliche der TYeise nach (quoad modu.m).

Das ÜbernatÜrliche dem \Vesen nach ist ein Gesdte111~ Gottes an das vernünftige Geschöpf. Es Überragt unbedingt jegliche Natur insofern als es weder aus ihr hervorgehen, noch gefordert oder verdient werden kann. Es übersteigt nicht nur alle seine aktiven Fähigkeiten, sondern auch alle seine Rechte und Forderungen. Es ist etwas Begrenztes, insoferri es einem Geschöpfe geschenkt wurde. Zugleich jedoch etwas Göttliches, weil das Göttliche allein die Forderungen jeden Geschöpfes Übertreffen kann. Es ist mitgeteiltes Göttliches, eine Anteilnahme in begrenzter Art. So weichen wir dem Pantheismus aus. In Wirklichkeit gibt es nur zwei Arten des Übernatürlichen dem Wesen nach: Die Menschwerdung und die heiligmachende Gnade.

Aj Im ersten Falle vereinigt sich Gott mit der Menschheit in der Person des \Vortes, so dass der

, ßezügl. dieses Abschnittes siehe unsere Synopsis Theologia: dogma, tica:, t. 11. n. 8.<9,898, ebenso die anderen dort erwähnten Autoren, besonders S. THOMAS, I, qu. 93-102. - P. BAlNVEL, S. J. Nature et sltrnature!, Kap. l,IV. - DE BROGLIE, Conjlrences sur la vie surnaturelle, t. II, S. 3,80. - L. LABAUCHE, l.e~ons de thiol. dO/{1IZatique, t. 11., L'Holllllle. P. I. Kap. I-ll.

46 E~~STES KAPITEL. - DIE ANFÄNGE

menschlichen Natur Jesu die zweite Person der Hl. Dreifaltigkeit Subjekt ist, ohne irgendeine Veränderung als menschliche Natur. Somit ist J esus Mensch durch seine menschliche Natur, wahrhaft Gott als Persönlichkeit. Das ist eine wesentliche Vereinigung, bei der aus zwei Naturen nicht eine wird, sondern die sie, unter Beibehaltung ihrer Unversehrtheit, in einer einzigen Person, nämlich der des Wortes, verbindet, Es handelt sich demnach um eine persönliche oder hypostatische Vereinigung, Es ist dies der höchste Grad des ÜbernatÜrlichen quoad substantiam.

B) Die !!et'ligmachende Gnade ist ein Grad niedriger als das Ubernatürliche der ersten Art. Durch sie bewahrt der Mensch wirklich seine eigene Persönlichkeit, die aber vergöttlicht wird, obwohl pe1' accidens, ihrer Natur und ihren Fähigkeiten nach, Sie wird zwar nicht Gott, aber gottähnlich, "divinlZ cot!sors natul'lZ ", fähig, durch die beseligende Anschauung Gott zu erreichen, wenn die Gnade sich in Seligkeit verwandeln wird. Fähig, Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen, so wie er sich selbst sieht. Ein Privileg, das offenbar die Fähigkeiten der vollkommensten Geschöpfe überragt, da es uns an dem geistigen Leben Gottes, an seiner Natur, teilnehmen lässt.

60. Das unbedingt (absolut) Übernatürliche in bezug auf die Weise (i, e. quoad modum) ist in sich etwas, das an und für sich nicht die Fähigkeiten oder Forderungen jeglichen Geschöpfes Übersteigt, sondern nur irgendeines Wesens im einzelnen. So z. B. ist die eingegossene Wissenschaft, welche die Fähigkeiten des .. Menschen, nicht aber der Engel Überragt, etwas Ubernatürliches dieser Art.

Gott hat dem Menschen diese zwei Arten von Übernatürlichem mitgeteilt. Er verlieh nämlich unseren Stammeltern die Gabe der Integrität oder Unverselwtheit (übernatürlich quoad modum). Sie vervollständigte ihre Natur und bereitete sie auf

DES ÜHERNATÜRLICHEN LEBENS. 47

den Empfang der Gnade vor. Gleichzeitig schenkte Gott ihnen die Gnade selbst, ein donum supranaturale quoad substantiam. Die Verbindung dieser zwei Gaben bewirkt, was man die ursprüngliche Gereclttigkeit nennt.

Ir. Die aussernatÜrlichen Gaben Adams.

61. Die Gabe der Integn'tät vervollkomnet die Natur des Menschen, ohne ihr etwas Göttliches zu verleihen. Sie ist zwar eine unverdiente, aussernatürlicJte Gabe, die seine Fähigkeiten und Kräfte übersteigt, aber sie ist noch nicht etwas dem Wesen nach Übernatürliches. Sie umfasst drez' grosse Vorrechte, die, ohne die menschliche Natur zu ändern, ihr eine Vollkommenheit verleihen, auf die sie kein Recht hatte : die eingegossene vVissenschaft, die Herrschaft über die Leidenschaften oder die Befreiung von der Begierlichkeit, und die Unsterblieltkeit des Leibes.

62. A) Die eingegossene Wissenschaft. Wir haben kein Naturrecht darauf. Sie ist ein Vorrecht der Enge!. Nur allmählich und mit Mühe gelangen wir nach psychologischen Gesetzen in den Besitz der vVissenschaft. Um nun dem ersten Menschen als Oberhaupt und Erzieher des Menschengeschlechtes diese Aufgabe zu erleichtern, verlieh Gott ihm, und zwar unverdienterweise, die eingegossene Erkenntnis aller \iVahrheiten, die er unbedingt wissen musste und eine gewisse Leichtigkeit, um aus der Erfahrung sich Kenntnisse anzueignen. Auf diese \V eise näherte er sich den Engeln.

63. B) Die Herrschaft über die Leidenschaften oder die Befreiung von jener tyrannischen Begierlichkeit, welche die Tugend so schwer macht. vVir haben gesagt, durch die Beschaffenheit des Menschen, an und für sich, gebe es in ihm einen furchtbaren Kampf zwischen dem aufrichtigen

48 ERSTES KAPITEL. - DIE ANFÄNGE

Streben nach dem Guten und dem ungeordneten Verlangen nach Genüssen und sinnlichen GÜtern, besonders aber eine stark vorhandene Neigung zum Stolze. Im Grunde genommen, nennen wir dies die dreifache Begierlichkeit. Um diesem Naturfehler abzuhelfen, verlieh Gott unseren Stammeltern eine gewisse Herrschaft über die Leidenschaften, die, ohne sie zur SÜnde unfähig zu machen, ihnen die Tugend erleichterte. In Adam gab es nicht jene Tyrannei der Begierden, die gewaltig zum Bösen hinzieht, sondern nur eine gewisse Neigung zur Lust, die jedoch der Vernunft unterworfen war. Weil sein Wille Gott unterstellt war, unterstanden die inneren Fähigkeiten dem Verstande und der Leib der Seele. Das war Ordnung, vollkommene Harmonie.

64. C) Die leibliche Unsterblichkeit. Von Natur aus ist der Mensch der Krankheit und dem Tode verfallen. Durch besondere Vorsehung wurde er von dieser zweifachen Schwäche bewahrt, damit die Seele sich auf diese Weise freier eier Erfüllung ihrer höheren Pflichten hingeben konnte.

Aber diese Vorrechte sollten nur den Menschen fähiger machen, ein viel kostbareres, gänzlich und absolut übernatÜrliches Geschenk zu empfangen und zu gebrauchen : die heiligmachende Gnade.

111. Die Übernatürlichen Privilegien.

65. A) Von Natur aus ist der Mensch Diener Gottes, seine Sache und sein Eigentum. Durch unaussprechliche GÜte, für die wir nie genug danken können, wollte Gott den Menschen seiner Familie einverleiben, ihn an Kindesstatt annehmen, um ihn zum l'echtmässigen Erben zu machen, indem er ihm einen Platz in seinem Reiche einräumte. Damit aber diese Adoption keine leere Formalität sei, verlieh er ihm eine Teilnahme an seinem go'ttlichen Leben, eine ?:w;tr erschaffene, aber wirkliche Eigenschaft,

DES ÜBERNATÜRLICHEN LEBENS. 49

die es ihm ermöglichte, hienieden durch den Glauben Erleuchtungen zu geniessen, die jene der Vernunft weit übertreffen, ferner durch die beseligende Anschauung und eine Liebe, welche der Klarheit dieses Schauens genau entspricht, im Himmel Gott zu besitzen.

66. B) Zu dieser heiligmachenden oder habituellen Gnade, die, sozusagen, das Wesen selbst der Seele veredelte und vergöttlichte, gesellten sich eing-egossene Tugenden und Gaben des Hf. Geistes, die ihre Fähigkeiten vergöttlichten und eine aktuelle oder wirkende Gnade, die den ganzen übernatürlichen Organismus in Bewegung setzte und so es möglich machte, übernatÜrliche, gottähnliche und fÜr das ewige Leben verdienstliche Akte zu vollziehen.

Diese Gnade ist wesentliclt dieselbe, die uns durch die Rechtfertigung verliehen wird, Wir beschreiben sie hier deshalb nicht näher, weil wir später darauf zurückkommen werden.

Alle diese Privilegien, mit Ausnahme der eingegossenen Wissenschaft, waren Adam nicht als persönliches, sondern als Familiengut verliehen worden, das auf seine ganze Nachkommenschaft übergehen sollte, wäre er Gott treu geblieben.

III. ABSCHNITT. SÜNDENFALL UND STRAFE. I I. Der SÜndenfall.

67. Ungeachtet aller Vorrechte, blieb der Mensch frei und musste sich einer Prüfung unterziehen, um sich mit Hilfe der Gnade den Himmel zu verdienen. Diese Probe bestand in der Erfüllung der göttlichen Gesetze und besonders des positiven Gebotes, welches dem Naturgesetz hinzugefügt worden war. In dem

,S. THOMAS, 1Ja IIre, qu. 4, 163'I65; de Malo, qu. 4. - BAlNVEL, Nature et Surnaturel, Kap. VI-VII. - A. DJo: BIWGLIE, op. ci!. S. I33'346. - L. LABAucHE, op. cit. P. II, Kap. I'5. AD. TANQUJo:REY, Syn. theol. dogtn. t. II, n. 895'950.

50 ERSTES KAPITEL. - DIE ANFÄNGE

Schöpfungsberichte wird es als Verbot, von der Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und des Biisen zu essen, geschildert. Die HI. Schrift erzählt, wie der Teufel in Gestalt einer Schlange unsere Stammeltern versuchen kommt und in ihrer Seele einen Zweifel über die Rechtmässigkeit dieses Verbotes wachruft. Er versucht, sie zu Überzeugen, sie würden beim Genusse dieser Frucht, an statt zu sterben, Göttern gleich sein, durch sich selbst also, ohne göttliches Gesetz, das Gute und das Böse erkennen." Eritis sicut dii,scientes bonu11t et malum. "I Es war dies eine Versuchung zum Stolz, zur Empörung gegen Gott. Der Mensch fällt und begeht einer. formellen Akt des Ungehorsams, wie der hl. Paulus bemerkt, jedoch vom Stolze eingegeben. 2 Bald folgen ihm andere Sünden. Es handelte sich um eine scltwere Sünde, weil sie in der Weigerung bestand, sich der Autorität Gottes zu unterwerfen, in einer Art Verneinung seiner höchsten Herrschaft und Weisheit. Auch weil gerade dieses Gebot ein Mittel war, die Treue des ersten Menschen zu erproben. Die SÜnde war um so grösser, als unsere Stammeltern die unendliche Freigebigkeit Gottes ihnen gegenÜber kannten, ebenso wie seine unverjährbaren Rechte. Ausserdem die Wichtigkeit des Gebotes, die aus der Sanktion, die daran geknüpft war, sich ergab und weil sie nicht durch die Heftigkeit der Leidenschaften hingerissen wurden, also Zeit hatten, über die schrecklichen Folgen ihrer Tat nachzudenken.

68. Man hat sich sogar gefragt, wie sie sÜndigen konnten, da sie doch nicht der Gewalt der Begierlichkeit unterworfen waren. Um es zu verstehen, muss man sich erinnern, dass kein freies Geschöpf unfähig ist, zu sündigen. Es kann in der Tat seinen Blick vom wahren Guten abwenden und dem scheinbar G-uten

, Gen. III, 5. - 2 Römerbrief, V.

DES ÜBERNATÜRLICHEN LEBENS. 51

zuwenden, sich dem letzteren anschliessen und es dem ersteren vorziehen, Und gerade in diesem Vorzuggeben besteht die Sünde, Wie der hI. Thomas bemerkt, ist nur der unfähig zu sündigen, dessen \iVille mit dem Sittengesetz eins ist. Das aber trifft nur bei Gott zu.

11. Die Strafe.

69. Die Strafe liess nicht auf sich warten. Sie war persönlich und traf auch die Nachkommenschaft.

A) Die persönliche Strafe unserer Stammeltern beschreibt der Schöpfungsbericht. Aber selbst hier

,tritt noch die Güte Gottes hervor. Er hätte sie mit sofortigem Tode bestrafen können. Aus Mitleid tat er es nicht. Er beschränkte sich auf Entziehung der besonderen Vorrechte, die er ihnen gewährt hatte : der Gabe der Integrität und der habituellen Gnade. Sie behalten ihre Natur und ihre natürlichen Vorrechte. Zweifellos ist ihr Wille geschwächt, vergleicht man ihn mit dem, den sie zur Zeit der Integrität hatten, aber es ist nicht zu beweisen, dass er schwächer sei, als er im Zustande der Natur gewesen wäre, Jedenfalls bleibt er frei und kann zwischen Gut und Böse wählen. Gott wollte ihnen sogar den Glauben und die Hoffnung lassen. In ihrem entmutigten Herzen liess er die Hoffnung auf einen Befreier erwachen, der aus dem Menschengeschlechte hervorgehen, eines Tages Über den Teufel triumphieren und den gefallenen Menschen wiederherstellen sollte. Gleichzeitig regte er durch seine aktuelle Gnade ihre Herzen zur Busse an, und es kam der Augenblick, in welchem ihnen ihre SÜnde verziehen wurde.

70. B) Was aber soll aus dem Menschengeschlechte werden, welches aus ihrer Verbindung geboren werden wird? Auch dieses Geschlecht wird bei der Geburt der ursprÜnglichen Gerechtigkeit beraubt

52 ERSTES KAPITEL. - DIE ANFÄNGE

sein, d, h. der heilig'11zachenden Gnade und der Gabe der Integrität. Diese rein-unverdienten Gnaden, die, sozusagen, Familiengut waren, sollten sich nur dann von Adam auf dessen Nachkommenschaft Übertragen, wenn dieser Gott treu geblieben wäre. Da diese Bedingung sich nicht erfÜllt hatte, wird der Mensch ohne die Justitia originalis geboren. Als Adam Busse tat und die Gnade wiederfand, handelte er als Privatperson und zu seinem eigenen Vorteil. Er konnte es nicht seiner Nachkommenschaft übertragen. Dem Messias, dem neuen Adam, der von nun an das Haupt des Menschengeschlechtes wurde, war es vorbehalten, unsere Sünden zu sühnen und das Sakrament der Wiedergeburt einzusetzen, um . jedem Getauften die durch Adam verlorene Gnade zu Übermitteln,

71. Die Kinder Adams kommen also ohne dz'e ursprüngliche Gerechtigkeit zur Welt, d. h, ohne die heiligmachende Gnade und ohne die Gabe der Integrität. Der Verlust dieser Gnade macht die sogenannte ErbsÜnde aus, Sünde in weitem Sinne, die keine Schuld unsrerseits einschliesst, wohl aber einen Zustand des Vetj'alls und, in Anbetracht des übernatÜrlichen Zieles, für das wir bestimmt bleiben, eine Entziehung' oder den Verlust einer wesentlichen g'uten Eigenschaft, die wir besitzen sollten, und daher einen Schandfleck, eine sittliche Unreinheit, die uns vom Himmelreiche ausschliesst.

72. Da auch die Gabe der Integrität verloren ging, wütet die Begierlichkeit in uns, die, sobald ihr kein Widerstand geleistet wird, zur wirklichen Sünde verleitet. Im Hinblick also auf den ursprünglichen Zustand sind wir geschwächt und verwundet, der Unwissenheit anheimgestellt,zum Bösen geneigt und schwach im \,viderstande gegen die Versuchungen, Die Erfahrung beweist, dass die Begierlichkeit nicht bei allen dieselbe ist. Alle haben nicht dasselbe Temperament und denselben Charakter, also auch

DES ÜBERNATÜRLICHEN LEBENS. 53

nicht dieselbe Glut der Leidenschaften. Als der ZÜgel der ursprünglichen Gerechtigkeit, der sie zurückhielt, verschwunden war, gewannen die Leidenschaften wieder ihre Freiheit. Bei dem einen sind sie heftiger als bei dem anderen. So lautet die Lehre des hI. Thomas. I

73. Sollen wir noch weiter gehen und mit der Augustinischen Schule eine gewisse innerliche Verminderung unserer natürlichen Fähigkeiten und Energieen zugeben? Das ist nicht notwendig und kann auch nicht bewiesen werden.

Sollen wir gewissen Thomisten beistimmen bezüglich einer äusserlichen Verringerung unserer Kräfte, insofern wir 1IZehr Hindernisse zu überwinden haben, namentlich die Tyrannei, die der Teufel Über Besiegte ausÜbt und die Entziehung einer gewissen natÜrlichen Hilfe, die Gott uns im Zustande der reinen Natur gewährt haben wÜrde? Es ist möglich, ja sehr wahrscheinlich. Aber, um gerecht zu sein, muss man hinzufÜgen, dass diese Hindernisse reichlich durch die aktuellen Gnaden, die Gott durch die Verdienste seines Sohnes verleiht, ausgeglichen werden, ebenso durch den Schutz der guten Engel und besonders unserer Schutzengel.

74. Schlussfolgerung'. Man kann sagen, der Mensch habe durch die ErbsÜnde das schöne Gleichgewicht, das Gott ihm gegeben hatte, verform und im Hinblick auf seinen ursprünglichen Zustand sei er ein Verwundeter und Schwankmder, wie die gegenwärtige Verfassung seiner Fähigkeiten es beweist.

A) Das zeigt sich zunächst an unseren Sinnen. a) Unsere äusseren Sinne, unsere Blicke z. B., richten sich gern auf das, was der Neugierde schmeichelt. Wir hören g'ern, was unsern Wunsch,

I Sum. theol., la 2re, q. 82, a. 4, ad 1.

54 ERSTES KAPITEL. - DIE ANFÄNGE

N eu es zu erfahren, befriedigt. Unser Tastsinn lechzt nach angenehmen Empfindungen, ohne sich um die Regeln der Moral zu kümmern. b) Ebenso verhält es sich mit den inneren Sinnen. Die Phantasie spiegelt uns alle Arten von mehr oder weniger sinnlichen Bildern vor, Unsere Lez'detzschaften verlangen heiss, ja, gewaltsam nach sinnlich Wahrnehmbarem oder Sinnlichem, ohne sich mit dem sittlichen Werte desselben zu befassen, und versuchen, die Zustimmung des Wz'!lens zu erreichen. Freilich sind diese Neigungen nicht unüberwindlich, denn in einem gewissen Masse bleiben diese Fähigkeiten der Herrschaft des Willens unterworfen, aber welche Vorsicht und welche Anstrengungen sind erforderlich, um jene aufrührerischen Elemente zu sähl'1ten!

75. B) Die geistigen Fähigkeiten, die eigentlich den Menschen als solchen ausmachen, der Verstand und der Wille, litten ebenfalls durch die Sünde der Stammeltern. a) Wohl bleibt der Verstand fähig, die Wahrheit zu erkennen. Durch mÜhevolle Arbeit, sogar ohne Hilfe der Offenbarung, erwirbt er sich die Kenntnis einer gewissen Anzahl von Grundwahrheiten der natürlichen Ordnung. Aber, ach! wieviele verdemütigende Verirrungen! I) Anstatt sich naturgemäss mit Gott und göttlichen Dingen zu befassen, anstatt sich von den Geschöpfen zum Schöpfer zu erheben, wie er es im ursprünglichen Zustande gemacht haben würde, strebt er danach, sich ganz in die Forschung geschaffene?' Dinge zu vertiefen, ohne auf deren U?'sache zurÜckzugehen. Seine ganze Aufmerksamkeit richtet er auf das, was seine Neugierde befriedrigt, lässt ausser Acht, was sich auf sein Zz'el erstreckt. Das Versunkensein ins Zeitliche hindert ihn oft, an die Ewigkeit zu denken. 2) Und wie leicltt vel:fäl/t er dem Irrtum! Die vielen Vorurteile, zu denen wir neigen, die Leidenschaften, die unsere Seele erschüttern und

DES ÜBERNATÜRLICHEN LEBENS. 55

einen Schleier zwischen sie und die Wahrheit werfen, führen uns, ach, nur zu oft irre. Und das in den wz'chtigsten Fragen, von denen die Richtung unseres Lebens abhängt. b) Selbst unser Wille, anstatt sich Gott zu unterwerfen, strebt mit Anmassung nach Unabhängigkeit. Er unterwirft sich nur schwer dem göttlichen Willen, Besonders aber Gottes Stellvertretern auf Erden. Handelt es sich um Bewältigung der Schwierigkeiten, die sich bei der Verwirklichung des Guten in den vVeg stellen, welche Schwäche und welche Unbeständigkeit bei der Anstrengung! Und wie oft lässt er sich vom Gefühl und den Leidenschaften fortreissen ! Der hl. Paulus schildert vortrefflich diese bedauernswerte Schwäche: "Ich tue nicht das Gute, das ich will und ich tue das Böse, das ich nicht will. .. Denn der innere Mensch in mir liebt das Gesetz Gottes, aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetze meiner Vernunft widerstreitet und mich zum Sklaven des Gesetzes der Sünde macht, das in meinen Gliedern ist." I - Nach dem Zeugnisse, des Apostels besteht das Heilmittel fÜr diesen traurigen Zustand in der Gnade der Erlb'sung, von der zu sprechen uns noch Übrig bleibt.

IV. ABSCHNITT. DIE ERLÖSUNG UND IHRE WIRKUNGEN. 2

76. Die Erlösung ist ein wundervolles \Verk, das Meisterwerk Gottes. Sie hat den durch die SÜnde entstellten Menschen wiederhergestellt. Ihn in gewissem Sinne wieder in einen besseren Zustand als der, welcher seinem Falle vorausging, versetzt.

, Brief an die Römer, VII, I9-25.

2 S. THOMAS, III, gu. 46'49. - HUGON, O. P., Le Mystere de la Rtfdemplion. - BAINVEL, op. eil. Kap. VIII. - J. RIVIERE, Le Dogme de la Rtfdemption, tftude tlu!olw:ique, I9I4. - AD. TANQUEREY, SynopsiS theol. dogm. t. II, n. III9-I202. - L. LABAuCHE, Ler. de Thiol., t. I, III. Teil.

56 ERSTES KAPITEL. - DIE ANFÄNGE

Die Kirche scheut sich deshalb nicht, in ihrer Liturgie die Schuld hochzupreisen, der wir einen Erlöser wie den Gottmenschen verdanken. " 0 fe!z~r culptl qUaJ talolt ac tantum meruit habere Redemptorem" !

I. Ihr Wesen.

77. Gott, der von Ewigkeit her den Sündenfall des Menschen vorausgesehen hatte, wollte auch von Ewigkeit her einen Erlöser des Menschen bereithalten und zwar in der Person seines Sohnes. Er beschloss, Mensch zu werden, um als Haupt der Menschheit auf vollkommene Weise unsere Sünden zu sühnen und uns mit der Gnade gleichzeitig auch das Anrecht auf den Himmel wiederzugeben. So verstand er es, aus Bösem Gutes zu erzielen und die Forderungen seiner Gerechtigkeit mit denen seiner Güte auszugleichen, Er war freilich nicht gezwungen, alle Forderungen seiner Gerechtigkeit in vollem Masse geltend zu machen. Er hätte dem Menschen verzeihen können, indem er sich mit einer unvollkommenen Wiedergutmachung begnügte, die dieser hätte leisten können. Aber er hielt es seiner Ehre angemessener und für den Menschen nÜtzlicher, diesem die vollständige SÜhne seiner Sünden zu ermöglichen.

78. A) Die vollkommene Gerechtigkeit forderte eine der Beleidig-ung angemessene, entsprechende Genugtuung. Sie musste von einem g-esetzlicJten Vertreter der Menschheit geleistet werden. Dieses hat nun Gott durch die lVlenscJnverdung und die Erlösung verwirklicht.

a) Gott liess seinen Sohn Mensch werden und dadurch Haupt der Menschheit, Haupt eines mystischen Leibes, dessen Glieder wir sind. Dieser Sohn hat also das Recht, im Namen seiner Glieder zu handeln und in ihrem Namen Genugtuung zu leisten.

DES ÜBERNATÜRLICHEN LEBENS. 57

b) Diese Genugtuung oder Wiedergutmachung entspricht nicht nur der Beleidigung, sondern ist viel griJ'sser als sie. Sie hat einen unendlichen, sittlielle11 Wert. Der sittliche Wert nämlich einer Handlung hängt von der Würde der Person ab. Mithin haben alle Handlungen des Gottmenschen einen unendlichen Wert. Eine einzige Handlung hätte genügt, um in entsprechender Weise alle Sünden der Menschen zu sÜhnen, Nun hat aber J esus unzählige SÜhnakte verrichtet, die alle von der reinsten Liebe durchdrungen waren. Er hat sie durch die erhabenste und heldenmÜtigste Tat, nämlich durch die gänzliche Aufopferung seiner selbst während seines Leidens und auf dem Kalvarienberge vervollständigt. So hat er reichlich, ja, überreichlich Genugtuung geleistet. "Ubi abundavit delictum, superabundavit gratia. " I

c) Diese Genugtuung ist von derselben Art wie die Sünde. Adam hatte durch Ungehorsam und Stolz gesündigt J eSlIs sühnt sie durch demÜtigen Gehorsam, den ihm die Liebe eingeflösst, durch Gehorsam bis zum Tode am Kreuze "Factus obedzens usque ad mortcm, 1110rtem autem crucis. " 2 Und wie beim SÜndenfalle Adams ein Weib beteiligt war, so auch bei der Erlösung und zwar durch ihre mächtige FÜrbitte und durch ihre Verdienste. 3 Maria, die unbefleckte Jungfrau, die Mutter des Erlösers, die beim Werke der Erlösung mit ihm mitwirkt, obschon in indirekter Weise.

So wurde der Gerechtigkeit vollkommen entsprochen und noch mehr der Güte.

79. B) Die Hl. Schrift schreibt in der Tat der unendlichen Barmherzigkeit Gottes, der überaus grossen Liebe, die er zu uns hat, die Erlösung zu.

, Brief an die Römer, V, 20. 2 Brief an die Philip .. 1I, 8.

3 Es handelt sich hier um Verdienste der Angemessenheit (de congruo) von denen wir später sprechen werden.

58 ERSTES KAPITEL. - DIE ANFÄNGE

" Gott, " sagt der hl. Paulus, " Gott, der an Barmherzigkeit reich ist, hat uns der übergrossen Liebe wegen, mit der er uns geliebt, mit Christus wieder zum Leben erweckt. " - Deus qui dives est in misericordia, p1'opter 1ti11liam carz'tatem qua dilexit nos ... , convivificavit nos in Christo. I

Die drei göttlichen Personen wetteifern d~rin.

Jede derselben mit einer Liebe, die bis zum Aussersten zu gehen scheint.

a) Der Vater hat nur einen Sohn, ihm selbst wesensgleich, den er wie sein zweites Ich liebt und von dem er unendlich geliebt wird, Diesen einzigen Sohn gibt er hin, opfert ihn für uns, um uns das durch die Sünde verlorene Leben wiederzugeben. " Sz'c Deus dzlexz't munduffI ut Fzlz'ullt suum umgenz'tu11l darrt, ut 011znZ'S qui credit in eU1Jt non pereat, sed habeat vz'tam a:te1'nam ". 2 Konnte er freigebiger sein und mehr als seinen Sohn geben? Hat er mit ihm nicht alles gegeben? " Qui etz'am proprio Fzlz'o non pepercit, sed pro nobis tradidit illu1IZ, quolltodo non etiam cum illo olllnia 1Zobis donavit" ? 3

80. b) Der Sohn nimmt freudig und hochherzig die Mission, die ihm anvertraut wird, an. Vom ersten Augenblicke der Menschwerdung an bietet er sich seinem Vater als Opfer an, um alle Opfer des alten Bundes zu ersetzen. Sein ganzes Leben \\~rd ein beständiges Opfer sein, ein Opfer aus Liebe fÜr uns. Auf dem Kalvarienberge wurde es durch die Hinopferung vollendet." (Clt7'istus) dilexit nos et tradidit semetipsu1Jt pro 1lObis oblatiollem et hostiam Deo ".4 Christus hat uns geliebt und sich selbst fÜr uns dahingegeben als Gabe und Opfer, Gott zum lieblichen Geruche.

81. c) Um sein Werk zu vollenden, sendet er uns den I-I!. Geist, die subsistierende Liebe des Vaters

'Epheser, II, 4. - 2 Joh. III, I6.

3 Römer, VIII, 32. - 4 Eplleser, V, 2.

DES ÜBERNATÜRLICHEN LEBENS. 59

und des Sohnes, der nicht zufrieden damit, unsere Seele mit Gnade und eingegossenen Tugenden, besonders mit göttlicher Liebe, zu erfÜllen, sich selbst uns schenken wird, damit wir nicht nur seine Gegenwart und seine Gaben, sondern auch seine Person geniessen können. Die Liebe ist durch den HI. Geist in unsere Herzen ausgegossen, der sich selbst uns geschenkt hat. "Caritas Dei diffitsa est z'n cordz'bus nostris per Spiritum Sanctum quz' datus est nobis. " I

Die Erlösung ist also wirklich im edelsten Sinne das Werk der Liebe,

11. Die Wirkung-en der Erlösung.

82. Nicht zufrieden damit, durch seine Genugtuung die Gott zugefÜgte Beleidigung wiedergutzumachen, uns mit ihm auszusöhnen, verdient uns J esus alle Gnaden, die wir durch die SÜnde verloren hatten und noch andere,

Er gibt uns zunächst alle übernatürlichen, durch die SÜnde verlorenen GÜter wieder zurück. a) Die Izabituelle Gnade mit ihrem Gefolge eingegossener Tugenden und Gaben des Hl. Geistes, Um sich besser der menschlichen Natur anzupassen, setzt er die Sakramente ein, sichtbare Zeichen, die uns in allen wichtigen Augenblicken unseres Lebens Gnade verleihen und uns in der Zuversicht und im Gottvertrauen stärken, b) Die sehr zahlreichen aktuellen Gnadm, die wir mit Recht für zahlreicher halten, als sie im Zustande der Unschuld gewesen wären, denn der hl. Paulus sagt:" Ubz' autem abundavz't delictu11l, superabundavz't gratia. " 2

83. c) Es ist durchaus wahr, dass die Gabe der IntegrÜät uns nicht sofort, sondern al!Jnählich wiedergegeben wird, Die Gnade der Wiedergeburt

I .l?ömer, V, 5. - 2 Römer, V, 20.

60 ERSTES KAPITEL. - DIE ANFÄNGE.

überlässt uns zwar dem Kampfe mit der dreifachen Begierlichkeit und allen Armseligkeiten des Lebens, aber sie verleiht uns die Kraft, sie zu besiegen, sie macht uns demütiger, wachsamer und eifriger, um den Versuchungen auszuweichen und sie zu überwinden, bestärkt uns also in der Tugend und gibt uns Gelegenheit, an Verdimsten uns zu bereichern. Sie hält uns die Beispiele J eSll, der so mutig sein und unser Kreuz trug, vor Augen, spornt unsere Begeisterung in diesem Kampfe an und lässt uns nicht müde werden. Die ale/uelZen Gnaden, die er uns verdient hat und die er uns mit heiliger Freigebigkeit zuwendet, erleichtern in einzig eigener Art unsere MÜhen und Siege. Je nachdem wir unter der FÜhrung und dem Beistande des göttlichen Meisters kämp;en, nimmt die Begierlichkeit ab, unsere Widerstandskraft wird grösser, und der Zeitpunkt kommt, in welchem auserlesene Seelen so in der Tugend gefestigt sind, dass sie, obwohl sie zu sündigen fähig bleiben, keine freiwillige lässliche Sünde begehen. I Der eigentliche Sieg wird jedoch erst bei unserem Eintritt in den Himmel erreicht. Er wird um so herrlicher sein, je schwerer er erkauft sein wird. Können wir mithin nicht wirklich sagen: " 0 felix culpa " ?

84. d) Jenen inneren Hilfsmitteln hat der Heiland äussere hinzugefügt, im besonderen jene sichtbare Kirche, die er gestiftet und organisiert hat, um unseren Geist durch ihr Lehramt zu erleuchten, unseren Willen durch ihre Gesetzgebungsgewalt und ihr Richteramt zu unterstützen, durch die hl. Sakramente, die Sakramentalien und Ablässe unsere Seelen zu heiligen. Finden wir darin nicht eine riesige Hilfskraft, für die wir Gott Dank schulden? 0 feliz culpa!

, Gemei!)t sind offenbar die ganz freiwilligen, lässlichen Sünden. (Anm. d. Ubersetzers).

DES ÜBERNATÜRLICHEN LEBENS. 61

85. c) Endlich ist es nicht sicher, ob ohne die Erbsünde das Wort Fleisch geworden wäre. Die Menschwerdung ist ein so kostbares Gut, dass schon ihretwegen der Gesang der Kirche gerechtfertigt und erklärlich ist : 0 felix culpa!

Anstatt eines zwar sehr begabten, aber hinfälligen und sündenfähigen Führers, haben wir an unserer Spitze den ewigen Sohn Gottes, der, nachdem er unsere Natur angenommen hat, ebenso wahr Mensch wie Gott ist. Er ist der ideoZe Vermittler, Vermittler sowohl der Gottesverehrung, als auch der Erlösung, nicht nur in seinem N amen, sondern auch im Namen der ganzen Menschheit seinen Vater anbetend, ja selbst im Namen der Engel, die durch ihn so glücklich sind, Gott zu verherrlichen " per quem laudant Angeli". I Er ist der vollkommene Priester, der durch seine göttliche Natur freien Zutritt zu Gott hat und sich voll Mitleid zu den Menschen, die seine Brüder geworden, herabneigt und die er mit Sanftmut behandelt, da er selbst mit Schwäche umgeben ward. "Qui condolere possit iz"s quz' ignorant et errant, quoniam et ipse circumdatus est infinnitate ". 2

Mit ihm und durch ihn vermögen wir Gott die unendlichen Huldigungen darzubringen, auf die et ein Recht hat. Mit ihm und durch ihn können wir alle Gnaden erlangen, die wir für uns und unsere Mitmenschen brauchen. Beten wir an, so tut er es in uns und durch uns. Bitten wir um Hilfe, so unterstützt er unsere Bitten. Darum wird alles, um was wir den Vater in seinem Namen bitten, reichlich gewährt.

Wir müssen uns somit freuen, einen solchen Erlöser und Vermittler zu haben und in ihn unerschütterliches Vertrauen setzen.

'Präfation der M. Messe. - 2 Hebräer, V, 2.

62

ERSTES KAPITEL.

SCHLUSSFOLGERUKG.

86. Dieser kurze, historische Überblick lässt die Erhabenheit des übernatürlichen Lebens wundervoll hervortreten und zeigt ebenso die Griisse und Scltwäclte desjenigen, der desselben teilhaftig ist.

I. Erhaben ist dieses Leben ganz gewiss, denn: a) es entspringt einem Ziebevollm Gedanken Gottes, der von Ewigkeit uns geliebt und uns aufs innigste mit ihm vereinigen wollte. "ln caritate perpetua dzlexi te, ideo attraxi te mzserans". I - Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dich in Erbarmung an mich gezogen.

b) es ist eine wz'rkliche, obwohl begrenzte Teilnahme an der Natur und dem Wesen Gottes. "Divin<e consortes naturce ". (siehe N. 106).

c) es hat bei Gott einen solch' hohen Wert, dass der Vater, um uns dasselbe zu schenken, seinen einzigen Sohn opfert. Dieser bringt sich völlig als Schlachtopfer dar, und der HI. Geist kommt in unsere Seele, um uns dasselbe mitzuteilen.

Es ist demnach das kostbarste Gut von allen Gütern" Maxz'1na et pretiosa nobis p1'omissa donavit ". 2 Wir müssen es über alles hochschätzen, bewahren und sorgsam pflegen,' tanti valet quanti Deus!

87. 2. Und doch tragen wir diesen Schatz in einem zerbrechlichen Gefässe. Haben unsere Stammeltern, im Besitze der Gabe der Unversehrtheit und allerlei anderer VorzÜge, denselben fÜr sich und fÜr ihre Nachkommenschaft verloren, was mÜssen wir da nicht fürchten, wir, die wir trotz unserer geistigen Wiedergeburt die dreifache Bexierlichkeit in uns tragen? Vi ohl gibt es in uns edle und hochher-

, Jeremias, XXXI, 3. - 2 2. Brief des Itl. Petna, I. 4.

ZWEITES KAPITEL.

63

zige Neigungen, die aus dem, was die Natur Gutes an sich hat, kommen, besonders aus unserer Einverleibung mit Christus. Übernatürliche Kräfte, die wir durch seine Verdienste besitzen. Doch wir bleiben schwach und unbeständig, I sobald wir aufhören, uns auf den zu stützen, der zugleich unser rechter Arm und unser Haupt ist. Das Geheimnis unserer Kraft ist nicht in uns, sondern in Gott und in Jesus Christus. Die Geschichte unserer Stammeltern und ihres traurigen Sündenf~lles beweist uns, dass das Hauptübel, das einzige Ubel auf dieser Welt, die Sünde ist und dass wir infolgedessen beständig wachsam sein müssen, um sofort, und zwar energisch, die ersten Angriffe des Feindes abzuschlagen, woher er auch komme, ob von aus sen oder von innen. Wir sind übrigens im Besitze vorzüglicher Waffen, um ihn zu bekämpfen, wie nachfolgendes Kapitel über das Wesen des christlichen Lebens zeigen wird.

ZWEITES KAPITEL.

Das Wesen des christlichen Lebens.

88. Da das übernatürliche Leben eine Teilnahme am Leben Gottes ist und zwar durch die Verdienste J esu Christi, so beschreibt man es manchmal als das Leben Gottes in uns oder als Leben jesu in uns. Diese Bezeichnungen sind richtig, wenn man sie in entsprechender Weise erklärt, so, dass man jede Spur von Pantheismus vermeidet. Unser Leben is durchaus nicht gleichbedeutend mit demjenigen .. Gottes oder unseres Heilandes, aber es hat eine AfmlichI.eit mit ihm. Es ist eine begrenzte, wenn auch wirkliche Teilnahme an demselben,

, Diese Grässe \1. diese Schwäche des Menschen ist schon oft von grossen christI. Denkern geschildert worden, besonders von PASCAL in .. Pensees" NN. 397-424, Aus;:. Brunschvigg.

64

ZWEITES KAPITEL.

Unsere Definition wird also lauten: Das übernatürliche Leben ist eine Teilnahme a11l göttliche?! Leben, welches uns der z'n uns wohnende HI. Geist durch dz'e Verdienste jesu Christi verleiht UNd welches wir geg-en dz'e entg-egengesetzten Neig-ungen schÜtzen soZlen.

89. Man sieht also. das übernatÜrliche Leben ist ein Leben, in welchem Gott die .HauptrolZe spielt, wir nur eine NebenrolZe. Gott ist es, der Gott der Dreifaltigkeit (den man auch den HI. Geist nennt), der selbst uns jenes Leben verleihen kommt, da er allein uns an seinem eignen Leben teilnehmen lassen kann. Er erteilt es uns durch die Verdienste J esu Christi (s. N. 78), welcher die verdienstliche, vorbildliche und belebende Ursache (causa merÜoria, exemplarz's et vitalz's) unserer Heiligung ist. Es ist also sehr wahr, dass Gott z'tt uns lebt, dass jesus in uns lebt, aber unser geistliches Leben ist nz'cht identisch mit demjenigen Gottes oder unseres H.::ilandes. Es unterscheidet sich von ihm und ist ihm nur ähnlich. - Was unser Leben anbetrifft, so besteht es im Gebrauch der göttlichen Gaben, um in Gott und für Gott zu leben, wie auch um in Vereinigung mit J esus zu leben und in seiner N achfoJge. Da die dreifache Begierlichkeit in uns bleibt (N. 83), so können wir nur unter der Bedingung leben, sie energisch zu bekämpfen. Weil uns ausserdem Gott mit einem übernatürlichen Organismus beschenkt hat, so müssen wir denselben durch verdienstlz'che Handlungen und eifrigen Empfang der hl. Sakramente im vVachstum fördern.

Das ist der Sinn der Definition, die wir soeben gegeben haben. Das ganze Kapitel wird in der Erklärung und Entwicklung derselben bestehen und uns> ermöglichen, praktische Schlussfolgerungen daraus zu ziehen bezÜglich der Andacht zur HI. Dreifaltigkeit, zum Fleischgewordenen Worte und der Vereinigung mit ihm, ja selbst bezÜglich

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 65 der Andacht zur allerseligsten Jungfrau und den Heiligen, was aus den Beziehungen derselben zum Fleischgewordenen Worte sich herleiten lässt.

Obwohl die Handlung Gottes und diejenige der Seele im christlichen Leben sich gleichzeitig vollziehen, werden wir der grösseren Klarheit wegen in zwei Abschnitten, die aufeinander folgen, von dem Anteil Gottes und von der Aufgabe des Menschen reden.

No 683. - 3

66

ZWEITES KAPITEL.

Gott wirkt m uns

{Er wohnt in uns, deshalb die Andacht zur Hl. Dreifaltigkeit.

Er schenkt uns einen übernatürlichen Organismus.

1. durch sich selbst

verdienstliche ur_} sache

vorbildliche Ur- unseres

sache Lebens.

belebende Ursa-

che

. Daher die Andacht

I zum Fleischgewordenen Worte.

2. durch sein Fleischgewordenes vVort, welches hauptsächlich ist

3. durch Maria, die an zweiter Stelle ist

j \'erdienstliche ur_} sache

\'orbildliche Ur- unseres

sache Lebens.

\ Gnaden spendende Ursache

Daher die Andacht zu Maria.

4. durch die Heiligen und die Engel

Lebendige Abbilder Gottes, daber müssen wir sie verebren.

Fürbitter: wir mÜssen sie anrufen.

Vorbilder : daber nacbzuahmen.

{die Begierlichkeit. die Welt.

den Teufel.

I. im Kampfe gegen

r I {Ihr dreifacher Wert.

\\ Ir 2. in der Bedingungen, unter denen sie

leben Heiligung unserer verdienstlich sind.

h l1I~d I 1 Handlungen Mittel, unsere Akte noch ver-

f.anGe nt dienstlicher zu gestalten.

ur ot

3. durch den würdigen Empfang der hl. Sakramente

{Die sakramentale Gnade Die bes. der Busse.

Gnade {der hl. Eucharistie.

DAS vVESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 67

I. ABSCHNITT. DER ANTEIL GOTTES AM CHRISTLICHEN LEBEN.

Gott wirkt in uns, sei es durch sich selbst, sei es durch das Fleischgewordene Wort oder sei es durch die Vermittlung der allerseligsten Jungfrau, der Engel und der Heiligen.

§ 1. Von dem Anteil

der Heiligsten Dreifaltigkeit.

90. Die erste Ursache, die causa ejftciens principalts des übernatürlichen Lebens in uns ist keine andere als die Heilige Dreifaltigkeit oder, durch Anpassung gesagt, der HI. Geist. Gnadenleben nämlich ist zwar das gemeinsame vVerk der drei göttlichen Personen, weil es ein Werk nach aussenhin ist, aber man schreibt es besonders dem HI. Geiste zu, da es sich um ein Werk der Liebe handelt.

Nun aber wirkt die AnbetungswÜrdige Dreifaltigkeit auf zweifache Weise bei unserer Heiligung mit. Sie nimmt Wohnung in unserer Seele und lässt in ihr einen iibematürlichen Organismus entstehen, welcher dadurch, dass er die Seele übernatürlich macht, ihr ermöglicht, gottähnZiclze Akte zu vollziehen.

1. Das Wohnen des HI. Geistes in unserer Seele. I

91. Da das christliche Leben eine Teilnahme am Leben Gottes selbst ist, so isLes klar, dass er allein es uns verleihen kann. Das geschieht, sobald er in unsere Seele kommt und sich gänzlich uns hingibt, damit wir ihm gegenÜber unsere Pflichten erfüllen, seine Gegenwart geniessen und uns von ihm bereitwillig leiten lassen können, um die innere Verfas-

, S. THOMAS, J, qu. 43, d. 3. - FROGET, O. P., De l'habilation du Sah,t Esprit darts fes limes jusles. - R. PLUS, Dieu en nous, 1922. MA:-;NING, 11l1. Mission, I. - A. DEVINE, Ascet. Theofogy, S. 80 l1. ff. - AD. TANQUEREY, Synop. Iheol. dogm. t. III, n. 180-185.

68

ZWEITES KAPITEL.

sung und die Tugenden Jesu uns anzueignen I was die Theologen die gratz'a increata nennen. V/ir werden sehen I. wie die drei göttlichen Personen in uns leben, 2. wie wir uns ihnen gegenÜber zu verhalten haben.'

J. WIE DIE GÖTTLICHEN PERSONEN IN UNS LEBEN.

92. Nach der Lehre des hl. Thomas 2 ist Gott der Natur nach auf dreifach verschiedene Weise in den Geschöpfen : durch seine 1I;f acht, insofern alle Geschöpfe seiner Herrschaft unterworfen sind; durch seine Geg-enwart, da er alles, selbst die geheimsten Gedanken unserer Seele sieht. " Omuia 1zuda et aperta oculzs ejus. " Durch sein Wesen, weil er überall wirkt und Überall die Fülle des Seins und die Grundursache alles Wirklichen in den Geschöpfen ist, denen er unaufhörlich nicht nur die Bewegungsmöglichkeit und das Leben, sondern das Sein selbst schenkt. "ln ipso enim vivimus, 11lovemur et SltJlZltS. " 3

Seine Gegenwart in uns durch die Gnade ist jedoch viel höherer und wesentlicherer Ordnllng. Es ist nicht nur die Gegenwart des Schöpfers und Erhalters, welche die Wesen, die er erschaffen hat, erhält, sondern auch die Gegenwart der Allerheiligsten und Anbetungswürdigsten Dreifaltigkeit, wie der Glaube lehrt. Der Vater kommt in uns und hört nicht auf, darin sein \Vort zu zeugen. Mit ihm emp-

, Auf dieser Wahrheit baut J. J. OLlER seinen Katechismus fü,' das il1nere Leben (Cattchisme pour la vie interieure) auf. Seine ganze Aszetik beruht darauf. S. 35, 37, 43 der frz. Ausg. v. 1906 U. 1922. Wer wrdiem, Christ genannt zu werden? Derjenige, der den Geist Jesu Christi in sich hat, durch den wir innerlich u. äusserlich wie Jesus leben. - Der hJ. Geist ist darin mit dem Vater und dem Sohne und bewirkt darin, wie schon gesagt, dieselben Gefühle, dieselben Sitten und dieselben Tugenden, die Jesus hatte.

" " Sic ergo est in omnibus per potentialll inquantum omnia ejus potestati subduntur; est per pnlJsentialll in omnibus inquantum omnia nuda SUllt et aperta oculis ejus; est in omnibus per essentiam, inquantum adest omnibus ut causa essendi. " (Sum. theol. I, g. 8, a. 3).

3 Apostelgeschichte, XVII, 28.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 69 fangen wir den Sohn, vollkommen gleich mit dem Vater, dessen lebendiges und wesentliches Abbild, der nicht aufhört, seinen Vater unendlich zu lieben, so wie er von ihm geliebt wird. Aus dieser gegenseitigen Liebe geht der Hf. Geist hervor, eine dem Vater und dem Sohne wesensgleiche Person, ein heide umschlingendes Band und doch von dem einen und dem andren verschieden. Welche Vi'under gehen immer wieder in einer Seele vor sich, die im Zustande der Gnade ist!

Bezeichnend für diese Gegenwart ist, dass Gott nicht nur in uns weilt, sondern sich uns Itingibt, damit wir ihn geniessen können. Nach der Ausdrucksweise der heiligen Bücher können wir sagen, durch die Gnade schenkt Gott sich uns als Vater, Freund, Mitarbeiter und Heiligmacher und er ist so in der Tat der Urgrund selbst unseres inneren Lebens, die causa ejJiciens und exemplaris.

93. A) In der Ordnung der Natur ist Gott als SchojJ.fer und hO'chster Herr in uns. Wir aber sind seine Diener, sein Eigentum, seine Sache. In der Ordnung der Gnade jedoch gibt er sielt uns als unseren Vater und wir sind seine angenommenen Kinder. Ein herrliches Vorrecht, das die Grundlage unseres übernatÜrlichen Lebens bildet. Das betont der hl. Paulus immer und immer wieder. Ebenso der hl. ] ohannes. "Non eniln acrepistis spiritum servitutz"s iterum in timore, sed accepistis spiritum adoptionzs jiZioru1Jl, in quo clalllamus Abba (Pater). lpse enim spiritus testimonium reddit spiritui nostro quod sumus jilz'i Dei." I Gott nimmt uns also als seine Kinder an und zwar auf viel vollkommenere W eise, als die Menschen bei gesetzlicher Adoption es zu tun pflegen. Diese nämlich können wohl ganz gewiss ihren Namen und ihr Vermögen auf Adoptivkinder Übertragen, jedoch nicht ihr Blut und ihr

, Römerbrief, VIII, 15-16.

70

ZWEITES KAPITEL.

Leben. " Die gesetzliche Adoption ", sagt mit Recht Kardinal Mercier, I "ist eine Fiktion oder Erdichtung. Das angenommene Kind wird von seinen Adoptiveltern betrachtet, als wäre es ihr Kind. Es erhält von ihnen die Erbschaft, auf welche die Frucht ihrer Ehe Anrecht gehabt hätte. Die Gesellschaft anerkennt diese Fiktion und billigt deren Wirkungen. Der Gegenstand dieser Fiktion verändert sich jedoch nicht, in Wirklichkeit. Die Gnade der göttlichen Adoption ist keine Fiktion, sondern eine Wirklichkeit. Gott gewährt denen, die an sein Wort glauben, die göttliche Kindschaft, sagt der hl. J ohannes. " Dedit ezs potestate11l jiZz'os Dei jieri, hzs qui credunt z'n nomine ejus. " 2 Diese Kindschaft besteht nicht dem Namen nach, sondern in Wirklichkeit. " Ut jilii Dei 1zominemur et simus." Wir treten in den Besitz der göttlichen Natur " divin<e consortes natur<e ".

94. Allerdings ist dieses göttliche Lt::ben in uns nur eine Teilnahme "consortes", eine Ahnlichkeit, eine Verähnlichung, die aus uns keine Gölter macht, sondern gottähnliche Wesen. Und trotzdem ist es keine Fiktion, sondern eine WirkZiclzkeit, ein neues Leben, zwar nicht demjenigen Gottes gleich, aber ähnlich und das nach dem Zeugnisse der HI. Schrift eine neue Generation oder Wz'edergeburt voraussetzt. "Nz'si quis rmatus fuerit ex aqua et Spiritu Sancto ... per lavacru11l regeneratz'onis et renovatz'onis Spiritus Sanctz' ... regeneravit nos z'n spem viva11l ... voluntarie enim genuit nos verbo verz'tatzs." 3 Alle diese Ausdrücke zeigen uns, dass unsere Adoption nicht nur dem Namen nach, sondern Wz'rkZz'chkez't ist, obwohl sehr verschieden von der Kindschaft des Fleischgewordenen Wortes. Darum werden wir rechtmässige Erben des Himmelreiches, Miterben desjenigen, der

, MERCIER, La vie interieure, 1909. S. 405 . • loh. I, 12.

3 loh. Irr, 5; Tit. Irr, 5'; I. Pet?". I, 3; lac. I, 18.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 71

unser ältester Bruder ist. "H<eredes quidem Dei, coh.:eredes autem Christi ... ut sit ipse primogenitus in multis fratribus. " I Hier sei auch die ergreifende Stelle aus dem Evangelium des hl. J ohannes erwähnt : " Videte quale11l caritatem dedit nobis Pater, ut filii Dei nomine11lur et si11lus. " 2

Gott wird also von der Hingabe und Zärtlichkeit eines Vaters für uns sein. Er selbst vergleicht sich mit einer Mutter, die niemals ihr Kind vergessen kann. "Numquid oblivisci potest muZier infantem SUU11l, ut non 11lisereatur fiZio uteri sui? Et si illa oblz"ta fuerit, ego ta11len non obliviscar tui." 3 Gewiss, er hat es deutliCh bewiesen, hat er doch, um seine gefallenen Kinder zu retten, nicht gezögert, seinen einzigen Sohn hinzugeben und zu opfern." Sz'c Deus dilexit 11lundu11l ut Filiu11l suum unz'genz'tum daret, ut Olunis qui credit in eU11l non pereat, sed habeat vita11l ceterna11l. "4 Dieselbe Liebe treibt ihri an, sich von jetzt an und beständig seinen Adoptivkindern zu schenken, indem er in ihren Herzen seine Wohnung aufschlägt. "Si quis dz'lt'git me, ser11lonem meum servabit et Pater metts dilt'get eum et ad eU11l veniemus et mansionem apud eU11l faciemus. "5 Er wohnt daher in uns wie ein überaus zärtlicher und sich ganz hingebender Vater.

95. B) Er schenkt sich uns auch als Freund. Die Freundschaft bringt zwischen Vater und Sohn eine gewisse Gleichheit mit sich. "Amicitia cequales accipit aut facit." Eine gewisse Vertrautheit, eine Gegenseitigkeit, die den innigsten Verkehr zur Folge hat. Genau dieselben Beziehungen ruft die Gnade hervor zwischen Gott und uns. Freilich handelt es sich nicht um eine tatsächZiche Gleichheit, zwischen Gott und uns, sondern um eine gewisse Altnlicltkeit, welche hinreicht, um einen wirklichen vertrauten

, Römer, VIII, 17, 29. - 2 I loh., III, I.

3 Isa., XLIX, 15. - 4 loh .. III, 16. - 5 loh., XIV, 23.

72

ZWEITES KAPITEL.

Verkehr zustande zu bringen. Gott liefert uns seine Geheimnisse aus. Er spricht nicht nur durch seine Kirche zu uns, sondern auch auf innere Weise durch seinen Geist. " llZe vos docebit omnia et suggeret vobis omnia qUCEcumque dixero vobz's. "I SO erklärt denn auch Jesus beim letzten Abendmahle den Aposteln, sie seien von nun an nicht mehr seine Diener, sondern seine Freunde, da er kein Geheimnis mehr vor ihnen habe. "Jam non dz'ca11l vos servos, quz'a servus nescit quid faciat domz'nus e.fus. Vos aute11l dixi a11licos, quia omnia qua:cumque audivz' a Patre meo, nota feci vobzs. " 2 Eine innige Vetrautheit soll künftig zwischen ihnen bestehen, jene Vertrautheit, wie man sie zwischen Freunden findet, die gemeinsam speisen. "Siehe, ich stehe vor der Tür, und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und mir die Türe aufmacht, so werde ich zu ihm ein·· gehen und mit ihm Mahl halten und er mit mir." "Ecce sto ad ostium et pulso. Si quis audz'erit vocem 11leam et aperuerit mihi .fanuam, intrabo ad zlZUltl et ca:nabo cum ilZo, et ipse mccum." 3 Wunderbare Vertrautheit, die wir nie zu verlangen gewagt hätten, wäre der göttliche Freund uns darin nicht zuvorgekommen! Und doch ist diese vertraute Freundschaft zur Wirklichkeit geworden und erneuert sich täglich, nicht nur bei den Heiligen, sondern auch in den innerlichen Seelen, die bereitwilligst dem göttlichen Gaste die Pforte ihrer Seele öffnen. Das bezeugt uns der Verfasser der Nachfolge Christi, wenn er die häufigen Besuche des HI. Geistes in den innerlichen Seelen schildert, die lieblichen Gespräche, die dieser mit ihnen hält, die Tröstung'en und Liebesbeweise, mit denen er sie überschüttet, den Frieden, der er ihnen bringt, die erstaunliche Vertrautheit, mit der er sie behandelt. " Frequens illz' visz'tatio CU1tl homine interno, dulcis sermocinatio, grata consolatio, multa pax, familiaritas stupenda

'loh., XIV, 26. - 2 loh., XV, Is. - 3 Olfetlba1'uug", III, 20.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 73 ni11lts. I Übrigens beweist das Leben der Mystikerinnen unserer Zeit, wie z. B. einer hl. Therese vom Kinde J esu, einer Schwester Elisabeth von der HI. Dreifaltigkeit, einer Gemma Galgani und so vieler anderer, dass jene Worte der Nachfolge täglich WirklichKeit werden. Es ist also wahr: Gott wohnt wie ein vertrauter Freund in uns.

96. C) Er bleibt in uns nicht müssig, sondern betätigt sich als der mächtigste Mitarbeiter. Da er sehr wohl weiss, dass wir aus eignen Kräften das ÜbernatÜrliche Leben, welches er uns schenkt, nicht pflegen können, kommt er durch seine Mitwirkung unserer Ohnmacht zu Hilfe, und zwar durch die aktuelle Gnade. Brauchen wir Licht, um die Glaubenswahrheiten, die uns von nun an leiten sollen, zu erkennen? Er, der Vater des Lichtes, wird unseren Verstand in bezug auf unser letztes Ziel und der dazu notwendigen Mittel erleuchten. Er wird uns gute Gedanken eingeben, die uns zu guten Werken anregen werden. Fehlt uns die Kra.ft, um ehrlich unser Leben auf unser Ziel einzustellen und dabei energisch und standhaft nach ihm zu streben? Er wird uns jene übernatürliche Hilfe zuteil werden lassen, durch die wir im stande sind, Entschlüsse zu fassen und auszuführen. "Operatur in vobis et veZle et perficere. "2 Handelt es sich um die Bekämpfung unserer Leidenschaften oder um deren Bezähmung, um den Sieg über die Versuchungen, die uns zuweilen befallen, so ist er es wieder, der uns die Kraft geben wird, ihnen Widerstand zu leisten und daraus Nutzen fÜr die Erstarkung in der Tugend zu ziehen. "Fidelzs est Deus quz' non patietur vos tentari supra id quod potestis, sed facz'et etiam CU1ll tentatione proventum. "3 Hören wir auf, Gutes zu tun, weil wir mutlos geworden sind und zu schwan-

'Nach! Chl-isti, II, Kap. I, v. 1.

2 Philip .. 11, 13. - 3 I Korinther, X, 13.

74

ZWEITES KAPITEL.

ken beginnen, so wird er sich uns nähern, um uns zu stützen und uns Ausdauer zu verleihen. " Der, welcher in euch das gute Werk angefangen hat, wird es auch vollenden bis auf den Tag Christi J esu. " - Qui ca:pit in vobis bonu1lZ opus, ipse perji~iet usque in diem ChrisÜ' jesu. I Mit einem Worte, wir werden niemals allein sein, selbst dann nicht, wenn wir, jeglichen Trostes bar, uns fÜr verlassen halten werden. Gottes Gnade wird stets mit uns sein, vorausgesetzt, dass wir einwilligen, mit ihr mitzuwirken. "Gratia ~jztS in me vacua non fuit, sed abztndantius iZlis omnibus Zaboravi " non ego autem, sed gratia Dei mecum." 2 GestÜtzt auf diesen allmächtigen Mitarbeiter, werden wir unbesiegbar sein, denn wir vermögen alles, in dem, der uns stärkt. " Omnia possum in eo qui me confortat. " 3

97. D) Dieser Mitarbeiter ist gleichzeitig ein Heilz'gmacher. Durch das Wohnungnehmen in unserer Seele, verwandelt er diese in einen heiligen Tempel, der mit allen Tugenden ausgeschmückt ist. " Templzt11l Dei sanctum est " quod estzs vos." 4 Der Gott, der durch die Gnade in uns niedersteigt, ist nicht der Gott der Natur, sondern der lebendige Gott, die Heiligste Dreifaltigkeit, die unerschöpfliche Quelle göttlichen Lebens. Er will nichts anderes, als uns an seiner Heiligkeit teilnehmen lassen. Zuweilen wird zwar dieses Wohnen dem HI. Geiste zugeschrieben, durch Zueignung, weil es ein Werk der Liebe ist, aber da es ein Werk naclt Aussen ist, so betez'lz'gen sich alle drei göttlichen Personen daran. Aus diesem Grunde nennt uns der hl. Paulus ohne Unterschied" Tempel Gottes" und " Tempel des HI. Geistes". "Nescitz"s quia templu1Jl Dez' estis et Spiritus Dei Izabitat in vobis?" 5

So wird also unsere Seele zum TelllpeZ des leben-

, Philip., I, 6. - 2 I Korinther, XV, 10. - 3 Philipper, IV, 13. 4 I Korinther, III, 17. - 5 I Korinther, IlI, I6.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 75 digen Gottes. Eine heilige, Gott vorbehaltene Stätte, ein Thron der Barmherzigkeit, wo Gott seine himmlischen Gnaden auszuteilen pflegt und den er mit allen Tugenden schmückt. Wir werden bald den übernatürlichen Organismus, mit dem er uns beschenkt hat, näher beschreiben. Es ist indessen ein· leuchtend, dass die Gegenwart des dreimal heiligeIl Gottes, so wie wir sie soeben dargestellt haben, nur heiligend sein kann und dass die in uns lebende und wirkende heilige Dreifaltigkeit tatsächlich der Anfang unserer Heiligung und die QuelZe unseres innerlichen Lebens ist. Zugleich ist sie auch die causa exellljJlaris, da wir als angenommene Kinder Gottes unsern Vater nachahmen sollen. Das aber werden wir durch die Erörterung, wie wir uns den drei in uns wohnenden göttlichen Personen gegenüber zu verhalten haben, besser verstehen.

J.

2. UNSERE PFLICHTEN DER IN UNS WOHNENDEN HEILIGSTEN DREIFALTIGKEIT GEGENÜB~~R.

98. Besitzt man einen so kostbaren Schatz, wie die Heiligste Dreifaltigkeit es ist, in sich, so muss man oft daran denken. " Ambulare cum Deo intus ". Dieser Gedanke ruft drei hauptsächliche Gefühle in uns wach: Anbetung, Liebe und Nachfolge. I

99. A) Das erste Gefühl entströmt unwillkürlich dem Herzen: Die Anbetung. " Glorificate et portate Deum in corpore vestro." 2 Wie wäre es in der Tat möglich, jenen göttlichen Gast, der unsere Seele in ein wahres Heiligtum verwandelt, nicht zu verherrlichen, nicht zu loben und ihm nicht zu danken? Als Maria das Fleischgewordene Wort in ihtem keuschen Schosse barg, war ihr Leben nur noch ein beständiger Akt der Anbetung und Dankbarkeit:" Mag nificat anima 11lea Dominum ... fecit milzi magna quz'

, Alle diese Gefühle sind in dem Morgengebete, welches J.-J. OUER verfasst hat, sehr schön ausgedrückt. OUER, La journte cltretienne, SS. 18-24, Ansgabe 1907. - 2 I Cor., VI, 20.

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ZWEITES KAPITEL.

potens est, et sanctum nomen ejus". So sind auch, obwohl in geringerem Grade, die Empfindungen einer Seele, die sich bewusst ist, dass der HI. Geist in ihr wohnt. Sie begreift, dass sie als Tempel Gottes sich unaufhörlich gleichsam als Lobopfer zur Ehre der drei göttlichen Personen darbringen soll. a) Vor Beginn ihrer Handlungen macht sie das M. Kreuzzeichen und weiht jede ihrer Handlungen den drei göttlichen Personen. Nach Beendigung der ersteren erkennt sie, dass alles Gute, das sie getan hat, der HI. Dreifaltigkeit zu verdanken ist : Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto. b) Gern verrichtet sie die liturgischen Gebete, die Lobgesänge zu Ehren der drei göttlichen Personen : Das Gloria in excelsis Deo, das so schön alle Empfindungen des Glaubens in bezug auf die HI. Dreifaltigkeit, besonders auf das Fleischgewordene V/ort wiedergibt. Das Sanctus, welches die Heiligkeit Gottes preist. Das Te Deu11l, die Dankeshymne. c) Diesem göttlichen Gaste gegenüber, der, so wohlwollend er auch sein mag, nicht aufhört, Gott zu sein, erkennt sie demÜtig ihre gänzliche Abhängigkeit von ihm, ihrem Anfange und ihrem Ende, erkennt ihre Unfähigkeit, ihn zu loben, wie er es verdient. In diesem Gefühle vereinigt sie sich mit dem Geiste J esu, der allein im stande ist, Gott die Ehre zu geben, auf die er Anspruch hat. Dieser Geist kommt unserer Schwäche zu Hilfe, denn wir wissen nicht, um was wir in Anbetracht unserer Not bitten sollen. Der Geist jedoch bittet selbst fÜr uns in unaussprechlichen Seufzern. "Spiritus aC(iuvat infir11litatem " nam quid oremus sicut oportet, nesciJIlUS / sed ipse Spiritus postulat pro nobis ge11litibus inenarrabilibus. I

100. B) Hat die Seele Gott angebetet und ihr Nichts erkannt, so gibt sie sich den Gefühlen

, Römerbrief, VIII, 26.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 77

vertrauensvoller Liebe hin. So unendlich er auch ist, so neigt er sich doch wie der zärtlichste Vater zu seinem Kinde zu uns herab und ladet uns ein, ihm unser Herz zu schenken."Prmbe,fili,cor tuum mihi." I Diese Liebe könnte er uns befehlen, er zieht jedoch vor, herzlich und innig darum zu bitten, damit in unserer Erwiderung mehr freier Wille und grössere, kindliche Hingabe an ihn vorhanden sei. Wie könnte man so zärtliche Zuvorkommenheit, so mÜtterliche Sorge nicht durch vertrauensvolle Liebe erwidern? Sie wird bussfertz'g sein, um unsere, nur allzu zahlreichen Treulosigkeiten der Vergangenheit und Gegenwart zu sühnen; dankbar, um jenem hervorragenden Wohltäter zu danken, dem bereitwilligen Mitarbeiter, der mit so grosser Ausdauer unsere Seele bearbeitet. Besonders aber wird diese Liebe eine Freundesliebe sein, durch die wir mit ihm, dem edelsten und treusten Freunde vertraut reden, uns seiner Interessen annehmen, seine Ehre fördern und beitragen, dass sein Name gepriesen werde. Diese Liebe wird demnach nicht nur ein schlichtes, wenn auch inniges Gefühl, sondern eine hochherzige Liebe sein, die bis zum Opfer, zur Selbstlosigkeit, zum Verzicht auf den eigenen Willen geht durch die Unterwerfung unter die Gebote und die evangelischen Räte.

101. C) Diese Liebe wird uns daher zur Nachahmung der anbetungswÜrdigen Dreifaltigkeit anspornen, soweit dieses der menschlichen Schwäche möglich ist. Als Adoptivkinder eines überaus heiligen Vaters, als lebendige Tempel des Hl. Geistes, verstehen wir besser die Notwendigkeit, unseren Leib und unsere Seele zu achten. So lautete die Schlussfolgerung, die der Apostel seinen Schülern einschärfte : " Wisset ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?

, Spr. XXIII, 26.

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ZWEITES KAPITEL.

Wenn aber jemand den Tempel Gottes versehrt, so wird ihn Gott verderben. Denn der Tempel Gottes ist heilig und der seid ihr. " I Nescitis quia templum Dei estis, et Spiritus Dez' habitat in vobis? Si qUlS autetn tempZu11l Dez' vz'olaverit, dz'sperdet illlt1n Deus. Te11lplu11l eni11l Dei sanctum est quod estis vos." Wie die Erfahrung beweist, ist kein Beweggrund fÜr edle Seelen stärker als dieser, um sie von der Sünde fernzuhalten und sie zur Übung der Tugend anzueifern. Muss man denn nicht auch einen Tempel, in welchem der dreimal heilige Gott wohnt, unaufhörlich reinigen und schmücken? So oft übrigens Jesus uns ein Vorbild von Vollkommenheit vor Augen stellen will, so sucht er es nicht ausserhalb der hl. Dreifaltigkeit. "Seid vollkommen ", sagt er, "wie euer Vater im Himmel vollkommen ist." " Estote ergo vos peifecti, sicut et Pater vester ccelestz's peifectus est. " 2 Im ersten Augenblick erscheint uns dieses Vorbild zu hoch. Wenn wir aber bedenken, dass wir die Adoptivkinder des Vaters sind und dass er in uns lebt, um uns sein Bild tief einzuprägen und an unserer Heiligung mitzuwirken, so verstehen wir, dass Adel Pflichten auferlegt und dass wir uns deshalb bemÜhen müssen, die göttlichen VoUkommenheiten immer besser nachzuahmen. Stellt J esus uns die unteilbare Einheit der drei göttlichen Personen, jenes vollkommene V?rbild, vor Augen, so tut er es, um uns besonders zur Ubung der christlichen Näcltstmlz"ebe anzueifern. "Damit, alle eins seien, wie du, Vater, in mir und ich in dir, damit auch sie in uns eins seien. "3 Ut 011lnes unum sint, sicut tu, Pater, in 1JZe et ego in te, ut et zpsz' z'n 110bis unum sinto - Ein ergreifendes Gebet, welches der hl. Paulus später wiederholt, denn er bittet seine teuren JÜnger flehentlich, nicht zu vergessen, dass sie ein Leib und ein Geist seien und alle ein und denselben Vater hätten, der in allen Gerechten

, I Korinther, IIl, 16-17. - 211fatth., \',48. - 3 lall., XVII, 21.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 79 wohne und dass sie darum die Einheit des Geistes durch das Band des Friedens bewahren sollten. r

Um alles kurz zusammenzufassen, können wir die Folgerung schliessen, dass das christliche Leben vor allem in einer innigen, herzlichen und heiligenden Vereinigung mit den drei göttlichen Personen bestehe, die in uns den Geist der Gottesverehrung, der Liebe und des Opfers aufrecht hält.

II. Der Organismus des chrz'stlichen Lebens.2

102. Die drei göttlichen Personen, die im Heiligtume unserer Seele ihre 'vVohnung aufgeschlagen haben, bereichern diese mit übernatürlichen Gaben und teilen uns ein Leben mit, das dem ihrigen ähnlich ist. Wir nennen es das Gnadenleben oder ein gottähnliches Leben.

In jedem Leben unterscheidet man ein dreifaches Element. Das Lebensprinzip, welches, sozusagen, die Quelle des Lebens ist. Ferner Fähigkeiten, durch die wir dieses Leben betätigen können. Schliesslich die Akte selbst, welche eine Entfaltung desselben sind und zu seinem Wachstum beitragen. In bezug auf die ÜbernatÜrliche Ordnung, erzeugt der in uns lebende Gott diese drei Elemente in unserer Seele. a) Zuerst verleiht er uns die lzabz'tuelle Gnade, das ÜbernatÜrliche Lebensprinzip, 3 welches, sozusagen, die Substanz selbst unserer Seele vergöttlicht und

. sie, obschon in entfernter Weise, der seligen Anschauung Gottes und der auf dieselbe vorbereitenden Akte fähig macht.

I " Solliciti servare unitatem spiritus in vinculo pacis. U nunl corpus et unus spiritus ... Unus Deus et Pater omnium, qui est super omnes, et per omnia et in omnibus. "(Epheser, IV, 3-6.)

'S. THOMAs, Ia IIre, q. IIO. - ALvAREz DEPAZ, S. J., De vita. spirituali ejusque pe'fectione, 1602, t. I, 1. II, c. r. - TERRIEN, S. J., La Grace et la Gloire, Bd. I, S. 7S u. ff. - BELLAMY, La vie surna· tu reUe.

3 " Gratia prresupponitur virlutibus infusis, sicut earum prindpium et

finis. " (Sum. theol., Ia 1IlI', q. IIO, a. 3)·

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ZWEITES KAPITEL.

103. b) Dieser Gnade entströmen die eingegossenen Tugenden I und die Gaben des HI. Geistes, die unsere Fähigkeiten vervollkommnen und die unmittelbare Fähigkeit verleihen, gottähnliche, Übernatürliche und verdienstliche Akte zu vollziehen.

c) Um diese Fähigkeiten in Tätigkeit zu setzen, schenkt uns Gott aktuelZe Gnaden, die unseren Verstand erleuchten, unsern \iV illen stärken, uns behilflich sind, übernatürliche Akte zu vollziehen und auf diese ViTeise den Vorrat habitueller Gnade, der uns zuteil wurde, zu vermehren.

104. Dieses Gnadenleben ist zwar vom natÜrlichen Leben verschieden, jedoch diesem nicht einfach hinzugefÜgt, sondern es durchdrz'ngt dasselbe voZZkom11len, verwandelt und vergöttlicht es. Es wird eins mit allem, was unsere Natur Gutes hat, unsere Erziehung, unsere erworbenen Gewohnheiten. Sie vervollkommnet alle diese Elemente und macht sie Übernatürlich, richtet sie auf das letzte Ziel, d. h. auf den Besitz Gottes durch beseligende Anschauung und durch die Liebe, die sie begleitet.

Es ist die Aufgabe des ÜbernatÜrlichen Lebens, das natürliche zu lenken, und zwar nach dem bereits (N. 54) erklärten Grundsatze, dass die niederen \\fesen den höheren untergeordnet sind. 2 Es kann weder andauern noch sich entfalten, wenn es nicht die Akte des Verstandes, des Willens und der anderen Fähigkeiten beherrscht und unter seinem Einflusse bewahrt. Dadurch zerstört es weder die Natur, noch verringert es dieselbe, sondern veredelt und vervollkommnet sie. Das wollen wir durch nachfolgende Erörterung Über seine drei Elemente veranschaulichen.

1 " Sicut ab essentia anima'! eftluunt ejus potentia'!, qua'! sunt operum .principia, ita etiam ab ipsa gratia eftluunt virtutes in potentias anima'!, per qnas potentia'! moventur ad actum. " (lbidem, a. 4, ad I.)

2 EYMIEU, op. cit., S. 150-151.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 81

1. DIE HABITUELLE ODER HEILIGl\1ACHENDE GNADE. '

105. Da Gott in seiner unendlichen Güte uns bis zu sich erheben will, soweit es unsere schwache Natur erlaubt, so verleiht er uns ein übernatürliches, gottähnliches Lebensprz'nzip, die habituelle Gnade. Man nennt sie die geschaffene Gnade,2 im Gegensatze zur unerschaffenen Gnade, die im Vorhandensein des HI. Geistes in uns besteht. Diese Gnade macht uns gottähnZich und vereinigt uns sehr eng mit ihm. " Est autem hcec deificatio, Deo qua:dam, quoad fieri potest, assimilatio unioque. " 3 Von diesen bei den Gesichtspunkten aus wollen wir die bekannte Definitz'on von ihr geben und dabei besonders die durch die Gnade bewirkte Verez'nigung unserer Seele mit Gott genauer feststellen.

A) Definition.

106. Man nennt für gewöhnlich die Gnade eine Übernatürliche, unserer SeeZe anhaftende Bescltaffenhez't, die uns bifältt'gt, auf eine wirkliche, formelle, jedoch akzidentelle Art, an der Natur und dem Leben Gottes tetlzuneltmen.

a) Sie ist also eine Wirklichkeit der ÜbernatÜrlichen Ordnung, nicht aber eine Substanz, da eine geschaffene Substanz nicht Übernatürlich sein kann. Sie ist eine Seinsart, ein Seelenzustand, eine der Substanz unserer Seele inhärierende oder anhaftettde

,Vergl. S. THOMAS, Ia !Ire, q. IIO. - Synopsis Theol. dog11l., t. IlI,

n. 186-191. - FROGET, op. cit. IV. Teil. - TERRIEN, S. J. La grdce et la gloire, S. 75 und ff. - BELLAMY, La vie surnaturelle, 1895. NIEREMllERG, Dei aprecio y estima de la divinagracia. - V. MANY, La vraie vie, 1922, S. 1-79·

2 Viese Bezeichnung ist nicht ganz zutreffend, denn die Gnade in uns ist nicht eine Substanz, sondern ein Zubehör oder eine beigefügte Seinsart unserer Seele. Da sie aber etwas Endliches ist und nur von Gott konlluen kann, ohne von uns erworben zu sein, so gibt Ulan ihr diesen N amen. Zuweilen nennt man sie auch concreata " llliterschaffene H um anzudeuten, sie käme von derjenigen Fähigkeit der Seele, die sich auf das Gehorsamsvermögen unserer Seele erstreckt.

3 PS.-DIONYS., De eccl. hiera-rchid, c. I, n. 3, P. G., I!I, 373·

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ZWEITES KAPITEL.

Beschaffenlteit, die sie verwandelt und sie über alle natürlichen Wesen erhebt, selbst über die vollkommensten. Eine bZeibende Beschaffenheit ihrer Natur, die in uns bleibf, solange wir sie nicht durch eine freiwillige Todsünde aus unserer Seele verjagen. " Sie ist, " sagt Kardinal Mercier, I sich auf Bossuet stützend, "jene geistliche Eigenschaft, die J esus in unsere Seelen ausströmen lässt. Sie durchdringt das Innerste unserer Substanz, prägt sich tief in unsere Seele ein und ergiesst sich (durch die Tugenden) in alle Kräfte und Fähigkeiten unserer Seele. Wer sie innerlich besitzt, macht seine Seele rein und angenehm in den Augen des göttlichen Heilandes, macht sie zu seinem Heiligtume, seinem Tempel, seinem Tabernakel, zur Stätte seiner Wonne."

107. b) Diese Beschaffenheit macht uns, nach dem kernigen Ausdrucke des hl. Petrus, zu Teilhabern an der göttlichen Natur, "divina: consortes natura:". Sie bewirkt, wie der hl. Paulus lehrt, unsere Gemeinschaft mit dem Hl. Geiste" communicatio Sancti Spiritus" 2, " in Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohne, J esus Christus ", fügt der hl. J ohannes hinzu. 3 Sie macht aus uns zwar keine gottgleiche, wohl aber gottähnZiche Wesen. Sie verleiht uns zwar nicht das göttliche Leben selbst, das dem Wesen nach unmitteilbar ist, aber ein dem Leben Gottes ähnliches. Das müssen wir näher erklären, soweit es Menschenverstand erfassen kann.

108. r) Das Leben Gottes, als solches, besteht darin, dass er unmittelbar sich selbst sielzt und sich unendlich liebt. Kein Geschöpf, so vollkommen es auch sei, kann durch sich selbst die göttliche Wesenheit betrachten, die in einem unzugänglichen

, La vie interieure, S. 401. - 211. Korinther, XIII, 13.

3" Societas nostra cum Patre et cum Filio ejus Jesu Christo ". 1 loh., I, 3.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 83

Lichte wohnt. Lucem inhabitat z·naccessz·biZem. I Gott beruft durch ein völlig ungeschuldetes Vorrecht den Menschen zur Beschauung dieser göttlichen Wesenheit im Himmel. Und, da der Mensch dessen unfähig ist, so veredelt, vermehrt und stärkt Gott durch das Lz'cht der Glorz'c den menschlichen Verstand. Dann, sagt der hl. J ohannes, werden wir Gott ähnlich sein, weil wir ihn sehen werden, wie er sich selbst sieht, oder, was dasselbe ist, wie er in sich selbst ist. " Simz'les ei erimus, quoniam vÜiebimus eum sicuü' est." 2 - ,; Wir werden ", fügt der hl. Paulus bei, "nicht mehr durch den Spiegel der Geschöpfe schauen, sondern von Angesicht zu Angesicht. Ohne Vermittlung, ohne Wolke, von Angesicht zu Angesicht, in voller Klarheit. Nunc per speculum et in ClJnigmate, tunc autem fade ad fadem. " 3 - Dadurch werden wir, wenn auch auf begrenzte Art, am Leben Gottes selbst teilnehmen, da wir ihn, so wie er sich selbst kennt, kennen und lieben werden, wie er sich selbst liebt, was die Theologen behaupten, wenn sie sagen, die göttliche Wesenheit werde sich mit dem Innersten unserer Seele vereinen und für uns eine spedes impressa werden, um uns die Möglichkeit zu geben, sie ohne jegliche geschaffene Vermittlung, ohne jegliches Bild zu sehen.

109. 2) Nun ist aber die habituelle Gnade bereits eine Vorbereitung auf die beseligende Anschauung, gleichsam ein Vorgeschmack jener Gunst, prClJlz'batio vz'sionis beatijicClJ. Sie ist die Knospe, die bereits die Blume birgt, obschon diese sich erst später en tf al ten soll. Von derseI ben Art ist sie wie die beseligende Anschauung selbst und nimmt an ihrem Wesen teil.

Versuchen wir einen Vergleich, so unvollkommen er auch sein mag. Auf drei Arten kann ich einen KÜnstler erkennen.

'1 Tim., VI, 16. - 21 lo"., III, 2. - 31 Korinther, XIII, 12·13.

84

ZWEITES KAPITEL.

Durch die Betrachtung seiner Werke, durch das Bild, das mir von seinen vertrauten Freunden von ihm gemacht wird oder endlich durch persönlichen Verkehr mit ihm. Auf die erste Art erkennen wir Gott durch den Anblick seiner Werke. Eine deduktive, sehr unvollkommene Kenntnis, da seine Werke, obwohl sie seine Weisheit und Macht offenbaren, uns nichts von seinem innerlichen Leben sagen. Die zweite Art entspricht so ziemlich der Kenntnis, die uns der Glaube verschafft. Auf das Zeugnis der heiligen Geschichtsschreiber, besonders aber des Sohnes Gottes hin, glaube ich, was Gott zu offenbaren sich würdigte, nicht nur bezüglich seiner Werke und seiner Eigenschaften, sondern auch in bezug auf sein inneres Leben. Ich glaube, dass er von Ewigkeit her ein Wort zeugt, welches sein Sohn ist, den er liebt, von dem er geliebt wird, und dass aus dieser gegenseitigen Liebe der Hl. Geist hervorgeht. Zwar verstehe ich es nicht und nehme es nicht mit meinen Augen wahr, aber ich glaube es unerschÜtterlich fest. Dieser Glaube lässt mich wie durch einen Schleier, auf dunkle, aber wirkliche Art an der Kenntnis teilnehmen, die Gott von sich selbst hat. Erst später, durch die beseligende Anschauung wird die dritte Art der Erkenntnis sich verwirklichen. Jedoch, wie man sieht, ist die zweite Art, im Grunde genommen, ihrem Wesen nach dieselbe wie die letzte. Zweifellos viel höher als die auf der Vernunft beruhende Kenntnis.

110. c) Diese Teilnahme am göttlichen Leben ist nicht lediglich virtuell, sondern formell. Durch eine virtuelle Teilnahme ist eine Eigenschaft in uns auf eine Weise, die sie nicht in der Hauptursache hat. Die Vernunft z. B. ist eine virtuelle Teilnahme an der göttlichen Vernunft, weil sie uns die Wahrheit erkennen lässt, aber auf eine ganz andere Weise, wie Gott sie kennt. Das jedoch gilt nicht von der beseligenden Anschauung und, in gewisser Beziehung, vom Glauben. Diese lassen uns Gott erkennen, wie er sich selbst kennt, freilich nicht in demselben Grade, aber auf dieselbe Weise.

111. d) Diese Teilnahme ist nicht wesentlich, sondern akzidentelZ. Sie unterscheidet sich auf diese Weise von der Zeugung des Wortes, das die ganze Substanz des Vaters erhält. Ebenso von der hypostatischen Vereinigung, die in einer wesentlichen

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 85 Verbindung der menschlichen Natur und der göttlichen in der einen Person des Wortes besteht. Wir aber behalten tatsächlich unsere Persönlichkeit, und unsere Vereinigung mit Gott ist darum nicht wesentlich. So lehrt der hl. Thomas. I "Da die Gnade die menschliche Natur weit übertrifft, so kann sie weder eine Substanz, noch die substantielle Form der Seele sein. Nur die akzidentelle Form derselben kann sie sein. " - U ncl um seinen Gedanken zu erklären, fÜgt er bei, dass das, was in Gott substantiell (wesentlich) ist, wird uns akzidentelZ gegeben und lässt uns an seiner göttlichen Güte teilnehmen. " Id enim quod substantiaZiter est in Deo, accidentaZz'ter fit in anima participante divinam bonitatem, ut de scientia patet. "

Durch diese Einschränkungen vermeidet man, in den Pantheismus zu fallen und hat gleichzeitig einen sehr hohen Begriff von der Gnade. Sie erscheint uns als ~jne, von Gott unserer Seele eingeprägte, göttliche Ahnlichkeit. "Faciamus hominem ad imagz'nem et sz·1Jlz'litudinem. nostram. " 2

112. Um uns diese göttliche Ähnlichkeit verständlich zu machen, stellen die Kirchenväter verschiedene VergZeiche an. I) Unsere Seele, sagen sie, sei ein lebendiges Bild der Dreifaltigkeit. Ein Bild in verkleinertem Massstabe. Der HI. Geist selbst nämlich kommt herab, um sich uns tief einzuprägen wie ein Siegel auf weiches Wachs und lässt so seine Ähnlichkeit in uns haften 3. Sie schliessen daraus, die Seele sei im Stande der Gnade von überwältigender Schönheit, da der Künstler, der jenes Bild darauf malt, unendlich vollkommen, nämlich Gott selbst sei. "Pictus es ergo, 0 homo, pictus es a Domz'no Deo tuo. Bonum habes artificem atque pictorem. "4

I Sumo theot., Ia IIa., q. HO. a. 2 ad 2. - 2 SchöPfU1lgsbericht, I, 26. j .. Divinam figurationem in nobis imprimens quodammodo per seipsum". (Holllil. pascha/es), X, 2, P. G., LXXVII, 617.

• S. AMBROS 1" HexamI. , I, VI, c. 8, P. L., 14, 206.

86

ZWEITES KAPITEL.

Mit Recht folgern sie daraus, dass wir dieses Bild von Tag zu Tag ähnlicher gestalten müssen, an statt es zu zerstören oder zu verdunkeln. Oder sie vergleichen unsere Seelen mit jenen durchsichtigen Körpern, die, von der Sonne durchleuchtet, einen unvergleichlichen Glanz gewinnen und von sich geben. 1 So empfängt unsere Seele, einer von der Sonne erleuchteten Kristallkugel gleich, das göttliche Licht. Sie erstrahlt in hellem Glanze, der sich auf den in ihrer Nähe befindlichen Gegenständen abspiegelt.

.. 113. 2) Um zu veranschaulichen, wie diese Ahnlichkeit nicht auf der Oberfläche haften bleibe, sondern bis in das Innerste unserer Seele dringe, greifen sie zum Vergleiche mit dem Eisen und dem Feuer. Wie eine, in die Kohlenglut getauchte Eisenstange glühend heiss und biegsam im Feuer wird, so entledigt sich auch unsere Seele, in den Glutofen der göttlichen Liebe gesenkt, ihrer Schlacken und glänzt und glüht und wird den göttlichen Einsprechungen gegenü ber gefÜgig.

114. 3) Ein Schriftsteller unserer Zeit, der die Gnade als neues Leben darstellen will, vergleicht dieselbe mit einem göttlichen P.fropfrels, welches dem Wildling unserer Natur aufgesetzt wird und sich mit unserer Seele verbindet, um darin ein neues Lebensprinzip und dadurch ein viel höheres Leben zu stande zu bringen. Wie aber das Pfropfreis dem Wildlinge nicht das ganze Leben des Wesens, dem es entlehnt wurde, überträgt, sondern nur diese oder jene seiner Lebenseigenheiten, so teilt die heiligmachende Gnade nicht die ganze Natur Gottes mit, sondern etwas Von seinem Leben, das für uns ein neues Leben ausmacht. Wir nehmen also am göttlichen Leben teil, besitzen es aber nicht in seiner Fülle. 2

, Der HL. Bo(I.SILIUS, De Spiritu Sancto, IX, 23, P. G., XXl'\.II, 109- " EYMIEU, La loi de la vie, !? 148'149.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 87 Diese Gottähnlichkeit bereitet zweifellos unsere Seele auf eine sehr enge Vereinigung mit der anbetungswÜrdigen Dreifaltigkeit, die in ihr wohnt, vor.

B) Die Vereinigung- unserer SeeZe mz't Gott. 115. Aus dem, was wir über das Wohnen der Heiligen Dreifaltigkeit in unserer Seele (N. 92) gesagt haben, folgt, dass zwischen uns und dem göttlichen Gaste eine moralische, sehrenge und sehr heiligende Vereinigung besteht.

Gibt es jedoch nicht noch etwas mehr darin?

Etwas Physisches? I

116. a) Die von den Kirchenvätern an gewandten Vergleiche scheinen es anzudeuten.

I) Sehr viele von ihnen sagen, die Vereinigung Gottes mit der Seele sei derjenigen der Seele mit dem Leibe ähnlich. " Zwei Leben sind in uns ", sagt der hl. Augustin, "das Leben des Leibes und das der Seele. Das Leben des Leibes ist die Seele. Das Leben der Seele ist Gott. " Sicut vita corporis anima, sic vita am'ma! Deus." 2 Es handelt sich hier freilich nur um Analogien oder Ähnlichkeiten. Versuchen wir, die darin enthaltene Wahrheit zu erfassen. Die Vereinigung des Leibes mit der Seele ist wesentlich (substantiell). Beide bilden ein und dasselbe Wesen, eine und dieselbe Person. Das aber trifft bei der Vereinigung Gottes mit unserer Seele nicht zu. Wir behalten stets unser Wesen und unsere Persönlichkeit und bleiben somit wesentlich von der Gottheit verschieden. Aber so wie die Seele

J dem Leibe das Leben gibt, das in ihm pulsiert, so verleiht Gott der Seele, ohne deren Form zu sein, ihr ÜbernatÜrliches Leben. Es ist dem seinigen nicht gleich, aber wahrhaft und formell ähnlich.

, Nach theologischen Begriffen versteht man nnterpltysisclterVereinigung keine stoffliche, sondern wirkliche (unio realis).

2 Enarrat. in psal. 70, sermo 2, n. 3 P. L., 36, 893.

88

ZWEITES KAPITEL.

Und dieses Leben bewirkt tatsächlich eine Vereinigung zwischen unserer Seele und Gott. Sie setzt eine bestimmte (konkrete) Wirklichkeit voraus, die Gott uns mitteilt und die als Bindeglied zwischen ihm und uns dient. Sicherlich fügt diese neue Beziehung Gott nichts zu, aber sie vervollkommnet unsere Seele und macht sie gottähnlich. Der HI. Geist ist demnach nicht die causa formalis oder die formelle Ursache unserer Heiligung, sondern die causa efficiens et exemplaris oder die wirkende und vorbildliche Ursache.

117. 2) Dieselbe Wahrheit ergibt sich aus dem von einigen Schriftstellern! gemachten Vergleiche zwischen der hypostatischen Vereinz'gungund derjenigen unserer Seele mit Gott. Zweifellos ist der Unterchied zwischen den beiden wesentlich. Die hypostatische Vereinigung ist wesentlich und persiinlich, da die göttliche Natur und die menschliche Natur, obwohl vollkommen verschieden, in Jesus Christus ein und dieselbe Person bilden, während die Vereinigung der Seele mit Gott durch die. Gnade uns unsere eigenen Persönlichkeit lässt, wesentlich verschieden von der göttlichen Persönlichkeit, und uns mit Gott nur auf akzidentelle Weise verbindet. " Sie geschieht mittels der heiligmachenden Gnade und wird ein der Substanz der Seele hinzugefügtes Akzidenz. In der scholastischen Sprache wird die Vereinigung eines Akzidenzes und einer Substanz " akzidentelle" Vereinigung genannt. "2

Es ist deshalb nicht weniger wahr, dass die Vereinigung der Seele mit Gott tatsächlich eine Vereinigung von Wesenheit mit Wesenheit ist, 3

, BELLAMY, La vie surnaturelle, S. r84-19I.

2 KARDINAL MERCIER, La vie interieure, Ausg. 1919, S. 392.

3 Dieses ist, im Grunde genommen, der Gedanke des Kard. Mercier, wenn er hinzufügt (I. c.) " In gewissem Sinne ist die Vereinigung wesentlich (substantiell), denn einerseitsvollzieht sie sich Wesenheit mit Wesenheit, ohne Dazwischenkunft irgcndeines natürlichen Akzidenzes, andrerseits setzt sie die Seele in direkte Verbindnng mit dem göttlichen

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 89 dass der Mensch und Gott in ebenso enger BerÜhrung sind wie das Eisen und das Feuer, welches es einhÜllt und durchdringt, wie das Kristall und das Licht. Um alles kurz zusammenzufassen : Die hypostatische Vereinigung macht den Gottmenschen, die Vereinigung durch die Gnade macht vergöitlichte Menschen, und so wie die Akte Christi gottmenschlich oder theandrisch sind, so sind die des Gerechten gottähnlich, gemeinschaftlich von Gott und uns vollzogen und deshalb für das ewige Leben verdienstlich, das nichts anderes ist, als eine unmittelbare Vereinigung mit der Gottheit. Man kann also mit P. de Smedt I sagen, die hypostatische Vereinigung sei das Vorbild unserer Vereinigung mit Gott durch die Gnade und das vollkommenste Bild, das ein Geschöpf als solches in sich hervorbringen könne.

Ziehen wir mit demselben Verfasser die Schlussfolgerung: Die Vereinigung durch die Gnade ist nicht einzig und allein moralisch, sondern enthält ein physisches Element, das uns berechtigt, sie physzSch-momlisch zu nennen. Durch ein besonderes Band ist die göttliche Natur wahrhaft und in ihrem eignen Sein mit der Substanz der Seele vereinigt und zwar so, dass die Seele des Gerechten in sich die göttliche Natur besitzt, als gehöre sie zu ihr, und infolgedessen ein göttliches Merkmal, eine Vollkommenheit göttlicher Ordnung, eine göttliche Schönheit ihr eigen nennt, die unendlich erhaben ist über alles, was ein existierendes oder auch nur mögliches Geschöpf an natÜrlicher Vollkommenheit an sich haben kann. 2

Wesen. Sie passt dieses Wesen unmittelbar ihrer Fassungsmöglichkeit an wie ein Gut, dessen Genuss ihr möglich ist und über das sie verfügen kann. So erklären sich die Ausdrücke der Mystiker, die mit dem hl. J ohannes vom Kreuz von jenen göttlichen Berührungen sprechen, die zwischen der Wesenheit der Seele und der Wesenheit Gottes vor sicb gehen, und zwar in tiefinnerster. liebeerfüllter Erkenntnis. (Nacht. B. 11, Kap. 23.) P. Poulain hat diesbezüglich in seinem Buche" Les Graces d' Oraison" Kap. VI. (Zitate) eine grosse Anzahl von Texten der Kontemplativen zusammengestellt.

, Notre Vie surnaturelle, S. 51. - 2 Op. eil., S. 49.

90

ZWEITES KAPITEL.

118. b) Beachten wir, abgesehen von den Vergleichen, das, was die Lehre bezüglich dieser Frage anbelangt, so kommen wir zu demselben Schlusse. r) Im HimmeZ schauen die Auserwählten Gott VQn Angesicht zu Angesicht, ohne Vermittlung. Die göttliche Wesenheit selbst ist das eingeprägte Erkenntnisbild, die" species impressa." " In visione qua Deus per essentiam videbitur, ipsa divina essentia erit quasi forma intellectus quo intelliget." I So ist denn also zwischen ihnen und der Gottheit eine wahre, wirkliche Vereinigung, die man physisdt nennen kann, weil Gott nur unter der Bedingung gesehen und besessen werden kann, dass er durch seine Wesenheit ihrem Geiste gegenwärtig ist und weil er nicht geliebt werden kann, wenn er nicht wirklich als Gegenstand der Liebe mit ihrem \Villen vereinigt ist. " Amor est magis unitivus quam cognitio. " 2 Nun ist aber die Gnade nichts anderes, als ein Anfang, ein Keim der künftigen Seligkeit: " Gratia nihil est quam inchoatio glorice in nobis. " 3

So ist also die zwischen uns und Gott durch die Gnade bewirkte und begonnene Vereinigung, im Grund genommen, von derselben Art wie diejenige der Glorie, wirklich und in gewissem Sinne physisch wie diese. So folgert P. Froget in seinem schönen Buche "L'lfabitation du Saint-Esprit, " S. I59, indem er sich auf zahlreiche Texte aus den \.Verken des hl. Thomas stützt : "So ist demnach Gott wirklich, physisch und wesentlich in dem Christen, der im Stande der Gnade ist, gegenwärtig. Es ist dieses keine einfache materielle Gegenwart, sondern ein wahres Besitzen, verbunden mit einem Beginn des Genusses. "

2) Dieselbe Schlussfolgerung ergibt sich ferner aus der Analyse der Gnade seZbst. Nach der Lehre

, S. THOMAs, Sumo theol. Supp!., q. 92, a. lad 8. 2 S. THOMAs, Ia lIre, q. 28, a. I ad 8.

3 Sumo theol., IIa !Ire, q. 24, a. 3 ad 2.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 91 des Doktor Angelikus, die sich auf Stellen selbst aus der HI. Schrift stützt, - wir haben diese bereits angeführt - wird uns die habituelle Gnade gegeben, um uns nicht nur der göttlichen Gaben zu erfreuen, sondern auch der göttlichen Personen selbst. " Per domt1lZ gratz'(lf gratum jacientis perficitur C1'eatura rationalis ad hoc quod libere non soZU11l ipso dono creato utatur, sed ut zpsa divz'na persona jruatur. " I Um aber eine Sache zu geniessen, bemerkt ein Schüler des hl. Bonaventura, muss sie gegenwärtig sein. Folglich muss der HI. Geist in uns gegenwärtig sein, wenn wir uns seiner erfreuen sollen, ebenso wie die geschaffene Gabe, die uns mit ihm vereint. Da die Gegenwart der geschaffenen Gabe wz'rkNch und physisch ist, muss denn nicht auch die des HI. Geistes ebenso sein?

So berechtigen uns die Schlussfolgerungen aus dem Glauben, ebenso wie die Vergleiche der Kirchenväter, zu behaupten, die Vereinigung unserer Seele mit Gott durch die Gnade sei nicht nur moralisch, aber auch nicht wesentlich im eigentlichen Sinne, jedoch so wirklich, dass man sie physiscJz- 1IloraNsch nennen kann. Weil sie gleichzeitig verschleiert und dunkel ist und stujenwez'se fortschreitet, insofern wir ihre Wirkungen um so deutlicher wahrnehmen, je mehr wir uns mit dem Glauben befassen und die Gaben des HI. Geistes pflegen, so fühlen sich eifrige Seelen, die sich nach der Vereinigung mit Gott sehnen, heftig angetrieben, in der Übung der Tugenden und der Gnaden beständig Fortschritte zu machen.

2. DIE TUGENDEN UND GABEN ODER DIE FÄHIGKEITEN ÜBERNATÜRLICHER ORDNUNG.

Zunächst wollen wir an ihr Vorhandensein und an ihr Wesen erinnern, ehe wir sie im einzelnen besprechen.

I Sumo theol., I, q. 43, a. 3 ad I.

94

ZWEITES KAPITEL.

ferner aZlgemeine Lehre, die durch den Katechismus des KonziZs von Trient I bestätigt wurde, dass die sittlichen Tugenden der KZugheit, Gerechtz'gkez't, des Starkmutes und der Mässigkez't zur sei ben Zeit mitgeteilt werden. Vergessen wir auch nicht, dass diese Tugenden uns nicht die Leichtigkeit, sondern die nächste übernatürliche Fähz'gkez't verleihen, übernatÜrliche Akte zu vollziehen. Um diese Leichtigkeit· zu erreichen, muss man diese Akte wiederholen. Nur die erworbene Gewohnheit bringt sie mit sich.

Sehen wir einmal, wie diese Tugenden unsere Fähigkeiten übernatürlich gestalten.

a) Die einen sind theoZogzsch, weil sie Gott zum Materialobjekt und irgendeine göttliche Eigenschaft zum Formalobjekt haben. Der Glaube vereint uns mit Gott, der höchsten Wahrheit, und hilft uns, alles in seinem göttlichen Lichte zu sehen und zu bewerten. Die Hoffnung verbindet uns mit dem, der die Quelle unseres Glückes ist, stets bereit, uns mit seinen Wohltaten zu beglücken, um unsere Umgestaltung zu vollenden und uns durch seine mächtige Hilfe Akte grenzenlosen Vertrauens und kindlicher Hingabe zu ermöglichen. Die Liebe erhebt uns zu Gott, der die höchste GÜte selbst ist. Unter ihrem Einfluss finden wir an den unendlichen Vollkommenheiten Gottes mehr Gefallen, als wenn es die unsrigen wären, und wir wünschen, dass sie erkannt und verherrlicht werden. Wir gehen mit ihm eine heilige Freundschaft ein, eine liebliche Vertrautheit. Auf diese Weise werden wir ihm immer ähnlicher. Diese drei theologischen Tugenden vereinigen uns also direkt mit Gott.

122. b) Das Materialobjekt der sittlichm Tugenden ist etwas von Gott verschiedenes, sittlich Gutes. Ihr Motiv ist die Sittlichkeit selbst des Objektes. Sie begünstigen die Vereinigung mit Gott und

, Catecl,. Trident. S. II, De Baptismo, n. 42.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 95

machen sie beständig, indem sie so vortrefflich unsere Handlungen regeln, dass diese, ungeachtet der inneren und äusseren Hindernisse, unaufhörlich auf Gott gerichtet sind. So kommt es, dass die Klugheit uns die geeignetsten Mittel wählen lässt, um nach unserem übernatürlichen Ziel zu streben, die Gerechtigkeit bewirkt, dass wir dem Nächsten geben, was ihm gebührt. Sie heiligt unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen, und zwar um uns Gott zu nähern. Der Starkmut bewaffnet unsere Seele fÜr die Prüfung und den Kampf, verleiht uns Geduld und Ausdauer im Leiden, flösst uns eine heilige mit Kühnheit verbundene Begeisterung selbst für die härtesten Arbeiten ein, um die Ehre Gottes zu fördern. Weil jedoch die sündhafte Lust uns davon abbringen könnte, hält die Mässigl;:eit unsere Neigung zum Genuss in rechten Schranken und unterordnet sie dem Gebote der Pflicht.

Alle diese Tugenden bezwecken, das Hindernis zu beseitigen, ja, uns sogar positive Mittel in die Hand zu geben, um zu Gott zu gehen. I

C) Die Gaben des HI. Gez·stes.

123. Ohne sie ausführlich zu beschreiben, was später geschehen wird, möge es hier genügen, ihre Beziehungen zu den Tugenden darzulegen.

Die Gaben sind nicht vollkommener als die theologischen Tugenden, namentli~.h als die Liebe. Sie vervollkommnen jedoch die Ubung derselben. So vermögen wir durch die Gabe des Verstandes tiefer in die Glaubenswahrheiten einzudringen, um darin verborgene Schätze zu entdecken, ebenso wie geheimnisvolle Harmonien. Die Gabe der ];Vissenscftaft lehrt uns, die erschaffenen Dinge in ihren

, Im zweiten Abschnitte werden wir diese Tugenden bei der Abhandlung über den Erleuchtungsweg eingehender besprechen. Was die Gaben des HI. Geistes betrifft, so wird beim Einigungsweg davon die Rede sein.

96

ZWEITES KAPITEL.

Beziehungen zu Gott betrachten. Die Gabe der Furcht stärkt in uns die Hoffnung, da sie uns von den irdischen Gütern losschält, die uns zur Sünde verleiten könnten und vermehrt dadurch unsere Sehnsud1t nach himmlischen Gütern. Die Gabe der Weisheit lässt uns die göttlichen Dinge verkosten und steigert so unsere Gottesliebe. Durch die Gabe des Rates wird die Klughez't bedeutend vervollkommnet. Sie bewirkt, dass wir in einzelnen und schwierigen Fällen erkennen, was getan oder unterlassen werden muss. Die Gabe der Frömmzgkeit macht die Tugend der Gottesverehrung vollkommener. Letztere bezieht sich auf die Gerechtigkeit; wir erblicken in Gott einen Vater, den wir aus Liebe gern verherrlichen. Die Gabe des Stark11lutes vollendet die Tugend desselben Namens. Sie spornt uns an, heldenmütig im Ertragen wie im Handeln zu sein. Endlich erleichtert uns die Gabe der Furcht nicht nur die Hoffnung, sondern vervollkommnet auch die Mässzgkeit in un~. und zwar durch die Angst vor den Strafen und Ubeln, die aus der ungeordneten Liebe der sinnlichen Vergnügen hervorgehen.

Auf diese vVeise entfalten sich in unserer Seele harmonisch die Tugenden und Gaben unter dem Einflusse der aktuelZen Gnade, über die wir noch kurz ein Wort sagen wollen.

3. DIE WIRKENDE ODER AKTUELLE GNADE. '

Wie wir in der Ordnung der Natur die Hilfe Gottes brauchen, um vom Können zum Vollbringen überzugehen, so vermögen wir ohne den Beistand der aktuellen Gnade in der übernatürlichen Ordnung von unseren Fähigkeiten keinen Gebrauch zu machen.

'Vergl. S. THOMAs, Ja rrre, q. l(X)-II3. - Ao. TANQUEREY, Syn. tlieol. dogm., n. 22-123. Ausser den laI. Werken siehe W AFFELAERT, 11ltditatio1l.< thlologiques, t. I, S. 606-650. - A. OE BROGLIE, COllf. sur la vie surnaturelle, t. I, S. 249. - L. LAßAUCHE, L'Efomme, 3. Teil, Kap. 1. - VAN DER MEERSCH im frz. Lexikon f. Tlieol.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 97 124. Wir werden I. ihren Begriff, 2. ihre Wirkungsweise und 3. ihre Notwendigkeit darlegen.

A) Begriff. Die aktuelle (wirkende) Gnade ist eine ÜbernatÜrliche, vorübergehende Hilfe, die uns Gott zuteil werden lässt, um zur Vollzz'ehung übernatÜrlicher Akte unseren Verstand zu erleuchten und unserm Willen zu stärken.

a) Sie wirkt un11litteZbar auf unsere geistigen Fähigkeiten, Verstand und Willen, nicht mehr, nur um diese Fähigkeiten zur übernatürlichen Ordnung zu erheben, sondern, um sie in Tätigkeit zu setzen und sie übernatürliche Akte vollbringen zu lassen. Ein Beispiel: Vor der Rechtfertigung oder dem Eingiessen der heiligmachenden Gnade klärt sie uns über die Bosheit und die furchtbaren Folgen der Sünde auf, damit wir diese verabscheuen. Nach der Rechtfertigung zeigt sie uns im Lichte des Glaubens die unendliche Schönheit Gottes und seine erbarmende Güte, damit wir ihn aus ganzem Herzen lieben.

b) Aber neben diesen inneren Gnaden gibt es noch andere, die man äussere nennt. Sie berühren durch ihre direkte Wirkung auf unsere Sinne und unsere sensitiven FäfuJrkez'ten indirekt unsere geistigen Fähigkeiten, insofern sie oft von wirklichen inneren Hilfskräften begleitet sind. So z. B. sind äussere Gnaden die Lesung der Heiligen Schrift, das Anhören einer Predigt, eines religiösen Musikstückes, einer erbaulichen Unterhaltung. An und für sich stärken sie zwar nicht unseren Willen, rufen jedoch günstige EindrÜcke in uns hervor, die Verstand und Willen in Tätigkeit setzen und sie zum übernatürlichen Guten neigen. Übrigens wird Gott damit oft innere Regungen verbinden, welche unseren Verstand erleucbten, unseren Willen stärken und so zu unserer Bekehrung oder Besserung mächtig beitragen. Das können wir aus dem Buche der Apostelg-eschicitte schliessen, in welchem es heisst, der

No 683. --I,

98 ZWEITES KAPITEL.

HI. Geist habe das Herz eines Weibes, namens Lydia, geöffnet, damit sie aufmerksam der Predigt des hl. Paulus folgte. I Schliesslich passt sich Gott, welcher weiss, dass wir uns vom Sinnlichen zum Geistigen erheben, unserer Schwäche an und bedient sich sichtbarer Dinge, um uns zur Tugend anzueifern.

125. B) Ihre Wirkungsweise. a) Die aktuelle Gnade beeinflusst uns gleichzeitig auf moralische und physische \i\1eise. Auf moralische durch die Uberzeugu1Zg und die Reize, gleich einer Mutter, die, um ihr Kind gehen zu lehren, es leise ruft und durch das Versprechen einer Belohnung es zu sich lockt. Auf physische Weise 2 durch Hinzufügung neuer Kräfte zu unseren Fähigkeiten, die nämlich zu schwach sind, um von selbst tätig sein zu können, wie man eine Mutter ihr Kind unter die Arme fassen und ihm helfen sieht, nicht nur durch Zureden, sondern auch durch Bewegung, um einige Schritte vorwärts zu machen. Alle Schulen geben zu, dass die gratia operans physisch wirkt, indem sie unÜberlegte Bewegungen in unserer Seele hervorruft. Handelt es sich jedoch um die gratia coopera1Zs, so herrscht zwischen den verschiedenen theologischen Schulen Meinungsverschiedenheit, die aber vom praktischen Standpunkte aus unbedeutend ist. \i\1ir lassen uns in jene Streitigkeiten nicht ein, da \vir unsere Aszetik nicht auf bestrittene Fragen aufbauen wollen.

b) Von einem anderen Gesichtspunkte aus kommt die Gnade unserer freien Einwilligung zuvor oder begleitet die letztere bei der AusfÜhrung des Aktes.

'Apostelgeschichte, XVI, 14. " Cujus aperuit cor intendere his qua'! dicebantur a Paulo. "

2 So wenigstens lautet die thomistische Lehre, die P. Hugon, Tract. dogmatici, t. II, S. 297 kurz zusammenfasst : " Gratia actualis ... esl etiam realitas supernaturalis nobis intrinseca, non quidem per modum qualitalis, sed per modum motionis transeuntis. "

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 99 So z. B. kommt mir der Gedanke, einen Akt der Gottesliebe zu erwecken, ohne dass ich etwas getan habe, um ihn wachzurufen. Es ist dieses die zuvorkommende Gnade, gratia prceveniens, ein guter Gedanke, den mir Gott eingibt. Nehme ich ihn gut in mir auf und bemühe ich mich, diesen Akt der Liebe zu erwecken, so geschieht es unter dem Beistande der helfenden Gnade (gratia adjuvans). Dieser Unterscheidung ähnlich ist diejenige zwischen der gratia operans, durch die Gott in uns ohne uns wirkt, und der gratia cooperans, durch die Gott in uns und mit uns tätig ist, d. h. mit unserer

freien Mitwirkung. .

126. C) Ihre Notwendigkeit. I Der allgemeine.

Grundsatz lautet: Die aktuelle Gnade ist für jeden übernatürlichen Akt notwendig, da zwischen Wirkung und Ursache das richtige Verhältnis sein muss.

a) Jlandelt es sich um die Bekehrung, d. h. um den Ubergang von der TodsÜnde in den Stand der Gnade, so brauchen wir eine übernatürliche Gnade, um die darauf vorbereitenden Akte des Glaubens, der Hoffnung, der Reue und der Liebe zu erwecken. Ja, selbst für den Beginn des Glaubens, für den frommen Wunsch, zu glauben, der dabei der erste Schritt ist. - b) Durch die aktuelle Gnade bleiben wir während der Zeitdauer unseres Lebens und in der Todesstunde beharrlich im Guten. Dazu ist freilich notwendig, I) den Versuchungen zu widerstehen, von denen selbst gerechte Seelen nicht verschont bleiben und die oft so heftig und so hartnäckig sein können, dass sie ihnen ohne göttlichen Beistand keinen Widerstand leisten können. Deshalb auch ermahnt der Heiland, selbst nach dem hl. Abendmahle, die Apostel zu wachen und

'Verg1. unsere Sy". theol. dogm., t. III, n. 34-91. Auch dort forschen wir nach, in welchem Masse die Gnade für die natürlichen Akte notwendig sei.

]00

ZWEITES KAPITEL.

zu beten, d. h. sich nicht auf die eignen Kräfte zu stützen, sondern auf die Gnade, um der Versuchung nicht zu erliegen. I 2) Wir müssen aber ausserdem auch alle unsere Pflichten erfüllen. Die energische und andauernde Kraft, die diese Pflichterfüllung erfordert, ist ohne den Beistand der Gnade unmöglich. Der, welcher in uns das 'Werk der Vollkommenheit begonnen hat, kann es allein zum glücklichen Ende führen. 2 Der uns zum Heile berufen hat, vermag allein das Werk zu vollenden. 3

127. Das gilt besonders für die Beharrlichkeit bis ans Ende. Sie ist ein besonderes und grosses Geschenk. 4 Sterben im Stande der Gnade, trotz

. aller Versuchungen, die uns im letzten Augenblicke befallen, oder durch einen sanften oder plötzlichen Tod allen jenen Kämpfen entrinnen, ist nach dem Ausspruche der Konzilien die Gnade der Gnaden, um die man nicht genug bitten kann, die man, streng genommen, sich auch nicht verdienen kann, wohl aber durch Gebet und treue Mitarbeit mit der Gnade erlangt. " Supplicz'ter eJJzereri potest". 5 c) Will man nicht nur beharrlich sein, sondern täglich an Heiligkeit zunehmen, die freiwilligen, lässlichen SÜnden meiden und die Zahl der aus Schwäche begangenen Fehler vermindern, muss man da nicht auch noch auf göttliche Gnaden rechnen? Behaupten, man könne lange Zeit leben, ohne jeglichen Fehler zu begehen, der unseren Fortschritt im geistlichen Leben verspäte, he isst, der Erfahrung heiligmässiger Seelen widersprechen, die sich wegen ihrer Schwächen bittere Vorwürfe machen, heisst, dem hl. Johannes widersprechen, der uns erklärt, dass jene sich täuschen, die sich da einbilden, nicht zu sÜndigen. " Si dixerimus quoniam peccatzt11l non Izahemus, ipsi nos seducil7lus et veritas 1ZIJn est in

, llfattlz .. XXVI. 41. - 2 Plzilip., I, 6. - 3 I Petr., V, 10. 4 Trident., sess. VI, earl. 16, 22, 23.

5 Der HL. AUGLJSTlNUS, De dono persev. VI, 10, P. L., XLV, 999.

DAS WESEN DES CJIRISTLICHEN LEBENS. 101

no bis. "1 Das hiesse auch dem Konzil von Trient widersprechen, das diejenigen verurteilt, welche behaupten, der gerechtfertigte Mensch sei im stande, während seines ganzen Lebens, ohne besonderes Privileg von Gott, die lässlichen Sünden zu meiden. 2

128. Die aktuelle Gnade ist uns also selbst nach der Rechtfertigung notwendig. Deshalb besteht die Hl. Schrift so sehr auf der Notwendigkeit des Gebetes, durch welches wir sie von der göttlichen Barmherzigkeit erlangen, wie wir später ausführlich beweisen werden. "ViI' können sie auch durch unsere verdienstlichen Akte oder, mit anderen Worten, durch unsere freie Mitwirkung mit der Gnade erreichen. Denn je besser wir den aktuellen Gnaden, deren wir teilhaftig geworden, entsprechen, desto mehr fühlt sich Gott geneigt, uns neue zu schenken.

SCHLUSSFOLGERUNGEN.

129. I. Wir müssen daher das Gnadenleben überaus hochschätzen. Es ist ein neues Leben. ein Leben, das uns mit Gott vereint und Gott ähnlich macht, mit seinem ganzen zur Betätigung notwendigen Organismus. Es ist auch ein viel vollkommeneres Leben als das natürliche. Steht schon das geistige Leben weit über dem vegetativen und sensitiven, so überragt das christliche Leben unendlich mehr das einfache Vernunftsleben. Dieses gehört zum Menschen, sobald Gott sich entschlossen hat, ihn zu erschaffen, während das Gnadenleben alle Tätigkeiten und alle Verdienste der vollkommensten Geschöpfe übertrifft. In der Tat. Welches Geschöpf könnte jemals das Recht für sich in Anspruch nehmen, Adoptivkind Gottes, Tempel des Hl. Geistes zu werden und das Privileg verlangen, Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen, wie er sich

, I folz., I, 8. - 2 Sess. VI, can. 23.

102

ZWEITES KAPITEL.

selbst sieht? Höher als alle irdischen Güter müssen wir dieses Leben schätzen, es als den verborgenen Schatz betrachten, um dessen Besitz zu erlangen, wir nicht zögern dürfen, alles, was wir besitzen, zu verkaufen.

130. 2. Besitzt man diesen Schatz, so muss man eher alles opfern, als sich der Gefahr aussetzen ihn zu verlieren. So lautet auch die Schlussfolgerung, die der heilige Papst Leo zieht: " Agnosce, o christiane, dzgnitatem tua11Z, et divince conS01'S factus naturce, noli z'tz veterem vilitatem degenen' conversatz'one redi1'e." 1 Gerade der Christ soll sich selbst achten, allerdings nicht wegen seiner eignen Verdienste, sondern wegen jenes göttlichen Lebens, an dem er teilnimmt und weil er der Tempel des Hl. Geistes, ein heiliger Tempel ist, dessen Schönheit er nicht verunstalten darf. "Domu11Z tuam decet Sa11- ctitudo in longitudinem dieru11l. " 2

131. 3. Ja, noch mehr. Wir müssen begreiflicherweise diesen übernatürlichen Organismus, mit dem wir ausgestattet sind, gut ausnÜtzen und pflegen. Hat es der göttlichen Güte gefallen, uns in einen höheren Stand zu erheben, uns mit Tugenden und Gaben reichlich zu versorgen, die unsere natürlichen Fähigkeiten vervollkommnen, bietet sie uns ausserdem in jedem Augenblicke ihre Mitwirkung an, um diese Fähigkeiten in Tätigkeit treten zu lassen, so hiesse es, sehr undankbar sein, die Gaben zurückzuweisen und nur reinnatürlich gute Handlungen zu vollziehen und auf diese Weise nur unvollkommene Früchte im Weinberge unserer Seele hervorzubringen. Je freigebiger der Spender sich gezeigt hat, eine um so tätigere und fruchtbarere Mitarbeit erwartet er von uns. Das wird uns noch deutlicher vor Augen treten, wenn wir festgestellt

, Sermones, XXI, 3, P. L., LIV, 195. 2 Ps. XCII, 5.

haben werden, welchen Anteil Jesus am christlichett Leben nimmt.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 103

§ 11. Von dem Anteile Jesu am christlichen Leben. 1

132. Der Heiligen Dreifa.ltigkeit insgesamt verdanken wir die Teilnahme am göttlichen Leben, von der wir soeben sprachen. Sie aber tut es wegen der Verdienste und Genugtuungen J esu Christi, der in dieser Hinsicht eine so wesentliche Rolle in unserem übernatürlichen Leben spielt, dass dieses mit Recht christliches Leben genannt wird.

N ach der Lehre des hl. Paulus ist J esus Christus das I-Iaupt der wiedergeborenen Menschheit, wie Adam es gewesen ist von dem Menschengeschlechte in dessen Anfang, J esus aber auf viel vollkommenere Art. Durch seine Verdienste hat er unsere Rechte auf Gnade und Glorie wiedererworben. Durch sein Beispiel zeigt er uns, wie wir leben sollen, um uns zu heiligen und den Himmel zu verdienen. Vor allem jedoch ist er das Haupt eines mystischen Leibes, dessen Glieder wir sind. Somit ist er. die" causa meritoria, exemplaris und vitalis unserer Heiligung. "

I. J esus die causa meritoria ( verdiettstliche Ursache) unseres geistlichen Lebens.

133. Sagen wir, Jesus sei die causa meritoria unserer Heiligung, so gebrauchen wir dieses Wort im weitesten Sinne, insofern als es gleichzeitig Genugtuung und Verdienst umfasst. "Propter ninziam caritatem qua dilexit nos, sua sanctissima

, S. THOMAS, III, qq. 8, 21, 25, 26, 40, 46-49, 57 et alibi passim. P. BERULLE, (Euvres, Ausg. 1657, S. 522-53°, 665-669. 689. J.-J. OLlER, Pensees c/lOisies, herausgegeben von G. LETOURNEAU, S. 1-3I. - F. PRAT, S. J. La Tlzlolo1[ie de S. Paul, t. I, S. 342'378; 1. 1I, S. 165-325. - D. COLUMBA MilRMION, Le Clzrist, vie de I'dllle, 1920. -]. DePERRAY, Le Clzrist da", la vie clz,-ltienlle, 19~2. R. PLUS, Dans le Clzrist !esus, 1923.

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ZWEITES KAPITEL.

passione in ligno crucis nobis justiflcationem tllCruit et pro nobis satisfecit. "

Logisch geht die Genugtuung dem Verdienst voraus, d. h. zuerst muss die Gott zugefügte Beleidigung wiedergutgemacht werden, um Verzeihung unserer Sünden zu erlangen und Gnade zu verdienen. In Wirklichkeit aber waren alle freien Akte unseres Herrn und Heilandes gleichzeitig Genugtuung und Verdienst. Alle hatten einen unendlichen, sittlichen Wert, wie wir bereits (N. 78) gesagt haben. Nun bleibt uns nur noch übrig, einige Folgerungen daraus zu ziehen.

A) Es gibt keine unnachlassbare Sünde, vorausgesetzt, dass wir in Reue und Demut um Verzeihung bitten. Das geschieht in der hl. Beichte, in der uns durch den Stellvertreter Gottes die Kraft des Erlöserblutes zugewendet wird. Das vollzieht sich auch im hl. Messopfer, in welchem sich J esus durch die Hände des Priesters als Sühnopfer aufzuopfern fortfährt, in unserer Seele aufrichtige Reue hervorruft, uns Gott gnädig macht, uns eine immer vollständigere Verzeihung unserer Sünden sowie reichliche1"en Nachlass von noch abzubüssenden zeitlichen Sündenstrafen erlangt. Wir können hinzufügen, dass alle unsere christlichen Akte, in Vereinigung mit dem Leiden J esu, für uns und für die Seelen, für die wir sie aufopfern, einen genugtuenden Wert besitzen.

134. B) J esus hat auch alle Gnaden für uns erworben, die wir zur Erreichung unseres Übernatürlichen Zieles und zur Pflege des christlichen Lebens in uns brauchen. "Benedixit nos in 011tl1i benedictione spirituali in ccelestibus in Cltristo Jesu ", I der uns gesegnet hat mit jeglichem geistlichen Segen im Himmel in Christus. Gnaden der Bekehrung, Gnaden der Beharrlichkeit, Gnaden, um den

, Apheser, I, 3.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 105

Versuchungen widerstehen zu können, Gnaden geistlicher Erneuerung, Gnaden zweiter Bekehrung, Gnaden der Standhaftigkeit bis ans Ende, alle hat er uns verdient. Und er versichert, dass alles, worum wir, gestützt auf seine Verdienste, in seinem Namen bitten, uns gegeben werden wird.

Um uns noch mehr Vertrauen ein zuflössen, hat er die hl. Sakmmente eingesetzt, sichtbare Zeichen, die uns in allen wichtigen Lebensmomenten Gnade verleihen und uns das Recht auf aktuelle Gnaden geben, welche wir zur geeigneten Zeit erhalten.

135. C) Er tat noch mehr: Er verlieh uns die 1l1öglichkeit, Genugtuung zu leisten und Verdienste zu sammeln. Auf diese Weise wollte er uns als sekundäre Ursachen sich beigesellen und aus uns Mitarbeiter an unserer eignen Heiligung machen. Er hat es uns selbst zum Gebot und zur wesentlichen Bedingung für unser geistliches Leben gemacht. Hat er sein Kreuz getragen, so war es, damit wir ihm folgen und unser Kreuz tragen. " Si quis vult post me venire, abneget semetipsum, tollat crztcem sua1lZ, et sequatur me." I So verstanden es die Apostel. "Si tamen compatimuy, ut et conglorijice1lZur ", sagt der hl. Paulus.2 Der hl. Petrus erklärt, Christus habe für uns gelitten, damit wir seinen Spuren folgen. 3 Ja, noch mehr, edle Seelen, wie eier hl. Paulus, fühlen sich angetrieben, in Vereinigung mit J esus, freudig für seinen mystischen Leib, die Kirche, zu leiden. 4 So nehmen sie an der erlösenden Wirkung seines Leidens teil und wirken zum Heile ihrer Mitmenschen in zweiter Linie mit. Wie ist diese Lehre doch wahrer, edler, trostreicher, als die unglaubliche Behauptung gewisser Protestanten, die den traurigen Mut ha ben, zu versichern, da Christus genügend für uns gelitten habe, so hätten wir nur

, Mattlt., XVI, 24- - 2 Römer, VIII, 17. 3 I Petr., II, 2r. - 4 Kolosser, I, 24.

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ZWEITES KAPITEL.

die Früchte seiner Erlösung zu geniessen, ohne seinen Leidenskelch zu trinken! Sie behaupten dadurch der Fülle der Verdienste des Heilandes zu huldigen, während in Wirklichkeit die Möglichkeit, Verdienste zu erwerben, den hohen Wert der Erlösung noch besser hervortreten lässt. Gereicht es nicht in der Tat dem Heilande zu grösserer Ehre, die Fruchtbarkeit seiner Genugtuungen dadurch zu zeigen, dass er uns seinem Erlösungswerke beigesellt Ul;d uns befähigt, daran mitzuwirken, wenn auch sekundär, d. h. an zweiter Stelle, und zwar durch' Nachahmung seiner Beispiele?,

11. Jesus, die causa exemplaris (vorbildliche Ursache) unseres Lebens.

136. Jesus begnügte sich nicht damit, Verdienste für uns zu erwerben. Er wollte auch die vorbildliche Ursache, die causa exemplaris, unseres übernatürlichen Lebens sein.

Wir brauchten äusserst notwendig ein Vorbild dieser Art. Um nämlich ein Leben sorgsam zu pflegen, das eine Teilnahme am göttlichen Leben selbst ist, muss man sich dem göttlichen Leben möglischst nähern. Nun aber waren die Menschen, wie der h1. Augustinus bemerkt, die Menschen, die wir vor Augen hatten, zu unvollkommen, um uns als Vorbilder zu dienen, und Gott, der die Heiligkeit selbst ist, schien viel zu fern von uns zu stehen. Deshalb wurde der ewige Sohn Gottes, das lebendige Abbild des letzteren, Mensch und zeigte uns durch sein Beispiel, wie man sich hienieden der Vollkommenheit Gottes nähern kann. Als Sohn Gottes und Menschensohn führte er ein wirklich g:ottähnliches Leben und konnte von sich sagen : '" Qui videt me, videt et Patrem. " Der mich sieht, sieht ,aqch meinen Vater. I In seinen Handlungen offenbarte er göttliche Heiligkeit und so konnte er

'folz., XIV, 9.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 107 uns die Nachahmung der göttlichen Vollkommenheiten als möglich vorschlagen : " Estote igitur peifecti sicut et Pater vester ccelestis peifectus est. " I So stellt denn auch der Vater ihn uns als Vorbild vor Augen. Bei der Taufe und der Verklärung erscheint er den Jüngern und sagt im Hinweise auf seinen Sohn zu ihnen : " Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe." Hic est filius meus in quo l'tlihi bene complacui.2 Da er ihm wohlgefällt, will er, dass wir ihn nachahmen. Aus diesem Grunde sagte der Heiland in festem Vertrauen: "Ego sum via .... nemo venit ad Patrem nisi per me .... Discite a me, quia mitis sum et humilis corde ... Exemplum mim dedi vobis ut quemadmodum ego feci vobis, ita et vos faciatis. " 3 Was ist denn, im Grunde genommen, das Evangelium anderes als der Bericht über Begebenheiten und Handlungen aus dem Leben des Heilandes, insofern sie uns zur Nachahmung vor Augen geführt werden? "Ca::pit facere et docere. "4 Das ist so wahr, dass der

hl. Paulus alle christlichen Pflichten in die eine zusammenfasst : Unseren Heiland nachahmen. "Jmitatores mei estote sicut et ego Christi. " 5 Sehen wir einmal, welches die hervorragenden Eigenschaften dieses Vorbildes sind.

137. a) Jesus ist ein vollkol'tlmenes Vorbild. Selbst nach dem Geständnisse derjenigen, die nicht an seine Gottheit glauben, ist er das vollendetste Muster der Tugend, das je auf Erden erschienen ist. Er übte die Tugenden in heroischem Grade und in der vollkommensten, inneren Verfassung. Gottesverehrung, Nächstenliebe, Selbsterniedrigung, Abscheu vor der Sünde und vor allem, was zu ihr führen kann. 6 Und doch ist er nachahm bar und ein allge-

'Matth., V, 43. - 2 Mattlz., Irr, 17, XVII, 5. 310ft., XIV, 6. Mattlz., XI, 29. folz., XIII, 15.

• Aposlelg'esclzicltle, I, 1. - 51 Cor., IV, 16; cfr. XI, I; Eplzes., V, I, 6 OLlER. Catecll. clm!t. I Teil, L. J.

108

ZWEITES KAPITEL.

meines Vorbild, das alle anzieht und dessen Beispiele wirkungsvoll sind.

138. b) Er ist ein Vorbild für alle. Er wollte nämlich unser Elend und unsere Schwächen mit uns teilen, ja, sogar versucht werden. Ferner uns in allem gleich sein, ausgenommen in der Sünde. " Non enim habemus Pontijicem qui non possit compati injirmitatibus nostris. Tentatum autCllt per omnia pro similitudine absque peccato. " I Dreissig Jahre hindurch führte ,er das verborgenste, unauffälligste und einfachste Leben. Gehorchte Maria und J oseph, arbeitete wie ein Lehrling und ein Geselle " F abri jilz'us. " 2 So wurde er das vollendete Vorbild für die meistell Menschen, die bescheidene Pflichten zu erfüllen haben und dabei sich mitten in ihrer Arbeit heiligen sollen. Er trat aber auch an die Offentlichkeit, übte das Apostolat, entweder in einem engeren Kreise ausgesuchter Menschen oder vor Menschenmassen, denen er das Evangelium' predigte. Dabei erlitt er Ermüdung und Hunger. Mit einigen war er besonders befreundet, ebenso wie er Undankbarkeit von anderen zu ertragen hatte. Er feierte seine Triumphe, wie er auch Misserfolge hatte. Kurz, er durchlebte alles, was ein Mensch, der Freunde hat und öffentlich wirkt, erlebt. Sein lez'denvolles Leben gab uns das Beispiel heldenmütiger Geduld mitten in körperlichen und seelischen Qualen. Er ertrug diese nicht nur ohne Klage, sondern auch fÜr seine Henker betend. Man sage nicht, als Gott habe er weniger gelitten. Er war auch Mensch, mit aussergewöhnlicher Empfindungsfähigkeit ausgestattet. Die Undankbarkeit der Menschen hat er mehr gefühlt, als wir es im stande sind. Ebenso die Treulosigkeit seiner Freunde und den Verrat des Judas. Er fühlte Bangigkeit, Traurigkeit und Furcht so stark, dass er sogar bat, der

'Hebr., IV, 15. - 2 llIattlt., XllT, 55.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 109

Leidenskelch möge an ihm vorübergehen, wenn es möglich wäre. Am Kreuze stiess er jenen herz zerreissenden Schrei aus, der die Grösse seiner Bangigkeit deutlich zeigte: " Deus, Deus "mus, ut quid derelequisti me! " I Er war somit ein Vorbild für alle.

139. c) Jesus ist aber auch ein Vorbild, das alle anzieht. Alles an sich zu ziehen, sobald er von der Erde erhöht sein würde, hatte er vorausgesagt. Dabei machte er eine Anspielung auf seinen Tod am Kreuze." Et eg-o, si exaltatus fztero a terra,olllnia traham ad meipsu7JZ. " 2 Diese Prophezeiung hat sich erfüllt. Im Hinblick auf das, was J esus für uns getan und gelitten hat, wurden edle Herzen von heisser Liebe zu J esus, dem Gekreuzigten, und dadurch auch zu seinem Kreuze 3 erfasst. Sie tragen, trotz des Widerstrebens der Natur, tapfer ihre inneren und äusseren Kreuze, sei es, um ihrem göttlichen Meister ähnlicher zu werden, sei es, um ihm ihre Liebe zu beweisen, indem sie mit ihm und für ihn leiden, sei es endlich, um einen grösseren Anteil an den Früchten der Erlösung zu gewinnen und mit ihm an der Heiligung ihrer Mitmenschen zu arbeiten. Das ist aus dem Leben der Heiligen ersichtlich, die mit grösserer Hast den Kreuzen nachliefen, als die Weltleute ihren Vergnügungen.

140. Diese Anziehungskraft ist um so grösser, als er die Wirksamkeit seiner Gnade damit verbindet. Alle Handlungen J esu vor seinem Tode waren verdienstlich. Er hat uns die Gnade, ähnliche zu vollbringen, verdient. So oft wir seine Demut, seine Armut, seine Abtötung und seine anderen Tugenden betrachten, fühlen wir uns angetrieben, sie nachzuahmen. Diese Anregung gründet sich nicht nur auf die hinreissende Gewalt seines Beispieles, son-

, Ibid., XXVII, 40. - Markus, XV, 34. - 2 Jolz., XII, 32. - 3 So verstebt man auch das Gebet des hl. Apostels Andreas, der wegen J esus gekreuzigt wurde und mit Liebe das Kreuz begrüsste : .. 0 bona crux ...

llO

ZWEITES KAPITEL.

dern auch auf die Wirksamkeit der Gnaden, die er uns durch die Übung der Tugenden verdient hat und die er uns bei dieser Gelegenheit gewährt.

141. Gewisse Handlungen unseres Heilandes sind besonders wichtig. Mit diesen sollen wir uns vereinigen, da sie reichlichere Gnaden enthalten. Das sind seine Geheim'ttisse. Das Geheimnis der Menschwerdung z. B. hat uns die Gnade der Selbstverleugnung und der Vereinigung mit Gott verdient, da J esus uns in Vereinigung mit sich aufgeopfert hat, um uns alle seinem Vater zu weihen. Das Geheimnis der Kreuzigung hat uns die Gnade verdient, das Fleisch und dessen Begierden zu kreuzigen. Das Geheimnis des Todes hat uns verdient, der Sünde und deren Ursachen abzusterben. I Das aber werden wir besser verstehen, wenn wir gesehen haben werden, wie J esus das Haupt des mystischen Leibes ist, dessen Glieder wir sind.

IlI. jesus, das Haupt eines mystischen Leibes oder dz'e Quelle des Lebens. 2

142. Ihrem Wesen nach liegt diese Lehre schon im Worte des Heilandes : 3 " Ego sltm vitis, vos palmites. " Ich bin der Weinstock und ihr seid die Reben. Wir erhalten von ihm unser Leben wie die Rebzweige vom Weinstock, versichert er. Dieser Vergleich veranschaulicht deutlich die Lebensgemeinschaft, die zwischen unserem Heiland und uns besteht. So versteht man auch ohne Schwierigkeit den mystischen Leib, in welchem J esus als Haupt seinen Gliedern Leben mitteilt. Der hl. Paulus besteht ganz besonders auf dieser Lehre, die so reich an Ergebnissen ist.

, J.-J. OLlER, CaMelz. ehret. I. Teil, L. XX-XXV.

2 Sumo tlzeol., III, q. 8. - F. PRAT, op, eit., t. I, Ausg. 1920,

S, 358-369. - J. DUPERRAY, op. eit., Kap. I-lI. D. COLUMBA MAR-

MION, Le Clzrisl vie de l'ame, 10. Aufl. S. 123-146. R. PLUS, op. eil.,

S. I-57. - 3 folt., XV, 5.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 111

Zu einem Leibe gehören das Haupt, die Seele und die Glieder. Diese drei wichtigen Bestandteile werden wir nun nach der Lehre des Völkerapostels beschreiben.

143. I. Das Haupt hat einen dreifachen Zweck.

Den Zweck des Vorranges, denn es ist der wichtigste Teil. Den Zweck des einzgenden Mittelpunktes, weil es alle Glieder verbindet und leitet. Den Zweck des Lebensspenders, da von ihm Bewegung und Leben ausgeht. Nun aber übt J esus in der Kirche und auf die Seelen diesen dreifachen Einfluss aus. a) Ohne Zweifel besitzt er den Vorrang über alle Menschen. Als Gottmensch ist er der Erstgeborene jeglichen Geschöpfes, Gegenstand des göttlichen W ohlgefallens. Er ist ferner das vollendete Vorbild aller Tugenden, die Verdienstursache (causa meritoria) unserer Heiligung, er, der seiner Verdienste wegen über jedes Geschöpf erhoben wurde und vor welchem sich alle Kniee beugen müssen im Himmel, auf Erden und in der Hölle.

b) Er ist auch der Mittelpunkt der Einheit in der Kirche. Zwei Dinge sind wesentlich für einen vollkommenen Organismus: Die Verschiedenartigkeit der Organe und der Tätigkeiten derselben und ihre Einheit in einem gemeinschaftlichen Prinzip. Ohne dieses zweifache Element würde man nur eine unbewegliche Masse oder eine Ansammlung von lebenden Wesen ohne organische Verbindung haben. Nun ist es aber wieder J esus, der, nachdem er in der Kirche durch die Einsetzung einer Hierarchie die Mannigfaltigkeit der Organe eingerichtet hatte, der Mittelpunkt der Einheit bleibt. Er nämlich ist das, wenn auch unsichtbare, so doch wirkliche Haupt, welches den hierarchischen Führern Leitung und Bewegung mitteilt.

e) Er ist auch das Prinzip der Lebenszufuhr, welches alle Glieder durchdringt und belebt. Selbst

112

ZWEITES KAPITEL.

schon als Mensch empfing er die Fülle der Gnade, um sie uns zu übermitteln. " Vidimus eum plenum gratice et veritatz's ... de cujus plenitudine nos 011lnes accepimus et gratiam pro gratia. " I Ist er nicht wirklich die Ursache der Verdienste, die causa meritoria aller Gnaden, die wir erhalten und die uns durch den Hl. Geist verliehen werden? Darum zögert das Konzil von Trient nicht, diese Einwirkung, diese Lebensquelle J esu fÜr die Gerechten zu bejahen. " CUJlZ mim ille ipse Christus Jesus tanquam caput in membra ... in ipsos justijicatos jugiter vzrtutem influat. " 2

144.2. Jeder Leib bedarf nicht nur eines Hauptes, sondern auch einer Seele. Diese nun ist der Hl. Geist Cd. h. mit diesem Namen bezeichnet man die Hl. Dreifaltigkeit). Er belebt den mystischen Leib, dessen Haupt er ist. Er ist es, der wirklich die Liebe und die Gnade, beide durch Christi Verdienste, in den Seelen verbreitet. " Caritas Dei diffusa est in cordz'bus lZOStrz'S per Spirz'tU171 Sanctulll qui datus est nobis. "3 Mit Recht nennt man ihn deshalb den Geist, welcher Leben spendet. " Credo in Spiritulll Sanctum viviflcantem. " Aus demselben Grunde sagt der hl. Augustinus, der Hl. Geist sei dem Leibe der Kirche, was die Seele für den natürlichen Leib. " Quod est in corp01'e nostro anima, id est Spiritus Sanctus in c01pore Christi quod es! Ecclesia. " -I Übrigens hat sich Leo XIII. in seinem Rundschreiben über den Hl. Geist desselben Ausdruckes bedient. 5 Der Hl. Geist ist es auch, der die verschiedenen Gnadengaben austeilt. Den einen das Wort der Weisheit oder die Gnade deI' Rede, den anderen die Gnade, Wunder zu wiJ,l<en. Diesen die Gabe der Weissagung, jenen die Gabe der Sprachen u. s. w.

, Joh., I, 14, 16. - 2 Sess. VI, c. VIII.

3 Römer, V, 5. - 4 Sermo 187 de tempore.

5 ,. Atque.hoc affirmare sufficiat. quod cum Christus caput sit EccJesire Spiritus Sanctus sit ejus anima ... Encyc1. 9. Mai 1897.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 113

"Hcec autem olnnia operatur unus atque ideln Spiritus, dividens singulis prout vult. " I Dieses alles aber wirkt ein und derselbe Geist, einem jeden zuteilend, wie er will.

145. Diese zweifache Einwirkung Christi und des Hl. Geistes, weit entfernt davon, sich gegenseitig zu behindern, findet ihre Vervollständigung. Der Hl. Geist kommt durch Christus zu uns. Als J esus noch auf Erden lebte, war seine heilige Seele voll des Hl. Geistes. Durch seine Handlungen und besonders durch sein Leiden und seinen Tod hat er uns verdient, dass der Hl. Geist zu uns herniedersteigt, um uns das Leben und die Tugenden Christi mitzuteilen und uns ihm ähnlich zu machen. So erklärt sich alles : J esus als Mensch kann allein das Haupt eines aus Menschen zusammengesetzten, mystischen Leibes sein, da Haupt und Glieder von derselben Natur sein müssen. Jedoch kann er als Mensch nicht durch sich selbst die für das Leben seiner Glieder notwendigen Gnaden spenden. Hierin kommt ihm der Hl. Geist zu Hilfe. Weil er es jedoch durch die Verdienste des Erlösers tut, kann man sagen, von J esus aus erstrecke sich die Belebung auf seine Glieder.

146·3. Welches sind die Glz'eder jenes mystischen Leibes? Alle, die getauft sind. Durch die Taufe nämlich werden wir dem Heiland einverleibt, wie der hl. Paulus sagt: "Eteniln in uno Spiritu Olnnes nos in unu1lZ corpus baptizati SUlnus." 2 Darum fügt er auch hinzu, wir seien in Christo getauft und ziehen durch die hl. Taufe Christus wieder an,3 d. h. wir nehmen an der inneren Verfassung des Erlösers teil, was das Dekret fÜr die Anrzenier ausdrückt, dass wir nämlich durch die Taufe Glieder Christi und des Leibes der Kirche werden. "Per

'Kor., XII, 6. - 2 Kor., XII, 13.

3 Römer, VI, 3; Galat., IIJ, 25; Römer, XIII, 17.

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ZWEITES KAPITEL.

ipsum (baptismum) enim membra Christi ac de corpore efficimur Ecclesice. " I

Die Folge davon ist, dass alle, welche die hl.

Taufe empfangen haben, Glieder Christi sind, jedoch in verschiedenem Grade. Die Gerechten sind mit ihm durch die habituelle Gnade und alle Vorrechte, die daraus sich ergeben, verbunden. Die SÜnder durch den Glauben und die Hoffnung. Die Selzgen durch die beseligende Anschauung. - Was die Ungläubigen betrifft, so sind sie zwar keine wirklichen Glieder Christi, aber solange sie hienieden leben, sind sie berufen, es zu werden. Nur die Verdammten sind von diesem Privileg für immer ausgeschlossen.

147. 4. Folgen, die sich aus diesem Dogma ergeben: A) Auf dieser Einverleibung mit Christus beruht die Gemeinschaft der Heilzgen. Alle Gerechten auf Erden, die Seelen des Fegfeuers und die Heiligen im Himmel bilden den mystischen Leib Jesu. Alle haben Teil an seinem Leben, stehen unter seinem Einflusse und müssen sich gegenseitig lieben und sich helfen wie die Glieder ein und desselben Leibes, "denn," sagt der hl. Paulus, " wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, oder wenn ein Glied verherrlicht wird, freuen sich alle Glieder mit. " " Si quid patitur unum membrum, c017lpatiuntur omnia membra " sive gloriatur unum membrum, cong-audent omnia membra. " 2

148. B) Aus diesem Grunde sind alle Christen Geschwister." Denn es ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche. noch zwischen dem Freien und dem Sklaven mehr. Wir sind alle eins in Christo Jesu. " 3 - Wir stehen also fÜr einander ein. Was dem einen Nutzen bringt, ist auch ~\ir den anderen von Vorteil. Mögen Gaben und Amter noch so verschieden sein, der ganze Leib zieht aus dem

, DENZINGER-BANN., n. 696. - 2 I Cor., XII, 26. - 3 Römer, X, 12.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 115 Guten eines jeden Gliedes Nutzen, so wie jedes einzelne Glied Nutzen hat durch die Güter des ganzen Leibes. Diese Lehre macht auch begreiflich, warum der Heiland sagen konnte: " Was ihr dem Geringsten der Meinigen tuet, das habt ihr mir g:tan." J esus setzt sich als Haupt fÜr seine Glieder em.

149. C) Nach der Lehre des hl. Paulus geht hieraus hervor, dass die Christen die Ergänzung Christi sind. Gott hat ihn zum Oberhaupt der Kirche eingesetzt. Diese ist sein Leib und die Fülle dessen, der in allem durch alle erfüllt wird. "lpsum dedit caput supra omnem Ecclesiam, quce est corpus ipsius et plenitudo ~jus, qui omnia in omnz'bus adimjJletur. " I J esus, in sich selbst vollkommen, bedarf einer Ergänzung, um seinen mystische!} Leib zu bilden. Von diesem Gesichtspunkte aus genügt er sich nicht selbst, sondern braucht Glieder, um alle Lebensfunktionen auszuüben. Und Olier zieht diese Schlussfolgerung 2: " Stellen wir unsere Seelen dem Geiste J esu Christi zur freien Verfügung, damit er in uns wachse. Findet er Untergebene in der erforderlichen Verfassung, so breitet er sich aus, erstarkt, erfüllt ihre Herzen ganz und salbt sie mit geistlicher S"Jbung, von der er selbst duftet." - Auf diese \i\1eise können und müssen wir das Leiden des Erlösers vervollständigen. Wir sollen leiden, wie er gelitten hat, damit dieses sein Leiden, so vollständig es auch in sich selbst war, sich noch in seinen Gliedern fortwährend vervollständige. "Adimpleo ea quce desunt passionum Chrzsti in carne mea pro corpore ~jus quod est Ecclesia. " 3 Man sieht also, nichts ist fruchtbarer, als die Lehre vom mystischen Leibe Christi.

'Eplzes., I, 23.

2 Pensees, S. 15-16. 3 Kolosser, '1, 2+

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ZWEITES KAPITEL.

SCHLUSSFOLGERUNG: ANDACHT ZUM FLEISCHGEWORDENEN WORTE. I

150. Aus allem, was wir über den Anteil Jesu an unserem geistlichen Leben gesagt haben, geht hervor, dass wir zur Pflege dieses Lebens mit ihm in einer innigen, herzlichen und beständigen Vereinigung bleiben müssen. Mit anderen Worten, wir müssen die Andacht zum Fleischgezvordenen Worte pflegen. " Qui 1Ilanet in 17le et ego in eo, Me fert fructU1IZ multum." Der in mir bleibt und in welchem ich bleibe, wird reichliche Früchte hervorbringen. 2 Die Kirche prägt uns dieses tief ein, denn sie erinnert uns am Ende des Messkanons daran, dass wir alle geistlichen Güter durch ihn erhalten. Durch ihn werden wir geheiligt, erhalten wir das Leben und den Segen. Durch ihn, mit ihm und in ihm sollen wir Gott dem Allmächtigen Vater in der Einigkeit des Hl. Geistes Ehre und Ruhm erweisen. 3 Unsere Aufgabe im geistlichen Leben ist infolgedessen diese : Da wir alles durch Christus von Gott erhalten haben, müssen wir durch ihn Gott verherrlichen, durch ihn uns neue Gnaden erbitten und mit ihm und in ihm alle unsere Handlung-en verrichten.

151. I. J esus ist der einzige vollkolll1llme Verehrer seines Vaters, oder wie Olier sagt" le religieux de Dieu, " der einzige, der ihm unendliche Ehre erweisen kann. Es ist einleuchtend, dass wir, um unsere Pflichten der Hl. Dreifaltigkeit gegenüber zu erfüllen, nichts Besseres tun können, als uns eng ihm anzuschliessen, so oft wir unsere Pflichten der Gottesverehrung erfüllen wollen. Und dieses ist um so

, P. BERULLE (genannt "der Apostel des Fleischgewordenen '\Vortes ") Discours de I'Estat et des Grandeurs de /tsus.

z /01,., XV, 5.

3 " Per quem hrec omnia, Domine, sem per bona creas, sanctificas, benedicis et prrestas Ilobis. Per ipsum, et cum ipso et in ipso est ti bi Deo Pittri omnipotenti, in unitate Spiritus Sancti, omnis honor et gloria. "

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 117 leichter, als J esus als das Haupt eines mystischen Leibes, dessen Glieder wir sind, seinen Vater nicht nur in seinem Namen anbetet, sondern auch im Namen aller jener, die ihm einverleibt sind, und die Ehrenerweisungen, die er Gott bezeugt, uns, sozusagen, zur VerfÜgung stellt, indem er nämlich gestattet, dass wir sie als die unsrigen betrachten, um sie der Hl. Dreifaltigkeit darzubringen.

152. 2. Mit ihm und durch ihn vermögen wir erfolgreicher, neue Gnaden zu erbitten. J esus als Hohepriester bittet unaufhörlich fÜr uns: " Smlper vivens ad interpellandum pro nobis. " I Selbst, wenn wir das UnglÜck hatten, Gott zu beleidigen, nimmt er sich unserer Sache mit um so grösserer Beredsamkeit an, als er gleichzeitig sein für uns vergossenes Blut aufopfert: " Si quis peccaverit, advocatum lzabe11Zus apud Patron Jesum Christum justum, et ipse est propitiatio pro peecatis nostris." 2 Ja, noch mehr. Er verleiht unseren Bitten einen solchen Wert, dass wir, so oft wir in seinem Namen, d. h. gestützt auf seine Verdienste, bitten, sicher sind, erhört zu werden. "Amen, amen, dico vobis, si quid petieritis Patrem in nomine meo, dabit vobis. " 3 Der \iVert seiner Verdienste wird seinen Gliedern übertragen. Gott kann seinem Sohne nichts verweigern. "Exauditus est pro sua reverentia. " 4

153. 3. Endlich müssen wir alle unsere Handlungen in Vereinigung mit ihm vollziehen. Das aber geschieht, wie Olier 5 so treffend sagt, dadurch, dass wir J esus beständig vor Augen, im Herzen und in den Händen haben. Vor Augen d. h. wir betrachten ihn als das nachzuahmende Vorbild und fragen uns, wie der hl. Vil1zenz von Paul es zu tun pflegte : \iV as würde J esus tun, wäre er an meiner

'Hebr., VII, 25. -2Ifolz., I1, 1. 3 jolz, , XVI, 23. - 4 Hebr., V, 7.

51ntroduction a ta vie et aux vertus clzrlftiennes, Kap, IV, S. 47.

Ausg. 1906

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ZWEITES KAPITEL.

Stelle? - Im Herzen, d. h. wir bemÜhen uns, seine innere Verfassung, seine Reinheit der Absicht, seinen Eifer uns anzueignen, um in seinem Geiste zu handeln. - In den Händen, d. h. wir führen grossmütig, energisch und standhaft die guten Ideen aus, die er uns eingegeben.

Dann wird unser Leben umgestaltet werden, und wir werden vom Leben Christi leben. " Vivo; jm1'l non ego, vivit vero in me Christus. " Ich lebe, jedoch nicht ich, sondern Christus lebt in mir. 1

§ III. Der Anteil der allerseligsten Jungfrau, der Heiligen und der Engel am christlichen Leben.

154. Zweifellos, es gibt nur einen Gott und nur einen notwendigen Vermittler, J esus Christus : " Unus enim Deus, unus et mediator Dei et hominum h01tlO Christus Jesus." 2 Aber es gefiel der göttlichen Weisheit und GÜte, uns Beschützer, Vermittler und Vorbilder zu geben, die uns näher sind, oder wenigstens zu sein scheinen : Die Heiligen. Sie haben in sich selbst die göttlichen Vollkommenheiten und Tugenden Unseres Herrn hervorgebracht, sind Teile seines mystischen Leibes und sind um uns, ihre Mitbrüder, besorgt. Ehren wir sie, so ehren wir Gott in ihnen, denn sie sind ein Reflex seiner Vollkommenheiten. Rufen wir sie an, so dringen unsere Rufe zuletzt doch bis zu Gott, da wir die Heiligen bitten, unsere Helfer bei Gott zu sein. Ahmen wir sie nach, so ahmen wir J esus nach, denn sie selbst sind nur insofern Vorbilder, als sie die Tugenden des göttlichen Vorbildes geübt haben. Diese Andacht zu den Heiligen, weit entfernt davon, die Gottesverehrung und die Andacht zum Fleischgewordenen Worte nachteilig zu beeinflussen, bestärkt sogar letztere und vollendet sie. Da unter den

I Ga/at., 1I, 20. - 2 I Ti",., Ir, 5.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 119

Heiligen die Mutter Jesu einen besonderen Rang einnimmt, so werden wir erst über ihren Anteil an unserem christlichen Leben etwas Näheres sagen, ehe wir auf den der Heiligen und Engel zu sprechen kommen.

I. Der Anteil Mariens am christlichen Leben. I

155. 1. Das Fundament für diesen Anteil. Dieser Anteil hängt von ihrer innigen Verbindung mit Jesus ab, mit anderen Worten, vom Dogma der göttlichen Mutterschaft, welches als Schlussfolgerung ihre Würde und ihre Aufgabe als Mutter der Menschen betont.

A) Am Tage der Menschwerdung wird Maria die Mutter Jesu, Mutter eines Gottsohnes, Mutter Gottes. Aus dem Zwiegespräche des Erzengels und der Jungfrau ersehen wir, dass Maria die Mutter J esu ist, nicht nur insofern er eine Privatperson, sondern insofern er Retter und Erlöser ist. "Der Engel erwähnt nicht nur die persönlichen Vorzüge J esu, sondern es handelt sich um J esus, den Erretter, den langersehnten Messias, den ewigen König des wiedergeborenen Menschengeschlechtes, dessen Mutter Maria werden soll. Das ganze Erlösungswerk hängt von dem Fiat Mariens ab. Und die Jungfrau ist sich dessen völlig bewusst. Sie weiss, was Gott ihr vorlegt. Ohne Einschränkung und ohne Bedingung willigt sie ein. Ihr Fiat entspricht der ganzen Bedeutung der göttlichen Pläne und erstreckt sich auf das gesamte Erlösungswerk." 2 Sie nimmt in der

I Vgl. S. THOMAS, In Salut. An.f{e!. ex1'ositio. - SUAREZ, De mysteriis Cllristi, disp. I-XXIII. - BOSSUET, Sermons sur la Ste Vierf{e. TERRIEN, S. J., La Mire de Dieu et la Mere des Izommes, t. Ur. L. GARRIGUET, La Vierge Marie, 1'leine de grdce. - R. M. DE LA BROIsE et J.-B. BAINVEL, Marie, mere de grdce, 1921. - HUGON, O. P., lvIarie, mere degrdce. -S)'no1'. Tlleol. dogm., t. U, n. 1226-1263.

2 BAINVEL, 01'. cit, , S. 73, 75. - Man kann seiner These die Worte des Engels zu Grunde legen: " Ecce concipies in utero et paries filium et vocabis nomen ejus J esum, i. e. Salvatorem. Hic erit magnus et Filius

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ZWEITES KAPITEL.

Ordnung der Erlösung die Stelle ein, die Eva in der Ordnung unseres geistlichen Zusammenbruches einnahm, wie die Kirchenväter mit dem hl. Irenäus es behaupten.

Maria als Mutter Jesu wird die engsten Beziehungen mit den drei göttlichen Personen haben :

Des Vaters heissgeliebte Todtter wird sie sein. Seine Gehilfin beim vVerke der Menschwerdung. Die Mutter des Sohnes, mit dem Recht auf seine Ehrfurcht und Liebe, ja, sogar auf seinen Gehorsam hienieden. Durch die Teilnahme an seinen Geheimnissen wird sie seine wirkliche, obwohl sekundäre Mitarbeiterin am Heilswerke der Menschen und deren Heiligung werden. Des Heiligen Geistes lebendiger Tempel. Sein bevorzugtes Hez'ligtum und in gewissem Sinne seine Braut, insofern sie nämlich mit ihm und durch ihn sich bemÜhen wird, Gott Seelen zu schenken.

156. B) Am Tage der Menschwerdung wurde Maria auch die Mutter der ilfenschen. - Wie wir schon gesagt haben (N. I42), ist Jesus das Haupt des wiedergeborenen Menschengeschlechtes, das Haupt eines mystischen Leibes dessen Glieder wir sind. Maria erzeugt ihn ganz, folglich als Haupt der Menschheit und als Haupt des mystischen Leibes. Sie erzeugt also auch seine Glieder, alle die ihm einverleibt sind, alle Wiedergeborenen oder diejenigen, die berufen sind, es zu werden. Dem Fleische nach Mutter J esu, wird sie gleichzeitig dem Geiste nach Mutter seiner Glieder. Die Begebenheit auf dem Kalvarienberg wird diese Wahrheit nur noch bestätigen. In dem Augenblicke, in welchem unsere Erlösung durch den Tod des Erlösers vollendet werden soll, sagt dieser zu Maria, indem er auf J ohannes hinweist: " Siehe da, deillen Sohn. " J ohannes aber stellt die gegenwärtigen und zu-

Altissimi vocabitur, et dabit illi Dominus Deus sedem David patris ejus et regnabit in domo Jacob in aeternum ... (Luc. I, 31-32).

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 121 künftigen Jünger dar. Zu ihm hingewendet, sagt Jesus : "Siehe, deine Mutter!" Das aber hiess nach einer Überlieferung, die bis auf Origines zurückgeht, alle Wiedergeborene seien die geistlichen Kinder Mariens.

Auf diesem zweifachen 'jitel "Mutter Gottes" und "Mutter der Menschm" beruht der Anteil Mariens an unserem geistlichen Leben.

157. 2. Maria, die Ursache unserer Gnadenverdienste. Auf N. 133. haben wir gesehen, J esus ist im eigentlichen Sinne die Hauptursache aller Gnaden, die wir erhalten. Maria, seine Teilnehmerin am Werke unserer Heiligung, hat alle diese Gnaden sekundär d. h. an zweiter Stelle und nur de cong-ruo I d. h. durch ein Verdienst der Angemessenheit uns erworben. An zweiter Stelle, nämlich in A bhängigkeit von ihrem Sohne und weil dieser ihr die Möglichkeit verliehen hat, für uns Verdienste zu erwerben.

Sie hat sie zunächst am Tage der Menschwerdung erworben, im Augenblicke, als sie ihr Fiat sprach. Denn die Menschwerdung ist die begonnene Erlösung, und an der Menschwerdung mitwirken, heisst an der Erlösung mitwirken, an den Gnaden, die ihre Frucht sein werden. Folglich an unserem Seelenheil und an unserer Heiligung.

158. Maria, deren V\lille in allem mit dem Willen Gottes, wie auch mit dem ihres Sohnes übereinstimmt, nimmt während ihres ganzen Lebens an dem Erlösungswerke teil. Sie erzieht J esus. Nährt ihn und bereitet das Schlachtopfer des Kalvarienberges auf seine Darbringung vor. Sie teilt mit ihm Freuden und Leiden. Nimmt teil an seinen bescheidenen Arbeiten im Hause zu Nazareth und an seinen Tugenden. Rührendes Mitleid wird sie wäh-

, "de congruo" Dieser Ausdruck wurde von Pius X. in dem Rundschreiben v. J. I904 bestätigt. Er erklärt darin, dass Maria uns de cOllgruo alle Gnaden verdient habe, die uns J esus de condigno erwarb.

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ZWEITES KAPITEL.

rend seines bitteren Leidens und Sterbens mit ihm vereinigen. Am Fusse des Kreuzes wird sie ihr Fiat wiederholen. und der Hinschlachtung desjenigen beistimmen, den sie mehr als sich selbst liebte. Ihr liebendes Herz wird von einem Schwerte durchbohrt werden : " Tuam ipsius animam gladius pertransibit. " I Wieviele Verdienste hat sie nicht durch diese vollkommene Hingabe erworben! - Durch das lange Martyrium, das sie nach der Rückkehr ihres Sohnes in den Himmel erleidet, fährt sie fort, Verdienste zu erwerben. Der Gegenwart desjenigen, der ihr Glück ausmacht, beraubt, erwartet sie sehnliehst den Augenblick, in welchem sie sich wieder, und zwar für immer, mit ihrem Sohne vereint. In Liebe nimmt sie diese Prüfung an, um den \Villen Gottes zu erfüllen und, an dem Aufbau der jungen Kirche mitwirkend, hat sie unzählige Verdienste für uns gesammelt. Ihre Handlungen sind um so verdienstlieber, als sie in vollkommenster Reinheit der Absicht geschehen" Magnijicat am'ma lllea Domi- 7Zum. " Ebenso vollziehen sich dieselben im Bestreben, den Willen Gottes in seiner ganzen Integrität zu erfüllen, d. h. mit grösstem Eifer." Ecce ancilla Domini, fiat mihi seczmdum verbum tuum." Dazu kommt die denkbar innigste Vereinigung mit Jesus, der Quelle aller Verdienste.

Wohl waren diese Verdienste vor allem fÜr sie selbst. Sie vergrösserten ihren Reichtum an Gnade und Anrecht auf die Seligkeit. Aber durch die Teilnahme am Erlösungswerke erwarb sie auch de congruo für alle. Ist sie voll der Gnade für sich selbst, so lässt sie diese Gnade auf uns herabfliessen, nach dem Worte des hl. Bernhard 2 : "Plena sibi, nobis superplma et superejJluens. "

159·3· Maria, unser Vorbild. (Causa exemplaris).

Nach J esus ist Maria das schönste Vorbild fÜr uns.

, Lw. II, 35. 2 In Assum1't. sermo IJ, 2.

~

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 123

Der Hl. Geist, der durch die Verdienste ihres Sohnes ill ihr lebte, gestaltete sie zu einem lebenden Bilde der Tugenden dieses Sohnes. "Hcec est imago Christi pe1fectissima, quam ad vivum depinxit Spiritus Sanctus." Nie hat sie den geringsten Fehler begangen, nie der Gnade auch nur im Entferntesten Widerstand geleistet. Buchstäblich hat sie das ,,}"iatmihi secundum verbum tuum" erfüllt. Deshalb stellen die hl. Kirchenväter, besonders der hl. Ambrosius und der hl. Papst Liberius sie als das vollendetste Vorbild aller Tugenden dar. Liebevoll und zuvorkommend allen ihren Gefährtinnen gegenÜber, stets dienstbereit. In Wort und Tat sorgfältig alles meidend, was ihnen wehtun könnte. Allen in Liebe zugetan und von allen geliebt. I

Es genüge hier, die im Evangelium hervorgehobenen Tugenden kurz zu erwähnen: I) Ihren lebendzgen Glauben, durch den sie ohne Zögern die so wunderbaren Dinge glaubt, welche ihr der Engel im Auftrage Gottes mitteilt. Einen Glauben, zu welchem ihr die vom hl. Geiste erleuchtete Elisabeth Glück wünscht:" Glücklich bist du, weil du geglaubt hast. Beata quce credidisti, quoniam perjicientur ea quce dicta sunt tibi a Domino. "2 - 2) Ihre Jung-fräulichkeit. Sie zeigt sich in ihrer Antwort dem Engel gegenüber. "Quomodo flet istud, quonia11l virum non cog-nosco ?" Das offenbart deutlich ihren festen Willen, Jungfrau zu bleiben, selbst, wenn sie dabei auf die Würde einer Messiasmutter verzichten müsste. - 3) Ihre Demut, die bei der Verwirrung' hervorleuchtet, in die sie die Lobreden des Engels stürzen. Ferner durch die Erklärung, stets die Magd des Herrn zu sein und das im Augenblicke, in welchem sie zur Mutter Gottes erkoren ist. Auch das Magnijicat ist ein Beweis ihrer Demut. Man hat es die Extase ihrer Demut genannt. Weil sie

'J.-V. BAINVEL, Le Saint Cceur de Marie, S. 313-314. 2 Lukas, I, 45.

124

ZWEITES KAPITEL.

demütig war, liebte sie das verborgene Leben, während sie doch als Gottesmutter ein Anrecht auf alle Ehren hatte. - 4) Ihre geistige Sammlung-. Sorgfältig bewahrt sie im Herzen und stillschweigend überdenkt sie alles, was sich auf ihren göttli, ehen Sohn bezieht. " Conservabat omnza verba hcec c01iferens in corde suo. " - 5) Ihre Liebe zu Gott und dm lVl enschen. Sie hat ihr die Kraft verliehen, hochherzig alle Leiden eines langen Lebens anzunehmen und besonders die Opferung ihres Sohnes auf dem Kalvariel1berge, wie auch die lange Trennung von ihm seit seiner Himmelfahrt bis zu ihrem Tode.

160. Dieses so vollkommene Vorbild ist gleichzeitig voll Anziehungskraft. Maria ist ein einfaches Geschöpf wie wir. Sie ist für uns eine Schwester, eine Mutter, zu deren Nachahmung wir uns angetrieben fühlen, auch wenn es nur wäre, um ihr unsere Dankbarkeit, Verehrung und Liebe zu bezeugen. Sie ist übrigens ein leicht nachzuahmendes Vorbild, wenigstens insofern als sie sich im gewöhnlichen Leben, in der Erfüllung ihrer Pflichten als junges Mädchen und als Mutter geheiligt hat, ebenso wie in der einfachen Sorge um die Häuslichkeit, im verborgenen Leben, in Freuden und Leiden, in der Erhebung wie in der tiefsten Verdemütigung.

Somit sind wir keiner Verirrung preisgegeben, wenn wir die allerseligste Jungfrau nachahmen. Ja, es ist dieses das beste Mittel für die Nachfolge J esu und zur Erlangung seiner mächtigen Mittlerschaft.

161. 4. Maria, die allgemeine Gnadenvermittlerin. Schon lange hatte der hl. Bernhard diese Lehre in folgendem Satze zusammengefasst: " Sic est voluntas e,jus qui totum nos Izabere voluit per J1!fariam. " I Es ist von Wichtigkeit, den Sinn näher anzugeben. Sicher ist es, dass Maria auf indirekte

, Sernzo de aquaJductu, n. 7.

..,

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 125

Art (mediate) alle Gnaden geschenkt hat, weil sie uns den Urheber und die Causa meritoria der Gnade, J esus, gab. Aber noch mehr. Nach der immer allgemeiner werdenden Lehre I gibt es I?ez'ne einzzge Gnade, die den Menschen bewilligt wird, die nicht unmittelbar von Maria ausgeht, d. h. durch ihre Fürbitte erteilt wird. Es handelt sich also hier um eine unmittelbare, allgemeine Mittlerschaft, die derjenigen J esu untergeordnet ist.

162. Um diese Lehre genauer darzustellen, sagen wir mit P. de la Broise,2 dass die gegenwärtige Ordnung der göttlichen Beschlüsse will, dass jede übernatürliche, der Welt bewilligte Wohltat durch einen dreifachen Willen geschenkt werde: Zuerst ist es der Wille Gottes, der alle Gnaden verleiht. Ferner der Wille Unseres Herrn, des Vermittlers, der sie uns erwirbt und sie durch sich selbst in aller Gerechtigkeit erlangt. Endlich der Wille M ariens, der sekundären Vermittlerin, die sie de congruo verdient und erlangt hat durch J esus. Diese Mittlerschaft ist unmittelbar, da Maria bezüglich jeder von Gott bewilligten Gnade durch ihre bereits erlangten Verdienste oder durch ihre gegenwärtigen Fürbitten sich betätigt. Das aber erfordert nicht notwendigerweise, dass die Person, die diese Gnaden erhält, lVIaria darum gebeten haben muss. Diese kann vermitteln, ohne darum gebeten worden zu sein. Diese Mittlerschaft ist allgemein, d. h. sie erstreckt sich auf alle Gnaden, die den Menschen seit der Sünde Adams bewilligt worden sind und werden. Sie bleibt der Mittlerschaft J esu untergeordnet, weil Maria nur durch ihren Sohn Gnaden verdienen oder erlangen kann. So tritt durch die Mittlerschaft Mariens der Wert und die Fruchtbarkeit der Mittlerschaft J esu um so deutlicher hervor .

• Man findet in dem bereits erwähnten Werke des P. Terrien die Beweise dieser Behauptung und zwar in reichlicher Menge, t. UI.

2 Siehe Anmerkung auf der folgenden Seite.

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ZWEITES KAPITEL.

Diese Lehre wurde vor einigen Jahren durch das Offizium und die Messe zu Ehren Mariens als Vermittlerin der Gnaden bestätigt. Papst Benedikt XV. bewilligte sie den Kirchen Belgiens und allen denen der Christenheit, die darum ersuchen würden. r Diese Lehre ist also sicher und wir können sie in die Praxis umsetzen. Sie kann unser Vertrauen zu Maria nur stärken.

SCHLUSSFOLGERUNG

ANDACHT ZUR ALLERSELIGSTEN JUNGFRAU MARIA.

163. Da Maria einen so grossen Anteil an unserem geistlichen Leben nimmt, müssen wir eine grosse Andacht zu ihr haben. Das lateinische Wort für Andacht" devotio" will Hingabe sagen. Hingabe seiner selbst. Wir werden demnach Maria wirklich verehren, sobald wir uns vollständig ihr, und durch sie, Gott hingeben. \Vir werden dadurch nur Gott selbst nachahmen, der sich uns hingibt und uns durch ihre Vermittlung seinen Sohn schenkt. Wir wollen unseren Verstand durch tiefste Verehrung, unseren Willen durch unerschütterliches Vertrauen, unser Herz durch kindlichste Liebe, unser ganzes Wesen durch möglichst vollkommene Nachahmung ihrer Tugenden hingeben.

164. A) Tiefe Verehrung. Diese Verehrung bezieht sich auf die Würde als Gottesmutter und auf die sich daraus ergebenden Folgerungen. In der Tat. Wir werden niemals diejenige zu hoch schätzen, die das Fleischgewordene Wort als seine


, Mit folgenden '\Torten verkündete dieses Kardinal Mercier seinen Diözesanen (Brief v. 27. J an. 1921) : " Seit mehreren Jahren baten die Bischöfe Belgiens, die theologische Fakultät der Universität Löwen, alle belgisehen Ordensgenossenschaften den HL Vater inständig, die Allerseligste Jungfrau Maria, Mutter Jesu und unsere Mutter, als allgemeine Vermittlerin bei der Erlangung und Austeilung der göttlichen Gnaden anerkennen zu lassen. Seine Heiligkeit Papst Benedikt XV. bewilligt nun den Kirchen Belgiens und allen jenen der Christenheit, die darum ersuchen \verden, ein eigenes Offizium und eine eigene Messe für den 31. Mai zu Ehren Maria's, der Mittlerin ...

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DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 127

Mutter verehrt, die der Vater voll Liebe als seine zärtlich geliebte Tochter betrachtet und die der Hl. Geist als seinen bevorzugten Wohnort ansieht. Der Vater behandelt sie mit grösster Ehrfurcht, denn er sendet ihr einen Engel, der sie als Gnadenvolle begrüsst. Er bittet um ihre Zustimmung zum Werke der Menschwerdung, für das er sich mit ihr so innig vereinigen will. - Der Sohn verehrt und liebt sie als seine Mutter und gehorcht ihr. Der HI. Geist überschattet sie und hat an ihr sein Wohlgefallen. Verehren wir Maria, so tun wir demnach nichts anderes, als uns den drei göttlichen Personen beigesellen und ehren, was sie ehren.

Übertreibungen muss man freilich meiden und besonders alles, was sie Gott gleichstellen, aus ihr die Quelle der Gnade machen könnte. Solange wir sie aber als Geschöpf betrachten, das alles, was es an Schönheit, Heiligkeit und Macht besitzt, von Gott erhalten hat, brauchen wir keine Übertreibung zu befÜrchten. Gott ist es, den wir in ihr verehren. Diese Verehrung muss diejenige der Engel und Heiligen Übertreffen und zwar gerade deshalb, weil sie durch ihre Würde als Gottesmutter, durch ihr Amt als Mittlerin, durch ihre Heiligkeit alle anderen Geschöpfe weit überragt. So wird denn auch ihr Kult, obschon er ein gew(jhnlicher Heilzgenkult und kein latreutischer Kult ist, mit Recht ein cultus hyperdulice genannt d. i. ein besonders hoher Grad der Verehrung, der über demjenigen steht, der den Engeln und Heiligen zuteil wird.

165. B) Unerschütterliches Vertrauen: Es stützt sich auf die Macht und die Güte Mariens. a) Diese J}facht kommt nicht von ihr selbst, sondern von ihrer Vollmacht als Fürbitterin, da Gott derjenigen, die er selbst ehrt und mehr als alle Geschöpfe liebt, nichts Gerechtes verweigern will. Nichts ist gerechter : Mafia schenkte Jesu die Menschheit, die es ihm ermöglichte, Verdienste zu erwerben.

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ZWEITES KAPITEL.

Sie hat durch ihre Handlungen und ihre Prüfungen am Erlösungswerke mitgewirkt. So geziemt es sich, dass ihrein Teil an der Verteilung der Früchte der Erlösung zufalle. Er wird ihr demnach nichts Gerechtes verweigern und so wird man sagen können, durch ihre Bitten sei sie allmächtig, omnipctentia supplex. b) Was nun ihre Güte anbetrifft, so ist sie die einer Mutter; die Liebe, die sie für ihren Sohn hat, überträgt sie auf uns, seine Glieder. Sie liebt uns wie eine Mutter, denn sie hat uns in Schmerzen und Ängsten auf dem Kalvarienberge geboren. Sie liebt uns um so zärtlicher, je mehr wir ihr gekostet haben.

Unser Vertrauen zu ihr muss darum unerschütterlich und allgemein sein.

I) UnerschÜtterlich, trotz unserer Armseligkeiten und 'unserer Fehler. Sie ist eine Mutter der Barmherzigkeit, mater misericordia:, die sich nicht mit der Gerechtigkeit zu befassen hat, sondern auserwählt wurde, um vor allem Mitleid zu haben, Güte und Nachsicht zu üben. Da sie weiss, wie sehr wir den Angriffen der bösen Lust, der \Velt und des Teufels ausgesetzt sind, hat sie Mitleid mit uns, die wir selbst dann nicht aufhören, ihre Kinder zu sein, wenn wir in die Sünde gefallen sind. Sobald wir deshalb den geringsten guten 'Willen offenbaren, den Wunsch, zu Gott zurückzukehren, nimmt sie uns gütig auf. Ja, oft kommt sie diesen guten Anregungen zuvor und erlangt für uns die Gnaden, die diese Anregungen in unserer Seele wachrufen. Die Kirche hat dieses alles so gut verstanden, dass sie für gewisse Diözesen ein Fest angeordnet hat unter einem Titel, der anfangs etwas befremdet, aber, im Grunde genommen, vollständig gerechtfertigt ist, nämlich unter dem Titel des Unbefleckten Herzens Mariä, der Zuflucht der SÜnder. Gerade, weil sie unbefleckt ist und nie die geringste Sünde begangen hat, ist sie um so mitleidsvoller mit ihren armen

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DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 129

Kindern, die nicht wie sie den Vorzug haben, frei von böser Begierlichkeit zu sein.

2) Allgemein muss unser Vertrauen sein, d. h. es muss sich auf alle Gnaden erstrecken, die wir notwendig brauchen : Gnaden der Bekehrung, des geistlichen Fortschrittes, der Beharrlichkeit bis ans Ende, Gnaden des Schutzes inmitten von Gefahren, Unruhen, von sehr gros sen Schwierigkeiten, die sich einstellen können. Gerade dieses Vertrauen empfiehlt der hl. Bernhard so dringend: I " Erheben sich die Stürme der Versuchungen befindest du dich inmitten der Klippen der Trübsale, blicke auf zum Meeresstern, rufe Maria zu Hilfe! Wirst du auf den Wogen des Hochmutes, Ehrgeizes, der Verleumdung, des Neides hin und her geworfen, blicke auf den Stern, rufe Maria an. Schleudern der Zorn, der Geiz, die Fleischeslust die Barke deiner Seele hin und her, blicke auf Maria! Bist du über die Schwere deiner Sünden bestürzt, über den elenden Zustand deiner Seele beschämt, von Schrecken erfasst bei dem Gedanken an das Gericht, beginnst du immer tiefer in den Abgrund der Trostlosigkeit und der Verzweiflung zu sinken, denke an Maria! Mitten in Gefahren, Nöten und Unsicherheiten denke an Maria, rufe Maria an. Ihre Anrufung, der Gedanke an sie möge nie von deinen Lippen und aus deinem Herzen weichen. Um so sicherer durch ihre Fürbitte Hilfe zu erlangen, versäume nicht, ihre guten Beispiele nachzuahmen. Folgst du ihr nach, so wirst du dich nicht verirren, rufst du sie an, so kannst du nicht verzweifeln, denkst du an sie, so bleibst du dem falschen Wege fern. Solange sie dich an der Hand hält, kannst du nicht fallen. Unter ihrem Schutze hast du nichts zu fürchten. Führt sie dich, so fühlst du keine Ermüdung. Durch ihre Gunst gelangt man sicher an das Ziel. " - Da wir fortwährend der Gnade bedürfen,

, HOlllil. 11, de Laudibus Virg. Matris, I7.

No 683. - 5

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ZWEITES KAp'ITEL.

um unsere Feinde zu besiegen, so müssen wir uns oft an diejenige wenden, die mit Recht " Unsere Liebe Frau von der immerwährenden Hilfe" genannt wird.

166. C) Mit dem Vertrauen werden wir die Liebe verbinden, die kindliche Liebe voll Einfalt, Reinheit und Freigebigkeit. Maria ist sicherlich die liebenswürdigste aller Mütter. Da Gott sie zur Mutter seines Sohnes auserkoren hatte, gab er ihr alle V orzüge, die einen Menschen liebenswürdig machen:

Zartgefühl, Güte, mÜtterliche Hingabe. Sie liebt wie keine andere, denn ihr Herz wurde lediglich geschaffen, um einen Gottessohn zu lieben, und zwar in möglichst vollkommener vVeise. Diese Liebe, die sie fÜr ihren Sohn empfand, überträgt sie auf uns, die wir die lebendigen Glieder ihres göttlichen Sohnes sind, seine Erweiterung und Vollendung. Deutlich offenbart sich diese Liebe im Geheimnisse der Heimsuchung. Sie beeilte sich, J esus zu ihrer Base Elisabeth zu tragen, ] esus, den sie in ihrem Schosse empfangen hatte und der durch seine Gegenwart das ganze Haus heiligte. Auf der Hochzeit von Canaa, wo sie auf alles achtete und sich flehentlich an ihren Sohn wandte, um dem jungen Ehepaar eine peinliche Verlegenheit zu ersparen. Im Abendmahlsaale, wo sie von ihrem Amt als Vermittlerin Gebrauch machte, um für die Apostel einen grösseren Reichtum an Gaben des HI. Geistes zu erlangen.

167. Ist sie die liebenswürdigste und zärtlichste aller MÜtter, so muss sie auch am meisten geliebt werden. Gerade darin besteht eins ihrer herrlichsten Vorrechte. Überall, wo man J esus kennt und liebt, liebt man auch sie. Man trennt nicht die Mutter vom Sohne. V/ohl ist man sich des Unterschiedes zwischen beiden bewusst, aber man schenkt beiden dieselbe Liebe, freilich in verschiedenem Grade. Dem Sohne die Liebe, die Gott gebührt, und Maria

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DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 131

die Liebe, auf die eine Gottesmutter Anspruch. erheben kann. Eine zärtliche, freigebige und opferwillige Liebe, die der Gottesliebe untergeordnet ist. Eine uneigennützige Liebe, die sich über die Ehren, Tugenden und Vorrechte Mariens freut, sie oft betrachtet, bewundert und derentwegen sie Maria beglückwÜnscht. Aber auch eine wohlwollende Liebe, die aufrichtig wünscht, Marias Namen möge noch vielmehr bekannt und geliebt werden. Eine Liebe, welche zu Gott fleht, Marias Einfluss auf die Seelen möge sich immer mehr ausdehnen. Diesem Gebete fügt die Liebe Wort und Tat hinzu. Kindlich soll unsere Liebe zu Maria sein, d. h. voll Sorglosigkeit, Einfalt, Zärtlichkeit und Hingabe, die sich bis zu jener ehrfurchtsvollen Vertraulichkeit steigert, welche eine Mutter ihrem Kinde gestattet. Vor allem aber gleichförmig. Eine Liebe, die darauf ausgeht, in allen Dingen den eignen Willen demjenigen Mariens und dadurch dem göttlichen Willen gleichförmig zu machen, weil die Willenseinheit das sicherste Zeichen der Freundschaft ist. Dieses nun fÜhrt uns zur Nachahmung der Allerseligsten Jungfrau.

168. D) Die Nachahmung ist in der Tat die beste Verehrung, die wir ihr bezeugen können. Das nämlich heisst, nicht nur durch vVorte, sondern auch durch Taten feierlich bekennen, sie sei ein vollkommenes Vorbild, das wir nachzuahmen nur zu glücklich sind. V/ir haben bereits veranschaulicht (N. 159), wie Maria als lebendes Abbild ihres Sohnes uns das Beispiel aller Tugenden gibt. Sich ihr nähern, heisst, sich ] esus nähern. Darum können wir auch nichts Besseres tun, als ihre Tugenden zu erforschen, sie oft zu betrachten und uns zu bemÜhen, dieselben zu üben.

Um dabei sicheren Erfolg zu erzielen, gibt es kein praktischeres Mittel, als alle und jede einzelne unserer Handlungen durch Maria, mit Maria und

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ZWEITES KAPITEL.

in Maria zu verrichten. Per ipsam et cum ipsa et in ipsa. I Durch Maria, indem wir durch sie die Gnaden erbitten, die wir brauchen, um sie nachzuahmen. Der Weg führt uns durch sie zu Jesus. AdJesum per Mariam.

Mit M aria, das will heissen, sie als Vorbild und als Mitarbeiterin betrachten und uns darum oft fragen: " Was würde Maria tun, wäre sie an meiner Stelle?" Das will auch heissen, sie demütig um Hilfe anrufen, damit unsere Handlungen ihren Wünschen entsprechen.

In M aria, d. h. stets unserer Abhängigkeit von dieser guten Mutter uns bewusst sein, in ihrem Geiste und nach ihren Absichten stets handeln, um, wie sie, Gott zu verherrlichen. "Magnijicat anima mea Dominum. "

169. In diesem Geiste werden wir die Gebete zu Ehren Maria's verrichten, das "Gegrüsst seist du, M aria," und den " Engel des Herrn," die sie an die Verkündigung und an ihren Titel als Gottesmutter erinnern. Das" Unter deinen Schutz und Schirm ", welches das Vertrauen ausdrückt, das wir in sie setzen, in sie, die uns mitten in Gefahren beschützt. Das schöne Gebet" 0 Domina mea ", ein Akt vollständiger Hingabe in ihre Hände. Man vertraut seine Person, seine Handlungen und seine Verdienste ihr an. Besonders aber den heiligen Rosenkranz wollen wir in diesem Geiste beten. Er macht uns mit den freudenreichen, schmerzhaften und glorreichen Geheimnissen vertraut und ermöglicht es uns so, in Vereinigung mit J esus und Maria, unsere Freuden, unsere Leiden und unsere Siege zu heiligen. Das kleine Offizium zu Ehren der Allerseligsten Jungfrau ist für diejenigen, die es beten können, ein Ersatz des eigentlichen Brevier-

'Das pflegte Olier zu tun. Der selige Grignion de Montfort gab dieser Ubung in seinem" Seeret de Marie" u. im Traiti de la vraie divotion a la Sainte Vien;e eine bestimmte Form.

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DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 133

gebetes und erinnert sie zu den verschiedenen Zeiten des Tages an die Würden, an die Heiligkeit und die Heiligungsaufgabe dieser guten Mutter.

AKT GÄNZLICHER HINGABE AN MARIA. I

170. Wesen und Bedeutung dieses Aktes. Es handelt sich um einen Akt von Frömmigkeit, der alle anderen in sich schliesst. Nach der Auffassung des SeI. Grignion de Montfort besteht er in der gänzlichen Hingabe an J esus durch Maria und hat zwei wesentliche Bestandteile. Einen Weiheakt, den man von Zeit zu Zeit erneuert, und einen g'ewoltnheitsmässigen Zustand, in welchem wir unter der Abhängigkeit von Maria leben und handeln. Durch den Weiheakt, sagt der Sel. Grignion de Montfort, geben wir uns Maria als Sklaven gänzlich J;Ün und durch sie dem Heiland. Man nehme kein Argernis am Worte" Sklaven", da hier jegliche schlechte Bedeutung, namentlich aber der Begriff des Zwanges ausgeschlossen bleibt. Dieser Weiheakt, weit entfernt davon, einen Zwang vorauszusetzen, ist vielmehr der Ausdruck reinster Liebe. Man beachte also hier nur das positive Element, so wie es der Selige ausdrücklich hervorhebt : Ein gewöhnlicher Diener erhält seinen Lohn, kann jederzeit seinen Herrn verlassen. Er gibt ihm seine Arbeit, nicht aber seine 'Person, seine persönlichen Rechte, seine Güter. Ein Sklave willigt ein, unentgeltlich zu arbeiten, hat Vertrauen zu seinem Herrn, der ihm Unterhalt und Obdach gewährt. Er schenkt sich ihm mit all' seinem Hab und Gut fÜr immer, Überlässt ihm seine Person und seine Rechte, um in vollständiger Abhängigkeit von ihm zu leben.

171. Übertragen wir dieses auf geistliche Dinge, so übergibt der vollkommene Diener Mariens dieser und durch sie dem Heilande:

, GRIGNION DE MONTFORT, op. eil.; A. LHOUMEAU, La Vie spirituelle a l'tcole du B. Crignion de Montjort, 1920, 5S. 240-247.

134

ZWEITES KAPITEL.

a) seinen Leib mit allen seinen Sinnen. Er behält nur den Gebrauch desselben und verpflichtet sich, nur nach dem Willen der Allerseligsten Jungfrau oder ihres Sohnes sich dessen zu bedienen. Er nimmt im voraus alle Fügungen der Göttlichen Vorsehung in bezug auf Gesundheit, Krankheit, Leben und Tod an.

b) alle seine Güter. Er gebraucht sie nur un'ter ihrer Abhängigkeit zu ihrer Ehre und zur Ehre Gottes.

c) seine Seele mit allen ihren Fältigkeiten, die er unter der FÜhrung Maria's dem Dienste Gottes und der Seelen weiht. Ausserdem verzichtet er auf alles, was sein Seelenheil und seine Heiligung in Gefahr bringen könnte.

d) alle seine inneren und geistlichen Güter, seine Verdienste, seine geleisteten Genugtuungen und den Verdienstwert seiner guten Werke, soweit diese Güter veräusserlich sind. \"'ir wollen diesen letzten Punkt erklären :

I) Unsere Verdienste im eigentlichen Sinne (de condigno), durch die wir uns selbst eine Vermehrung der Gnade und die ewige Seligkeit erwerben, sind u1Zveräusserlich. Geben wir sie Maria, so geschieht es, damit sie dieselben aufbewahre und vermehre, nicht aber, um sie anderen zuzuwenden. Bezüglich der Verdienste de congruo jedoch, die für andere aufgeopfert werden können, überlassen wir Maria freie Verfügung.

2) Der Sültnwert unserer Handlungen, Ablässe inbegriffen, ist veräusserlich. Die Zuwendung desselben bleibt JIIlaria überlassen I.

3) Unsere Gebete und guten Werke, insofern sie einen Sühnwert enthalten, können ihr ebenfalls übergeben werden. Das geschieht in der Tat durch den Weiheakt.

, S. THoMAs, Supplement, q. 13, a. 2.

....

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 135

172. Hat man diesen Weiheakt einmal vollzogen, so kann man nicht mehr ohne Erlaubnis der Allerseligsten Jungfrau über diese Güter verfügen. Aber wir können und mÜssen manchmal sie bitten, nach ihrem Belieben zugunsten dieser oder jener Person, gegen die wir besondere Pflichten haben, darüber zu verfügen. Am besten geschieht es dadurch, dass wir gleichzeitig nicht nur unsere eigene Person und unsere Güter, sondern alle Personen, die uns teuer sind, aufopfern: " Tuus tofus sum, omnia mea tua sunt, et 011l1ZeS mei tui sunt". So wird Maria aus unseren Gütern, besonders aber aus ihren und ihres Sohnes Schätzen schöpfen, um jenen Personen zu Hilfe zu kommen. Sie werden dabei nichts einbüssen.

173. Vortrefflichkeit dieses Aktes. Es ist ein Akt heiliger Hingabe, schon an und für sich erhaben, enthält er jedoch noch ausserdem Akte der schönsten Tugenden:

I) Einen Akt tiefer Gottesverehrung und Verehrung Jesu und Maria's. Durch ihn erkennen wir die Oberherrschaft Gottes und unser eignes Nichts an, ebenso geben wir laut und feierlich die Rechte zu, die Gott der Allerseligsten Jungfrau über uns verliehen hat.

2) Einen Akt der Demut, durch den wir unser Nichts und unsere Ohnmacht anerkennen und aus diesem Grunde uns von allem, was Gott uns gegeben hat, entledigen, um es ihm durch die Hände Mariens zurÜckzugeben, da wir alles nach ihm und durch ihn von ihr erhielten.

3) Einen Akt der vertrauensvollert Liebe, denn Liebe ist Hingabe seiner selbst. Um sich jedoch hinzugeben, muss man ein unerschütterliches Vertrauen und lebendigen Glauben haben.

Man kann also sagen, dieser Weiheakt, gut verrichtet, öfter im Herzen erneuert und in die Praxis umgesetzt, Überragt an Vortrefflichkeit den heroischen Akt, durch den man nur auf den SÜhn-

136

ZWEITES KAPITEL.

wert seiner \Nerke und die gewonnenen Ablässe verzichtet.

174. Die Früchte dieser Andacht. Sie ergeben sich aus dem Wesen derselben. r) Durch sie verherrlichen wir Gott und Maria auf die vollkommenste Weise, da wir ihm ohne Vorbehalt und unwiderruflich alles geben, was wir sind und haben, und zwar auf eine Art, die ihm am wohlgefälligsten ist. Wir beobachten dabei die durch seine Weisheit festgelegte Ordnung. Wir kehren nämlich auf demselben Wege zu ihm zurück, den er einschlug, um zu uns zu kommen.

175. 2) Wir stellen durch diesen Akt auch unsere persönliche Heiligung sicher. Sieht Maria, dass wir ihr unsere Person und unsere GÜter überlassen, so fühlt sie sich lebhaft angetrieben, uns, die wir, gleichsam, ihr Eigentum geworden sind, zu heiligen. Somit wird sie uns sehr viele Gnaden erlangen, um unsere g'eringen geistlichen Schätze, die ja nun auch ihr gehören, zu vergrössern, sie zu bewahren und bis zum Augenblicke unseres Scheidens Früchte tragen zu lassen. Zu diesem Zwecke wird sie sowohl von ihrem bedeutenden Einflusse auf das Herz Gottes als auch von der Überfülle ihrer Verdienste und Genugtuungen reichlichen Gebrauch machen.

3) Endlich kann die Heiligullg des Nächsten, besonders derjenigen Seelen, die uns anvertraut sind, dadurch nur gewinnen. Lassen wir Maria nach ihrem Wunsche und Willen unsere Verdienste und geleisteten Genugtuungen austeilen, so wissen wir, dass alles auf die denkbar beste Art verwendet werden wird. Maria ist klüger, vorsichtiger und aufopferungswilliger als wir. Unsere Freunde und Verwandten können dabei nur Vorteil haben.

176. Gewiss wendet man dagegen ein, dadurch würden wir unser ganzes geistliches Guthaben,

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 137 besonders aber unsere SÜhnakte, Ablässe und Gebete, die man fÜr uns aufopfern könnte, veräussern und wir könnten dann lange Jahre hindurch im Fegfeuer bleiben. An und für sich ist das wahr. Aber es handelt sich dabei um eine Vertrauenifrage:' Haben wir zu Maria mehr Vertrauen als zu uns selbst oder zu unseren Freunden? Ja oder nein? Wenn ja, so brauchen wir nichts zu befürchten. Sie wird für unsere Seele und unsere Interessen besser sorgen, als wir es im stande wären. Wenn nicht, so vollziehen wir jenen Akt gänzlicher Hingabe lieber nicht. Wir könnten es später bedauern ...

Jedenfalls soll man sich erst nach reiflicher Uberlegung und nicht ohne Zustimmung des Seelenführers dazu entschliessen.

11. Der Anteil der Heiligen am christlichen Leben.

177. Die Heiligen, die im Himmel Gott besitzen, nehmen lebhaft teil an unserer Heiligung und helfen uns durch ihre mächtige Fürbitte und durch die herrlichen Beispiele, die sie uns hinterliessen, auf dem Pfade der Tugend fortzuschreiten: Wir müssen sie verehren. Da sie unsere mächtigen FÜrbitter sind, müssen wir sie anrufen und als unsere Vorbilder nachahmen.

178. 10 Wir müssen sie verehren, weil wir dadurc1).

Gott selbst und J esus Christus Ehre erweisen. Alles Gute in ihnen ist das Werk Gottes und seines göttlichen Sohnes. Ihr natÜrliches Sein ist nur ein Abglanz göttlicher V ollkommenheiten. Ihre übernatürlichen Eigenschaften sind das Werk der von Christus erworbenen, göttlichen Gnade. Dabei sind ihre verdienstlichen Handlungen inbegriffen. Diese sind zwar ihr Gut, weil sie durch ihre freie Zustim.,.., mung mit Gott mitwirkten, aber auch, ja, haupt~ sächlich das Geschenk desjenigen, der die erste und wirksame Ursache davon bleibt" Coronando merita coronas et dona tua".

138

ZWEITES KAPITEL.

Wir ehren in den Heiligen: a) die lebendigen Tempel der Heihgsten Dreifaltig'keit, die sich gewürdigt hat, in ihnen zu wohnen, ihre Seele mit Tugenden und Gaben auszuschmücken, auf ihre Fähigkeiten zu wirken, um in ihnen freiwillige, verdienstliche Akte hervorzurufen und ihnen die überaus grosse Gnade der Beharrlichkeit zu gewähren; b) die A doptivkinde1' des !tz'1fllllhsclzen Vaters, die besonders zärtlich von ihm geliebt und von seiner väterlichen Fürsorge gänzlich gleichsam eingehüllt wurden. Die es aber auch verstanden, dieser Liebe zu entsprechen, da sie sich allmählich seiner Heiligkeit und seinen Vollkommenheiten durch Tugendübung näherten; c) die Geschwz'ste1' Jesu Cltrz'sti, seine treu en Glieder, die, seinem mystischen Leibe einverleibt, von ihm das geistliche Leben erhielten, das sie mit Liebe und Standhaftigkeit sorgsam pflegten; d) die Tempel und willigen Werkzruge des Hl. Geistes, die sich von ihm durch seine Eingebungen fÜhren liessen, anstatt blind den Neigungen der verdorbenen Natur zu folgen.

Diese Gedanken kleidet Oher I in folgende schöne V\Torte : "Aus diesem Grunde kannst du in tiefer Verehrung das in allen Heiligen vorhandene göttliche Leben anbeten. Du wirst dadurch J esus ehren, der ihnen das Leben schenkte und durch seinen göttlichen Geist sie zu so hoher Vollkommenheit fÜhrte, um mit ihnen um so inniger vereint zu soin. Er ist in ihnen der Sänger göttlicher Lobeshymnen. Alle ihre Lobgesänge legt er selbst ihnen auf die Lippen. Durch ihn loben und werden ihn loben alle Heiligen in Ewigkeit. "

179. 20 Wir mÜsset! sz'e alwzifen, um durch ihre mächtige Fürbitte eher die Gnaden zu erlangen, die wir brauchen. Wohl ist die Mittlerschaft Jesu allein

'OLlER, Pensees ehoisies, textes inedits plIblies par G. Letourneau,

S. 181'182.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 139 unbedingt notwendig und genügt an und für sich. Aber gerade, weil die Heiligen Glieder des wiedererstandenen Heilandes sind, vereinigen sie ihre Gebete mit den seinigen. Somit betet der ganze mystische Leib des Heilandes und übt eine unwiderstehliche Macht auf das Herz Gottes aus. Mit den Heiligen beten, heisst also, unsere Gebete mit denen des ganzen mystischen Leibes vereinigen und uns dadurch den Erfolg sichern. Ausserdem schätzen sich die Heiligen glücklich, für uns Fürbitte einzulegen. "Sie lieben uns wie ihre Geschwister und haben Mitleid mit uns. Der Anblick unseres Zustandes erinnert sie an ihren eigenen, früheren. Sie sehen in uns Seelen, die, wie sie, zur Ehre J esu Christi beitragen sollen. Und wie freuen sie sich, so oft sie Teilnehmer finden, die ihnen helfen, Gott zu huldigen und ihrem heissen Verlangen nachkommen, ihn über alles zu preisen! I So soll denn ihre JI1 acht und ihre GÜte uns volles Vertrauen einflössen.

Besonders an ihren Festen sollen wir sie anrufen.

Auf diese Weise werden wir mit dem liturgischen Leben der Kirche vertraut und werden an den einzelnen Tugenden, die von diesem oder jenem Heiligen besonders geÜbt wurden, teilnehmen.

180. 30 Wir müssen nämlich, ja, ganz besonders, ihre Tugenden nachahmen. Alle haben sich bemÜht, dem göttlichen Vorbilde möglichst ähnlich zu werden. Alle können mit dem hl. Paulus sagen : "Imitatores mei estote sicut et ego Christi 2." Eine Tugend haben sie jedoch ganz besonders geübt, die, sozusagen, ihre charakteristische war. Die einen die Unversehrtheit des Glaubens, die anderen das Gottvertrauen oder die Liebe. Wieder andere den Opfergeist, die Demut, die Armut, die Klugheit, den Starkmut, die Enthaltsamkeit oder die Keusch-

'J.-J. OLlER, Pensees ehoisies, S. 176. - 2 Korinther., IV, 16.

140

ZWEITES KAPITEL.

heit. Jeden Heiligen sollen wir ganz besonders um die Tugend bitten, die er geübt hat, da wir überzeugt sind, dass er sich einer besonderen Gnade erfreut, um auch uns diese Tugend zu

erlangen. .

181. Darum soll sich unsere Verehrung hauptsächlich denjenigen Heiligen zuwenden, die in ähnlichen Lebensverhältnissen wie wir gelebt haben und ähnliche Pflichten zu erfüllen hatten und gerade die Tugend übten, die uns am allernotwendigsten ist. Ebenso sollen wir auch unsere Namenspatrone besonders verehren. Dass man uns die und keine anderen gab, sollen wir für eine FÜgung Gottes halten und daraus Nutzen ziehen.

Sollten wir uns aber aus einem besonderen Grunde zu diesem oder jenem Heiligen hingezogen fühlen, nämlich, weil seine Tugenden uns besonders ansprechen und den BedÜrfnissen unserer Seele angemessen erscheinen, so soll uns nichts davon halten, ihm eifrig nachzuahmen. Zuvor aber sollen wir einen klugen Seelen fÜhrer diesbezüglich um seine Meinung fragen.

182. Versteht man auf diese Weise die Andacht zu den Heiligen, so erzielt man grossen Nutzen daraus. Die Beispiele derer, die dieselben Leidenschaften wie wir hatten, dieselben Versuchungen durchmachen mussten und trotzdem mit Hilfe derselben Gnaden den Sieg errangen, sind für uns ein mächtiger Ansporn. Wir fühlen uns wegen unserer Feigheit beschämt und fassen energische Vorsätze. Damit verbinden wir die Anstrengung, standhaft zu bleiben, um diese gemachten Vorsätze auch .auszuführen. Der hl. Augustinus sagt : " Tu non potens quod isti, quod zstCE?" I Die Gebete der Heiligen vollenden das Werk und helfen uns, ihren 'Spuren zu folgen.

, Conjess., !ib. VIII, C. XI.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 141

III. Der Anteil der Engel am christlichen Leben. Dieser Anteil geht aus ihren Beziehungen zu Gott und Jesus Christus hervor.

183. I. Zunächst stellen sie die Majestät Gottes und seine Eigenschaften dar. "Ein jeder für sich bezeichnet irgendeinen Grad jenes unendlichen Wesens und ist ihm besonders geweiht. In den einen gewahrt man seine Stärke, in den anderen seine Liebe, in anderen wieder seine Festigkeit. Jeder ist ein Abbild einer Schönheit des göttlichen Urbildes. Jeder betet Gott an und lobt ihn in der Vollkommenheit, deren Bild er ist." I Somit verehren wir Gott in den Engeln. "Sie gleichen klaren Spiegeln, welche die Züge und die Vollkommenheiten jenes unendlichen Alls wiedergeben." 2 Da sie der übernatürlichen Ordnung angehören, nehmen sie am göttlichen Leben teil und weil sie die Probe glänzend bestanden, geniessen sie die beseligende Anschauung Gottes. "Die Engel dieser Kinder" sagte der Heiland, " schauen im Himmel immerfort das Antlitz meines Vaters, welcher im Himmel ist. " "AngeZz' eorU1Jl in ca:lis semper zlident faciem Patris 111ei qui in ca:lis est. " 3

184. 2. Betrachten wir ihre Beziehungen zu Jesus Christus, so ist es allerdings nicht sicher, ob sie von ihm ihre Gnade erhalten. Was aber sicher ist: Im Himmel schliessen sie sich diesem Mittler der Gottesverehrung an, um die Majestät Gottes zu loben, anzubeten und zu verherrlichen. Ja, sie schätzen sich glücklich, auf diese Weise ihrer Anbetung einen grösseren Wert zu verleihen : "Per quem majestatem tuam laudmzt A ngeli, adorant Dominationes, tremunt Potestates. " Vereinigen wir uns mit dem Heilande, um Gott anzubeten, so verbinden

, J.' J. OLlER, Pensees ekoisies, S. 158.

2 L. eit., S. 164. - 3 MaNk., XVIlI, 10.

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ZWEITES KAPITEL.

wir uns dadurch gleichzeitig mit den Engeln und Heiligen. Diese harmonische Vereinigung kann nur zur vollkommeneren Lobpreisung Gottes beitragen. Wir stimmen also Olier zu, wenn er sagt: ,; Alle Engel des Himmels, alle Mächte, die den Himmel bewegen, mögen in ] esus Christus unsere Loblieder vervollständigen. Sie mögen dir, 0 Gott, für die Wohltaten danken, die wir von deiner Güte, sei es auf dem Wege der Natur, sei es auf dem der Gnade, empfangen. " I

185. 3. Aus diesen beiden Erwägungen ergibt sich, dass die Engel, weil sie in der Ordnung der Gnade unsere Brüder sind - wir haben nämlich wie sie teil am göttlichen Leben und sind wie sie in Christus Verehrer Gottes - lebhaftes Interesse an unserem Seelenheil nehmen und wünschen, wir möchten uns ihnen im Himmel anschliessen, um Gott zu verherrlichen und derselben Anschauung teilhaftig werden. a) Darum nehmen sie auch freudig den Auftrag entgegen, den Gott ihnen erteilt, an unserer Heiligung mitzuwirken. " Gott ", sagt der Psalmist, "hat ihnen den Gerechten anvertraut, damit sie ihn auf allen seinen Wegen behüten." 2 " Angelis suis mandavit de te ut custodiant te in omnibus 7Jl'is tuis. "- Und der hl. Paulus fÜgt hinzu, sie ständen im Dienste Gottes und seien als Diener jenen gesandt, welche die Erbschaft des Heils erlangen sollen. "Nonne omnes sunt administratoriz' spiritus, in ministerium missi, propter eos qui hd:reditateIn capient salutis ?" 3 Sie wünschen nichts sehnlicher, als Auserwählte heranzubilden, um die durch die Sünde der bösen Engel frei gewordenen Plätze wieder auszufüllen und um Anbeter zu finden, welche an Stelle der gefallenen Engel Gott preisen. Da sie den Teufel besiegt haben, verlangen sie danach, uns gegen jene verderblichen Feinde zu

'OLlER, I. c., S. 169. - 2 Ps. XC, II-I2. _ 3 Heb,.., I, 14.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 143

beschützen. Deshalb ist es für uns von gros sem Vorteil, sie anzurufen, um die Versuchungen des Teufels zu bekämpfen. b) Sie bringen Gott unsere Gebete dar. I Mit anderen Worten, sie unterstützen dieselben, indem sie die ihrigen hinzufügen. Es liegt somit in unserem eigenen Interesse, sie namentlich in kritischen Augenblicken anzurufen, besonders aber in der Todesstunde, damit sie uns im letzten Kampfe mit dem Feinde beschützen und unsere Seele in den Himmel geleiten. 2

186. Die Schutzengel. Unter den Engeln müssen sich einige mit den einzelnen Seelen befassen. Man nennt sie Schutzengel. Die Kirche feiert bekanntlich das Schutzengelfest und bestätigt dadurch die überlieferte Lehre der Kirchenväter, die sich auf die Hl. Schrift gründet, wie auch auf triftige VernunftsgrÜnde. Sie gehen aus unseren Beziehungen

zu Gott hervor : VJir sind seine Kinder, Glieder Jesu Christi und Tempel des Hl. Geistes. " Weil wir seine Kinder sind," sagt Olier,3 "gibt er uns die Fürsten seines Hofes zu Erziehern. Es ist für sie , eine grosse Ehre, dieses Amt zu versehen, weil sie wissen, wie eng wir mit Gott verwandt sind. Weil wir seine Glieder sind, so will er, dass dieselben Geister, die ihn stets bedienen, beständig in unst::rer Nähe weilen, um uns tausenderlei gute Dienste zu leisten. Als Tempel, in denen er selbst wohnt, sollen wir Engel zu unserer Verfügung haben, die von tiefer Ehrfurcht vor ihm ergriffen sind, wie wir sie zuweilen in unseren Kirchen dargestellt sehen. Sie sollen zum beständigen Lobe seiner Majestät dort sein und mÜssen ersetzen oder vervollständigen, was wir zu tun verpflichtet sind, oft seufzend wegen unseres unehrerbietigen Benehmens ihm gegen-

, Tob., XII, 12. \

• Nach der Überlieferung geleiten Engel unsere Seelen in das Paradies wie DOM LECLERCQ es nachweist. Die!. d'Arehtologie, Les Anges ilsychagogues, t. I, co!. 2121, sq. - 3 Pensees ekoisies, S. 171'172.

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ZWEITES KAPITEL.

über. " Es ist auch seine Absicht ", fügt Olier hinzu, "die Kirche des Himmels und der Erde eng zu vereinigen. Aus diesem Grunde lässt er die geheimnisvolle Schar zur Erde niedersteigen, die sich mit uns vereinigt, uns, sozusagen, an sich bindet und uns so gleichsam in ihre Ordnung erhebt, um nur einen Leib aus der Kirche des Himmels und derjenigen der Erde zu bilden. "

187. Durch unseren hl. Schutzengel sind wir also in beständiger Verbindung mit dem Himmel. Um so mehr Nutzen daraus zu erzielen, können wir nichts Besseres tun, als oft an unsern hl. Schutzengel zu denken, ihm unsere Verehrung, unser

~ Vertrauen und unsere Liebe zu bezeugen. a) Unsere \ Verehntng. Wir grüssen ihn als einen von denen, die beständig Gott schauen und die bei uns die Stelle unseres himmlischen Vaters vertreten. So werden wir auch alles meiden, was ihm missfallen oder ihn betrüben könllte und uns bemühen, ihm durch Nachahmung seiner Treue im Dienste Gottes Ehrfurcht zu erweisen. Das ist die beste Art und vVeise, zu zeigen, wie sehr wir ihn achten.- b) Unser Vertrauen. Dabei erinnern wir uns an seine Macht, uns zu beschützen, an die Güte, die er uns, die wir ihm von Gott selbst anvertraut wurden, erweisen will. Besonders aber in den Versuchungen des Teufels müssen wir ihn anrufen, da es ihm ein Leichtes ist, diesen hinterlistigen Feind zu entlarven. Ebenso bei gefährlichen Gelegenheiten, in denen seine Klugheit und Gewandtheit uns so treffliche Dienste leisten können. So oft wir ausserdem irgendeine wichtige Sache mit jemand zu verhandeln haben, ist es wichtig, uns an die Schutzengel unserer Mitmenschen zu wenden, damit sie dieselben auf das vorbereiten, was wir mit ihnen zu erledigen vorhaben.-c) Unsere Liebe. Wir erwägen, dass er fÜr uns stets ein wahrer Freund war und noch ist. Ein Freund, der uns hervorragende Dienste geleistet hat und noch immer

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 145 bereit ist, uns zu helfen. Erst im Himmel werden wir seine Bedeutung erkennen. Im Lichte des Glaubens jedoch können wir hienieden schon einigermassen dieselbe erfassen. Das nun genügt, um ihn zu lieben und ihm dankbar zu sein. Besonders, so oft uns Einsamkeit niederdrückt, können wir uns daran erinnern, dass wir nie allein sind. Ein aufrichtig ergebener und freigebiger Freund weilt stets bei uns. Mit ihm können wir uns vertraulich unterhalten: Unser hl. Schutzengel.

Vergessen wir endlich nicht, diesem Engel Ehre erweisen, heisst Gott selbst ehren, dessen Stellvertreter er auf Erden ist. Vereinigen wir uns zuweilen mit ihm, um Gott besser zu verherrlichen.

ZUSAMMENFASSUNG DER DARGELEGTEN LEHRE.

188. Gott nimmt also gehr grossen Anteil an unserer Heiligung. Er schlägt seine Wohnung in unserer Seele auf, um sich uns zu schenken und uns zu heiligen. Um uns zu gestatten, uns bis zu ihm zu erheben, schenkt er uns einen ganzen, übernatürlichen Organismus : Die habituelle Gnade, welche das Wesen unserer Seele durchdringt, sie umgestaltet und gottähnlich macht. Die Tugenden und Gaben, die unsere Fähigkeiten vervollkommnen und ihnen möglich machen, mit Hilfe der aktuellen Gnade, die sie in Tätigkeit setzt, übernatürliche Akte zu vollziehen, durch die wir uns das ewige Leben verdienen können.

189. Seiner Liebe genÜgte das jedoch noch nicht.

Er sendet uns seinen einzigen Solzn, der Mensch wird und das vollkommene Vorbild jener Tugenden ist, die zur Vollkommenheit und in den Himmel führen. Er verdient uns die Gnade, die wir nötig haben, um seinen Spuren folgen zu können und zwar trotz aller Schwierigkeiten, die wir in uns und ausserhalb finden. Um uns noch mehr zu seiner Nachfolge hinzureissen, verleibt er sich uns ein, teilt

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ZWEITES KAPITEL.

uns durch seinen göttlichen Geist jenes Leben mit, das er in ganzer Fülle besitzt. Verleiht durch diese Einverleibung unseren Handlungen, selbst den unbedeutendsten, einen unermesslichen \Vert. Sind sie nämlich mit denen Christi, unseres Hauptes, vereint, so nehmen sie am Werte der seinigen teil, da ja bei jedem Körper zwischen dem Haupte und den Gliedern Gemeinschaft besteht. Mit ihm und durch ihn sind wir im stande, Gott zu verherrlichen, wie es ihm gebührt, neue Gnaden zu erlangen, um uns so unserem himmlischen Vater durch ein immer vollkommeneres Leben zu nähern. Mlll'ia ist die Mutter Jesu und dessen Mz'tarbez'terin. Sie wirkt, obschon sekundär, am Wel:ke der Erlösung mit. Sie beteiligt sich an der Ausspendung der Gnaden, die J esus uns verdient hat. Durch sie gehen wir zu ihm. Durch ihre Mittlerschaft erbitten wir uns die Gnade. \Vir verehren si~ wie eine Mutter und bemühen uns, ihre Tugenden nachzuahmen. Da J esus nicht nur unser Haupt ist, sondern auch an der Spitze der Hez'lig-en und Engel steht, so stellt er jene mächtigen Hilfstruppen in unseren Dienst, um uns vor den Angriffen des Teufels und den Schwächen unserer Natur zu schützen. Ihre Bez'spiele und ihre Fiirbz'tte bedeuten fÜr uns eine gewaltige Hilfskraft.

Konnte Gott mehr für uns tun? Hat er sich aber in so freigebiger Weise uns geschenkt, was haben wir zu tun, um seine Liebe zu erwidern und um die Teilnahme am göttlichen Leben, mit dem er uns so reichlich beschenkt hat, recht rege zu gestalten?

11. ABSCHNITT. DIE AUFGABE DES MENSCHEN IM CHRISTLICHEN LEBEN.

190. Hat Gott soviel getan, um uns an seinem Leben teilnehmen zu lassen, so dürfen wir dieses Entgegenkommen nicht unberücksichtigt lassen. Dankbar müssen wir jenes Leben annehmen, es

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 147 sorgfältig pflegen und uns so auf die ewige Seligkeit, welche die Belohnung für unsere Mühen sein wird, vorbereiten. Die Dankbarkeit macht es uns zur Pflicht. Die beste Art und Weise, eine Wohltat anzuerkennen, ist, letztere für den Zweck auch wirklich zu benützen, für den sie uns erwiesen worden ist. Unser geistliches Wolzl verlangt es. Gott wird uns nach unseren Verdiensten belohnen. Unsere Seligkeit im Himmel wird dem Grade der Gnade entsprechen, den wir durch unsere guten Werke verdient haben." Unusquisque aute11Z propriam mercede11Z accipiet secundum suum laborem. " I Andererseits wird Gott genötigt sein, diejenigen streng zu bestrafen, welche die Gnade missbrauchten, weil sie seinem Entgegenkommen freiwillig widerstanden. "Denn," sagt der hl. Paulus, "ein Land, welches den oftmals darauf herabkommenden Regen einsaugt und Gewächse trägt zum Nutzen für diejenigen, die es bebauen, empfängt Segen von Gott. Bringt es aber Dornen und Disteln hervor, so ist es verworfen und dem Fluche nahe. " " Terra enim scepe veniente11t super se bibens imbrem et gene- 1'ans herbam opportunam illis a quibus colitur, accipit benedictionem a Deo / proferens autem spinas ac tribulos, reproba est et maledicto proxima. " 2 Gott, der uns frei erschaffen hat, berücksichtigt zwar unsere Freiheit und wird uns nicht gegen unseren Willen heiligen, aber er hört nicht auf, uns zu ermahnen, die Gnaden gut zu benützen, die er uns so freigebig gewährt. "A 4iuvantes autem exhortamur ne in vacuum gratiCl1n Dei recipiatis. " 3 "Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht fruchtlos die Gnade Gottes em pfanget. "

191. Um nun aber dieser Gnade zu entsprechen, müssen wir in erster Linie jene wichtigen Andachten praktisch betätigen, die wir im vorausgehenden

'I Cor., III, 8. - 2 Hebr., VI, 7,8. - 311 Korinther, VI, I.

148

ZWEITES KAPITEL.

Kapitel besprochen haben. Die Andacht zur Heiligsten Dreifaltigkeit, zum Fleischgewordenen Worte, zur Allerseligsten Jungfrau Maria, zu den Engeln und Heiligen. Wir werden darin den mächtigsten Beweggrund finden, uns, vereint mit J esus und unter dem Schutze unserer mächtigen Fürbitter, gänzlich Gott hinzugeben. Wir werden dabei auch Vorbilder von Heiligkeit finden, die uns den Weg, den wir einzuschlagen haben, zeigen werden. Mehr noch jedoch übernatürliche Kräfte, die es uns ermöglichen werden, von Tag zu Tag dem Ideal von Heiligkeit, das uns zur Nachahmung stets vor Augen schwebt, näher zu kommen. - Es sei aber ausdrücklich hier bemerkt, diese Andachtsübungen sind in ihrer ontologischen Ordnung, d. i. ihrer Würde nach behandelt worden, ferner, die Andacht zur Heiligsten Dreifaltigkeit ist gewöhnlich nicht die erste, die man zu üben pflegt. Für gewöhnlich beginnen wir mit der Andacht zum lieben Heiland und zur Allerseligsten Jungfrau. Später erst erhebt sich unsere Seele bis zur Heiligsten Dreifaltigkeit.

192. Das ist aber noch nicht alles. Wir müssen den ganzen übernatürlz'chen Organismus, der uns geschenkt wurde, gehörig ausnützen und ihn vervollkommnen, ungeachtet der inneren und äusseren Hindernisse, die sich seiner Entfaltung entgegenstellen. I) Da die dreifache Begierlicllkeit in uns wohnt, die stets zum Bösen neigt und von der Welt und dem Teufel angefacht wird, müssen wir zunächst sie und ihre Bundesgenossen bekämpfen. '2) Weil uns ferner dieser übernatürliche Organismus verliehen wurde, um gottähnliche, für das ewige Leben verdienstliche Handlungen zu vollziehen, so müssen wir unsere Verdienste vermehrett. 3) Da es Gottes Güte gefiel, Sal?ramente einzusetzen, die nach dem Masse unserer Mitwirkung Gnade erzeugen, so ist es unsere Pflicht, sie in möglichst bester Ve1:fassung zu empfangen. Dadurch werden wir njcht nur das

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 149

Gnadenleben in uns bewah ren, sondern es fortwährend vermehren.

§ 1. Vom Kampfe gegen die geistlichen Feinde.

Diese Feinde sind die Begierlichkeit, die Welt und der Teufel. Die Begierlichkeit ist der innere Feind; wir tragen ihn stets mit uns herum. Die T.17elt und der Teufel sind unsere äussere7Z Feinde, die das Feuer der Begierlichkeit schüren.

I. Der Kampf gegen die Begierlichkeit!.

Der hl. J ohannes schildert die böse Begierlichkeit bekanntlich mit folgenden \Norten : "Omne quod est in llZundo concupiscentz'a carnis est et concupiscentia oculorum et superbia vit;:e. "2 Folgendes soll zur Erklärung dieser \Vorte dienen.

I. DIE BEGIERLICHKEIT DES 1< LEISCHES.

193. Die Begierlichkeit des Fleisches besteht 111 der ungeordneten Liebe zur silznlic!ten Lust.

. A) Das Übel. Die Lust ist an und für sich nichts Schlechtes. Gott erlaubt sie, indem er sie für einen höheren Zweck, das ehrbare Gute, bestimmt. Knüpft er an gewisse gute Handlungen die Lust, so geschieht es, um jene leichter zu machen und uns zur treuen Pflichterfüllung anzuregen. Die Lust mit Mass geniessen und im Hinblick auf ihren Zweck, der im sittlichen und übernatürlichen Guten besteht, ist nichts Böses. Es ist selbst eine gute Handlung, da sie einen guten Zweck verfolgt, welcher in letzter Analyse Gott ist. Aber die Lust wollen, unabhängig von ihrem Zweck;, der sie erlaubt macht, um ihretwillen einzig und allein, ist eine Unordnung, weil dieses nichts anderes heisst, als sich gegen die mit höchster Weisheit von Gott

, Siehe die vortreffliche, kurze Abhandlung Bossuet's über die Begier, lic/,keit. - 2 f lok, ll. 16.

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ZWEITES KAPITEL.

eingesetzte Ordnung verstossen. Und diese Unordnung hat eine andere zur Folge. Vollzieht man etwas nur der Lust wegen, so läuft man Gefahr, dasselbe Übermässig zu lieben, weil man nicht mehr von dem Zwecke geleitet wird, der jener Lustgier, welche in uns allen ist, Grenzen setzt.

194. Gott in seiner Weisheit fügt es, dass eine gewisse Lust mit der Ernährung verbunden ist, um uns anzuregen, die Kräfte des Leibes zu unterstützen. Aber, wie Bossuet sagt, "die undankbaren und fleischlich gesinnten Menschen benützen diese Gelegenheit zur Lust, um sich mehr an ihren Leib, als an Gott zu klammern, der ihn geschaffen hat ... Die Esslust hält sie im Banne. Anstatt zu essen, um zu leben, scheinen sie, wie einst einer des Altertums und nach ihm der hl. Augustin sagte, nur zu leben, um zu essen. Selbst diejenigen, welche ihre \Vünsche zu regeln verstehen und nur aus natürlichem Bedürfnisse Nahrung zu sich nehmen, lassen sich zuweilen unvermerkt von ihrer Esslust überwinden. Sie folgen der Gaumenlust und glauben, dem Bedürfnisse nicht entsprochen zu haben, solange Speise und Trank ihrem Gaumen noch schmeichelt." Daher die Exzesse im Essen und Trinken. Was soll man aber erst von der noch gefährlicheren Fleischeslust sagen, " von der tiefen und beschämenden Wunde der Natur, von jener Begierlichkeit, welche die Seelen mit so zarten und doch so gewaltigen Fesseln an den Leib schmiedet, von denen man sich so schwer losreisst und die im Menschengeschlechte eine so furchtbare Verheerung anrichtet? " I

195. Diese sinnliche Lust ist um so gefährlicher, als sie im ganzen Leibe sz'tzt. Das Sehvermögen leidet darunter, denn mit den Augen beginnt man das Gift der sinnlichen Liebe zu verschlingen. Das

, A bhand I. über die Begierliehkeit, 5. Kap.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 151 GeMr ist in Mittleidenschaft gezogen, so oft man durch das Anhören gefährlicher Gespräche und sinnekitzelnder Lieder die Gluten unreiner Liebe und den geheimen Reiz, den wir für sinnliche Genüsse empfinden, hervorruft oder nährt. Dasselbe gilt von den anderen Sinnen. Was die Gefahr vergrössert, ist die Tatsache, dass alle diese sinnlichen Gelüste sich gegenseitig aufreizen. Die man oft für die harmlosesten hält, können zu den sÜndhaftesten führen, wenn man nicht auf der Hut ist. Im ganzen Körper macht sich eine \iVeichlichkeit und Empfindlichleit bemerkbar, die im Sinnlichen Befriedigung sucht, es reizt und dessen Lebhaftigkeit dadurch unterhält. Man hängt so an seinem Leibe, dass man auf die Seele vergisst. Eine übertriebene Sorge für seine Gesundheit bewirkt, dass man in allem dem Leibe schmeichelt. Alle diese verschiedenen Gefühle sind ebensoviele Arten von Fleischesl ust. I

.. 196. B) Das Heilmittel gegen ein so grosses Ubel ist die Abtötung der sinnlichen Lust. Denn, sagt der hl. Paulus, " Qui sunt Christi carnem suam crucijixerunt CU11t vitiis et concupiscentz'z's. 2 Die, welche Christus angehören, haben ihr Fleisch gekreuzigt, nebst den Leidenschaften und Begierlichkeiten. "

Das Fleisch kreuzigen, heisst nach Olier 3 " alle unreinen und ungeordneten Begierden, die wir in unserem Fleische spüren, innerlich binden, knebeln, ersticken." Heisst, auch die äusseren Sinne abtöten, die uns mit den Gegenständen der Aussenwelt in Verbindung setzen und in uns gefährliche Begierden wachrufen. Der Hauptbeweggrund jedoch, der uns verpflichtet, diese Abtötung zu Üben, sind die Verpflichtu ngett, die wir bei unserer Taufe Über-

nahmen.

, Wir geben hier nur eine kurze Zusammenfa,sung des 5· Kapitels Bossuet's wieder. __ 2 Gala!., V, 24. - 3 Ca!. du'Ift., 1. Teil, Lektion V.

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ZWEITES KAPITEL.

197. Durch die Taufe sterben wir der Sünde ab und werden Christo einverleibt. Aus diesem Grunde sind wir verpflichtet, Abtötung der sinnlichen Lust zu Üben." Denn ", sagt der hl. Paulus, " wir sind nicht mehr dem Fleische schuldig, nach dem Fleisch zu leben, sondern wir müssen nach dem Geiste leben. Und wenn wir von dem Geiste leben, so wandeln wir nach dem Geiste, der unserem Herzen die Liebe zum Kreuze und die Kraft, es zu tragen, ein prägt. " I

Die Taufe durch Untertauchen zeigt durch ihre symbolische Bedeutung die Wahrheit dieser Lehre. Der Katechumen wird im Wasser untergetaucht und stirbt dabei der Sünde und ihren Folgen ab. Tritt er wieder aus dem Wasser heraus, so nimmt er an einem neuen Leben teil, am Leben des auferstandenen Heilandes. So lehrt der hl. Paulus 2 : " Da wir der Sünde gestorben sind, wie sollen wir noch in ihr leben? Oder wisset ihr nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, auf seinen Tod getauft sind? Denn wir sind mit ihm durch die Taufe auf den Tod mitbegraben, damit wie Christus von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters auferstanden ist, so auch wir in einem neuen Leben wandeln." Somit bedeutet also das Untertauchen des Täuflings den Tod der Sünde und die Pflicht, die zur Sünde neigende Begierlichkeit zu bekämpfen. Das Herausgehen aus dem Wasser bedeutet das neue Leben, durch welches wir an dem neuerstandenen Leben des Erlösers teilnehmen. 3 Die Taufe verpflichtet uns demnach die in uns vor-

, Ca!. eh,-it., Lekt. IX. - 2 Römer, VI, 2'4.

3 " Es heisst nichr den Gedanken des Apostels falsch wiedergeben, wenn wir ihn in die moderne, theologische Sprache übertragen: Die h1. Sakramente sind wirksame Zeichen, welche ex opere operato bewirken, was sie bedeuten. Nun aber stellt die sakramentale T .. ufe den Tod und das Leben Christi vor. Somit muss sie ill uns einen Tod bedeuten, der dem Wesen nach zwar mystisch, ill seinen Wirkullgen jedoch wirklich ist, Tod der Sünde, dem Fleische, dem allen Menschen nach und neues, dem Leben des auferstandenen Erlösers gleichförmiges Leben. " (PRAT, Tlttol. de S. Paul, 1. I, 7, s, 266'267).

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 153 handene Begierlichkeit abzutöten und den Heiland nachzuahmen, der durch die Kreuzigung seines Leibes uns die Gnade verdient hat, den unsrigen zu kreuzigen. Die Nägel, mit denen wir ihn kreuzigen, sind gerade die verschiedenen Akte der A btötung, die wir verrichten.

Diese Pflicht, die Lust abzutöten, ist so dringend, dass von ihr unser Seelenheil und unser geistliches Leben abhängt. " Denn, wenn ihr nach dem Fleische lebt, werdet ihr sterben. Wenn ihr aber durch den Geist die Werke des Fleisches ertötet, werdet ihr leben. Si em'1JZ secundum carnem vixeritis, moriemini/ si autem spiritu facta carnis mortijicaveriÜ's, '1,ivetis. " I

198. Soll der Sieg vollständig sein, so genügt es nicht, auf die schlechten Vergnügen zu verzichten (wozu uns das Gebot verpflichtet). Auch gefährliche Genüsse müssen geopfert werden, Genüsse, die unfehlbar zur Sünde führen, nach dem Grundsatz: " qui alllat pericu!um, in illo peribit." Ja, noch mehr. Man muss sich sogar einiger erlaubter Freuden enthalten, um so seinen Willen gegen den Reiz verbotenen Genusses zu stärken. Denn der alle erlaubten Freuden ohne jegliche Einschränkung geniesst, ist sehr nahe daran, sich auch verbotene nicht zu versagen.

2. DIE AUGENLUST. (NEUGIERDE UND GEIZ.)

199. A) Das Übel. Die Augenlust besteht aus zwei Dingen: Der ung'Csunden Neugierde und der ungeordneten Liebe zu irdische1Z Gütern.

a) Die Neugierde, von der hier die Rede ist, ist der ungezügelte \Nunsch, zu sehen, zu hören und zu wissen, was in der Welt vorgeht, wie z. B. die geheimen I ntrigen, die sich darin abspielen. Alles das, nicht um einen geistlichen Nutzen daraus zu

, ROll/er, Vlll, 13. '

154

ZWEITES KAPITEL.

ziehen, sondern nur, um sich daran zu ergötzen. Sie erstreckt sich auf die Vergangenheit, so oft wir die Weltgeschichte durchblättern, nicht etwa, um einige für das menschliche Leben nützliche .Beispiele daraus zu entnehmen, sondern lediglich um unsere Phantasie mit allem, was ihr schmeichelt, zu füttern. Eine grosse Vorliebe hat sie fÜr alle Arten von Wahrsagerei, durch die man behauptet, geheime und zukÜnftige Dinge, die nur Gott weiss, zu erfahren. Das heisst, sich an den Rechten Gottes vergreifen und das zur Ergebung in seinen Willen erforderliche Vertrauen untergraben. I Diese Neugierde kann sich selbst auf wahre und nützliche \Nissenschaft beziehen, so oft man kein Mass darin hält oder zu ungeeigneter Zeit sich damit befasst. Ihr zuliebe opfern wir die heiligsten Pflichten, wie es z. B. bei denen der Fall ist, die alle möglichen Romane, Komödien und Gedichte lesen. Denn alles das ist nichts anderes als Zügellosigkeit, Krankheit und Unordnung des Geistes, Ver-

,härtung des Herzens, elende Sklaverei, die uns nicht mehr Zeit lässt, an uns selbst zu denken, und eine Quelle von IrrtÜmern. 2

200. b) Die zweite Art der Augenlust ist die ungeordnete Liebe zum Gelde. Bald betrachtet man es als Mittel, um andere Güter zu erwerben, wie z. B. Freuden und Ehren, bald hängt man am Gelde wegen des Geldes. Man besieht es, befühlt es und empfindet im Besitze desselben eine gewisse Sicherheit für die Zukunft. Das ist der eigentliche Geiz. In beiden Fällen setzt man sich der Gefahr aus, sehr viele Sünden zu begehen, weil das ungezÜgelte Verlangen die Quelle vieler Betrügereien und Ungerechtigkeiten ist.

201. B) Das Gegenmittel. a) Um die eitle Neugierde zu bekämpfen, muss man bedenken, dass

, BOSSUET, I. c., Kap. VIII. - 2 BOSSUET, I. C.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 155

alles, was nicht ewig ist, nicht verdiene, die Aufmerksamkeit unsterblicher Wesen, wie wir, auf sich zu richten. Der Schein der Welt vergeht, nur etwas vergeht nicht : Gott und der Himmel, der im Besitze Gottes besteht. Wir sollen deshalb nur für unvergängliche Dinge Interesse haben, denn, was niclzt ewig' ist, ist nichts. Wohl können und müssen die gegenwärtigen Ereignisse, wie diejenigen der Vergangenheit unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken, aber nur insofern sie der Ehre Gottes oder dem Heile der Menschen nützen. Als Gott die Welt und alles, was auf ihr ist, schuf, hatte er nur eine Absicht, nämlich den mit Vernunft begabten Geschöpfen, den Engeln und Menschen, sein göttliches Leben mitzuteilen und Auserwählte heranzubilden. Alles übrige kommt erst an zweiter Stelle und man darf es nur als Mittel betrachten, um zu Gott oder in den Himmel zu gelangen.

202. b) Was die ungeordnete Liebe zu irdischen Gütern anbetrifft, soll man nicht vergessen, Reichtümer sind nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel, die uns die Vorsehung in die Hand gibt, unseren Bedürfnissen zu Hilfe zu kommen. Gott bleibt der alleinige Herr derselben. Wir sind nur Verwalter und haben über die Verwendung derselben Rechenschaft abzulegen "Redde rationem villicationis ~Zf(E. " I Es ist deshalb klug, einen grossen Teil des Uberflusses für Almosen und andere gute Werke zu verwenden. Das heisst, nach den Absichten Gottes handeln, denn Gott will, die Reichen sollen die Versorger der Armen sein. Das nennt man ein Kapital auf der Bank des Himmels anlegen, ein Kapital, das uns hundertfach zurückerstattet wird, sobald wir in die Ewigkeit gehen werden. " Sammelt euch Schätze im Himmel," sagt J esus, wo sie weder Rost noch Motten verzehren und wo die

, Lukas, XVI, 2.

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ZWEITES KAPITEL.

Diebe weder einbrechen noch stehlen können." Thesaurizate autem vobis thesauros in ca!lo, ubi neque a!rugo neque tinea demolitul', et ubifures non eJfodiant nec furan tu r. " I Und das ist ein Mittel, unsere Herzen von irdischen Gütern freizumachen, um sie bis zu Gott zu erheben, "denn," fügt Jesus hinzu, "wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz." Ubi eni11l thesaurus tuus, ibi est et cor tuum. 2 Suchen wir also zunächst das Reich Gottes, die Heiligkeit, alles andere wird uns zugegeben werden.

Um vollkommen zu werden, muss man noch mehr tun, nämlich die evangelische Artnut Üben. " Selig sind die Armen im Geiste," Beati pauperes spiritu.3 Es kann dies auf dreifache Weise geschehen, je nach den Neigungen und den Möglichkeiten eines jeden. I) Alles, was man hat, verkaufen und den Erlös den Armen geben. " Vendite qUa! possidetis et date eleemosynam. "4 2) Alles der gemeinschaftlichen Benutzung Überlassen, wie es in gewissen Genossenschaften üblich ist. 3) Das Kapital zwar behalten, aber auf den Gebrauch desselben verzichten, keinerlei Ausgaben ohne die Zustimmung eines klugen SeelenfÜhrers machen. 5

203. Jedenfalls muss das Herz, um sich zu Gott erheben zu können, von den ReichtÜmern losgeschält sein. Das legt uns Bossuet ans Herz : " GlÜcklich diejenigen, die sich bescheiden in das Haus des Herrn zurÜckgezogen haben, an den kahlen \Vänden und dem ärmlichen Gerät ihrer Klosterzelle Gefallen finden. Das Leben ist ja doch nur der Schatten des Todes. Glücklich, die immer nur ihre Gebrechlichkeit und die schwere Last vor Augen haben, mit welcher sie die SÜnde beladen hat. Glücklich die gottgeweihten Jungfrauen, die nicht mehr das

'jVlattlt., VI, 20. - 2 jVlatth., VI, 21. - 3 jWattk, V, 3. 4 Lukas, XII, 32; XVIII, 22; jlfattlt., XIX, 2I.

5 J.,J. OLlER, /ntroduct. Kap. XI; A. CHEVRIER, Le veritable disei pie, 1922 S. 248'267.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 157 Schauspiel der vVelt sein wollen und die am liebsten sich unter dem heiligen Schleier, der sie umhüllt, vor sich selbst verbergen möchten. Glücklich der sanfte Zwang, den man seinen Augen auferlegt, um keine Eitelkeiten zu sehen und mit David r zu sagen: " Wende meine Augen ab, dalllit sie nidlt naclt Ez'telkeiten scltauen!" Glücklich diejenigen, die mitten in der Welt ihrem Stande nach leben, ohne von ihr berührt zu werden ... die durch sie hindurchgehen, ohne sich an sie zu binden ... die mit Esther unter dem Diadem sagen: " Du weisst, 0 Herr, wie sehr ich dieses Zeichen des Stolzes verachte und alles, was zum Ruhme der Gottlosen beiträgt und dass Deine Dienerin sich einzig und allein in Dir, o Gott Israels, erfreut hat. " 2

3. VON DER HOFFART DES LEBENS.

204. A) Das Übel. Bossuet 3 sagt: " Die Hoffart ist eine tiefere Verkommenheit. Durch sie hält sich der selbstsüchtige Mensch für seinen Gott, und zwar durch übertriebene Eigenliebe." - Er vergisst, dass Gott sein erster A1ifattg und sein letztes Ziel ist, überschätzt sich selbst, ist von seinen wirklichen oder vermeintlichen, guten Eigenschaften sehr eingenommen, ohne sie auf Gott zurückzufitltren. Deshalb auch UnablzängigkeÜsgez'st und Herrschsucht, die ihn antreiben, sich der Autorität Gottes oder dessen Stellvertreter zu entziehen. Darum auch Selbstsucht, die ihn veranlasst, seinerselbst wegen zu handeln, als sei er selbst sein letztes Ziel und Ende. Eitles Wohlgefallen an seiner eignen V ortreffJichkeit, als sei Gott nicht deren Urheber. Er gefäll t sich in seinen guten Handlungen, als wären sie nicht in erster Linie und vor allem das Ergebnis göttlichen Wirkens in uns. Neigung, seine guten Eigenschaften zu übertreiben, sich solche beizulegen,

) Ps. CXVIII, 37. - 2 Esther, XIV, 15-r8. 3 L. e. Kap. X, 23.

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ZWEITES KAPITEL.

sich anderen vorzuziehen, oft sogar sie zu verachten, wie es der Pharisäer machte.

205. Zu diesem Stolze tritt die Eitelkeit, durch die man auf ungeordnete Weise die Achtung der anderen, deren Beifall und Belobungen sucht. Man nennt sie gewöhnlich die Gifallsucht. Bossuet I sagt : "Sind die Lobeserhebungen falsch oder ungerecht, wie gross ist mein Irrtum, wenn ich daran Gefallen finde! Sind sie aber wahr, woher kommt mir jener andere Irrtum, weniger an der Wahrheit, als vielmehr an dem Zeugnisse, das die Menschen von ihr geben, Freude zu finden?" Sonderbar, man ist mehr um die Achtung der Menschen, als um die Tugend selbst besorgt und fühlt sich durch einen öffentlichen Misserfolg mehr gedemütigt, als durch einen geheimen Fehler. - Gibt man sich erst der Gefallsucht hin, so finden sich bald andere Fehler ein: die Prahlerei, die uns hinneigt, gern von uns selbst und unseren Erfolgen zu sprechen. Die Sucht, aufzufallen. Die Heuchelez: die bekanntlich den äusseren Schein der Tugend annimmt, ohne sich in Wirklichkeit um sie zu kümmern.

206. Die J<olgen der Hoffart sind bejammernswert. Sie ist der Tocifeind der Vollkommenheit. I) Sie raubt Gott die Ehre und uns viele Gnaden und Verdienste. Gott nämlich will an unsrer Hoffart nicht beteiligt sein. " Deus superbis resistit." 2 2) Sie ist die Quelle sehr vieler Sünden : Sünden der Anmassung. Sie werden durch jämmerlichen Sturz und widerwärtige Laster bestraft. Sünden der Mutlosigkeit, sobald man nämlich gewahr wird, wie tief man gefallen ist. Sünden der Heuchelei, weil man nicht gern seine Verirrungen eingesteht. Sünden des Eigmsitlns den Vorgesetzten gegenüber. Sünden des Neides und der Eifersucht im Hinblick auf seinen Mitmenschen u. a. m.

, De la eoneupiseenee, Kap. XVII.:- 2 Jakobus, IV, 6.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 159 207. B) Das Gegenmittel. a) Alles Gott zuschreiben. Ihn als den eigentlichen Urheber alles Guten anerkennen. Er ist die Grundursache unserer Handlungen, muss also auch der Endzweck derselben sein. Dieses meint auch der hl. Paulus, wenn er schreibt: " Quid habes quod non accepisti? Si autetJl accepistz', quid gloriaris quasi non acceperis? Was hast du aber, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?" I Er zieht daraus die Schlussfolgerung: Alle unsere Handlungen haben zur Ehre Gottes zu geschehen. " Sz've manducatis, sive bt'bitis, sive alz'ud quidfacitzs, olimia z'n gloyz'am Dez' facite. "2 Um ihnen noch grösseren Wert zu verleihen, sollen wir Sorge tragen, sie im Namen, in der Kraft Christi zu verrichten : "Omne quodcumque facÜis z'n verbo aut in opere, omnia z'n nomz'ne Domini Jesu Chrz'stz' gratz'as agentes Deo et Patri per ipsum. 3 Alles, was ihr immer tun möget in Wort oder im Werk, das tuet alles im Namen des Herrn Jesus Christus, indem ihr Gott und dem Vater durch ihn danksagt. "

208. b) Da jedoch unsere Natur uns beständig zur Selbstsucht verleitet, müssen wir, um diese Neigung zu bekämpfen, bedenken, dass wir aus uns selbst ein Nz'dtts und nur Sünde sind. Gewiss sind auch gute, natÜrliche und übernatÜrlz'che Eigenschaften in uns. Wir müssen sie hochachten und sorgsam pflegen. Da aber dieselben von Gott kommen, gebÜhrt ihm das Lob. Hat ein Künstler ein Meisterwerk geschaffen, so verdient lediglich er, und nicht das Werk, das ganze Lob. Nun aber sind wir nur ein Nichts. "Und das waren wir von Ewigkeit her. Das Sein, das uns Gott schenkte, ist göttliches Sein. Und was uns auch immer gegeben

, I. Korinther, IV, 7. - 2 I. !>:orinther, X, 31- 3 Kolosser, III, 17.

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sein mag, es hört nicht auf, das Seinige zu bleiben, von dem er geehrt werden will. " I

Aus uns selbst sind wir SÜnde, insofern wir durch die Begierlichkeit zur SÜnde migm, sodass wir, nach der Lehre des hl. Augustinus, der Gnade Gottes verdanken, wenn wir nicht gewisse SÜnden begehen. " Gratia: tua: depztto et qua:cumque non feci lIlala. Quid enim non facere potzti, qui etiam gratuitum facinus amavi?" 2 Dieses erklärt Olier 3 mit folgenden \iVorten : "Das eine kann ich Ihnen sagen, es gibt keine Sorte von SÜnden, keine Unvollkommenheit oder Unordnung, keinen Irrtum, keine Beschämung, die nicht dem Fleische innehafte. Das ist so wahr, dass es keine Art von Leichtsinn, Torheit und Dummheit gibt, deren das Fleisch nicht zu jeder Zeit fähig sei." Unsere Natur ist zwar nicht gänzlich verdorben, wie Luther es behauptete, sie vermag mit Gottes natÜrlicher oder ÜbernatÜrlicher Hilfe 4 etwas, ja, sogar viel Gutes zu tun. Das sieht man an den Heiligen. Weil aber Gott die Grundursache davon bleibt, so gebÜhrt ihm der Dank dafÜr.

209. Schliessen wir mit den Worten Bossuet 's 5 : " Sei nicht anmassend, denn so beginnt jede SÜnde. Verlange nicht nach dem Lobe der Menschen, denn sonst wÜrdest du hienieden bereits deinen Lohn empfangen und hättest Qualen in der anderen \iVelt zu erwarten. RÜhme dich nicht selbst. Alles, was du dir in deinen guten Werken zuschreibst, raubst du Gott, der Urheber alles Guten ist. Du setzest dich an seine Stelle. SchÜttle nicht das Joch des Herrn ab. Sage nicht wie ein HochmÜtiger zu

, J.-J. OLTER, ·Cat. c1mft., I. P. Lektion XV.

2 Bekenntnisse, B. II. Kap. 7. - 3 L. C. L. XVII. (OLlER).

4 Die Theologie lehrt (Syn. theol. dogm., t. III), der gefallene Mensch könne etwas Gutes natürlicher Ordnung mit Gottes nat. Beistande vollbringen. Es gehöre aber eine aussanat. Hilfe zur Beobachtung des ganzen natür1. Gesetzes und zur Bekämpfung aller schweren Versuchungen. - 5 ap. cif., Kap. XXXI.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 161 dir selbst: feit will nicht dienen. Dienst du nämlich nicht der Gerechtigkeit, so wirst du ein Sklave der SÜnde und ein Kind des Todes sein. Sage ja nicht: " Ich Itabe keine11 Fleclcen an mir. " Glaube ja nicht, Gott habe deine SÜnden vergessen, weil du selbst dich nicht mehr deren erinnerst, denn der Herr wird dich mit den Worten wecken: " Siehe in diesem Tale deine g<!heimen Wege. Überallfolgte ich dir ulzd zählte deine Schritte." Sei nicht taub fÜr weise Ratschläge. ZÜrne nicht, wenn man dich tadelt. Der Gipfel des Stolzes ist, sich selbst gegen die Wahrheit zu empören, sobald sie dich ermahnt, und sich gegen sie aufzubäumen. "

Handeln wir nach diesen Grundsätzen, so werden wir stärker sein, um den Kampf gegen die Welt, unsern zweiten geistlichen Feind, aufzunehmen.

II. Der Kampf gegen die Welt.

210. Die Welt, die hier gemeint ist, umfasst nicht die Gesamtzahl aller in der Welt lebenden Personen, unter denen sich gleichzeitig auserlesene Seelen und Ungläubige befinden. Die Rede ist von den Gegnern Jesu Christi und von den Sklaven der dreifachen Begierlichkeit. Daher I) Von den Ungläubigen, die der Religion feindlich gegenüber stehen, weil diese ihren Stolz, ihre Sinnlichkeit und ihre unersättliche Gier nach Reichtümern verwirft. 2) Von den Gleichgiltigen, die sich um eine Religion, welche sie zwingen würde, aus ihrer Gleichgiltigkeit herauszutreten, nicht kümmern. 3) Von den unbusifertigen Sündern, die ihre Sünde lieben, weil sie die Lust lieben und sich nicht von ihr trennen wollen. 4) Von den Weltmensche11, die zwar glauben, ja, sogar praktisch ihren Glauben betätigen, aber ihn mit der Liebe zum Vergnügen, zum Luxus und zun Wohlleben verbinden und zuweilen ihren Mitmenschen, ob sie nun gläubig oder ungläubig seien, Argernis geben. Letztere nämlich werden von ihnen gewissermassen zu der Behauptung heraus-

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gefordert, die Religion habe wenig Einfluss auf sittliches Leben.

Das ist die Welt, die J esus wegen ihrer Ärgernisse verflucht hat. " Va: mundo a scandalis!" I Das ist die Welt, von welcher der hl. J ohannes sagte, sie läge im Argen: "Mundus totus in maligno posz'tus est. "2

211. I. Die Gefahren der Welt. Die Welt, die bis in die christlichen Familien, ja, sogar bis in die Klöster dringt, und zwar durch Besuche und Gegenbesuche, durch den brieflichen Verkehr, durch Lektüre von weltlichen Büchern und Zeitschriften, ist für das Heil der Seele und für die Vollkommenheit ein grosses Hindernis. Sie entzÜndet und schÜrt in uns das Feuer der Begierlichkeit. Sie verführt und tyrannisiert uns.

212. A) Sie verführt uns durch ihre Grundsätze, durch die ganze Aufmachung ihrer Eitelkez'ten und durch ihre lasterhaften Beispiele.

a) Durch ihre Grundsätze, die in direktem Widerspruch mit denen des Evangeliums stehen. Sie preist in der Tat das Glück der Reichen, Mächtigen oder Gewaltmenschen, der Emporkömmlinge, Ehrgeizigen und der Lebemenschen. Mit Vorliebe predigt sie von der Liebe zum Genusse: "Bekränzen wir uns mit Rosen, noch ehe sie verblühen. Coronemus nos rosz's antequam marcescant." 3 Muss man nicht seine Jugend geniessen und sein Leben ausleben? sagt sie. So viele andere tun das auch. Der liebe Herrgott kann doch nicht die ganze Welt verdammen! - Man muss sein Brot verdienen; hätte man in Geschäftssachen ein zartes Gewissen, so käme man nie auf einen grünen Zweig ...

b) Durch die ganze Aufmachung i/wer Eitelkez'ten und z'hrer Freuden. Die meisten der sogenannten " mondänen" Gesellschaften bezwecken nur Befrie-

, Mattlt., XVIII, 18. - 2 1 folt., V, IC). - 3 Buch der Weisheit, H, 8.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 163 digung der Neugierde, der Sinnlichkeit und selbst der Fleischeslust. Um das Laster anziehend zu gestalten, verbirgt man es unter der Form von Vergnügen, die man zwar ehrbar nennt, die aber gefährlich sind, wie z. B. tiefausgeschnittene Kleider, ferner Tänze, von denen einige nichts anderes zu bezwecken scheinen, als die Wollust in Blicken und Gebärden zu begÜnstigen. Was aber soll man erst zu den meisten öffentlichen Aufführungen und BÜhnenstÜcken und den in allen Schaufenstern ausliegenden unsittlichen BÜchern sagen?

c) Die lasterhaften Beispiele vergrössern noch die Gefahr. Sieht man soviele junge Menschen den Vergnügungen nachjagen, soviele pflichtvergessene Eheleute; sieht man, wie soviele Geschäftsleute sich auf wenig skrupulöse Art und Weise bereichern, so fÜhlt man sich versucht, sich zu ähnlichen U nsitten hinreissen zu lassen. - Übrigens ist die Welt den menschlichen Schwächen gegenÜber so nachsichtig, dass sie dazu eher zu ermutigen scheint. Ein VerfÜhrer ist in ihren Augen ein " galanter" Herr. Ein Geldmensch, ein Wucherer, der sich auf unerlaubte Weise bereichert, ist ein" tüchtiger Geschäftsmann ". Ein Freidenker ist ein" ganz vorurteilsloser Mensch, der den Erleuchtungen seines Gewissens folgt". Wieviele fühlen sich durch diese wohlwollenden Urteile zum Laster ermutigt!

213. B) Kann die Welt uns nicht verführen, dann versucht sie, uns zu tyrannisieren.

a) Bald ist eine richtige, organisierte Ve1j'oigung gegen die Gläubigen im Gange : In gewissen Verwaltungen steigen diejenigen Beamten nicht, die ohne Menschenfurcht ihre religiösen Pflichten erfÜilen oder ihre Kinder in katholische Schulen schicken.

b) Bald versucht man, die Schüchternen an der ReligionsausÜbung zu verhindern. Man macht sich

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über die "Betbrüder, Betschwestern und Pfaffenknechte ", die noch an solche Eseleien, wie es die Dogmen sind, glauben, lustig. Man spottet über MÜtter, die ihre jungen Töchter anständig kleiden. M an fragt sie ironisch, ob sie so ihre Töchter an den Mann zu bringen hoffen. Und wieviele lassen sich tatsächlich aus Menschenfurcht, trotz andauernder Gewissensvorwürfe, zu Sklavinnen dieser tyrannischen Mode machen, die keine Achtung mehr vor dem Schamgefühle hat!

c) Bald wieder wendet man Drohungen an." Tragen Sie Ihre Religion zur Schau ", sagen sie,,, so können wir Sie in unserem BÜro nicht brauchen. " " Sind Sie immer so spröde? Dann kommen Sie lieber nicht in unsere Salons." "Einen Skrupulanten wie Sie, kann ich nicht für meine Dienste verwenden. Sie müssen es wie alle andere machen und das Publikum betrügen, um mehr Geld zu verdienen. "

Nur zu leicht kann man auf diese Weise verführt oder eingeschüchtert werden, denn die Welt findet in unserem eignen Herzen und in dem natÜrlichen Wunsche nach guten Stellen, nach Auszeichnungen und Reichtümern einen VerbÜndeten.

214. 2. Das Gegenmittel. I Will man der gefährlichen Strömung widerstehen, so muss man mutig der Ewigkeit in' s Auge blicken und im Lichte des Glaubens die Welt betrachten. Dann werden wir sie als Feindin Christi erkennen, die wir energisch bekämpfen mÜssen, um unsere Seele zu retten. Wir werden sie als den Schauplatz unseres Eifers ansehen, auf dem wir die Grundsätze des Evangeliums zur Geltung bringen mÜssen.

215. A) Da die Welt die Feindin Jesu Christi ist, müssen wir zu ihren Grundsätzen und Beispielen die entgeg-engesetzte Stellung- einnehmen, eingedenk

, Vgl. TRONSON, Exa1lle1ls particuliers, XCIV-XCVI.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 165 des Dilemma vom hl. Bernhard : I " Entweder irrt sich Christus oder die Welt. Die göttliche Weisheit kann aber nicht irren. Aut iste (Christus) fallz'tur aut mundus errat. Sed divinam falli impossibile est sapientiam." Weil zwischen der Welt und Christus ein offenbarer Gegensatz besteht, mÜssen wir uns entscheiden. Niemand kann zwei Herren gleichzeitig dienen. Nun ist Jesus die unfehlbare Weisheit. Er also hat Worte des ewigen Lebens, die Welt jedoch liegt im Irrtum. So wird denn unsere Wahl schnell getroffen sein, "denn," sagt der hl. Paulus,,, nicht den Geist dieser Welt, sondern den Geist, der von Gott kommt, haben wir empfangen. Non spin'tum hujus 11lundi accepimus, sed Spiritu11l qui ex Deo est." 2 Der Welt gefallen wollen, heisst J esu Christo missfallen, fügt er hinzu. " Si hominibus placerem, servus Christi non essenz. " 3 Und der hl. Jakobus bemerkt diesbezüglich : "Wer also immer Freund dieser Welt sein will, der stellt sich als Feind Gottes dar:

Quicumque ergo voluerit amicus esse sceculi hujus, inimicus Dei constituitur." 4 Praktisch angewendet:

a) Lesen wir, lesen wir immer wieder das hl.

Evangelium. Sagen wir uns dabei : "Die ewige Weisheit spricht hier zu uns! " Bitten wir den, unter dessen Einfluss es geschrieben worden ist, um die Gnade, die darin enthaltenen Grundsätze richtig zu verstehen, zu verkosten und sie praktisch auf uns selbst anzuwenden. Nur so ist man ein echter Christ oder JÜnger J esu. Begegnen wir Grundsätzen, die dem Evangelium widersprechen, so sagen wir mutig : Sie sind falsch, denn sie sind gegen die unfehlbare Wahrheit.

b) Meiden wir die gefährlichen Gelegenheiten. Man findet sie leider nur zu häufig in der Welt. Die nicht im Kloster leben, sind zwar genötigt, fort-

r Sermo 111 de Nativitate Domini, n. I. - 2 1 Kori1lfh., II, 12. 3 Galater, I, 10. - 4 Jak., IV, 4-

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während mit der Welt in Berührung zu bleiben, müssen sich aber vor dem T17eltg-eiste hÜten, d. h. in der Welt leben, als wären sie nicht von ihr, denn J esus bat seinen Vater nicht, seine J Ünger .. aus der Welt zu nehmen, sondern sie vor dem Ubel zu bewahren. " Non rog-o ut tollas eos de mundo, sed ut serves eos a malo." I Und der hl. Paulus verlangt, wir sollten von der Welt Gebrauch machen, als benÜtzten wir sie nicht. "Qui utuntur hoc mundo tanquam non utantur. " 2

c) Das sollen vor allen anderen die Kleriker befolgen. Mit dem hl. Paulus sollen sie sagen können, sie seien der Welt gekreuzigt, wie die Welt ihnen gekreuzigt sei. " Mihz' mundus crucifixus est et ego mundo. " 3 Die Welt, die Hochburg der Begierlichkeit, kann uns nicht fesseln. N ur Abscheu kann sie uns einflössen, ebenso wie wir fÜr sie höchst unsympatisch sind. Unser Stand und unser Gewand bedeutet fÜr sie eine Verurteilung ihrer Laster. Rein-weltliche Beziehungen müssen wir meiden. Wir wären nicht am richtigen Platze. Wohl werden wir Besuche machen mÜssen aus gesellschaftlichen oder amtlichen Rücksichten, besonders auch des Apostolates wegen, aber sie sollen kurz sein und wir sollen dabei nicht vergessen, was vom Heilande nach seiner Auferstehung gesagt wird, nämlich, dass er seinen Jüngern nur sehr selten erschienen sei und nur, um ihre Heranbildung zu vollenden und ihnen vom Reiche Gottes zu sprechen. " Apparens eis et loquens de regno Dei. " 4

216. B) Wir sollen also nur mit der Welt in BerÜhrung kommen um direkt oder indirekt apostolisch zu wirken, d. h. um die Grundsätze und die Vorbilder des Evangeliums hineinzutragen. a) Wir sollen nicht vergessen, dass wir das Licht der Welt

'loh., XVII, 15. - 21 Korinther, VII, 3I. 3 Galater, VI, 14. - 4 Apostelgesc1lichte I, 3.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 167

sind." Vos estis lux mundil" I Ohne in den Unterhaltungen den Predigerton anschlagen zu wollen, was sehr ungeschickt wäre, werden wir dennoch alles, Personen, Ereignisse und sonstige Dinge vom übernatÜrlichen Standpunkte aus, nämlich im Lichte des Evangeliums, betrachten. Anstatt die Reichen und Mächtigen glücklich zu preisen, sollen wir betonen, und zwar in aller Einfachheit, es gebe andere Glücksquellen als Reichtum und Erfolg. Die Tugend werde schon hienieden belohnt, die im Kreise der Familie genossenen, reinen Freuden seien die schönsten, das Bewusstsein treu erfÜllter Pflicht tröste sehr viele UnglÜckliche, und ein gutes Gewissen sei mehr wert, als der Freudentaumel. Einige Begebenheiten aus dem Leben, die wir bei dieser Gelegenheit erzählen sollen, werden unsere Behauptungen beweisen. Durch sein Beispiel während des Gespräches soll der Priester besonders erbauen. Seine ganze Haltung, seine Art und Weise zu reden, sollen schlicht und einfach, gütig, aufrichtig, heiter und liebevoll sein. Kurz, er soll den Charakter der Heiligkeit an sich tragen. Dann macht er auf die, welche ihn sehen und hören, einen tiefen Eindruck. Man muss immer wieder diejenigen bewundern, die ihrem Glauben nach leben und man achtet unwillkürlich eine Religion, die so gediegene Tugenden hervorbringt. Setzen wir demnach die \i\'orte des Heilandes in die Praxis um :" So leuchte euer Licht vor den Menschen, auf dass sie eure guten \Nerke sehen und euren Vater preisen, der im Himmel ist. " Sie luceat lux vestra coram hominibus ut videant opera vestra bona et glorijicent Patrel1t vestrum qui in ca:lis est.2 Auf di~se apostolische Weise wirken nicht nur Geistliche. Uberzeugte Laien haben dabei um so glänzendere Erfolge, weil man weniger Misstrauen hat gegen die Wirkung ihres Beispieles.

, Matth., V, 14. - 2 l11attl!., V, 16.

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217. b) Es ist Aufgabe dieser auserlesenen Menschen sowie der Geistlichen, den schÜchternen Christen Mut ein zuflössen, gegen den Terrorismus der Menschenfurcht, der 'Mode oder der gesetzlichen Verfolgung zu kämpfen. Eines der besten Mittel besteht in der Gründung von Vereinen und Gesellschaften, die sich aus einflussreichen und mutigen Christen zusammensetzen und die keine Furcht haben, ihrer Überzeugung nach zu reden und zu handeln. So haben auch die Heiligen die Sitten ihrer Zeit gebessert. I So entstanden auch in unseren Hochschulen, ja, selbst im Parlamente, enggeschlossene Parteien, die es verstanden, der AusÜbung der Religion Achtung zu verschaffen und die Zögernden mit sich zu reissen. An dem Tage, an welchem diese Gruppen sich nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Lande vermehrt haben werden, wird die Menschenfurcht bald vernichtet sein und die wahre Frömmigkeit, wenn sie auch nicht im Besitze aller ist, wenigstens hochgeschätzt werden.

218. Also praktisch gewertet: Keinen Ausgleich mit der \iVelt, so wie wir sie geschildert haben. Keine Zugeständnisse, um ihr zu gefallen oder um von ihr geachtet zu werden! Mit Recht sagt der hl. Franz von Sales 2 " Mögen wir tun, was wir wollen, die Vlelt wird uns stets bekämpfen. Lassen wir die Verblendete, 0 Philothea. Mag sie lärmen wie eine Nachteule, welche die Vögel des Lichtes beunruhigen will. Bleiben wir fest in unseren Absichten, unveränderlich in unseren EntschlÜssen. Die Beharrlichkeit wird beweisen, ob wir mit Ernst und aufrichtigem Herzen ein fÜr allemal uns Gott geschenkt und ein religiöses Leben gewählt haben. "

• So erzielten z. B. der hl. Vinzenz v. Paul und Oliey durch die Gründung von Vereinen und Bünden hervorragende Erfolge.

o PI,ilothea. IV. B., Kap. 1.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 169

III. Der Kampf gegen den Teufel. I

219. 1. Das Vorhandensein teuflischer Versuchung und der Grund ihres Daseins. Wir sahen bereits (N. 67), wie der Teufel das GlÜck unserer Stammeltern beneidete und sie zur SÜnde reizte. Nur zu leicht erreichte er seinen Zweck. So erklärt denn auch das Buch der Weisheit:" Durch den Neid des Teufels ist der Tod in die Welt gekommen." Invidia diaboli mors introivit in orbem.2 Seitdem hörte er nie auf, mit den Nachkommen Adams anzubinden und ihnen Fallen zu legen. Ist auch die Herrschaft Satans seit der Ankunft des Erlösers und dessen Sieg Über ihn, sehr eingeschränkt worden, so bleibt doch wahr, dass wir nicht nur gegen Fleisch und Blut zu kämpfen haben; sondern auch noch gegen die Mächte der Finsternis und gegen die bösen Geister. Das bestätigt der hl. Paulus 3 : " Denn wir haben nicht nur gegen Fleisch und Blut den Kampf zu fÜhren, sondern auch gegen die Mächte und Gewalten, gegen die WeItbeherrscher dieser Finsternis, gegen die Geister der Bosheit unter dem Himmel. Quoniam non est nobis colluctatio adversus carnem et sanguinem, sed adversus ... mundi rectores tenebrarum harum, contra spiritualia nequitia:." Der hl. Petrus 4 vergleicht den Teufel mit einem brÜllenden Löwen, der umhergeht und uns zu verschlingen droht. "Adversarius vester diabolus tanquam leo ru giens, circuit qua:rens que11Z devoret. "

220. Lässt die Vorsehung diese Angriffe zu, so geschieht es nach dem allgemeinen Grundsatze, dass Gott nicht nur die Seelen direkt leitet, sondern auch durch die Vermittlung zweiter Ursachen, indem er den Geschöpfen eine gewisse Betätigungsfreiheit lässt. Übrigens ermahnt er uns, auf der Hut

, S. THOMAS, I, q. Iq. Die hl. THERESE, Leben, VOll ihr selbst geschr. Kap. 3°-31; RIBET, L'Asdtique c/m!tienne, Kap. XVI.

2 Weish., H, 24. - 3 Ephes., VI, 12. - 4 I Petr., V, 8-9.

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zu sein. Er sendet seine guten Engel, besonders unsern Schutzengel, zu Hilfe und zum Schutze (N. 186 u. ff.), ohne von dem Beistande zu reden, den er selbst oder sein Sohn uns gewährt. Aus diesem Beistande ziehen wir Nutzen und besiegen den Teufel, erstarken in der Tugend und erwerben Verdienste fÜr den Himmel. Dieses wunderbare Walten der Vorsehung zeigt uns deutlicher, welch' hohe Bedeutung wir unserem Seelenheil und unserer Heiligung beimessen sollen, da Himmel und Hölle daran Anteil nehmen. Um den Preis des ewigen Lebens spielen sich ausserhalb und zuweilen auch in unserer Seele heisse Kämpfe himmlischer und höllischer Mächte ab. Um den Sieg davonzutragen, sehen wir uns einmal die Kampfmethode des Teufels näher an.

221. 2. Die Kriegskunst des Teufels. A) Der Teufel kann nicht unmittelbar auf unsere höheren Fähigkeiten, Verstand und \Villen, einwirken. Gott hat sich dieses Heiligtum selbst vorbehalten. Gott allein kann bis in das Innerste unserer Seele dringen und unseren \iVillen anregen, ohne uns Gewalt anzutun. " Deus solus anima: z'llabitur." Aber der Teufel kann unmittelbar auf unseren Leib einwirken, auf die äusseren und inneren Sinne, besonders auf die Einbildungskraft und auf das Gedächtnis. Ebenso auf die Leidenschaften, die im sinnlichen Empfindungsvermögen liegen. Dadurch wirkt er indirekt auf den Willen, der durch die verschiedenen Regungen des Empfindungsvermögens angeregt wird, seine Zustimmung zu geben. In jedem Falle bleibt der Wille stets frei, in jene leidenschaftlichen Erregungen einzuwilligen oder nicht, sagt der hl. Thomas. I " Voluntas se11lper remanet libera ad consentiendu1tl vel resz'stendullt passicni. "

'Sum. theol., q. III, a. 2. - Mit Recht fügt er hinzu: " Dremones non possunt imrnittere cogitationes interius eas causando, eUlU usus cogitativre virtutis subjaceat voluntati. "

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 171 B) Die Macht des Teufels über die sinnlichen Fähigkeiten und den Leib ist zwar sehr gross, wird aber von Gott in Schranken gehalten. Er erlaubt ihm nicht, uns über unsere Kräfte zu versuchen. Fidelis aute71t Deus est qui non patietur vos tentari supra id quod potestis, sed faciet etiam CU11Z tentatiotte proventu11l. I Wer sich deshalb demütig und vertrauensvoll auf Gott stützt, wird sicher siegen.

222. C) Man darf nicht glauben, sagt der hl. Thomas, 2 alle Versuchungen, die wir verspüren, kämen vom Teufel. Unsere durch frühere Gewohnheiten und gegenwärtige Unvorsichtigkeiten erregte Begierlichkeit ist oft die alleinige Ursache. " Unusquisque vero tentatur a concupiscentia sua abstractus et illectus." 3 Ebenso wäre es verwegen, zu behaupten, der Teufel Übe keinerlei Einfluss auf uns aus. Das widerspräche der HI. Schrift und der Überlieferung. Sein Neid auf die Menschen und das Verlangen, sich dieselben zu unterwerfen, beweisen seine Dazwischenkunft 4 hinreichend.

Woran erkennt man die teuflische Versuchung?

Das ist schwer zu sagen, weil unsere Begierlichkeit allein schon imstande ist, uns heftige Versuchungen zu bereiten. Kommt jedoch die Versuchung plötzlich, ist sie heftig und aussergewöhnlich andauernd, so kann man annehmen, der Teufel habe dabei seine Hand im Spiel. Besonders trifft das zu, sobald die Versuchung die Seele tief und lange erschÜttert oder in ihr den Wunsch nach auffallenden Dingen, nach aussergewöhnlichen, Aufsehen erregenden BussÜbungen aufkommen lässt. Namentlich aber, wenn man seinem Beichtvater nichts davon sagen will und seinen Oberen kein Vertrauen entgegenbringt. 5

, J Korinther, X, 13. - 2 Sumo t/zeol., I, q. II4, a. 3. 3 Jak., I, 14. - 4 Sumo theol., I, q. II4, a. I.

5 Hier sind die Regeln von der Unterscheidung der Geister für die

I. U. 2. Woche der Jgnatialliscllen Exer;:itien zu beachten.

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ZWEITES KAPITEL.

223. 3. Mittel gegen die Versuchungen des Teufels. Diese Mittel werden uns von den Heiligen, besonders von der Izl. Tlterese angegeben. I

A) Das erste besteht in demÜtigem und vertrauensvollem Gebete, um Gott und seine Engel auf unsere Seite zu ziehen. Ist Gott mit uns, wer wird gegen uns sein? Wer kann mit Gott verglichen werden? " Quis ut Deus? "

Dieses Gebet muss demÜtig sein, denn nichts verjagt den aufrÜhrerischen Engel schneller. Durch Hoffart hatte er sich einst empört und nie verstand er, die Tugend der Demut sich anzueignen. Sich 'vor Gott verdemÜtigen, unsere Ohnmacht, ohne seine Hilfe zu siegen, eingestehen, vereitelt die Absichten des stolzen Engels. Unser Gebet muss vertrauetlsvoll sein, weil nämlich unser Sieg die Ehre Gottes fördert, können wir zuversichtlich auf die Wirksamkeit der Gnade rechnen. Es ist auch sehr ratsam, den M. Michael anzurufen. Er hat bekanntlich einst dem Teufel eine schwere Niederlage beigebracht und wird glÜcklich sein, in und durch uns seinen Sieg zu vollenden. Unser Schutzeng-el wird ihm gern dabei helfen, vorausgesetzt, dass wir das nötige Vertrauen zu ihm haben. Besonders aber vergessen wir nicht, die Unbefleckte Jungfrau anzuflehen, die unaufhörlich mit ihrem jungfräulichen Fusse der Schlange den Kopf zertritt und fÜr den Teufel furchtbarer als ein in Schlachtordnung aufgestelltes Heer ist.

224. B) Das zweite Mittel ist das Vertrauen auf Hilfe durch den Gebrauch der M. Sakramente und Sakramentalien. Da die Beichte ein Akt der Demut ist, schlägt sie den Teufel in die Flucht. Die Lossprechung, die dem SÜnden bekenntnisse folgt, wendet uns die Verdienste J esu Christi zu und macht uns gegen die Pfeile Satans unverwundbar. Die hl.

, Se1fo.rtbiwrrapllie. Kap. XXX-XXXI,

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 173

Kommunion legt denjenigen in unser Herz, der Satan besiegte und ihm Schrecken einftösst. Eine sehr wertvolle Hilfe sind auch die Sakramentalien:

Das hl. Kreuzzeichen, die liturgischen Gebete, die im Geiste des Glaubens und in Vereinigung mit der Kirche verrichtet werden. Die hl. Therese empfiehlt besonders das Weihwasser, I vielleicht, weil es fÜr den Teufel eine VerdemÜtigung ist, durch ein so einfaches Mittel wie dieses, vertrieben zu werden.

225. C) Das letzte Mittel ist eine tiefe Verachtung des Teufels. Wiederum wollen wir die hl. Therese sprechen lassen : "Die höllischen Geister plagen mich zwar sehr oft, aber ich fÜrchte mich nicht vor ihnen, weil ich sehr wohl weiss, ohne Zustimmung Gottes vermögen sie nicht sich zu rühren. Man soll sich gut merken : So oft wir sie verachten, verlieren sie ihre Kräfte und die Seele gewinnt um so grössere Gewalt über sie. Stark sind sie nur feigen Seelen gegenÜber, die sich ergeben. Ihnen suchen sie durch ihre scheinbare Gewalt zu imponieren. " 2 Sich verachtet zu sehen von Wesen, die schwächer sind als sie, ist in der Tat eine harte VerdemÜtigung für diese stolzen Geister. Wie wir bereits sagten, haben wir, demÜtig auf Gott gestützt, das Recht und die Pflicht, sie zu verachten. "Si Deus pro nobis, quis (Ontra nos?" Sie können zwar bellen, aber beissen können sie uns nur, wenn wir uns durch Unvorsichtigkeit oder Stolz in ihr Bereich begeben. "Latrare potest, mordere non potest nisz' volentem. "

Somit stärkt der Kampf, den wir sowohl gegen den Teufel, als auch gegen die Welt und die Begierlichkeit zu fÜhren haben, das ÜbernatÜrliche Leben

, " Es war zur seIhen Zeit, als ich eines Nachts glaubte, die Teufel würden mich erdro",eln. Man goss viel Weihwasser auf sie und ich sah eine Menge fliehen, als stürzten sie sich von einer Höhe herab. " Selbstbiographie. Kap. XXXI, S. 404.

, 1.. c. S. 405, 406.

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ZWEITES KAPITEL.

in uns, ja, ermöglicht sogar, darin Fortschritte zu machen.

SCHLUSSFOLGERUNG.

226. I. Wie wir soeben feststellten, ist das christliche Leben ein Kampf, ein schwerer Kampf mit verschiedenen Wendungen, ein Kampf, der erst mit dem Tode endet. Ein Kampf von grösster Bedeutung, da der Einsatz das ewige Leben ist. Nach der Lehre des hl. Paulus sind ZWfZ' Menschen in uns: a) der wiedergeborene, neue Mensch mit edlen, ÜbernatÜrlichen, göttlichen Neigungen, die der HI. Geist in uns erzeugt und zwar durch die Verdienste J esu Christi und die FÜrbitte der Allerseligsten Jungfrau und der Heiligen. Wir bemÜhen uns, diesen Neigungen nachzugehen und setzen zu diesem Zwecke, mit Hilfe der aktuellen Gnade den übernatürlichen Organismus in Tätigkeit. b) Neben ihm jedoch befindet sich der natÜrliche Mensch, der fleischliche Mensch, der alte Mensch mit den schlechten Neigungen, welche die Taufe nicht aus der Seele entfernte : Die dreifache, böse Beg-ierlichkeit, die wir von unserer ersten Geburt an in uns haben und welche die vVelt und der Teufel anfachen und verstärken. Die beständig in uns vorhandene Neigung zur ungeordneten Liebe sinnlicher GenÜsse, unserer eignen Vortrefflichkeit und irdischer Güter. Diese bei den Menschen geraten notwendigerweise in Streit. Das Fleisch, oder der alte Mensch, wünscht und sucht den Genuss, ohne sich um dessen sittlichen Wert zu kümmern. Der Geist erinnert ihn zwar daran, dass es verbotene und gefährliche Freuden gebe, auf die man aus Liebe zur Pflicht, d. h. mit Rücksicht auf den Willen Gottes, verzichten müsse. Da aber das Fleisch in seinen GelÜsten verharrt, so ist der durch die Gnade unterstützte Wille genötigt, es abzutöten, ja selbst gegebenenfalls es zu kreuzigen. Somit ist der Christ

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 175

ein Soldat, I ein Athlet, der um eine unvergängliche Krone bis zum Tode kämpft.

227. 2. Dieser Kampf lzijrt nie auf. Trotz aller Anstrengungen nämlich vermögen wir nie den alten Menschen gänzlich in uns abzulegen. Wir können ihn nur schwächen, fesseln und zur selben Zeit den neuen Menschen gegen die Angriffe des ersteren widerstandsfähiger machen. Anfangs ist infolgedessen der Kampf heisser und erbitterter, und die Angriffe des Feindes sind häufiger und heftiger. Aber nach und nach gewinnen wir durch energische und' standhafte Anstrengung die Oberhand, der Feind verliert seine Kraft, die Leidenschaften beruhigen sich, und, abgesehen von gewissen, von Gott gewollten Prüfungszeiten, durch die wir zur höheren Vollkommenheit gelangen sollen, geniessen wir eine gewisse relative Ruhe, welche die Vorbotin des endgiltigen Sieges ist. Der Gnade Gottes verdanken wir den Erfolg. Vergessen wir aber nicht : Die Gnaden, die uns geschenkt wurden, sind Gnaden fÜr den Kampf, nicht aber für die Ruhe! Streiter, Athleten, Aszeten sind wir und mÜssen, wie der hl. Paulus sagt, bis ans Ende kämpfen, um .unsere Krone zu verdienen: "Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt. Im übrigen ist mir die Krone der Gerechtigkeit hinterlegt, welche mir der Herr geben wird. - Bonum certamen certavi, curSU11l COnSlt11ZmaVZ; jidem servavi. In reliquo reposita est mihi corona justitia: quam reddet mihi Dominus. " 2 Das ist das Mittel, um das christliche Leben in uns zu vervollkommnen und zahlreiche Verdienste zu sammeln.

, 1I Tim., Il, 1-7, Deshalb schildert auch der hl. Paulus seine Waffenriistung. Epheser, VI, IO-I8 •

• // Tim., IV, 7-3.

176

ZWEITES KAPITEL.

§ 11. Das Erstarken des geistlichen Lebens durch das Verdienst. I

228. Durch den Kampf gegen unsere Feinde machen wir zwar Fortschritte, grössere aber durch die täglichen, verdienstlichen Akte. Jede gute, aus ÜbernatÜrlichem Beweggrunde vollzogene, freiwillige Handlung einer im Zustande der Gnade sich befindenden Seele hat einen dreifachen Wert: Sie erwirbt Verdienste, sÜhnt und erlangt Erbetenes. Alles das trägt zu unserem geistlichen Fortschritte bei.

a) Sie erwirbt Verdienste, durch die wir unseren Schatz an heiligmachender Gnade und unsere Anrechte auf die ewige Seligkeit vermehren. Darauf kommen wir sogleich näher zu sprechen.

b) Sie sÜhnt. Die SÜhne besteht aus drei Dingen.

I) Aus dem Wohlwollen, das, wenn wir reuevollen und demÜtigen Herzens sind, uns Gott gÜnstig und geneigt macht, uns unsere SÜnden zu verzeihen. 2) Aus der durch die Gnade bewirkten Tilgung der Schuld. 3) Aus der Genugtuung, welche infolge der mit der Vollziehung unserer guten Werke verbundenen Mühe entweder gänzlich oder teilweise die zeitliche SÜndenstrafe aufhebt. Nicht nur die guten Werke, an und für sich, erzielen diesen glÜcklichen E.rfolg, sondern auch die bereitwillige Annahme der Ubel und Leiden dieses Lebens, wie das Konzil von Trient lehrt. 2 Es fügt hinzu, das sei gerade ein deutliches Zeichen göttlicher Liebe. Gibt es wohl

,S. THOMAs. Ia IIre, q. II4; TERRIEN, La grdce et la gloire, t. II,

S. 15 u~ ff; L. LABAUCHE, L'lwmme, II1. Teil, Kap. 3; HUGON, La Vie Spirituelle, t. II (1920), S. 28,273,353; AD. TANQUEREY, op. ci!.,

t. III, N. 2IO-235.

2 X IV Sess. - De sacram. p~nitent., cap. 9 : "Docet pr~terea tantarn esse divin~ munificenti~ largitatem, ut non sol um pcenis sponte a nobis pro vindicando peccato susceptis ... sed etiam (quod maximum amoris argument'Ull est) temporalibus ftagellis a Deo inftictis et a nobis patien:er toleratis apud Deum Patrem per Christum Jesull1 satisfacere valeanlus. "

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 177

einen besseren Trost, als aus allen Widerwärtigkeiten Nutzen ziehen zu können, um seine Seele zu reinigen und inniger mit Gott zu vereinigen?

c) Dieselben Handlungen oder Akte erlangen auch Erbetenes, insofern sie eine Bitte um neue Gnaden, die wir an die unendliche Barmherzigkeit Gottes richten, enthalten. Wie der hl. Thomas mit Recht bemerkt, betet man nicht nur, wenn man Gott eine ausdrÜckliche Bitte vorträgt, sondern auch so oft man durch eine Erhebung des Herzens oder durch eine Handlung nach ihm strebt. Somit betet eigentlich derjenige stets, der sein Leben ganz auf Gott richtet. "Tamdz'u homo orat quamdiu agit corde, ore vel opere ut z'rt Deum tendat, et sz'c sem per orat quz' totam suam vz'ta11l in Deum ordz·nat. "I Ist dieses Streben nach Gott nicht tatsächlich ein Gebet, eine Erhebung der Seele zu Gott und ein sehr wirksames Mittel, um von ihm zu erlangen, was wir für uns und andere wÜnschen?

Für unseren Zweck soll es genÜgen, die Lehre vom Verdienste darzulegen. I. Sein Wesen. 2. Die Bedingungen, die seinen Wert erhöhen.

I. Das Wesen des Verdz·enstes.

Zwei Dinge gilt es zu erklären: I. Worin besteht das Verdienst? 2. Wie werden unsere Handlungen verdienstlich?

I. WORIN DAS VERDIENST BESTEHT.

229. A) Verdienst im allgemeinen ist Anrecht auf Belohnung. Das übernatÜrliche Verdienst, von welchem hier die Rede ist, wird also in dem Anrecht auf übernatürliche Belohnung bestehen, d. h. auf Teilnahme am Leben Gottes, an Gnade und Seligkeit. Da Gott nicht verpflichtet, ist, uns an seinem Leben teilnehmen zu lassen, so bedarf es, seiner-

'In Roman .• cap. I, 9-IO.

178

ZWEITES KAPITEL.

seits, eines Versprechens, um uns ein wirkliches Anrecht auf diese übernatÜrliche Belohnung zu verleihen. Somit kann man das ÜbernatÜrliche Verdienst auf folgende Weise beschreiben: Ein Anrecht auf eine Übernatürliche Belolznung, welches sich aus einer ÜbernatÜrlich guten, aus Liebe zu Gott freiwillig vollzogenen Handlung und einem göttliche11, diese Belohnung' zusichernden Versprechen ergibt.

230. B) Man unterscheidet zwez' Arten von Verdiensten : a) Das Verdienst im eigentlichen S z'nne (" de condigno" genannt), welchem der Lohn von Rechts wegen gebÜhrt, weil eine Art Gleichheit oder Proportion tatsächlich zwischen dem Werke und dem Lohne vorhanden ist. b) Das Verdienst der Angemessetthez't (de co ngru 0 ), das nicht auf der streng genommenen Gerechtigkeit begründet ist, sondern auf hoher Angemessenheit, da das Werk nur in schwachem Verhältnisse zum Lohne steht. Um diese Unterscheidung einigermassen zu veranschaulichen, kann man sagen, der Soldat, der Tapferkeit auf dem Schlachtfelde zeigt, hat ein wirkliches Anrecht auf Kriegslohn, jedoch nur ein Anrecht der Angemessenheit auf öffentliche Belobigung oder A uszeichn ung.

C) Das Konzil von Trient lehrt, die Werke des gerechtfertigten Menschen verdienen wirklich eine Vermehrung der Gnade, das ewige Leben und, stirbt er in diesem Zustande, die Glorie. I

231. D) Erinnern wir uns noch einmal kurz an die allgemeinen Bedingungett des Verdienstes. a) Die Handlung muss, um verdienstlich zu sein, aus freiem Willen hervorgehen. Handelt man gezwungen oder aus Notwendigkeit, so ist man nicht dafÜr verantwortlich. b) Sie muss ÜbernatÜrlz'ch gut sein,

, Conc. Trident., Sessio VI, can. XXXII.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 179

um in Proportion mit der Belohnung zu stehen. c) Handelt es sich um das Verdienst im eigentlichen Sinne, so muss sie im Zustande der Gnade vollzogen werden, denn durch die Gnade wohnt und lebt Christus in unserer Seele und macht uns seiner Verdienste teilhaftig. d) Während unseres sterblichen Lebens oder unserer irdischen Pilgerreise. Gott nämlich hat weise gefügt, dass wir nach einer Prüfungszeit, in der wir Verdienste erwerben und verlieren können, an eine Grenze gelangen, an der man für immer in dem Zustande bleibt, in welchem man stirbt. An diese Bedingungen von seiten des Menschen knüpft sich von seiten Gottes das Versprechen, das uns ein wirkliches Anrecht auf den Himmel verleiht. Nach der Lehre des hl. J akobus empfängt der Gerechte die Krone des Lebens, welche Gott denen versprochen hat, die ihn lieben. "Accipiet corona111 vita: quam repromisit Deus diligentibus se. " I

2. AUF WELCHE WEISE DIE VERDIENSTLICHEN HANDLUNGEN GNADE UND SELIGKEIT VERJ\IEHREN.

232. Auf den ersten Blick erscheint es schwer verständlich, wie Akte, die doch so einfach, so gewöhnlich und ihrem Wesen nach vorÜbergehend sind, das ewige Leben verdienen können. Diese Schwierigkeit wäre unlösbar, kämen diese Akte nur von uns. In Wirklichkeit jedoch sind zwei daran beteiligt, sie sind das Ergebnis gemeinsamer Arbeit, nämlich Gottes und des menschlichen Willens. So erklärt sich auch ihre Wirksamkeit : Durch die Belohnung unserer Verdienste krönt Gott auch seine Gaben, denn er hat bei diesen Verdiensten einen vorwiegenden Anteil. Erklären wir den Anteil Gottes und den des Menschen näher. Dann werden wir die Wirksamkeit verdienstlicher Akte besser verstehen.

'Jak., I, 12.

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ZWEITES KAPITEL.

A) Gott ist die Haupt- und G,'undursache unserer Verdienste. " Nicht ich habe gearbeitet," sagt der hl. Paulus, " sondern die Gnade Gottes, die mit mir ist." Non ego, sed gratia Dei mecum." I In der T.at. Gott schuf unsere Fähigkeiten und erhob sie in den übernatürlichen Zustand, indem er sie durch die Tugenden und Gaben des Hl. Geistes vervollkommnete. Er ist es, der durch seine aktuelle, zuvorkommende und helfende Gnade uns anregt, Gutes zu tun und uns hilft, es zu vollbringen. Er ist somit die erste Ursache, die unsern Willen in Bewegung setzt und ihm neue Kräfte verleiht, um Übernatürlich zu handeln.

233. B) Folgt unser freier Wille den Anregungen Gottes, so handelt er unter dem Einflusse der Gnade lind der Tugenden und wird auf diese Weise zwar die sekundäre, aber wirkliche und wirkende Ursache unserer verdienstlichen Handlungen, weil wir Mitarbeiter Gottes sind. Im Himmel können wir keine Verdienste mehr sammeln, weil wir Gott, den wir dann klar als unendliche GÜte und als die Quelle unserer S~ligkeit schauen, nicht mehr nicht lieben können. Ubrigens ist unsere Mitwirkungselbst ÜbernatÜrlich. Durch die heiligmachende Gnade sind wir unserem Wesen nach vergöttlicht. Durch die eingegossenen Tugenden und die Gaben sind wir es unseren Fähigkeiten nach. Durch die aktuelle Gnade sind wir es in bezug auf unsere Handlungen. Somit besteht ein wirkliches Verhältnis zwischen unseren gottähttlichen Handlungen und der Gnade, cJie ja ebenfalls ein gottähnliches Leben ist. Zwar sind diese Akte vorÜbergehend, während die Seligkeit ewig währt. Da aber im natürlichen Leben vorübergehende Akte Gewohnheiten und Zustände der Seele hervorbringen, so ist es recht und billig, dass dasselbe auch in der

, Korinther, XV, 10.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN

übernatÜrlichen Ordnung geschieht und dass unsere Tugendwerke, die in unserer Seele die habituelle Verfassung hervorrufen, Gott zu lieben, durch einen bleibenden Lohn vergolten werden. Da unsere Seele unsterblich ist, geziemt ihr eine ewige Belohnung.

234. C) Man könnte zwar einwenden, trotz dieses Verhältnisses sei Gott nicht verpflichtet, uns einen so herrlichen und bleibenden Lohn, wie Gnade und Seligkeit es sind, zu teil werden zu lassen. Wir geben ohne weiteres zu, dass Gott in seiner unendlichen Güte uns mehr gibt, als wir verdienen. Er wäre nicht verpflichtet, uns die beseligende Anschauung geniessen zu lassen, hätte er es nicht versprochen. Das Letztere geschah jedoch durch unsere Bestimmung zu einem übernatürlichem Ziel. In der HI. Schrift wird mehr als einmal an dieses Versprechen erinnert, wobei das ewige Leben als eine dem Gerechten versprochene Belohnung und als Krone der Gereclztigkeit dargestellt wird. " Coronam quam l'epromisit Deus dÜigentibus se ... corona justitia: quam reddet mihi justus juder." I Deshalb erklärt auch das Konzil von Trient, das ewige Leben sei gleichzeitig eine, von J esus Christus aus Barmherzigkeit versprochene Gnade und eine Belohnung, die durch göttliches Versprechen fÜr gute \Verke und Verdienste getreu bewilligt wird. 2

235. Kraft dieses Versprechens kann man die Folgerung ziehen, dass das Verdienst, als solches, etwas Persb'nliclzes sei : FÜr uns und nicht fÜr andere verdienen wir die Gnade und das ewige Leben, weil das Versprechen Gottes nicht weiter hinausreicht. Ganz anders verhält es sich mit] esus Christus, unserem Erlöser, der, nachdem er zum sittlichen Haupte der Menschheit aufgestellt worden war, als solches fÜr ein jedes seiner Glieder Verdienste erwarb und zwar im engsten Sinne des

• Jak., I, 12; Il Tim., IV, 8. - 2 Sess. VI, c. 16.

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ZWEITES KAPITEL.

Wortes. Gewiss können wir auch fÜr andere Verdienste erwerben, aber nur solche der Angemessenheit. Und auch das ist schon sehr trostreich für uns, denn dieses Verdienst knüpft sich an dasjenige, das wir fÜr uns selbst erwerben und macht es auf diese Weise möglich, beim Werke unserer eignen Heiligung noch bei dem unserer Mitmenschen mitzuwirken. Sehen wir jetzt einmal die Bedingungen, die den Wert unserer verdienstlichen Akte erhöhen, näher an.

11. Die Bedz'ngttngen, die unser Verdz'enst vergrössern.

236. Diese Bedingungen gehen begreiflicherweise aus den verschiedenen Ursachen hervor, die zur Vollziehung verdienstlicher Akte beitragen, also von Gott und von uns selbst. \i\Tir können auf die Freigebigkeit Gottes rechnen. Gott ist stets herrlich in seinen Geschenken. Unsere Aufmerksamkeit muss infolgedessen zunächst auf unsere innere Verfassung gerichtet sein. Sehen wir, wodurch diese, sowohl seitens der Person, die Verdienste erwirbt, als auch seitens des verdienstlichen Aktes selbst, besser wird.

I. BEDINGUNGEN IN BEZUG AUF DIE PERSON.

237. Vier Dinge tragen hauptsächlich zur Vermehrung unserer Verdienste bei: Unser Grad heiligmachender Gnade oder christlicher Liebe, unsere Vereinigung mit J esus, die Reinheit unserer Absicht und unser Eifer.

a) Unser Grad hez'lz'gmaclte1zder Gnade. Um Verdienste zu erwerben, im eigentlichen Sinne, muss man im Stande der Gnade sein. Je mehr wir an heiligmachender Gnade besitzen, desto geeigneter sind wir, unter sonst gleichen Umständen, für die Erwerbung von Verdiensten. Einige Theologen haben dieses geleugnet, und zwar unter dem Vor-

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 183

wande, dieser Vorrat von Gnade hätte keinen Einfluss auf unsere Handlungen, um sie besser zu gestalten, und heiligmässige Seelen vollzögen sie zuweilen in nachlässiger und unvollkommener Weise, aber die allgemeine Lehre ist doch diejenige, die wir vertreten.

I) Der Wert einer Handlung hängt selbst unter Menschen zum grossen Teile von der WÜrde der Person ab, welche die Handlung verrichtet, und von ihrem Einflusse auf den, der sie belohnen soll. 'vVas nun die Würde des Christen ausmacht und ihm Einfluss auf das Herz Gottes verleiht, ist der Grad der Gnade oder des göttlichen Lebens, zu welchem er erhoben ist. Aus diesem Grunde sind die Heiligen des Himmels und der Erde so mächtige Fürbitter. Besitzen wir also einen höheren Grad von Gnade, so ergibt sich, dass wir in den Augen Gottes einen grösseren 'vVert als diejenigen haben, die davon weniger besitzen, ferner, dass wir ihm mehr gefallen und deshalb unsere \iVerke edler, Gott wohlgefälliger und dadurch auch verdienstlicher sind.

2) Übrigens wird dieser Gnadengrad im allgemeinen und fÜr gewöhnlich einen sehr grossen Einfluss auf die Vollkommenheit unserer Akte ausüben. Ist das ÜbernatÜrliche Leben reichlicher in uns vorhanden und lieben wir Gott mit vollkommenerer Liebe, so fühlen wir uns auch angetrieben, unseren Handlungen grössere Sorgfalt zuzuwenden, mehr Liebe hineinzulegen, hochherziger bei unseren Opfern zu sein. Nach dem Zugeständnisse aller erhöht diese Verfassung sicherlich unsere Verdienste. Man möge also nicht sagen, das Gegenteil träfe zuweilen zu. Das ist in diesem Falle eine Ausnahme und nicht die allgemeine Regel. Wir trugen dieser Tatsache Rechnung durch die BeifÜgung: " unter sonst gleichen Unz.;tänden."

Und wie trostreich ist diese Lehre! Durch die V ermehrung unserer verdienstlichen Werke erhöhen

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ZWEITES KAPITEL.

wir von Tag zu Tag unser Gnadenkapital. Das wiederum ermöglicht uns, mehr Liebe in unsere Handlungen zu legen, und diese tragen zum Wachstume unseres übernatÜrlichen Lebens bei. " Quijustus est, justijicetur adhuc. "

238. b) Unser Grad der Vereinigung mit Jesus.

Soviel ist klar : Die Quelle unseres Verdienstes ist J esus Christus, der Urheber unserer Heiligung, die Haupt- Ursache des Verdienstes aller Ü bernatürlichen Güter, das Haupt eines mystischen Leibes, dessen Glieder wir sind. Je näher wir der Quelle sind, desto mehr empfangen wir aus ihrer Fülle. Je mehr wir uns dem Urheber aller Heiligkeit nähern, desto mehr Gnade erhalten wir. Je enger wir mit dem Haupte vereinigt sind, desto mehr Bewegung und Leben kommt in uns. Sagt es nicht der Heiland selbst in der schönen Parabel vom Weinstock?" Ich bin der Weinstock, ihr die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viele Frucht. " Ego sum vitis, vos palmz'tes ... qui manet in 11Ze et ego in eo, hic .fert .fructu11Z 11Zultu1Jt." I Vereint mit dem Heiland, wie die Reben mit dem Weinstock erhalten wir um so mehr vom gO'ttlichen Sa.ft, je beständiger, inniger und fester wir mit ihm, dem göttlichen Weinstocke, verbunden sind. Darum haben eifrige Seelen oder solche, die es werden wollen, stets eine immer innigere Vereinigung mit J esus gesucht. Aus demselben Grunde verlangt die Kirche selbst, dass wir unsere Handlungen durch ihn, mit ihm und in ihm vollziehen. Durch ihn, per ipsu11Z, denn niemand kommt zum Vater ohne ihn :

Nemo venit ad Patrem nisi per me. 2 Mit ihm, CUltZ ipso, d. h. mit ihm wirken, denn er will unser Mitarbeiter sein. In ihm, t'n ipso, d. h. in seiner Kraft und in seiner Macht, besonders aber in seinen Absichten, und zwar nur in seinen.

'loh. XV, 1-6. - 2 loh. XIV, 6.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 185 Dann lebt J esus in uns, beeinflusst unsere Gedanken, Wünsche und Werke, sodass wir mit dem hl. Paulus I sagen können : "Ich lebe aber, doch nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Vivo autem,jam non ego, vivit 7.Jero in 11le Christus. " Es ist einleuchtend, dass Handlungen, die unter dem belebenden Einflusse und der Wirkung Christi, also unter seiner allmächtigen Mitarbeit, vollzogen werden, einen unvergleichlich grösseren Wert haben, als wenn sie von uns allein verrichtet werden. Auf das Praktische angewendet: Sich oft und besonders bei Beginn der Handlungen, mit J esus und seinen so überaus vollkommenen Absichten vereinigen und dabei an unsere Unfähigkeit denken, irgend etwas Gutes aus uns selbst zu vollbringen. Gleichzeitig aber auch das unerschÜtterliche Vertrauen in sich tragen, dass er unserer Schwäche zu Hilfe kommen kann.

239. c) Die Reinheit der Absicht oder die Vollkommenheit dl!s Beweggrundes. Mehrere Theologen sagen, es genÜge, um unsere Handlungen verdienstlich zu machen, wenn sie aus einem ÜbernatÜrlichen Beweggrund von Furcht, Hoffnung oder Liebe geschehen. Der hl. Thomas verlangt allerdings, sie müssten wenigstens auf wirkungsfähige (virtuelle) Weise aus Liebe geschehen und zwar durch einen vorher verrichteten Akt der Liebe zu Gott, dessen Einfluss andauert. Aber er fügt hinzu, diese Bedingung sei tatsächlich bei denen vorhanden, die im Stande der Gnade sind und eine erlaubte Handlung vollziehen. "Habentibus caritatem O1unis actus est meritorius ve/ demeritorius. "2 Jede gute Handlung lässt sich auf eine Tugend zurückführen. Jede Tugend hat die Liebe zum Mittelpunkte. Diese ist die Königin, die allen Tugenden gebietet, wie der Wille König Über alle Fähigkeiten ist. Die unauf-

, Galater, H, 20. - 2 Quast. Disp., de Malo, q. 2, a. 5, ad 7.

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ZWEITES KAPITEL.

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hörlich tätige Liebe richtet alle unsere guten Werk auf Gott und belebt unsere Tugenden.

Sollen aber unsere Handlungen möglichst ver dienstreich sein, so gehört eine viel vollkommener und mehr aktuelle Intention dazu. Die Intentiol oder Absicht ist die Hauptsache bei unseren Akter Sie ist das Auge, das sie erleuchtet und sie zun Ziele führt. Die Seele, die sie belebt und sie in deI Augen Gottes wertvoll macht." Si oculus tuusfueri simplex, totum corpus lucidu11t erit." Nun aber ver leihen drei wesentliche Dinge unserer Intentior einen besonderen Wert.

240. I) Da die Liebe die Kiinigin und die Fonr der Tugenden ist, wird jeder aus Liebe zu Gott une dem Nächsten hervorgehende Akt verdienstlichel sein, als diejenigen, die aus Furcht oder Hoffnun§ geschehen. Es ist demnach sehr wichtig, dass all~ unsere Werke aus Liebe vollzogen werden. Sc werden selbst die unbedeutendsten, wie z. B. die Mahlzeiten und Erholungsstunden, Akte der Liebe und nehmen teil am Werte dieser Tugend, ohne ihren eignen dabei einzubÜssen. Speise zu sich nehmen, um seine Kräfte zu erhalten, ist ein ehrbarer Grund und fÜr einen Christen verdienstlich. Aber seine Kräfte wiederherstellen, um besser für Gott und die Seelen arbeiten zu können, ist ein Beweggrund weit höherer Liebe, die diesen Akt veredelt und viel verdienstlicher macht.

241. 2) Da die von der Liebe gebildeten Tugendakte keineswegs ihren eignen Wert verlieren, ergibt es sich, dass ein gleichzeitig aus mehreren Absichten vollzogener Akt an Verdiensten gewinnt. So wird z. B. ein Akt des Gehorsams den Oberen gegenÜber, den man aus zweifachem Grunde vollzieht, nämlich sowohl aus Achtung vor ihrer Autorität, als auch aus Liebe zu Gott, den mall in ihrer Person sieht, das zweifache Verdienst, des Gehorsams und der Liebe, haben. Ein und derselbe Akt kann auf diese

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 187 Weise einen dreifachen, vierfachen Wert haben. Durch die Abscheu vor meinen Sünden, weil ich Gott durch sie beleidigte, kann ich gleichzeitig die Absicht haben, Busse, Demut und Liebe zu Gott zu üben. Dieser Akt ist von dreifachem Verdienst. Es ist demnach sehr nÜtzlich, in mehreren Übernatürlichen Intentionen zu handeln. Man dar.~ jedoch dabei nicht Übertreiben, indem man im Ubereifer alle möglichen Intentionen verfolgt. Das hiesse die Seele beunruhigen. Man muss diejenigen zu den seinigen machen, die sich gleichsam von selbst einfinden und sie der Liebe zu Gott unterordnen. So vermehrt man seine Verdienste und bewahrt den inneren Frieden.

242. 3) Da der menschliche Wille unbeständig ist, mÜssen wir unsere ÜbernatÜrlichen Absichten oft ausdrÜcklich erneuern. Sonst kann es geschehen, dass ein für Gott begonnener Akt unter dem Einflusse von Neugierde, Sinnlichkeit oder Eigenliebe fortgesetzt wird und so teilweise seines Wertes verlustig geht. Ich sage teilweise, weil die hinzugetretenen Absichten die erste nicht vollständig aufheben. Der Akt hört nicht auf, ÜbernatÜrlich und im grossen und ganzen verdienstlich zu sein. - Fährt ein Schiff von Brest nach N ew- York, so genÜgt es nicht, ihm einmal für immer die Richtung nach dieser Stadt zu geben. Flut, Winde und Strömungen versuchen, es vom richtigen Wege abzubringen. Deshalb muss man es durch das Steuer immer wieder auf das Ziel richten. Das Gleiche gilt von unserem Willen. Es genÜgt nicht, ihn ein fÜr allemal auf Gott zu richten. Ja, es genÜgt nicht einmal, es täglich einmal zu tun. Die menschlichen Leidenschaften und die EinflÜsse von aussen wÜrden ihn bald wieder vom Ziele ablenken. Durch einen ausdrücklichen Akt muss man ihn oft wieder zu Gott und zur Liebe zurückführen. Dann bleiben unsere Absichten andauernd übernatürlich,

188

ZWEITES KAPITEL.

ja, sogar vollkommen und höchst verdienstlich, namentlich, wenn wir Eifer im Handeln damit verbinden.

243. d) Die Intensität oder der Eifer, mit dem man die Handlung vollzieht. Eine gute Handlung kann man nachlässig und mÜhelos, aber auch mit grösstem Eifer und unter Aufbietung aller Kräfte und Zuhilfenahme der ganzen aktuellen Gnade, die uns zur VerfÜgung steht, vollziehen. Es ist klar, dass das Ergebnis in diesen beiden Fällen sehr verschieden sein muss. Handelt man nacltlässig, ist das Verdienst nur gering. Oft begeht man dabei eine lässliche SÜnde, die aber das ganze Verdienst nicht zerstört. - Betet man und verknÜpft man damit die Arbeit, opfert man sich aus ganzer Seele, so gewinnt man bei jeder Handlung einen bedeutenden Zuwachs an heiligmachender Gnade. Ohne auf die viel umstrittenen Voraussetzungen hier näher einzugehen, kann man mit Sicherheit behaupten, dass Gott hundertfach wiedergibt, was fÜr ihn getan wird. Ferner, dass eine eifrige Seele Tag für Tag einen beträchtlichen Gnadengrad erwirbt und so in kurzer Zeit seltr grosse Vollkommenlteit erreicht, wie im Buche der Weisheit geschrieben steht: " Consummatus in brevi explevit tempora multa. In kurzem vollendet, hat er viele Jahre erreicht." I Welch' wertvolle Anregung zum Eifer! Wie sehr lohnt es sich doch, mit Energie und Ausdauer seine Anstrengung zu erneuern!

2. BEDlNGUNGEN BEZÜGLICH DES OBJEKTES ODER DES AKTES SELBST.

244. Nicht nur die innere Verfassung der Person, sondern auch alle Umstände, die zur grösseren Vollkommenheit der Handlung beitragen, erhöhen

1 Veisheit, IV, 13.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 189 d~s Verdienst. Man unterscheidet hauptsächlich vIer:

a) Die VortrejJlichkeit des Objektes oder Aktes, den man zu setzen im Begriffe ist. Unter den Tugenden gibt es eine Rangordnung. So z. B. sind die tlleologischen Tugenden vollkommener als die sittlicJle1Z. Darum sind die Akte von Glaube, Hoffnung und Liebe verdienstlicher als Akte der Klugheit, Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit u. s. w. Wie jedoch schon bemerkt, können die letzteren durch die Intention zu Akten der Liebe werden und so an deren Werte teilnehmen. Ebenso sind die Akte von Gottesverehrung, welche direkt auf die Ehre Gottes gerichtet sind, vollkommener als die, welche unmittelbar unsere Heiligung bezwecken.

b) Bei gewissen Akten kann die Quantität das Verdienst beeinflussen. So wird, unter sonst gleichen Umständen, eine Gabe von tausend Mark verdienstlicher sein als eine solche von zehn Pfennig. Es handelt sich jedoch hier um relative Quantität. Das Almosen der Witwe, die sich dasselbe, sozusagen, vom Munde abspart, hat grösseren Wert als das reiche Geschenk desjenigen, der nur von seinem Überflusse gibt.

c) Auch die Dauer macht den Akt verdienstlicher. Eine Stunde lang beten oder leiden, gilt mehr als nur fünf Minuten, weil diese Verlängerung mehr Anstrengung und mehr Liebe verlangt.

245. d) Zur Vermehrung des Verdienstes trägt ebenso die Schwierigkez't des Aktes bei, zwar nicht an und fÜr sich, sondern insofern sie mehr Gottesliebe voraussetzt und energischere und länger andauernde Anstrengung erfordert und nicht aus einer aktuellen Unvollkommenheit des Willens hervorgeht. So ist es verdienstlicher, einer hiftigen Versuchung als einer leichten zu widerstehen; Sanftlllut zu Üben, wenn man von Natur aus zum

190

ZWEITES KAPITEL.

Zorne neigt und oft von der Umgebeung gereizt wird, als wenn man eine Natur wie ein Lamm hat und noch dazu von freundlichen Menschen umgeben ist. Man darf aber nicht meinen, die durch häufige Tugendakte erlangte Leichtigkeit vermindere notwendigerweise das Verdienst. Benützt man diese Leichtigkeit, um die Übernatürlichen Anstrengungen fortzusetzen, ja, zu erhöhen, so begünstigt sie die fntensität des Aktes und vermehrt deshalb das Verdienst, wie wir frÜher gezeigt haben. Wie ein tÜchtiger Handwerker, der sich in seinem Fache vervollkommnet, jede Verschwendung von Zeit, Material und Kraft meidet und mit geringerer MÜhe grösseren Vorteil erzielt, ebenso meidet auch ein Christ, der sich der Heiligungsmittel besser zu bedienen versteht, Verluste von Zeit, viele unnötige Anstrengungen und gewinnt mit geringerer MÜhe mehr Yerdienste. Die Heiligen, die durch praktische Ubung der Tugenden leichter als andere Menschen Akte der Demut, des Gehorsams und der Gottesverehrung verrichten, haben deshalb nicht weniger Verdienste, weil sie leichter und häufiger Akte der Liebe zu Gott erwecken. Erfordern es die Umstände, so scheuen sie keine weiteren Anstrengungen und bringen gern Opfer. Kurz, die Schwierigkeit erhöht das Verdienst, nicht so sehr als Hindernis, das beseitigt werden muss, als vielmehr als Mittel, welches mehr Begeisterung und Liebe hervorruft I.

Fügen wir noch hinzu, dass diese auf die Akte sich beziehenden Bedingungen in Wirklichkeit nur dann Einfluss auf das Verdienst haben, wenn sie freiwillig angenommen und gewollt sind. Dann nur haben sie auch ihre Rückwirkung auf die Vollkommenheit unserer inneren Verfassung.

1 Vgl. EYMIEU, Le gouvernement de soi-meme, t. I, Einleitung S. 7-9.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 191

SCHLUSSFOLGERUNG.

246. Die Schlussfolgerung, die sich eigentlich von selbst ergibt, besteht in der Notwendigkeit, alle urtdjede eirtzelrte,ja selbst die gewöhnlichsten Handlungen zu heiligen. Wie schon bemerkt, können alle 'verdienstlich sein, wenn wir sie aus übernatÜrlichen GrÜnden in Vereinigung mit dem Arbeitsmanne von Nazareth verrichten, der bei seiner Arbeit in seiner Werkstatt unaufhörlich Verdienste für uns erwarb. Was für Fortschritte können wir deshalb an einem einzigen Tage schon machen! Hunderte von verdienstlichen Handlungen kann ein geistig gesammelter und hochherziger Mensch von früh bis abends an einem Tage verrichten. Denn nicht nur jede Handlung, sondern auch ihre Dauer, jede Anstrengung, die Handlung besser zu machen, ist verdienstlich. Die Zerstreuungen während des Gebetes bekämpfen, seine Aufmerksamkeit der Arbeit zuwenden, ein weniger christliches Wort nicht aussprechen, seinem Mitmenschen gern Dienste leisten, jedes liebevolle Wort, jeder gute Gedanke, auf den man eingeht, kurz, alle inneren Regungen der Seele, die frei auf das Gute gerichtet sind, sind ebensoviele verdienstliche Akte, durch welche Gott und seine Gnade einen immer grösseren Einfluss auf unsere Seele gewinnen.

247. Man kann also mit Recht sagen, es gebe kein wirksameres und praktischeres Mittel und keines, das sich fÜr alle so gut zur Heiligung eigne, als jede Handlung aus übernatürlichen Gründen zu verrichten. Dieses Mittel allein ist imstande, eine Seele binnen kurzer Zeit zu einem hohen Grade von Heiligkeit zu erheben. Jeder Akt ist dann gleichsam ein Samenkorn der Gnade, denn durch ihn keimt und wächst diese in unserer Seele. Und eine Saat zukÜnftiger Seligkeit, da er gleichzeitig unsere Anrechte auf den Himmel vermehrt.

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ZWEITES KAPITEL.

248. Das praktische 1Vfittel, alle unsere Handlungen verdienstlich zu machen, besteht darin, dass man sich vor Beginn der Handlung einen Augenblick sammelt, auf jede rein-natürliche oder schlechte Absicht bestimmt verzichtet, sich mit Jesus, unserem Vorbilde und Mittler, vereinigt, die eigene Ohnmacht fühlt und durch ihn die Handlung Gott aufopfert zu seiner Ehre und für das Heil der Seelen. Die in diesem Sinne verstandene, öhere Aufopferung unserer Handlungen ist ein Akt der Entsagung, der Demut, der Liebe zum Heilande, zu Gott und dem Jolächsten. Er ist ein kÜrzerer Weg zur Vollkommenheit I. Um sie sicherer zu erreichen, stehen uns auch die hl. Sakramente zur Verfügung.

§ II!. Die Erstarkung des christlichen Lebens durch die hl. Sakramente. 2

249. Nicht allein durch die verdienst\ic'nen .h'K're, die wir jeden Augenblick vollziehen, können wir an Gnade und Vollkommenheit wachsen, sondern auch durch den öfteren Empfang der hl. Sakramente. Als sichtbare, von J esus Christus eingesetzte Zeichen bedeuten und erzeugen sie in unserer Seele die Gnade. Da Gott weiss, wie grossen Eindruck äussere Dinge auf den Menschen machen, wollte er in seiner unendlichen GÜte seine Gnade an sichtbare Dinge und wahrnehmbare Handlungen knÜpfen. Es ist Glaubenssatz, dass die hl. Sakramente die Gnade enthalten, welche sie bedeuten und dass sie dieselbe allen mitteilen, die ihr kein Hindernis in den Weg legen. 3 Und das nicht einzig und allein

, Alle geistlichen Schriftsteller empfehlen diese Aufopferung unter dieser oder einer anderen Form, wie z. B. RODRIGUEZ, P. I, Tract. 2 u. 3. - J. J. OLlER, Introductioll, Kap. XV. - TRONSON, Examens. XXVI-XXIX.

2 S. THOMAS, III, q. 60-62. - SUAREZ, disp. VII sq. - ABBE DE BIWGLIE, Conf. sur la vie surnaturelle, t. III. - BELLEVUE, De la grdce sacramentelle. - AD. TANQUEREY, Syn. tlzeol. dogm., t. II!, N. 298-323.

3 ,!(OllZi! von Tn'mt, Sess. VII, can. 6.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 193

wegen der inneren Verfassung des Menschen, sondern ex opere operato, als Werkzeuge der Gnade, während Gott selbstredend die Grundursache und J esus die V erdienst- U rsache (causa meritoria) bleiben.

250. Jedes Sakrament teilt ausser der heiligmachenden Gnade eine besondere Gnade mit, die man die Sakramentsgnade nennt. Diese ist nicht spezifisch von der ersteren verschieden, sondern fügt, nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule,eine besondere Kraft hinzu, die zur Erzielung der in jedem Sakramente enthaltenen Wirkungen bestimmt ist. Jedenfalls, verleiht sie nach Ansicht aller, ein RecJtt auf besondere wirkende (aktuelle) Gnaden. Diese werden zu geeigneter Zeit geschenkt, um die durch den Empfang des Sakramentes auferlegten Pflichten leichter erfÜllen zu können. So z. B. verleiht uns das hl. Sakrament der Firmung das Recht auf besondere aktuelle Gnaden übernatürlichen Starkmutes, um die Menschenfurcht zu bekämpfen und unseren Glauben vor aller Welt zu bekennen.

Vier Dinge müssen wir besonders beachten :

I. Die jedem Sakramente eigene Gnade oder Sakrametltsgnade genannt. 2. Die eiforderliche innere Ve1fassung, um grösseren Nutzen daraus zu ziehen. 3. Die besondere Verfassung fÜr den Empfang des hl. Busssakrametltes. 4. Die für den Empfang der hl. Eucharistie notwendige Verfassung.

1. Die Sakrametttsgnade.

Die hl. Sakramente teilen besondere Gnaden mit, je nach den verschiedenen Lebensmomenten.

251. a) In der heiligen Taufe empfangen wir die Gnade der geistigen Wiedergeburt. Sie reinigt uns von der ErbsÜnde, schenkt uns das Gnadenleben, erschafft den neuen Menschen in uns, den wiedergeborenen, der Christi Leben lebt. Nach der schönen

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ZWEITES KAPITEL.

Lehre des hl. Paulus I sind wir mit Christus begraben (was frÜher die Taufe durch Untertaüchen bedeutete), wir erstehen mit ihm auf, um ein neues Leben zu leben. " Consepulti enim SU11lUS CU112 illo per baptismu11Z in morte112, ut quo111odo Christus surrexit a mortuis, ita et nos in novitate vitm ambulemus." Die besondere Gnade oder Sakramentsgnade, die uns verliehen wird, ist also I) eine Gnade des Absterbens der SÜnde, der geistlichen Kreuzigung, die uns ermöglicht, die bösen Neigungen des alten Menschen zu bekämpfen und zu zähmen, 2) eine Gnade der Wiedergeburt. Durch sie werden wir Christus einverleibt und nehmen an seinem Leben teil. Diese Gnade ermöglicht uns, den Gesinnungen und Beispielen Christi gleichförmig zu leben und so vollkommene Christen zu sein. Daher haben wir auch die Pflicht, die SÜnde sowie deren Ursachen zu bekäm pfen, uns an J esus anzuschliessen und seine Tugenden nachzuahmen.

252. b) Durch die hl. Firmung' werden wir Soldaten Christi. Sie fÜgt zur Taufgnade eine besondere Gnade, nämlich die des Starkmutes, hinzu, um furchtlos trotz aller Feinde unseren Glauben zu bekennen und besonders die Menschenfurcht zu bekämpfen, durch welche so viele sich abhalten lassen, ihre Pflichten Gott gegenÜber zu erfÜllen. Aus diesem Grunde werden uns die Gaben des Hl. Geistes, die wir bereits in der Taufe empfingen, auf besondere Weise an diesem Tage mitgeteilt. Sie sollen unseren Glauben erleuchten, ihn lebendiger gestalten, vertiefen und gleichzeitig unseren \Villen gegen alle Schwächen stärken. Deshalb mÜssen wir die Gaben des HI. Geistes sorgfältig pflegen, besonders aber die christliche Mannhaftigkeit.

253. c) Die hl. Eucharistie ernährt unsere Seele, die, wie der Leib, Nahrung braucht, um zu leben

, Römer, VI, 3-6.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 195 und sich zu stärken. Um aber ein göttliches Leben zu erhalten, kann nur eine göttliche Speise in Betracht kommen. Das ist der Leib und das Blut J esu Christi, seine Seele und seine Gottheit, die uns in Christus umwandeln sollen, indem sie uns seinen Geist, seine GefÜhle, seine Tugenden, besonders aber seine Liebe zu Gott und den Menschen mitteilen.

254. d) Haben wir das Unglück, durch eine TodsÜnde das Gnadenleben zu verlieren, so reinigt uns das M. Sakrament der Busse von unseren SÜnden und zwar im Blute J esu Christi, dessen Verdienst uns durch die Lossprechung zugewendet wird, vorausgesetzt, dass wir von aufrichtiger Reue erfüllt und entschlossen sind, nicht mehr zu sÜndigen. Wir kommen bald näher darauf zu sprechen. (N. 262.)

255. e) Klopft der Tod an .. unsere Tür, so brauchen wir Trost in unseren Angsten und BefÜrchtungen, die unsere begangenen Sünden, unsere gegenwärtigen Leiden und der Gedanke an .. das Gottesgericht uns einflössen. Durch die hl. Ohmg werden unsere hauptsächlichen Sinne gesalbt, und zu gleicher Zeit fliesst die Gnade des TnJstes und Starkllllltes in unsere Seele. Sie befreit uns von den Überbleibseln der Sünde, belebt unser Vertrauen, bewaffnet uns gegen die letzten Angriffe des Feindes, indem sie uns mit dem hl. Paulus mitempfinden lässt, der nach glücklichem Kampfe sich freute, so oft er an die Belohnung dachte, die ihn erwartete. Es ist darum sehr wichtig, rechtzeitig nach diesem hJ. Sakramente zu verlangen, sobald man ernstlich erkrankt ist. Dann wird seine Wirkung nicht ausbleiben. Es wird uns, sollte es Gottes Wille sein, die Gesundheit wiedergeben. Grausam kann man diejenigen nennc:n, die Schwerkranke pflegen und ihnen die Gefahr, in der sie schweben, verheimlichen und den Empfang eines so trostreichen Sakramentes bis zum letzten Augenblicke aufschieben.

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Diese Sakramente genügen, um den EinzeImenschen in seinem Privatleben zu heiligen. Zwei andere heiligen ihn in seinen Beziehungen zur menschlichen Gesellschaft. Die hl. Priesterweihe, die der Kirche würdige Diener gibt, und die Ehe, die die Familie heiligt.

256. f) Die M. Priesterweihe überträgt auf die Diener der Kirche nicht nur wunderbare Vollmachten, um die Eucharistie zu konsekrieren, die hl. Sakramente zu spenden und das Evangelium zu predigen, sondern sie verleiht auch die Gnade, von diesen Vollmachten einen wÜrdigen Gebrauch zu machen, besonders aber eine glÜhende Liebe fÜr den eucharistischen Gott und fÜr die Seelen, verbunden mit dem heissen Verlangen, sich gänzlich fÜr Gott und die Seelen aufzuopfern. Nach welchem Grade von Heiligkeit die Diener der Kirche streben mÜssen, werden wir später sagen.

257. g) Um die Familie, die Urzelle der Gesellschaft, zu heiligen, verleiht das hl. Sakrament der Ehe den Eheleuten die Gnaden, die ihnen unumgänglich notwendig sind. Die Gnade unbedingter und standhafter Treue, eine Sache, die dem unbeständigen Menschenherzen nicht wenig Schwierigkeiten macht. Die Gnade ehelicher Keuschheit, trotz der entgegengesetzten Aufreizungen der Begierlichkeit. Die Gnade, sich mit treuer Hingebung der christlichen Erziehung eier Kinder zu widmen.

258. Somit gibt es für jeden wichtigen Lebensmoment, fÜr jede einzelne oder soziale Pflicht, eine wunderbare Vermehrung heiligmachender Gnade, die uns gewährt wird. Damit aber diese Gnade ihre Wirkung erreiche, schenkt uns jedes Sakrament ein Recht auf aktuelle Gnaden, die uns zur Übung derjenigen Tugenden, die wir Üben müssen, anregen, ferner die Übernatürlichen Kräfte, um es zu tun. Unsere Pflicht ist es, diesen Gnaden durch mög-

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 197

lichst vollkommene, innere Verfassung zu entsprechen.

II. Die fÜr den wÜrdigen Empfang

der hl. Sakramente el:forderliche, innere Ve1:fassung.

Da die Gnadenmenge, durch die hl. Sakramente erzeugt, zugleich von Gott und von uns I abhängt, wollen wir sehen, wie wir siel sowohl von der einen, wie von der anderen Seite, reicher gestalten können.

259. A) Gott ist zwar bezüglich der Austeilung seiner Gnaden frei. Er kann also in den hl. Sakramenten mehr oder weniger Gnade bewilligen, je nach den Plänen seiner Weisheit und GÜte. Es gibt aber von ihm selbst festgelegte Gesetze, nach denen er handelt. So erklärt er uns wiederholt, dem gut verrichteten Gebete nichts verweigern zu können. " Bittet und ihr werdet empfangen, suchet und ihr werdet finden, klopfet an und es wird euch aufgetan. " Petite et accipietis, qua:rite et invenietis, pulsate et aperietur vobis. 2 Besonders, wenn sich das Gebet auf die unendlichen Verdienste J esu Christi stützt. " Wahrlich, wahrlich sage ich euch, um was ihr auch immer meinen Vater in meinem Namen bitten werdet, es wird euch gegeben werden." 3 A 11len, amen dico vobis, si quid petieritis Patrem in nomine meo, dabit vobis. Ist unser Gebet demütig und eifrig, verrichten wir es in Vereinigung mit Jesus, um bei dem Empfange des hl. Sakramentes mehr Gnade zu erhalten, so wird unser Gebet erhört werden.

260. B) Unsrersez'ts bewirkt eine zweifache Verfassung eine grössere Fülle sakramentaler Gnade:

Das sehnliche Verlangen vor dem Empfange der Sakramente und der Eifer bei dem Empfange selbst.

'Cone. Trident. Sess. V1. c. 7. " Spiritus Sanctus partitur singulis prout vult et secundum propriam cujusque dispositionem et co operationem. "- 2 Matth., VII, 7. - 3 loh., XVI, 3.

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ZWEITES KAPITEL.

a) Das sehnliche Verlangen, ein Sakrament zu empfangen und zwar mit allen seinen Früchten, öffnet und erweitert unsere Seele. Es ist dieses eine Nutzanwendung des allgemeinen, von Christus selbst aufgestellten Grundsatzes : " Selig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dÜrsten, denn sie werden gesättigt werden, " Beati qui esuriunt et sitiunt jus titiam, quoniam ipsi saturabuntur. I DÜrsten und hungern nach der hl. Kommunion, nach der Beichte und der Lossprechung, heisst unsere Seele fÜr den Verkehr mit Gott weit öffnen. Dann wird Gott unsere hungrigen Seelen sättigen. "Esurientes i11lplevit bonis. " 2 Seien wir wie Daniel Menschen der Sehnsucht. Lechzen wir nach den Quellen lebendigen Wassers, den heiligen Sakramenten.

b) Der Eifer kann dieses Öffnen der Seele nur fördern. Besteht er nicht in der edlen Verfassung, Gott nichts zu verweigern, ihn vollständig schalten und walten zu lassen und mit ihm energisch mitzuwirken? Diese Gesinnung vertieft und erweitert unsere Seele, macht sie fÜr die Gnade em pfänglicher, für die Einwirkung des HI. Geistes gefÜgiger und tätiger, um der letzteren zu entsprechen. Aus dieser gegenseitigen Mitarbeit entspriessen reiche FrÜchte der Heiligung.

261. Wir könnten hier hinzufÜgen, dass alle Bedingungen, die unsere Werke verdienstlicher machen (s. N. 237) auf dieselbe Weise die Verfassung, in der wir bei dem Empfange der Sakramente sein müssen, vervollkommnen und so das Mass von Gnade, das uns mitgeteilt wird, vermehren. Dieses wird verständlicher, wenn wir diesen Grundsatz auf die hl. Beichte und die hl. Kommunion angewendet haben werden.

, Jfalflz., V, 6. - 2 Lukas, I, 53.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 199

III. VOlt der fÜr den Empfang des hl. BusssakralIlentes I notwendigen Veifassung, wenn wir aus demselben nellt grossen Nutzen erzielen wollen,

Wie wir bereits sagten, reinigt das hl. Sakrament

der Busse unsere Seele im Blute ] esu Christi, vorausgesetzt, dass wir in der richtigen Verfassung sind und unsere Beichte aufrichtig und unsere Reue ehrlich und wahr ist.

I. VON DER BEICHTE

262. A) Ein Wort über die schweren Sünden.

Wir erwähnen hier nur kurz die Anklage schwerer Sünden, von der wir in unserer Moraltheologie ausführlich gehandelt haben. 2 War eine Seele, die nach Vollkommenheit strebt, so unglÜcklich, in einem Augenblick von Schwäche irgendwelche schwere SÜnden zu begehen, so muss sie sich derselben in aufrichtiger und deutlicher Weise gleich bei Beginn der Beichte anklagen, ohne sie unter einer Menge lässlicher SÜnden verschwinden lassen zu wollen. Ferner muss sie in aller Aufrichtigkeit und Demut deren Zahl und Art genau angeben, auf die Ursachen dieser SÜnden hindeuten und um die nötigen Heilmittel zur Wiederherstellung der seelischen Gesundheit dringend bitten. Man muss besonders seine SÜnden aufrichtig bereuen, den festen Vorsatz gefasst haben, nicht nur dieselben SÜnden in Zukunft zu meiden, sondern auch die nächsten Gelegenhez'ten und die Ursachen, die uns so unglücklich gemacht haben. Ist die Sünde nachgelassen, so mÜssen wir eine lebendige, andauernde Bussgesinnung in unserer Seele wach halten, ein reuiges und gedemÜtigtes Herz bewahren und .. den aufrichtigen Wunsch haben, das begangene Ubel

'Ausser den tbeol. Abhandlungen siehe besonders BEA UDENOM, ,J Pratique pro.fressive de la con(essio1l. "

2 Sy". theot. 1lloralis, De PaJnitenti.i, n. 242 u. ff.

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ZWEITES KAPITEL.

durch strenges und abgetötetes Leben, durch glühende und grossmütige Liebe wz'ederg-utzumaehen. Unter diesen Bedingungen ist ein vereinzelt dastehender, sofort wiedergutgemachter Fehler kein andauerndes Hindernis für den geistlichen Fortschritt, weil er keine Spuren in unserer Seele zurücklässt.

263. B) Von den ganz freiwillig'en, lässlichen Sünden. Was die lässlz'chen Sünden anbelangt, so unterscheidet man zwei Arten : Die man g-anz (rez'wz'llz'g begeht, obschon man weiss, sie missfallen Gott. Man zieht in jenem Augenblick seinen selbstsüchtigen Genuss dem \Villen Gottes.. vor. Die zweite Art bilden solche, die man aus Uberraschung, Leichtsinn; Gebrecltliclzleez't, Unaclztsa71lkez't oder Zaghaftig"leeit begeht und die man sogleich bereut, mit dem festen Vorsatze, sie nicht wieder zu begehen. Die Sünden der ersten Art sind ein sehr ernstes Hindernis für die Vollkommenheit, zumal wenn sie häufig sind und man an ihnen hängt, z. B. wenn man Groll im Herzen bewahrt oder die Gewohnheit hat, alles zu bekritteln oder zu verleumden oder, wenn man rein-natÜrliche, sinnliche Freundschaften unterhält oder auch hartnäckig an seinem eignen Willen und an seinem Urteile festhält. Das sind alles Fesseln, die uns an die Erde ketten und uns hindern, uns zur göttlichen Liebe emporzuschwingen. Verweigert man Gott absichtlich das Opfer des persönlichen Geschmackes und persönlicher Wünsche, so kann man begreiflicherweise nicht von ihm jene besonderen Gnaden erwarten, die allein zur Vollkommenheit führen können.

Es ist also wichtig, sich um jeden Preis von jener Art von Sünden freizumachen. Um dieses um so leichter zu bewerkstelligen, muss man die verschiedenen Gattungm oder Kategorien nacheinander ins Auge fassen. Z. B. zuerst die Sünden gegen die

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 201

Liebe, dann gegen die Demut, gegen die Gottesverehrung u. s. w. Sich offen und ehrlich der Fehler anklagen, die man an sich beobachtet ,hat, besonders derjenigen, die am meisten verdemÜtigen, ferner der Ursachen, die uns zur SÜnde hinreissen. Im Hinblick auf diese Ursachen muss man den Vorsatz fassen, sie unbedingt zu meiden. So bedeutet jede Beichte einen Fortschritt in der Vollkommenheit, namentlich, wenn man sich bemüht, den Akt der Reue gut zu erwecken. Davon sprechen wir später.

264. C) Fehler aus Gebrechlichkeit. Hat man die ganz freiwilligen Fehler Überwunden, so wirft man sich auf die GebrechlichkeitssÜnden, nicht etwa, um sich ihrer fÜr immer zu entledigen (was unmöglich ist) sondern, um deren Zahl zu verringern. Auch hierin muss man systematisch zu Werke gehen. Man kann sich zwar aller Fehler, deren man sich erinnert, kurz anklagen, muss aber dann auf eine besondere Art von Fehlern näher eingehen. Man soll sich nacheinander z. B. mit den Zerstreuungen im Gebet, mit den Fehlern gegen die Reinheit der Absicht und den Verstössen gegen die Nächstenliebe befassen.

Bei der Gewissenserforschung und in der Beichte soll man sich nicht damit begnÜgen, zu sagen : " Ich war im Gebete freiwillig zerstreut ", wodurch der Beichtvater durchaus nichts erfährt), sondern man soll s~gen: "Ich war bei dieser oder jener geistlichen Ubung besonders zerstreut und nachlässig, weil ich mich vorher nicht gehörig gesammelt hatte" oder" weil ich nicht die Energie besass, die ersten Abschweifungen sofort zu bekämpfen" oder" weil mir die Standhaftigkeit und Ausdauer der Willenskraft fehlte, obwohl ich anfangs versucht hatte, Widerstand zu leisten." Ein anderes Mal soll man sich anklagen, lange Zeit zerstreut gewesen zu sein, weil man sich in Gedanken zuviel mit dem

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ZWEITES KAPITEL.

Studium oder mit einem Mitbruder beschäftigt hatte, oder wegen eines Grolles, den man nicht bekämpfte. Die Erwähnung der Ursache legt die Wurzel des Übels brach, deutet auf das geeignete Gegenmittel und auf den Vorsatz hin.

265. Um die Frucht der Beicllte sicher zu erzz'elen, ob es sich nun um freiwillige Sünden handele oder nicht, soll man seine Anklage mit folgenden Worten beenden : "Für diese Woche oder für die nächsten vierzehn Tage nehme l'ch mir vor, diese oder jene Ursache von Zerstreutheit, diese oder jene Anhänglichkeit oder diese oder jene fortwährenden Gedanken energisch zu bekämpfen." - Und bei der nächsten Beichte soll man nicht versäumen, über die Anstrengungen, die man diesbezüglich g'emacht hat, Rechenschaft abzulegen. " Ich hatte diesen oder jenen Vorsatz gefasst und habe ihn auch so und soviele Tage gehalten oder in diesem oder jenem Masse, aber ich hielt ihn nicht in diesem oder jenem Punkte." Dass eine solche Beichte nie Gewohnheitssache werden kann, leuchtet jedem ein. Sie bedeutet in der Tat einen Schritt vorwärts. Die Gnade der Lossprechung, die den gefassten Vorsatz bestärkt, wird nicht nur die in uns wohnende, heiligmachende Gnade vermehren, sondern unsere Willenskraft verzehnfachen, um in Zukunft eine grosse Zahl lässlicher Sünden zu meiden und in den Tugenden tatsächlich fortzuschreiten,

2. DIE REUE.

266. Beichtet man oft, so muss man besonders auf die Reue und den Vorsatz achten, der aus der ersteren notwendigerweise hervorgeht. Man muss inständig um sie bitten und sich durch Betrachtung der übernatürlichen Beweggründe dazu anregen. Diese sind zwar an und für sich dieselben,änclern sich aber je nach den Seelen und den angeklagten Fehlern.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 203 Die allgemeinen Beweggründe sind teils auf Gott, teils auf die Seele zurückzuführen.

267. A) Teils auf Gott. Mag die Sünde auch noch so gering sein, sie ist eine Beleidigung Gottes, ein Widerstreben seinem Willen gegenüber, eine Undankbarkeit gegen den liebevollsten und liebenswürdigsten Vater und Wohltäter, eine Unclankbarkeit, die ihn um so mehr verletzt, als wir seine bevorzugten Freuncle sincl. Deshalb wenclet er sich zu uns uncl sagt: "Hätte mein Feind mich gelästert, ich wollte es wohl ertragen, aber du, sonst ein Herz mit mir, mein Vertrauter und mein Freund, der clu zugleich mit mir süsse Speisen genossest, einträchtig mit mir lebtest ... " I Hören wir uns die verdienten Vorwürfe an, fühlen wir uns verdemütigt und beschämt. Hören wir auch auf die Stimme des Heilancles. Sagen wir uns, .. unsere Sünden haben ihm den Kelch, der ihm im Olgarten gereicht wurde, noch bitterer uncl seinen Todeskampf noch schrecklicher gemacht. Und aus der Tiefe unseres Elendes bitten wir dann um Verzeihung. Miserere mei Deus secundu11l magnam misericordiam tua11l ... Amplius lava me ab iniquitate mea. 2

268. B) Teils auf die Seele. Die lässliche Sünde vermindert an und für sich nicht die Freundschaft mit Gott, aber diese verliert durch sie an Innigkeit und Tatkraft. Welch' ein Verlust, die enge Vertrautheit mit Gott einbüssen! Die lässliche Sünde lähmt oder verhinclert mindestens in bedeutendem Masse unsere geistliche Tätigkeit. Sie legt sich wie Staub auf den empfindlichen Mechanismus des übernatürlichen Lebens, vermindert seine Kräfte für das Gute, weil sie die Liebe zum Angenehmen steigert. Handelt es sich um ganz freiwillige Fehler, dann bahnt sie den Weg zur TodsÜnde. Häufig nämlich, besonders bezÜglich der Reinheit, ist die

, Ps. LIV, J3'15. -' Ps. L.

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ZWEITES KAPITEL.

Grenze zwischen schwerer und lässlicher Süncle so schwer zu erkennen und der Hang zur bösen Lust so stark, dass die Grenze leicht überschritten wircl. Denkt man an diese Wirkungen, wird es einem nicht schwer, aufrichtig seine Fehler zu bereuen und den Entschluss zu fassen, sie in Zukunft zu meiden. I Um diesen guten Vorsatz genauer zu bestimmen, wird es nützlich sein, ihn auf die Mittel zu richten, die man zur Vermeidung von Rückfällen anwenden will, wie wir früher (N. 265) angedeutet haben.

269. Um jedoch ganz sicher zu sein, die richtige Reue zu haben, ist es ratsam, sich einer grösseren Sünde aus dem vergangenen Leben anzuklagen, die man ganz gewiss bereut, besonders, wenn diese Sünde derselben Gattung angehört wie die lässlichen Sünden, die man beclauert. Aber dabei muss man zwei Fehler vermeiden : Die Gewohnheit, die diese Anklage zu einer leeren Formel machen würcle, ohne wahre Reue, und die Nacltlässlg'keit, durch die man sich nicht viel um die Reue Über die in derselben Beichte angeklagten lässlichen Sünden kümmern würde.

Benützt man in diesem Geiste die hl. Beichte, zu der noch die Ratschläge eines klugen Seelen führers und besonders die reinig.ende Kmftder Lossp1'ecllung hinzukommen, so wird sie ein wirksames Mittel sein, von der Sünde loszukommen und in der Tugend Fortschritte zu machen.

IV. Veifassung, um aus dem Empfange

der hl. Eucharistie grossen Nutzen zu gewinnen. I

270. Die hl. Eucharistie ist Sakra7ne7Zt und Opfer zugleich. Diese beiden Elemente sind innigst miteinander verbunden, denn während des Opfers konsekriert man das Schlachtopfer, an welchem wir

, BEAUDENOM, op. cit., t. 1I, Kap, 2.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 205 teilnehmen. Nach allgemeiner Lehre ist die Kommunion kein wesentlz'c/zer Teil des Opfers, sondern ein Teil, der zur Vollständigkeit gehört (pars integrans). Durch sie treten wir in Gemeinschaft mit den Gesinnungen des Schlachtopfers und den Früchten der Opferhandlung. Der wesentliche Unterschied zwischen dem einen und dem anderen ist, dass das Opfer sich unmittelbar auf die Ehre Gottes bezieht, während das Sakrament die unmittelbare Heiligung- unserer Seele bezweckt. Da aber diese Bestimmungen in Wirklichkeit nur eine ausmachen, - denn Gott erkennen und lieben, heisst, ihn verherrlichen, so trägt die eine wie die andere zu unserem geistlichen Fortschritte bei. I

1. DAS HEILIGE MESSOPFER ALS MITTEL DER HEILIGUNG 2.

271. A) Seine Wirkungen. a) Dieses Opfer dient vor allem zur Verherrlichung Gottes. Es verherrlicht ihn auf vollkommene Weise, da J esus darin durch die Vermittlung des Priesters von neuem seinem Vater alle Akte von Anbetung, Dank und Liebe, die er einst bei dem Opfer auf dem Kalvarienberge darbrachte, Akte von unendlichem, sittlichen Werte, aufopfert. Er bietet sich als Schlachtopfer dar und erkennt dadurch ausdrücklich die Oberherrschaft Gottes über alle Geschöpfe an. Darin besteht dz'e Anbetung-. Durch die Hingabe seiner selbst an Gott dankt er ihm für seine Wohltaten. Diese Lobpreisung kommt den Wohltaten gleich. Darin besteht die Danksagung oder der eucharistische Kult,


• S. TIlOMAS, ru, q. LXXIX. - SUAREZ, disp. LXIII. - DALGAlRNS, Holy C01ttllulflion. - HUGON, O. P., La Sainte Eucharistie. - HEDLEY, The holy Euclzarist.

2 Ausser den schon erwähnten Werken siebe: BEN EDIKT XIV, De ss. AIisstZ sacrijicio, - RÖNA. De sacrijicio MisstZ. - LE GAUDIER, op. cit., P. I, sect. IO : GHlR. Das Ill, Messopfer. - J.-J, OLlER. La jou1-rde d,retienne. Occupations interieures pendant le saint sacrifice, S. 49-65. - CHAIGNON. S. J .. Le pretre a raute!. - RACUEZ, S. S., Du divin sacrijice. - VANDEUR, O. S. B., La saintt Messe, notes sur

sa liturgie. ' ~.

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ZWEITES KAPITEL.

Deshalb kann auch die Verwirklichung dieser Akte nicht verhindert werden, nicht einmal clurch die Unwürdigkeit des Dieners I, denn der Wert cles Opfers hängt nicht wesentlich von dem ab, der sekundär oder an zweiter Stelle opfert, sondern von clem Werte des Schlachtopfers, das dargebracht wird und von der Würde des eigentlichen Priesters, der kein anderer als J esus Christus selbst ist. Das lehrt das Konzil von Trient, wenn es erklärt, cliese reinste Opfergabe könne nicht von cler Unwürdigkeit ocler Bosheit derjenigen, die sie darbringen, besuclelt werden. Derselbe Christus, der sich auf clem Altare des Kreuzes in blutiger Weise geopfert habe, sei in diesem göttlichen Opfer vorhanden und werde auf unblutige Weise geopfert. Es ist also, fügt das Konzil hinzu, dasselbe Opfer, derselbe Opferer, cler sich durch das Amt der Priester opfert uncl cler sich einst am Kreuze geopfert hat. Der Unterschied liegt nur in der Art, das Opfer darzubringen 2. Wohnen wir der heiligen Messe bei und noch mehr, lesen wir selbst sie, so zollen wir Gott clem Herrn auf die vollkommenste Weise clie ihm gebührende Ehre, cla wir die Ehrenbezeugungen J esu, des Schlachtopfers, zu den unsrigen machen. - Man soll nicht etwa behaupten, dieses hätte mit unserer Heiligung nichts zu tun. Gott nämlich neigt sich in Liebe zu uns herab, so oft wir ihm Ehre erweisen. Und je mehr wir auf seine Verherrlichung beclacht sind, desto mehr beschäftigt er sich mit unserem geistlichen Wohl. Wir tragen cleshalb viel zu unserer Heiligung bei, wenn wir in Vereinigung mit dem Schlachtopfer, das auf dem Altare seine Hingabe erneuert, Gott gegenüber unsere Pflichten erfüllen.

272. b) Aber noch mehr. Das göttliche Opfer Übt durch seine Darbringung eine versiihnende Wir-

" Mit anderen Worten, diese Wirkung erfolgt ex opere operato durch die Kraft des Opfers selbst. - , Sess. XX 11, C. I-2.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 'W7 kung aus. ( Ex opere operato, sagen die Theologen). Uncl zwar in diesem Sinne: Durch das Opfer wird Gott in gebührender Weise geehrt und ihm für die Sünde Genugtuung geleistet. Gott fühlt sich dadurch geneigt, uns, zwar nicht unmittelbar die heiligmachende Gnade zu verleihen, was den Sakramenten vorbehalten ist, wohl aber die aktuelle (wirkende) Gnade und die Gabe der Bussgesinnuhg zu bewilligen und uns, sobald wir zerknirscht und reumÜtig sind, die schwersten Sünden zu verzeihen I. - Das Opfer leistet gleichzeitig SÜhne. ReumÜtigen lässt es unfeJtlbar wenigstens einen Teil der zeitHellen Siindenstrafen nach, und zwar je nach der mehr oder weniger vollkommenen inneren Verfassung, in welcher sie der heiligen Messe beiwohnen. Deshalb, fügt das Konzil von Trient hinzu, kann es nicht nur für die Sünden, Genugtuungen und geistlichen Nöten der Lebenden, sonclern auch für die im Herrn Entschlafenen, clie ihre Fehltritte nicht genügend wieclergutgemacht haben, dargebracht werden 2. Es ist leicht einzusehen, wie sehr diese zweifache \iVirkung, Versöhnung und SÜhne, zu unserem Fortschritte im geistlichen Lehen beiträgt. Was die Vereinigung mit Gott hauptsächlich verhinclert, ist die Sünde. Ihre N achlassung zu erlangen und ihre letzten Spuren zu tilgen, heisst, sich auf eine engere Vereinigung mit Gott vorbereiten. " Beati 11lundo corde, quoniam ipsi Deum videbullt" 3. Und welch' ein Trost für die armen SÜnder, clie Trennungswand fallen zu sehen, die sie vom Genusse göttlichen Lebens fernhielt !

273. C) SO wie die h1. Messe sÜhnt, erlangt sie auch Gnaden. Sie erreicht durch die Macht des Opfers (ex opere operato) alle Gnaden, deren wir zu unserer Hei]igung bedürfen. Das Opfer ist ein

, So lehrt das Konzil VOll Trient. Sess, XXII, c. II. , Loc. ci!. - 3 !llattlz" V, 8.

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ZWEITES KAPITEL.

andauerndes Gebet. Der für uns auf dem heilig~ Altare mit unaussprechlichen Seufzern betet, i derselbe, clessen Gebete stets erhört werden. "Exal dz'tus est pro sua reverentia" I. Darum betet d, Kirche, welche die berufene Auslegerin cles göt: lichen Geclankens ist, bestänclig in Vereinigung m. Jesus, clem Opferer und Opfer zugleich, (per D01m num nostrum Jesu1JZ Christum) um alle Gnaclen z erlangen, clie ihre Mitgliecler für clie Gesunclheit cle Leibes uncl der Seele brauchen." Pro spe salutis e incolumitatis sua: ". Für das Heil der Seele uncl clel geistlichen Fortschritt, cla sie namentlich in den Gebete, das man Kollekte oder Sammelgebet nennt die jedem Feste entsprechende Gnacle für clie Gläu, bigen erfleht. Wer sich clarum clem liturgische!' Gebete anschliesst, und zwar in der erforderlichen: inneren Verfassung, kann sicher sein, für sich und alle die Seinigen eine FÜlle Von Gnaclen zu erlangen.

Wie man also sieht, trägt das hl. Messopfer durch alle seine Wirkungen sehr viel zu unserer Heiligung bei. Und zwar um so wirksamer, als wir nicht allein dabei beten, sonclern im Verein mit cler ganzen Kirche, besonclers aber mit dem unsichtbaren Oberhaupte cler Kirche, mit J esus, clem Opferpriester uncl Opfer, der clurch die Erneuerung seines Kreuzesopfers, durch die Kraft seines Blutes uncl durch seine Gebete den himmlischen Vater bittet, seine Verdienste uncl Genugtuungen möchten uns zugewenclet werclen.

274. B) Etwas über die Verfassung, in der wir sein müssen, um aus der heiligen Messe Nutzen zu ziehen. In welcher Ve1:fassung müssen wir sein, um aus cliesem mächtigen Heiligungsmittel Nutzen zu ziehen? Die Hauptsache ist, uns demütig und voll Vertrauen in die clurch das göttliche Schlachtopfer zum Ausclruck gebrachte Gesinnung

'ntbr., v, 7.

hineinzujinden, daran teilzunehmen, sie zu der unsrigen zu machen und so zu erfüllen, was der Bischof bei der Priestenveihe den Neugeweihten sagt :

"Agnoscz'te quod agitz's, im italllinz' quod tractatis". Dazu ladet uns übrigens die Kirche in ihrer Liturgie ein '.

275. a) In der JWesse der Katechumenen, die bis zur Opferung (ausschliesslich) reicht, wünscht sie, wir sollen uns in Bussgesinnung und Zerknirschung des Herzens versetzen (Conjiteor, A ufer a nobz's, Oramus te, I(yrie elez'son). Ferner anbeten und clanksagen (Gloria in excelsis). Flehentlich bitten, (Kollekte) aufrichtig glauben (Epistel, Evangelz'um, Credo).

b) Dann folgt das grosse Drama: I) Dz'e Opferung des ScltlaclLtopfers für das Heil des ganzen Menschengeschlechtes (beim Offertorium) "pro nostra et totius mundi salute ". Die Opferung des ganzen christlichen Volkes, im Verein mit dem hauptsächlichen Opfer. "ln spiritu !zu1JZz'lz'tatis et in animo contn'to suscipia11lur a te, D01lZine". - Darauf folgt ein Gebet, das an die Heiligste Dreifaltigkeit gerichtet ist. Sie möchte diese Opfergabe des gesamten mystischen Christus segnen und entgegennehmen. - 2) Die Präfation kündet die eigentliche Handlung, den Kanon, an. Während desselben wird die mystisclle Opferung eies Schlachtopfers erneuert. Die Kirche fordert uns auf, uns mit den Heiligen und den Engeln, besonclers aber mit dem Fleischgewordenen Vllorte zu vereinigen, um Gott zu danken, seine Heiligkeit zu verkünden, seine Hilfe zu erbitten für die Kirche, für deren sichtbares Oberhaupt, für die Bischöfe und die Gläubigen, besonders für die Anwesenden und alle, die unserem Herzen nahe stehen. - Dann vereinigt sich cler Priester mit der Allerseligsten ] ungfrau, mit den Aposteln,

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 209

, Siehe E. VANDEUR, O. S. B" La Sainte Messe.

210

ZWEITES KAPITEL.

den Blutzeugen uncl allen Heiligen und versetzt sich im Geiste in clen Abendmahlsaal, nimmt clie Stelle des Hohenpriesters ein und wieclerholt die \;\Torte, die J esus einst beim letzten heiligen Abendmahle sprach. Das Fleischgewordene Wort gehorcht seiner Stimme, steigt mit seinem Fleisch uncl seinem Blut auf den Altar herab, zollt stillschweigencl dem himmlischen Vater Anbetung und bittet in seinem und unserem Namen. Das christliche Volk verneigt sich, betet das göttliche Opfer an, vereinigt sich mit dessen Anbetungen und Bitten und versucht, sich mit ihm aufzuopfern, und zwar durch Darbringung einiger kleinen Opfer. " Per ipSZtlJ'Z et CZl11l ipso et in zpso ".

- 3) Mit dem Pater noster beginnt die Vorbereitung auf clie heilige Kommunion. Als Glieder des mystischen Leibes J esu wiederholen wir das Gebet, das er selbst uns gelehrt hat, das Vaterunser. \Vir erfüllen so unsere Pflichten der Gottesverehrung und bitten demÜtig besonders um das eucharistische Brot, das uns von unseren Übeln befreien soll. Zugleich mit der N achlassung unserer Sünclen soll es uns clen Frieclen cler Seele und beständige Vereinigung mit J esus schenken. " A te numquam separaripermittas ". Dann betont der Priester, wie einstmals der Hauptmann, seine Unwürcligkeit, bittet demütig um Verzeihung und nach ihm die Gläubigen, geniesst den Leib uncl das Blut des Erlösers, vereinigt auf das Innigste seine Seele mit J esus und dessen Geiste und durch ihn mit Gott selbst, mit der Allerheiligsten Dreifaltigkeit. - Das Geheimnis der Vereinigung ist vollbracht. \Vir sincl eins mit Jesus. Da er mit dem Vater und dem Sohne eins ist, so findet sich das Hohepriesterliche Gebet des Erlösers beim letzten Abendmahle verwirklicht : "Ich in ihnen uncl du in mir, damit sie vollkommen eins seien. _ Ego in eis et tu in me, ut sint consummati in unum" I.

'Joh., XVII, 23.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 211 276. Nun bleibt nur noch übrig, Gott für diese unenclliche Wohltat zu danken. Das geschieht bei der Postco1nmunio uncl bei den Gebeten, die darauf folgen. Der priesterliche Segen teilt uns die Schätze der Heiligsten Dreifaltigkeit mit. Das letzte Evangelium erinnert uns an die Herrlichkeiten des Fleischgewordenen Wortes, das noch einmal zu uns kam, um Wohnung bei uns zu nehmen, Wir tragen es mit uns voll Gnade und Wahrheit, um während des Tages aus dieser Lebensquelle zu schöpfen und ein Leben zu führen, das demjenigen des Heilandes ähnlich ist.

Wie leicht sieht man doch ein : Der heiligen Messe in diesem Sinne beiwohnen oder sie zelebrieren, heisst, sich heiligen und das übernatürliche Leben, welches in uns vorhanclen ist, auf vollkommenste Weise pflegen. Was wir von der heiligen Kommunion sagen werden, wird dies noch besser beweisen.

2. DIE HL. KOMMUNION ALS HEILIGUNGSMITTEL '.

277. A) Ihre Wirkungen. Als Sakrament bewirkt die hl. Eucharistie durch eigne Kraft - ex opere operato - unmittelbar Vermehrung der heiligmachenden Gnade in uns. Als Speise unserer Seelen wurde sie eingesetzt. "Caro mea vere est cibus et sanguis lIleus vere est potus. "2 - Ihre Wirkungen sind denen leiblicher Nahrung ähnlich. Sie erhält, vermehrt und stellt unsere geistlichen Kräfte wieder her, ruft in uns eine Freucle wach, die, obschon nicht immer sinnlich wahrnehmbar, dennoch wirklich ist. ] esus selbst ist unsere Nahrung, J esus ganz und ungeteilt, sein Leib, sein Blut, seine Seele, seine Gottheit. Er vereint sich mit uns, um uns in

, S, THOMAS, q. 79. - TANQUEREY, Syn. Theol. dogm. t. III,

n. 619-628. - DALGAIRNS, Holy Com",union, S. 154 u. ff. - H, MouREAU, Die!. de Thiol. (Mangenot) beim Worte" Co",mun;on". P. HUGON. La Sainte Eucharistie, S, 240 u. ff.

2 Joh., VI, 55.

212

ZWEITES KAPITEL.

sich umzugestalten. Diese Vereinigung ist zugleich pltysisch und moralisch, verwandelnd und ihrer Natur nach andauernd. Das ist die Lehre des hl. J ohannes. P. Lebreton I fasst sie auf folgende Weise zusammen : In der hl. Eucharistie vollzieht sich die Vereinigung Christi mit dem Gläubigen, ebenso die lebenspendende Verwandlung, die als Frucht der ersteren anzusehen ist. Es handelt sich hier nicht mehr allein um den Anschluss an Christus durch den Glauben, auch nicht um die Einverleibung, wie es bei der Taufe geschieht, sondern um eine neue, in hohem Grade wirkliche und gleichzeitig geistliche Vereinigung. Im Hinblick auf sie, kann man sagen, der, welcher sich Gott dem Herrn, anschliesst, sei nicht nur clem Geiste, sondern auch dem Fleische nach, eins mit ihm. Diese Vereinigung ist so innig, dass Jesus nicht zu sagen fürchtet: " Wie ich durch den Vater lebe, so lebt der, welcher mich isst, clurch mich." - Freilich ist das hier nur eine Analogie. Trotzdem muss man, will man sie gelten lassen, darunter nicht nur eine moralische, auf gemeinsamen Gefühlen bestehende Vereinigung verstehen, sondern eine wirklich physische, die beide Leben vermischt, oder, besser gesagt, eine Teilnahme des Christen am Leben Christi.

Von dieser Vereinigung wollen wir jetzt sprechen.

278. a) Die Vereinigung ist physisch. Es ist nach dem Konzil von Trient Glaubenssatz, dass die h1. Eucharistie wahrhaft, wirklich und wesentlich den Leib und das Blut Jesu Christi enthalte, mit seiner Seele und seiner Gottheit, also Christus ganz und ungeteilt. 2 - So oft wir demnach clie sakramentale Kommunion empfangen, empfangen wir den Leib und clas Blut des Erlösers wirklich und

I Les origines du dogme de la Triniti, 19to, S. 403 . • Sess. XIII, can. r.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 213 physisch, mit seiner Seele und seiner Gottheit, obschon unter den sichtbaren Gestalten verborgen. Wir sind infolgedessen nicht nur Tabernakel, sondern sogar Kelche, in denen Jesus weilt und lebt, und vor denen Engel ihre Anbetung halten, der wir uns anschliessen sollen. Ja, nochmehr. Zwischen J esus und uns besteht eine Vereinigung, welche derjenigen ähnelt, die zwischen der Nahrung und clem ist, der sie zu sich nimmt. Der U nterschied dabei ist der: J esus verwandelt uns in sich, nicht wir gestalten ihn in uns um, in unser Wesen. Das höhere Sein verwandelt stets das niedrigere in sich. 1 Durch diese Vereinigung wird unser Fleisch dem Geiste gefügiger und keuscher. Sie legt den Keim der Unsterblichkeit in dasselbe. "Et ego l'esuscitabo eurn. " 2

279. b) Zu dieser physischen Vereinigung tritt eine äusserst innige xeistliche und umgestaltende. I) Eine äusserst innige und heiligende Vereinigung. Die Seele J esu vereinigt sich nämlich mit der unsrigen, um nur noch ein Herz und eine Seele mit ihr zu bilden. "Cor unum et anima una." - Seine Phantasie und sein Gedächtnis, beide so wohlgeordnet und so heilig, vereinigen sich mit unserer Phantasie und unserem Gedächtnisse, um sie in Ordnung zu halten und auf Gott und göttliche Dinge zu richten. Auf die Wohltaten Gottes, auf dessen überwältigende Schönheit und unerschöpfliche Güte lenken sie clie Aufmerksamkeit beider. Sein Verstand, diese wahre Sonne der Seelen, erfÜllt unseren Geist mit dem Lichte des Glaubens, bewirkt, dass wir alles im Lichte Gottes erkennen und bewerten.

, Es ist dieses eine Anmerkung des h1. AUGUSTINUS (Confess. \ib.

VII, c. 10, n, 16. P. LXXXII, 742), welcher· dem Heiland folgende Worte in den Mund legt: " Ich bin die Nahrung grosser Seelen. Wachset und ihr werdet mich essen können. Aber ihr werdet mich nicht in euch verwandeln, wie die leibliche Speise, sondern ihr werdet in mich umgestaltet werden. "

2 Joh, , VI, 35.

214

ZWEITES KAPITEL.

Dann wird uns die Eitelkeit der irdischen Dinge klar, wie auch die Torheit cler Grundsätze, welche die Welt predigt. Dann verkosten wir die Lehren des Evangeliums, die uns vorher so unverstäncllich vorkamen, weil sich unsere rein-natürlichen Instinkte dagegen sträubten. - Sein Wille, so stark, so standhaft, so edel, ist bereit, unsere Schwächen, unseren Mangel an Ausdauer, unseren Egoismus durch die Mitteilung seiner göttlichen Kraft zu beseitigen, sodass wir mit clem hl. Paulus sagen können : " Ich kann alles in dem, der mich stärkt." - Omniapossum in eo qui 1JZe confortat. I Es kommt uns dann vor, als hörte jegliche Anstrengung auf, als gäbe es keine Versuchungen fÜr uns mehr, als sei die Ausdauer im Guten eine leichte Sache. vVarum? Weil wir nicht mehr allein sind, sondern, wie der Epheu an die Eiche, fest an Christus angeschmiegt, an seiner Kraft teilnehmen. _ Sein liebeglühencles Herz will clas unsrige, das für Gott so kalt und für die Geschöpfe so heiss schlägt, erwärmen. Mit den ] üngern von Emmaus sagen wir uns: " \Var nicht unser Herz in uns brennencl, während er auf dem Wege redete?" _ Nonne cor nostrum ardens erat in nobis, dum loqueretur in via? 2 - Unter der Einwirkung jenes göttlichen Feuers fühlen wir balcl eine fast unwiderstehliche Begeisterung für clas Gute, bald einen eisernen Willen, für Gott alles zu tun, alles zu leiden, ihm nichts zu verweigern.

280. 2) Es ist klar, eine solche Vereinigung ist wahrhaft umgestaltend. I) Unsere Gedanken, unsere Begriffe, unsere Überzeugungen, unsere Urteile ändern sich. Anstatt alles nach den Grunclsätzen der Welt zu beurteilen, denken und urteilen wir wie ]esus, begeistern uns für die Grundsätze des Evan-

'Philip., IV, I3.

2 Lukar, XXIV, 32•

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. :!15 geliums und fragen uns beständig : "Was täte Jesus, wäre er an meiner Stelle?" - 2) Dasselbe gilt von unseren WÜnschen und Wollen. Wir sehen ein, clie Welt und das Ich haben unrecht, J esus, die ewige \Veisheit, ist im Wahren. Wir wünschen nur, was er will, die Ehre Gottes, unser Heil und clas Heil der Mitmenschen. Wir verlangen nur was er ,erlangt. "Non JIlea sed tua voluntas jiat." Und selbst, wenn dieser \Ville Schmerzen verursacht, wir unterwerfen uns ihm mutig, da wir sicher sind, dass er sowohl unseren eignen geistlichen Nutzen, wie auch den des Nächsten bezweckt.

3) Auch unser Herz löst sich nach und nach von seinem mehr oder weniger bewussten Egoismus und ebenso von seinen natürlichen und sinnlichen Neigungen los, um Gott innig, grossmütig und leidenschaftlich zu lieben und die Seelen in Gott. \V as wir lieben, sind nicht mehr die göttlichen Tröstungen, so angenehm sie auch sind, sondern Gott selbst. Es handelt sich nicht mehr um das Vergnügen, mit denen zu sein, die wir lieben, sondern um das Gute, das wir ihnen erweisen können. Wir leben, aber ein stärkeres und besonders übernatürlicheres und göttlicheres Leben als früher. Nicht das lclt, nicht der alte Mensch lebt, denkt und handelt, sonclern J esus selbst, sein Geist lebt in uns, belebt den unsrigen. " Vivo autem jam non ego, viz'it vel'O in lIle Christus."

281. c) Nach dem Zeugnisse Jesu selbst dauert diese geistliche Vereinigung so lange als wir sie wollen. " Qui manducat lIleam carneJJ1 et bibit 71leum sang-uinem, in JJ1e matzet et ego in eo. I" Er möchte gern ewig in uns bleiben. Nur von uns hängt es ab, m!t seiner Gnacle, beständig mit ihm vereint zu sem.

Wie aber clauert diese Vereinigung an?

'loh., VI, 56.

216

ZWEITES KAPITEL.

Einige Verfasser sind mit P. Schram der Ansicht, die Seele Christi falte sich gleischam mitten in unserer Seele zusammen, um beständig dort zu sein. - Das wäre unbedingt ein ausserordentliches Wunder, da die Seele J esu beständig mit seinem Leibe vereint bleibt und dieser Leib zugleich mit den sakramentalen Gestalten verschwindet. Wir können uns dieser Meinung nicht anschliessen, da. Gott Wunder dieser Art ohne Notwendigkeit nicht vervielfältigt.

Zieht sich aber seine menschliche Seele gleichzeitig mit seinem Leibe zurÜck, so bleibt doch die Gottheit, in uns, solange wir im Stande cler Gnade sind. Ja, noch mehr. Seine heilige, mit der Gottheit vereinigte Menschheit, bleibt in besonderer Weise mit unserer Seele vereint. Theologisch kann man clas so erklären : Der Geist J esu, mit anderen \Vorten, der Hl. Geist, lebt in der menschlidzen Seele Jesu und bleibt clurch die besondere Verwandtschaft, clie durch die sakramentale Kommunion entstand, in uns. Er ruft daselbst eine innere Verfassung hervor, die derjenigen unseres Heilands ähnlich ist. Auf die Bitte J esu, der unaufhörlich für uns betet, bewilligt er uns eine grössere Menge aktueller Gnaden, schützt uns mit besonderer Sorgfalt vor Versuchungen, leitet unsere Seele und unsere Fähigkeiten, spricht zu unserm Herzen, stärkt unsern Willen, erwärmt unser Herz uncl setzt auf diese Weise die Wirkungen der sakramentalen Kommunion fort. Um aber alle diese V orzüge zu geniessen, muss man innerlich gesammelt leben, aufmerksam auf die Stimme Gottes hören und bereit sein, seine geringsten Wünsche zu erfüllen. Die sakramentale Kommunion wird dann durch die g-eistliche Kommunion vervollständigt, die die segensreichen Wirkungen cler ersteren fortsetzt.

282. d) Diese Kommunion hat eine besondere Vere/nigung mit den drei göltlz'chen Personen zur Folge. Durch die Untrennbarkeit der göttlichen Personen kommt das Wort nicht allein in unsere Seele. Es kommt mit dem Vater, der nicht aufhört,

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 217 es in seinem Schosse zu zeugen. Es kommt in die Seele mit dem H1. Geiste, der fortwährencl aus der gegenseitigen Liebe zwischen Vater und Sohn her\·orgeht. "Liebt mich jemand, so wird ihn mein Vater lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen. " I Wohl sind schon durch die Gnade die drei göttlichen Personen in uns, Aber vom Augenblicke der h1. Kommunion an sind sie in uns aus einem besonderen Grunde: Da wir physisch mit dem Fleischgewordenen Worte vereinigt sind, so sind sie in ihm und durch dasselbe mit uns vereint und lieben uns gleischsam als eine Erweiterung des Fleischgewordenen Wortes, dessen Glieder wir sind. Wir tragen Jesus ebenso wie auch den Vater und den H1. Geist in unserem Herzen. Somit ist die hl. Kommunion ein Vorgeschmack des Himmels. Hätten wir einen lebendigen Glauben, so würden wir die Wahrheit jener Vlorte aus der Nachfolge Christi besser verstehen, dass nämlich mit J esus sein, das Paradies auf Erden bedeute. " Esse cum Jesu dulcis paradisus ! " 2

283. B) Von der innerlichen Verfassung, um aus der hl. Kommunion gTossen Nutzen zu ziehen. Da die hl. Eucharistie den Zweck hat, uns mit J esus und Gott innig, umgestaltend und beständig zu vereinen, so wird alles, was diese Vereinigung durch Vorbereitung und Danksagung fördert, zu um so grösserem Erfolge beitragen.

a) Die Vorbereitung soll darum eine Art Verei- 1liguttg mit J esus im voraus sein. Wir nehmen selbstverständlich an, die Seele sei durch die Gnade mit Gott bereits vereint. Andernfalls wäre die hl. Kommunion ein Gottesraub. 3

, !oll" XIV, 23, - • Nacllfolge Cllristi, 2, B. 8. K.

3 Wäre man sich also einer Todsünde bewusst, so müsste man erst mit reumütigem und zerknirschten Herzen beichten gehen und dürfte sich nicht nur mit einem Akte selbst vollkommener Reue begnügen. Siehe unsere Syn. tkeot. dogmat., t. llI, N. 652-654.

218

ZWEITES KAPITEL.

I) Vor allem eine vollkommenere Erfüllung aller unserer Standespflichten in Vereinigung-mit Jesus uncl um ihm zu gefallen. Ist das nicht das beste Mittel, um denjenigen an uns zu fesseln, dessen ganzes Leben sich in kindlichem Gehorsam dem Vater gegenüber zusammenfassen lässt?" Qure placita sunt eifacio sem per. " I \iVir haben darÜber bereits gesprochen. (N. 229.)

2) Wahre Demut, die einerseits auf der Grösse und der Heiligkeit J esu, andrerseits auf unserer Niedrigkeit und UnwÜrdigkeit beruht. "Domine, 1Zon SUlll dignus ... " Diese Gesinnung entleert, sozusagen, unsere Seele, da sie dieselbe vom Egoismus, vom Stolze und der Anmassung freimacht. I n dieser Entleerung seiner selbst vollzieht sich die Vereinigung mit Gott. Je mehr wir uns unsererselbst entledigen, desto besser bereiten wir unsere Seele vor, sich von Gott einnehmen und besitzen zu lassen.

3) Dieser Demut soll ein hezsses Verlangen folgen, sich mit Gott in cler hl. Eucharistie zu vereinigen. Im GefÜhle unserer Ohnmacht und Hilflosigkeit sollen wir nach demjenigen seufzen, cler allein unserer Schwäche abhelfen, uns mit seinen Schätzen bereichern und so die Leere in unserem Herzen ausfüllen kann. Diese Sehnsucht wird unsere Seele demjenigen weit öffnen, der selbst sehnlichst wünscht, sich uns zu schenken. " Desiderio desiderazli IIOC pascha l11,anducare vobiscum. " 2

284. b) Die beste Danksag-ung- wird jene sein, clie unsere Vereinigung mit J esus verlängert.

I) Beginnen soll sie mit einem Akte stiller A ttbetung, Selbstvernichtung und vollständig-er Hingabe unsererselbst an clenjenigen, der als Gott sich ganz

,Jolz., VJlr, 29.

, Lukas, XXIl, 15.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBEN::',

uns hingibt. I "Adoro te devote, latens deitas ... Tibi se cor 1IZeU1ll totU1ll sulij'icit. " 2 In Vereinigung mit Maria, der vollkommensten Anbeterin J esu, sollen wir uns vor der göttlichen Majestät gleichsam vernichten, um sie zu preisen, zu loben und ihr zu danken. U ncl zwar zunächst dem Fleischgeworclenen Worte und dann mit ihm und durch dasselbe der allerheiligsten Dreifaltigkeit. " Mag-1Zijicat anima lIlea DOlllz·nu1lt ... fecit lIlihi 1I1agna qui potens est, et salZetum flomen f!jus. " 3 Durch nichts anderes vermag J esus in das Innerste unserer Seele besser einzudringen, als durch diesen Akt unserer Selbstvernichtung'. Es ist uns eigen, uns, armen Geschöpfen, uns dem hinzugeben, der alles ist. \Vir sollen ihm alles, was gut an uns ist, geben. Das wird nur eine RÜckgabe sein, da ja alles von ihm kommt uncl nie aufhört, ihm zu gehören. Auch unsere Armseligkeiten sollen wir ihm opfern, damit er sie im Feuer seiner Liebe verzehre und sie durch seine überaus vollkommenen Eigenschaften ersetze. Welch' ein wunderbarer Tausch!

285. 2) Daran schliessen sich vertrauliche Zwiegespräche zwischen der Seele und dem göttlichen Gaste. "Loquere, D011line, quia audit senlus tuus ... Da mihi intelleäum ut sciam testi11l0nia tua. lnclina cor meu1lZ z'n verba oris tui. " 4 Aufmerksam höre man, was cler Meister, der Freund sagt. Mit grosser Ehrfurcht und doch schlicht, einfach und herzlich sollen wir zu ihm sprechen. Der Augenblick ist da, in welchem J esus seine innersten Gefühle uncl seine Tugenden auf uns überträgt, darum müssen wir unsere Seele den göttlichen Eingebungen öffnen. Wir dÜrfen uns nicht damit begnügen, sie entgegen-

I Viele vergessen diese erste Pflicht und beginnen sofort um Gnaden zu bitten, ohne zu bedenken, dass unsere Gebete um so bereitwilliger entgegengenommen werden, je mehr wir zuerst unsere Pflicht demjenigen geg-enÜber getan haben werden, der uns mit seinem Besuche beehrte.

2 Hymnus des h1. THOMAS. - 3 Lukas, I, 16. 4 Nachfolge Christi, 3, Buch, 2. Kap.

220

ZWEITES KAPITEL.

zunehmen, sondern müssen danach sehnsüchtig verlangen, sie verkosten und uns einverleiben. "Os meum aperui et attraxi spiritum. "I Und clamit diese Gespräche nicht zur bIossen Gewohnheit werden, ist es ratsam, den Gegenstand des Gespräches täglich oder wenigstens von Zeit zu Zeit zu ändern, indem man bald diese, bald jene Tugend wählt, irgendwelche Worte aus dem Evangelium überdenkt und den Heiland bittet, uns dieselben verstehen, durchkosten und praktisch anwenden zu lassen.

286. 3) Man darf auch nicht vergessen, ihm für die Erleuchtungen zu danken, die er uns in seiner Güte zu schenken sich würdigte, wie auch für die Andacht und für die Finsternis und Trockenheit, in der er uns zeitweise lässt. Man benütze sogar die letzteren, um sich zu verdemütigen, sich der göttlichen Gunsterweisul1gen für unwürdig zu erklären und umsomehr dem Willen nach sich demjenigen anzuschliessen, der selbst in der Trockenheit nicht aufhört, auf geheimnisvolle und verborgene Weise uns sein Leben und seine Tugenden mitzuteilen. Flehentlich bitte man ihn, auch ferner in uns zu leben und zu wirken. " 0 Jesu, vivens in Maria, veni et vive in famulis tuis " "2 Und clas wenig Gute, clas wir besitzen, engegenzunehmen, um es umzugestalten. " SUllle, Domine, et suscipe omnelll lIleam libertatem ... " 3

287.4) Man biete sich an, die notwendigen Opfer zu bringen, um sein Leben zu bessern uncl umzugestalten, besonders, was diesen oder jenen Punkt anbetrifft. Da man sich seiner Schwäche bewusst ist, bitte man flehentlich um die Gnade, diese Opfer vollbringen zu können. 4

, Ps, CXVIII, I3I.

2 Gebet des P. de Condren, von M. Olier vervollständigt.

3 Gebet des hl, fgnatius inder Betrachtung über die Liebe. 4 L. C i\PELLE, S, J, Les limes gl71b'euses.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENs"

288. 5) Das ist auch der günstigste Augenblick, für alle uns nahestehenden Personen zu beten, ebenso wie für die wichtigen Anliegen cler Kirche, ferner Gebete in der Meinung des Hl. Vaters zu verrichten, wie auch der Bischöfe und Priester zu gedenken. Fürchten wir nicht, unser Gebet so allgemein wie nur möglich zu gestalten, denn, im Grunde genommen, ist dieses das beste Mittel, erhört zu werden.

Zum Schlusse bitte man in dieser oder jener Form den Heiland, die Gnade zu schenken, in ihm zu bleiben, wie er in uns bleibt und jede Handlung in Vereinigung mit ihm und aus Dankbarkeit zu verrichten. Man vertraue Maria den Heiland in unserer Seele an, den sie einst so treu beschützte. Sie soll uns helfen, um ihn in uns heranwachsen zu lassen. Nachdem wir uns auf diese Weise clurch das Gebet gestärkt haben, gehen wir zur Tat über.

SCHLUSSFOLGERUNG.

289. Drei wichtige Mittel stehen uns also zur Verfügung, um das christliche Leben, das Gott uns in seiner Güte schenkte, zu erhalten, zu vermehren und uns hochherzig Gott hinzugeben, wie er sich

uns hingibt.

1. Mittel: Beständiger und unerbittlicher Kampf.

Kämpfen wir mit Gottes Hilfe und unter dem Schutze aller jener Geister, die er uns zu Beschützern gab, gegen unsere geistigen Feinde, so sind wir sicher, den Sieg davonzutragen und das übernatürliche Leben in uns zu festigen.

2. Mittel. J-Jeiligung unserer Handlungen. Heiligen wir durch öfter erneute Aufopferung alle unsere täglichen Handlungen, selbst die unbedeutendsten. Wir werden dadurch zahlreiche Verdienste erwerben, unseren Gnadenschatz bedeutend vermehren und unser Anrecht auf den Himmel grösser gestalten. Gleichzeitig werden wir dadurch unsere Fehltritte wiedergutmachen und sÜhnen.

222

ZWEITES KAPITEL.

3. Mittel. Würdiger und anclächtiger Empfang der -hl. Sakramente. Durch ihn fügen wir unseren persönlichen Verdiensten eine aussergewöhnliche Fülle von Gnaden hinzu, die von den Verdiensten J esu Christi herrührt. Da wir häufig beichten und, wenn wir wollen, täglich zur hl. Kommunion gehen können, so hängt es nur von uns ab, Heilige zu sein. Jesus kam einst und kommt noch heute zu uns Menschen, um uns sein Leben in Überfülle mitzuteilen. "Ego veni ut vitam habeant et abundantius lzabeant. " I Es ist an uns, unsere Seelen zu öffnen, weit zu öffnen, um dieses Leben in uns aufzunehmen, es sorgsam zu pflegen, zu vermehren und so an den Gesinnungen, den Tugenden und Opfern Christi teilzunehmen. Dann wird der Zeitpunkt kommen, an dem wir, in J esus umgestaltet, keine anderen Geclanken, Gesinnungen und Absichten als die seinigen haben werden. Dann können wir mit dem hl. Paulus sagen:" Vivo,jam non ego, vivit vero in 11le Cnristus."

ZUSAMMENFASSUNG DES 2. KAPITELS.

290. Jetzt, nachdem wir beim Schlusse des zweiten Kapitels angelangt sind, welches das wichtigste dieses ersten Abschnittes ist, werden wir das \Vesen des christlichen Lebens besser verstehen.

I) Es ist tatsächlich eine Teibtall1ne am Leben Gottes. Gott nämlich lebt in uns und wir in ihm. Er lebt in uns, und zwar in Wirklichkeit. Er lebt in uns in eier Einheit seines Wesens und in der Dreifaltig'keit seiner Personen. Und er ist in uns nicht untätig:

Er ist der Schöpfer eines vollständigen, übernatürlichen Organismus in unserer Seele. Dieser ermöglicht es uns, zwar nicht ein Leben zu leben, das dem seinigen gleich, wohl aber ähnlich ist. Ein gottförmliches Leben. Er ist es auch, der durch

'loh., X, 10.

DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. 223 seine aktuelle Gnade dieses Leben in Tätigkeit setzt, der uns ferner hilft, verdienstliche Akte zu vollziehen. Und er belohnt diese Akte dadurch, class er eine neue Eingiessung der heiligmachenden Gnacle hervorbringt. Wir aber leben in ihm und für ihn, denn wir sind seine Mitarbeiter. Von seiner Gnade unterstützt, erhalten wir, ohne unsere Freiheit zu verlieren, göttlichen Antrieb, wirken dabei mit und siegen so Über unsere Feinde. Gleichzeitig erwerben wir Verdienste fÜr den Himmel und bereiten uns auf die Überströmende Gnade vor, die uns clie h1. Sakramente vermitteln. \Vir vergessen dabei nicht, dass unsere Zustimmung selbst das Werk seiner Gnade ist und schreiben ihm deshalb das Verclienst unserer guten Werke zu, ihm,jiir den wir leben, wie wir durch ihn uncl in ihm leben.

291. 2) Dieses Leben ist auch eine Tez'lnahme am Leben Jesu. J esus lebt in uns, und wir leben in ihm. Er lebt nicht nur als Gott in uns, in derselben Eigenschaft wie der Vater, sondern auch als Gottmensch, denn er ist das Haupt eines mystischen Leibes, dessen Glieder wir sind. Von' ihm erhalten wir Bewegung und Leben. Auf eine noch geheimnisvollere Weise lebt er in uns, weil er durch seine Verdienste und Gebete bewirkt, dass der Heilige Geist in uns eine Verfassung erzeugt, die derselbe in seiner Seele hervorbrachte. \Virklich und physisch lebt J esus in uns, so oft wir die heilige Kommunion empfangen. Durch seinen göttlichen Geist teilt er uns seine Gesinnungen und Tugenden mit. Aber auch wir leben in ihm. \Vir sind ihm einverleibt, Aus freien Stücken folgen wir der Anregung, die er uns gibt. Freiwillig sind wir mit ihm so eng verbunden wie die Reben mit dem Weinstock. Unsere Seele saugt, sozusagen, durstig den göttlichen Saft, den er uns in so freigebiger Weise zukommen lässt, in sich auf. Und, da wir alles von ihm erhalten, so leben wir durch z'lzn und fÜr ilzn und sind überglücklich, uns

224 DAS WESEN DES CHRISTLICHEN LEBENS. ihm hinzugeben, wie er sich uns hingibt. Wir bedauern nur, dieses in so unvollkommener Weise zu tun.

292. 3) Dieses Leben ist gewissermassen auch eine Teilnahme am Leben Mariens, oder, wie Olier sagt, am Leben Jesu, der in Maria lebt. Da Jesus wünscht, sie sei sein lebendes Abbild, so teilt er ihr durch seine Verdienste und seine Gebete seinen göttlichen Geist mit, welcher bewirkt, dass sie in ausserordentlich hohem Grad~ an seinen Gesinnungen und seinen Tugenden Anteil nimmt. So lebt er in Maria. Da er will, seine Mutter sei auch die unsrige, so wünscht er, dass sie uns in geistlicher Weise das Leben schenke. Dadurch nun, dass sie uns das geistliche Leben schenkt - wohlverstanden als zweite Ursache - lässt sie uns nicht nur am Leben J esu teilnehmen, sondern auch an dem ihrigen. Somit haben wir Teil am Leben Mariens und zugleich am Leben J esu, oder, mit anderen Worten, am Leben J esu, der in Maria lebt. Dieser Gedanke liegt in dem schönen, von Olier vervollständigten Gebete des P. de Coridren : " 0 Jesu vivens z'n M aria, veni et vive in famulz's tuis! "

293.4) Endlich ist dieses Leben eine Teilnahme am Leben der Heiligen des Himmels und der Erde. \Vie wir gesehen haben, umfasst der mystiche Leib Christi alle die, welche ihm durch die hl. Taufe einverleibt werden, besonders aber die, welche im Besitze der Gnade und der Seligkeit sind. Alle Glieder dieses mystischen Leibes nehmen an demselben Leben teil, welches sie vom Haupte empfangen und welches durch clenselben göttlichen Geist in ihre Seele ausgegossen ist. Wir sind also alle wirkliche Brüder, erhalten von demselben Vater, von Gott, durch die Verdienste desselben Erlösers einen Anteil an demselben geistlichen Leben, welches J esus Christus in seiner ganzen Fülle

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 225

besitzt." De cujus plenitudine nos omnes accepi1Hus." Aus diesem Gruncle nehmen auch die Heiligen des Himmels und der Erde teil an unserem geistlichen Fortschritt und helfen uns in unserem Kampfe gegen clas Fleisch, die Welt und den Satan.

294. Wie trostreich sincl doch diese Wahrheiten!

Zwar ist hicnieden das geistliche Leben ein Kampf. Streitet auch clie Hölle gegen uns uncl findet sie auch an der 'vVelt und besonders an unserer dreifachen bösen Begierlichkeit ihre VerbÜndeten, so kämpft der Himmel doch für uns. Unter dem Himmel versteht man aber nicht nur das Heer der Engel und Heiligen, sondern Christus selbst, den Besieger Satans. Der Himmel ist die in unserer Seele lebende und regierende, allerheiligste Dreifaltigkeit. Somit sollen wir zuversichtlich vertrauen und siegesgewiss sein, vorausgesetzt, dass wir vor allem auf Gottes Hilfe rechnen, uns selbst aber misstrauen. " Omnia possum in eo qui lIle confortat. " 1

DRITTES KAPITEL.

Vollkommenheit des christlichen Lebens.

295. Jedes Leben muss sich vervollkommnen.

Das gilt besonders vom christlichen, welches seiner Natur nach fortschreitend ist und erst im Himmel seinen Höhepunkt erreicht. Wir werden also jetzt untersuchen, worin dz'e Vollleolllltlenlleit dieses Lebens besteht, clamit wir uns dadurch um so leichter auf den Vvegen, die zur Vollkommenheit führen, zurechtfinden. \Neil es aber bezüglich dieses ausserordentlieh wichtigen Punktes Irrtümer und mehr ocler wenig"er mangelhafte Begriffe gibt, wollen wir zunächst damit beginnen, die falschen BegrijJe von christlicher Vollkommenheit abzusondern und

, Brief an die Philipper, IV, I3.

226

DRITTES KAPITEL.

dann erst clas wahre T;Vesen der letzteren darlegen.

D· f I 1 1 der Ungläubigen I. le 'a sc 1en

B'er der Weltmenschen

egnue I

der Frommen.

j Er besteht in der Liebe.

Setzt hienieden das Opfer voraus. 2. Der wahre Verbindet harmonisch diese beiden Begriff I wesentlichen Bestandteile.

Umfasst die Gebote und die Räte. I Hat seine Gracle uncl seine Grenzen

I. ABSCHNITT, FALSCHE BEGRIFFE VON DER VOLLKOl\JMENHEIT.

Diesen falschen Auffassungen begegnet man bei den Ungläubigen, den T;Veltllle7Zsclle1Z und bei den falschen Fr{lmmen.

296. I. In den Augen der Utzglättbz'gen' ist die christliche Vollkommenheit nur ein persö1llz'ches P/zänomen, das keineswegs einer \Virklichkeit entspricht.

A) Mehrere von ihnen untersuchen das, was sie mystische Phänomene nennen, nur mit übel wollenden Vorurteilen und ohne zwischen wahren und falschen l\Iystikern zu unterscheiden. So z. B. Maz Nordau, j. H. Leuba, E. jJ;furisier.' Nach ihnen besteht die angebliche Vollkommenheit der Mystiker nur in eine!!l krankhaften Phänomen, in einer Art Psycho-Neurose, in Uberspanntheit religiösen Gefühles, ja selbst in einer besonderen Form geschlechtlicher Liebe, wie es die Ausdrücke Verlobung, geistliche Vermählung, Küsse, Umarmung, göttliche Liebkosungen beweisen, die man so häufig in den Büchern der Mystiker findet.

Augenscheinlich haben jene Verfasser, die nur die weltliche Liebe kennen, nichts von göttlicher Liebe verstanden. Sie zählen zu jenen, auf welche man das \\Tort des Heilandes an wenden könnte: "Neque mit/atis lIlal"g'Clritas vestras ante

, MAX NORDAU, Degb,erescmce, T. B., S. !I5. - J. H, LEUBA, La psychologie des PIU!1101llClleS 1'eligieux. - E. MURISIER, Les matadies du .~elltz:mellt ,'el(fiellx.

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 227

poreos. '" Darum machen denn auch andere Psychologen, wie z. B. W: james, die Bemerkung, der Geschlechtstrieb habe mit der Heiligkeit nichts zu schaffen. Die wahren Mystiker seien von heroischer Keu8chheit gewesen. Die einen hätten nie oder fast nie die Schwäche des Fleisches an sich erfahren, anderen gelang es durch heroische Mittel, heftige Versuchungen zu überwinden, indem sie sich z. B. auf Dornen wälzten. Redeten sie die Sprache menschlicher Liebe, so geschah es, weil es keine andere gibt, die geeigneter ist, die Zärtlichk;~it göttlicher Liebe auch nur annähernd wiederzugeben. 2 Ubrigens haben sie in ihrer ganzen Lebensführung und durch die grossen Werke, die sie unternommen und glÜcklich vollendet haben, gezeigt, dass sie klug und abgeklärt waren und dass man dem" Nervenleiden " nicht genug danken kann, uns einen Thomas von Aquin, einen Bonaventura, einen Ignatius von Loyola, einen Franz Xaver gegeben zu haben. Ebenso eine Therese, einen Johannes vom Kreuze, einen Franz von Sales, eine Jobanna von Chan tal, einen Vinzenz von Paul, eine Legras, einen Berulle, einen Olier, einen Alphons von Liguori und einen Paul vom Kreuze.

297. B) Andere Ungläubige lassen unseren Mystikern Gerechtigkeit widerfahren, zweifeln jedoch an der objektiven Vlirklichkeit der Phänomene, die sie scbildern. Zu diesen zählen William J ames und Maxim de Montmorand.3 Sie geben zu, das religiöse Gefühl rufe in den Seelen unvergleichlich schöne Wirkungen hervor, einen unwidersteblichen Zug zum Guten, grenzenlose Hingabe an die Menschen. Ihr angeblicher Egoismus, so sagen sie, sei, im Grunde genommen, nichts anderes als hervorragend soziale, cbristliche Liebe, die den denkbar besten Einfluss ausÜbe. Ihr Verlangen nach Leiden hindere sie nicht, uns~gbare Freuden zu geniessen und in ihrer Umgebung GlÜck zu verbreiten. Aber sie fragen sich, ob es sich hier nicht vielleicht um Opfer von Auto-Suggestion und Halluzination handele. Diesen antworten wir, so glückliche Wirkungen können nur von einer ihnen entsprechenden Ursache hergeleitet werden. Das wabre und dauernde Gute kann nur vom Wahren kommen. Haben die christli<;:hen Mystiker heroische Tugenden geÜbt und nÜtzliche Werke geschaffen, so sind es Betrachtung und Liebe zu Gott, die ihnen diese Werke eingaben, lebende und tätige Wirklichkeiten, nicht aber Halluzinationen. "Ex jructibzts eorum cognoscetis eos, 4 "

'Matth., VII, 6, - 2 W. JAMES, L'Experience religieuse, I906.

3 W. JAMES, M. DE MONTMORAND, Psychologie des Mystiques, I920. 4 Matth, , VII, 20.

228

DRITTES KAPITEL.

298. 2. Die Weltmenschen ocler Kinder der Welt, selbst wenn sie nicht ungläubig sind, haben oft bezüglich der V oUkommenheit oder dessen, was sie mit Frö'mmigkeit bezeichnen, ganz falsche Ansichten.

A) Die einen betrachten die Frommen als Heuchler, Betbrüder, Betsch'western, die unter dem Scheine von Frömmigkeit, abscheuliche Laster oder ehrgeizige, genau berechnete Pläne verbergen, wie z. B. den Wunsch, die Gewissen zu knechten uncl cladurch die Welt zu regieren. Das aber heisst, den Missbrauch einer Sache mit cler Sache selbst verwechseln. Nachfolgende, nähere Untersuchung soll deutlich beweisen, Einfachheit, Ehrlichkeit und Demut seien die wahren Erkennungszeichen der Frömmigkeit.

299. B) .~n den Augen anderer ist die Frömmigkeit eine Ubertreibung des GefÜlzls und der Phantasie, eine Art dauernde Gemütserregung, die höchstens für Weiber und Kinder passe, aber unter der \Vürde cles Mannes stehe, dei- sich nur durch Verstand und Willen leiten lassen will. Und doch! Wieviele Männer finden sich im Kalencler aufgezeichnet, Männer, die sich durch hervorragendes Urteil, höhere Geisteskraft, durch eisernen und stanclhaften Willen hervortaten! Also auch hier handelt es sich um eine Verwechslung. Man unterscheidet nicht zwischen dem wahren Bilde und dessen Karikatur.

300. C) Schliesslich finclet man Leute, welche die Behauptung' aufstellen, die Vollkommenheit könne nie verwirklicht werden. Sie sei eine Träumerei und schOll deshalb gefährlich. Es genüge, die Gebote zu halten und besonders dem Mitmenschen zu helfen, ohne dass man seine Zeit durch kleinliche Gebetsübungen verliere oder auch durch das Suchen nach aussergewöhnlichen Tugenden. - Um diesen Irrtum zu widerlegen, genügt es, einen Blick in das Leben der Heiligen zu werfen. So kann man nach-

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 229

weisen, class die Vollkommenheit hienieden bereits verwirklicht worden ist und dass die Befolgung der Räte, an statt der Beobachtung cler Gebote zu schaclen, diese nur erleichtert.

301. 3. Unter den fro1/lmen Personen selbst gibt es viele, clie sich über das wahre Wesen der Vollkommenheit täuschen. Eine jede von diesen frisiert sie je nach ihrer Leidenschaft und Phantasie. I

A) Mehrere, wel<;p.e die eigentliche Frihll111igkeit mit denfro11Z11Zen Ubung-en verwechseln, bilclen sich ein, clie Vollkommenheit bestehe im Hersagen möglichst vieler Gebete und in der Teilnahme an recht vielen Bruderschaften,selbst auf Kosten der Standespflichten, die sie oft vernachlässigen, um diese oder jene Andacht zu verrichten, oder zum Schaclen der Nächstenliebe im Verkehr mit den Hausgenossen. Das aber heisst, das Nebensächliche zur Hauptsache machen, die Mittel mit dem Zweck verwechseln.

302. B) Anclere geben sich dem Fasten und clen ](asteiungen so hin, dass sie ihren Körper schwächen uncl sich unfähig machen, ihre Standespflichten zu erfüllen. Sie sincl der Ansicht, zur Übung der Nächstenliebe seien sie nicht mehr verpflichtet. Sie wagen nicht mehr, ihre Zungenspitze in V/ein zu tauchen, fürchten sich aber durchaus nicht, sie in das Blut cles Mitmenschen zu stecken und zwar durch Üble Nachrede und Verleumclung. Auch hier täuscht man sich bezÜglich des \Vesentlichen in der Vollkommenheit und Übersieht die Hauptpfl.icht der christlichen Nächstenliebe, während man allerlei anclere fromme Übungen verrichtet, die wohl an uncl für sich gut sind, aber weniger Bedeutung haben. - 111 einen ähnlichen Irrtum fallen jene; die zwar reiclzliclle Almosen spenden, aber von einer Versöhnung mit ihren Feinden nichts wissen wollen.

, FRANZ V. SALES, Pbilotbca. 1. Teil. 1. Kap.

230

DRITTES KAPITEL.

Andere wieder, die ihren Feinden verzeihen, aber nicht ihre Schulden bezahlen.

303. C) Einige, welche die geistlichen Tröstungen mit dem Eifer verwechseln, halten sich für vollkommen, sobald sie in Tröstungen, sozusagen, schwimmen und leicht beten. Ist das aber nicht der Fall, so glauben sie, lau geworden zu sein, besonders, wenn innere Trockenheit und Zerstreutheit im Gebete sich bemerkbar machen. Sie vergessen, class das, was in den Augen Gottes gilt, in der lzochherzigen und immer wieder erneuten Anstrengung besteht, ohne sich von scheinbaren Misserfolgen, denen man begegnen kann, entmutigen zu lassen.

304. D) Andere, gänzlich in äusserer Tätigkeit verloren, vernachlässigen das innere Leben, um sich desto mehr der apostolischen Wirksamkeit zu widmen. Diese vergessen, dass clas treu verrichtete Gebet die Seele jeglichen Apostolates ist, denn es zieht den Segen Gottes auf clie Arbeit und macht sie fruchtbar.

305. E) Endlich gibt es einige, welche Bücher über Mystik oder das Leben der Heiligen gelesen haben, in welchen man Extasen und Visionen schilderte und die sich nun einbilden, in cliesen aussergewöhnlichen Phänomenen bestehe die V 011- kommenheit. Deshalb strengen sie sich gewaltig den Kopf und die Phantasie an, um auch dorthin zu gelangen. Sie haben nicht erfasst, dass, wie clie Mystiker selbst bezeugen, diese Phänomene nebensächlich sind und nicht die Heiligkeit ausmachen und dass man nicht nach ihnen streben soll. Ferner, dass der Weg der Gleichförmigkeit mit clem Willen Gottes bei weitem sicherer und praktischer ist.

Nachdem wir nun so den Schutt vom Boden entfernt haben, werden wir leichter verstehen, worin die wahre Vollkommenheit ihrem Wesen nach besteht.

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 231

2. ABSCHNITT. DER RICHTIGE BEGRIFF VON VOLLKOMMENHEIT. I

306. Der Fragepunkt. Um dieses Problem richtig zu lösen, wollen wir zunächst genauer angeben, worum es sich hier handelt.

1. Ein Wesen ist in der natürlichen Ordnung vollkommen (per-fectum) wenn es beendet, vollendet ist. Folglich, sobald es seine Bestimmung erreicht hat. " Unulll quodque dicitur esse peifectum in quantum attingit proprium jinem qui est ultima rei perfectio." 2 Darin besteht die absolute (unbedingte) Vollkommenheit. Es gibt aber noch eine andere, nämlich die relative (bedingte) und fortschreitende. Sie besteht in der allmählichen Annäherung des Wesens an seine Bestimmung und zwar unter Entfaltung aller seiner Fähigkeiten und in der ErfÜllung aller seiner Pflichten nach den Vorschriften des ihm von eier gesunden Vernunft geoffenbarten Naturgesetzes.

307.2. Die Bestimmung des Menschen, auch in der natÜrlichen Ordnung, ist Gott. I) Da wir von i/tm erschaffen wurden, sind wir notwendigerweise fÜr ill1l geschaffen worden, weil er keine vollkommenere Bestimmung als sich selbst finden konnte, was einleuchtencl ist. Er nämlich ist die Fülle des Seins. Ausserclem wäre es seiner unwÜrdig, etwas fÜr eine unvollkommene Bestimmung zu erschaffen. 2) Ja, noch mehr. Gott ist die unendliche Vollkommenheit. Also die Quelle selbst jeglicher Vollkommenheit. Der Mensch ist demnach um so vollkommener, je mehr er sich Gott nähert und von dessen

, S, THOM., IIa Ure q. 184, a. 1-3; Opuscul. de perjeetione vitee .rpiritualis; ALVAREZ DE PAZ, op. ci!., I. III. - LE GAUDlER, op. eit" P. Ia. _ SCHRAM, Insti!. mystieee, § IX-XX. - RlBET, L'Asdtique cJznftielIrle, Kap. IV-VI. - IGHlNA, Cours de Thiol. asdtique. Introduction. - GARRIGOu-LAGRANGE, in La vie spirituelle, Okt. und November 1920.

, Sumo theo!., IIa II;e, q. 184, a. 1.

,. I

232

DRITTES KAPITEL.

Vollkommenheit etwas an sich hat. Aus diesem Grunde findet er in den Geschöpfen nichts, was sein berechtigtes Verlangen stillen könnte." Ultimus hominis finis est bonum increatum, scilicet Deus, qu,i solus sua infinita botlitate potest voluntatem hominis pel:fecte implere. " r. Auf Gott müssen wir also alle unsere Handlungen richten, ihn erkennen, ihn lieben, ihm dienen und dadurch ihn verherrlichen. Darin besteht der Zweck des Lebens, die Quelle jeglicher Vollkommenheit.

308. 3. Das trifft noch mehr in der Überllatiirlz'chen Ordnung zu. Ohne unseren Verdienst erhob uns Gott in einen Zustand, cler unsere Anforderungen und Möglichkeiten überragt. Wir sind berufen, einst durch die beseligende Anschauung Gott zu betrachten. \lVir besitzen ihn jetzt schon durch die Gnade. Er schenkte uns einen übernatürlichen, vollständigen Organismus, um uns durch Übung der christlichen Tugenden mit ihm vereinigen zu können. Nur insofern als wir uns beständig ihm nähern, machen wir Fortschritte in cler Vollkommenheit. Da uns das aber nicht möglich ist, ohne uns mit J esus zu vereinigen, der allein der \N eg zum Vater ist, so wird unsere Vollkommenheit darin bestehen, dass wir fÜr Gott in Vereinigung mit Jesus Christus leben: " Viven su??zme Deo in Chrz'sto Jesu. "2 Das tun wir durch die Ubung der christlichen Tugenden, sowohl der theologischen als auch der sittlichen, die ja nichts anderes bezwecken, als uns durch die Nachfolge Christi auf eine mehr oder weniger unmittelbare Weise mit Gott zu vereinigen.

309.4, Es handelt sich jetzt clarum, zu erfahren, ob unter diesen Tugenden nicht vielleicht eine sei, die alle anderen in sich enthält und, sozusagen,

1 S. TROM., Ia nie, q. lII, a. I. - Cfr. TANQUEREY, Synopsis Tlleol. mora lis , Tr. de Ultimo fine, N. 2-r8.

2 J.-J, OLlER, Pietas Seminar;;, N. I.

VOLLKOMMENHEIT DES OIRISTL. LEBENS. 233 das Wesen der Vollkommenheit sei. Der hl. Thomas fasst die Lehre cler Heiligen Schrift und die der Kirchenväter zusammen und bejaht die Frage. Er lehrt, die Vollkommenheit bestehe ihrem Wesen nach in der Liebe zu Gott und dem Nächsten, den man Gottes wegen liebt. "Per se quidem et essentialiter consistit peifectio christiance vitce in caritate, principaliter quidem secundum dilectionem Dei, secundario autem secundum dilectionem proximi. "r Da man aber in diesem Leben Gott nicht lieben kann, ohne auf die ungeordnete Eigenliebe und auf die clreifache böse Begierlichkeit zu verzichten, so muss man das Opfer mit cler Liebe verbinden. Das nun wollen wir darlegen. Wir beweisen also I) Wieso clie Liebe zu Gott und clen Menschen das \Vesen cler Vollkommenheit ausmache. 2) \Veshalb diese Liebe bis zum Opfer gehen müsse, 3) vVie man das eine mit dem anderen verbinden müsse. 4) Wieso die Vollkommenheit zugleich die Gebote und die evangelischen Räte umfasse. 5) Welches ihre Gracle seien und wie weit sie auf Erden sich verwirklichen lasse.

§ 1. Das Wesen der Vollkommenheit besteht in der Liebe.

310. Erklären wir erst den Sinn der These. Die Liebe zu Gott und clem Nächsten, um die es sich hier handelt, ist ihrem Gegenstande, Beweg-g'runde und Grundsatze nach übernatÜrlich. Der Gott, den wir lieben, ist der, den die OffetZbarung uns zeigt, nämlich der Dreieinige Gott. Wir lieben ihn, weil der Glaube ihn uns als unendlich gut und unendlich liebenswürdig darstellt. Wir lieben ihn mit unserem Willen, der clurch die Tugend der Liebe vollkommener geworden ist und von der wirkenden ( a!etuel-

, Sumo theol" ITa IIa!, q. r84, 3, vgL De perfectiolle vitm spiritualis,

\' cap, I, N. 56, 7.

234

DRITTES KAPITEL.

len) Gnade unterstützt wircl. Es ist somit keine GifÜhlsliebe. Der Mensch besteht zwar aus Leib und Seele, und es mischt sich oft in die edelsten Gemüt·sbewegungen ein sinnliches Element, oft aber auch fehlt es vollständig, jedenfalls ist es nur Nebensache. Das Wesen der Liebe ist Hingabe:

Der feste Wille, sich hinzugeben und nötigenfalls sich gänzlich für Gott und dessen Ehre aufzuopfern, seinen \Villen dem unsrigen und dem der Geschöpfe vorzuziehen.

311. Dasselbe muss in gewisser Beziehung auch von der Nächstenliebe gesagt werden. Wir lieben Gott in ihm, ein Abbild, einen Abglanz der göttlichen Vollkommenheiten. Daher ist der Beweggrund dieser Liebe die Güte Gottes, insofern als sie sich im Nächsten offenbart, zum Ausdruck gebracht ist, in ihm sich abspiegelt. Kurz, wir erblicken und lieben in unseren Mitmenschen eine Seele, in welcher der Heilige Geist wohnt und die mit der göttlichen Gnade ausgeschmückt und durch das Blut J esu Christi erlöst worden ist. Durch unsere Liebe zum Nächsten wollen wir sein übernatürliches Wohlsein, die Vervollkommnung seiner Seele, sein ewiges Glück

Es gibt deshalb auch keine zwei Tugenden cler Liebe. Die eine, die sich auf Gott, die anclere, die sich auf den Nächsten bezieht. Sondern nur eine, die gleichzeitig Gott und den Nächsten umfasst. Gott lieben wir um seinerselbst willen, den Nächsten wegen Gott.

Mit cliesen Begriffen wird es uns leicht sein, zu verstehen, dass clie Vollkommenheit tatsächlich in der Tugend der Liebe enthalten ist.

Beweisfitttrultg.

312. 1. Befragen wir die Heilige Schrift.

A) Sowohl im Alten wie im Neuen Testament beherrscht und umfasst das gros se Gebot der Liebe

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 235 zu Gott und der Liebe zum Mitmenschen das ganze Gesetz. Ein Schriftgelehrter fragt den Heiland, was man tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen. Der Gefragte antwortet deshalb kurz und bündig:

"Was gebietet das Gesetz?" Und der Gelehrte erwidert ohne Zögern mit der Stelle aus dem Deuteronom : " Du sollst Gott deinen Herrn lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus allen deinen Kräften und aus deinem ganzen Gemüte. Und deinen Nächsten wie clich selbst." "Diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo et ex tota anima tua et ex omnibus viris tuis et ex omni mente tua et proximum tuum sicut teipsum." Und J esus billigt es und sagt : "Hoc fac et vives." I Anderswo fügt er hinzu, dieses zweifache Gebot der Liebe Gottes und des Nächsten mache das Gesetz und die Propheten aus.2 Der hl. Paulus erklärt dieses in anderer Form. Nachclem er an die wichtigsten Gebote erinnert hat, fügt er hinzu, die Fülle des Gesetzes sei die Liebe. "Plenitudo legis dilectio. "3 Die Liebe zu Gott und dem Nächsten ist also gleichzeitig die Zusammenfassung und die Fülle des Gesetzes. Nun aber kann die christliche Vollkommenheit nur die vollkommene und vollständige Erfüllung des Gesetzes sein, denn das Gesetz

, ist der Wille Gottes. Was aber ist vollkommener als cler göttliche Wille?

313. B) Ein anderer Beweis wird der Lehre des hl. Paulus über die Liebe entlehnt und zwar aus clem 13. Kapitel des I. Briefes an die Korinther. Dort beschreibt er in lyrischer Sprache die Vortrefflichkeit der Liebe, ihre Erhabenheit über die Gaben oder unverdienten Gnaden, über die anderen theologischen Tugenden, über den Glauben und die Hoffnung. Er beweist, sie umfasse und enthalte in

'Luk., x, 25-29; cfr. Deut. VI, 5-7.

/,. 2 Matth., XXII, 39-40. - 3 Rom" XIII, 10.

236

DRITTES KAPITEL.

hervorragendem Masse alle anderen Tugenclen, ja, noch mehr, sie selbst sei der Inbegriff dieser Tugenden. " Caritas patiens est, benz'gna est. Caritas non a:1!lulatur, non agit perperam, non inflatur, nOll est ambitz'osa, non qua:rz't qua: sua sunt, non irritatur, non cogitat malullZ." Schliesslich fÜgt er hinzu, die unverdient empfangenen Gnaden seien vergänglich, Glaube und Hoffnung werden einmal aufhören, aber die Liebe sei ewig. Heisst das nicht, mit anderen \Vorten, lehren, sie sei nicht nur die Königin und Seele der Tugenden, sondern auch so vortrefflich, dass sie allein einen Menschen vollkommen machen könne, da sie ihm alle anderen Tugenclen vermittle?

314. C) Der hl. Johanrles, der Apostel der göttlichen Liebe, gibt uns den Hauptgrund an. "Gott ist die Liebe ", sagt er. "Deus caritas est." Sie macht, sozusagen, seine charakteristische Eigenschaft aus. Wollen wir ihm ähnlich sein, nämlich vollkommen wie unser himmlischer Vater, so müssen wir ihn lieben wie er uns geliebt hat. " Quonialll prior ipse dllexit nos. " 1 Da wir ihn jedoch nicht lieben können, ohne zugleich clen Nächsten zu lieben, so mÜssen wir diesen bis zur Hingabe für ihn lieben. Et nos debemus pro fratribus nostris animas nostras poneJ'e. " "Geliebte, lasset uns einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist die Liebe ... " " Denn darin besteht die Liebe, nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern, dass er uns zuerst geliebt und seinen Sohn als SÜhne fÜr unsere SÜnden gesandt hat. Geliebte! Wenn Gott uns also geliebt, so mÜssen auch wir einander lieben. Gott ist die Liebe, und der, welcher in der Liebe verharrt, bleibt in Gott und Gott in ihm. "2 Deutlicher kann man nicht sagen, die ganze Vollkommenheit bestehe

, I. loh., IV, 10. - 21. Brief des hL Johann~s, IV, 7-16.

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 237

in der Liebe zu Gott und zum Nächsten Gotteswegen.

315. 2. Richten wir uns nun an die durch den Glauben erleuchtete Vernunft. Ob wir das Wesen der Vollkommenheit oder die Natur der Liebe betrachten, wir werden stets zu demselben Schlussergebnis kommen.

A) Die Vollkommenheit eines Wesens, sagten wir, bestehe darin, class dasselbe seine Bestimmung erreiche oder sich clerselben soviel als möglich nähere. (N. 306.) Nun aber ist die Bestimmung des Menschen der ewige Besitz Gottes durch clie beseligende Anschauung uncl die daraus entspringende Liebe. Hienieden nähern wir uns dieser Bestimmung insofern wir bereits in inniger Vereinigung mit der in uns wohnenden Heiligsten Dreifaltigkeit und mit J esus leben, dem Vermittler, der allein uns der Weg zum Vater ist. Je inniger wir also mit Gott vereint sind, unserer letzten Bestimmung und der Quelle unseres Lebens, desto vollkommener sind wir.

316. Welche von den christlichen Tugenclen ist nun diejenige, die am meisten die Vereinigung fördert, unsere Seele g-änzlich mit Gott vereint, wenn nicht die göttliche Liebe? Die anderen Tugenden berez'ten uns gut auf diese Vereinigung vor oder reg-en uns dazu an, aber völlig zustande bringen sie dieselbe niclzt. Die sittlichen Tugenden, Klugheit Starkmut, Mässigkeit, Gerechtigkeit u. s. w. vereinen uns nicht unmittelbar mit Gott, sondern beschränken sich darauf, die Hinclernisse, die uns von ihm entfernen, zu "beseitigen oder zu verringern und uns durch clie Ubereinstimmung mit der Ordnung Gott nahe zu bringen. So z. B. bekämpft die Enthaltsamkeit die ungeordnete Neigung zum Genusse und vermindert so eines der grössten Hindernisse für die Liebe zu Gott. - Die Demut beseitigt den

~ Stolz und die ungeordnete Eigenliebe und macht

238

DRITTES KAPITEL.

uns zur Übung der göttlichen Liebe geeigneter. Diese Tugenden lernen uns ausserdem clie Ordnung lieben und Mass halten und unseren Willen dem göttlichen unterwerfen. Somit tragen sie bei, uns Gott näher zu bringen. Was nun clie theologischen Tugenden anbetrifft, die sich von der Liebe unterscheiden, so vereinigen sie uns zweifellos mit Gott, aber auf unvollständige Weise. Der Glaube vereinigt uns mit Gott, der unfehlbaren Wahrheit, und lässt uns die Dinge in göttlichem Lichte erkennen, aber mit ihm zugleich kann die Todsünde bestehen, clie uns von Gott trennt. Die Hoffnung hebt uns bis zu Gott empor, insofern als er so gut für uns ist. Sie lässt uns clie himmlischen Güter als wünschenswert erscheinen, aber auch sie kann gleichzeitig mit schweren Sünclen, die uns von unserer Bestimmung fernhalten, vorhanden sein.

317. Nur die Liebe vereint uns vollständig mit Gott. Sie setzt Glaube und Hoffnung voraus, aber sie übertrifft beide. Sie erfasst die ganze Seele, Verstand, Herz, Willen, Tätigkeit, uncl gibt sie ohne Vorbehalt Gott hin. Sie schliesst die TodsÜnde, die Feindin Gottes, aus uncl macht uns des Genusses der Freundschaft Gottes teilhaftig. " Si quis diligit me, et Pater meus diliget eu 111. " I Nun aber ist Freunclschaft soviel wie Vereinigung, Verschmelzung zweier Seelen in eine. " Cor unulll et anima zma ... unU111 velle, unU111 nolle." Vollstänclige Vereinigung aller unserer Fähigkeiten. Einheit des Geistes, welche bewirkt, class unsere Gedanken sich nach denjenigen Gottes richten. Einigkeit des Willens, durch die wir den göttlichen Willen umfassen, als wäre er der unsrige. Einigkeit des Herzens, die uns drängt, uns Gott hinzugeben, wie er sich uns hingibt. " Dilectus meus mihi et ego illi." Einheit cler tätigen Kräfte, clurch die Gott seine göttliche Macht unserer Schwä-

, loh., XIV, 23.

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 239 ehe zur Verfügung stellt, um uns die Möglichkeit zu geben, unsere guten Vorsätze zur Ausführung zu bringen. Die Liebe vereinigt uns also mit Gott, unserem Ziel, mit Gott, dem unendlich Vollkommnen und macht somit das wesentliche Element unserer Vollkommenheit aus.

318. B) Erforschen wir das Wesen der Liebe, so gelangen wir zu demselben Resultat. Wie der hl. Franz von Sales beweist, umfasst die Liebe alle Tugenden, ja, sie verleiht ihnen eine besondere Vollkommenheit. I

a) Sie umfasst alle Tugenden. Die Vollkommenheit besteht in der Aneignung aller Tugenden:

Besitzt man alle und zwar nicht in einem Anfangsgrade, sondern in hohem Grade, so ist man vollkommen. Wer nun aber die Liebe besitzt, hat alle Tugenden in ihrer Vollendung. Den Glauben, ohne den man die unendlich liebenswÜrdigen Eigenschaften Gottes wecler erkennen noch lieben kann. Die Hoffnung, welche Vertrauen einflösst, führt zur Liebe. Alle sittlichen Tugenden, z. B. die Klugheit, ohne die die Liebe weder sich erhalten noch wachsen könnte. Den Starkmut, mit welchem wir die Hindernisse, die sich der Übung der Liebe entgegenstellen, überwinden. Die Enthaltsamkeit, welche die Sinnlichkeit in Schranken hält, jene unversöhnliche Feindin der göttlichen Liebe.

Der lzl. Franz von Sales bemerkt clazu : "Der grosse Apostel sagt nicht nur, die Liebe brächte Gecluld, Wohlwollen, Standhaftigkeit, Einfalt mit sich, sondern er erklärt, sie selbst sei geduldig, wohlwollend, standhaft, weil sie die Vollkommenheit aller Tugenden enthalte. "

319. b) Sie verleiht ihnen sogar eine besondere Vollkommenheit und einen besonderen Wert, sie ist

, Abhalldlullg fiber die Liebe zu Gott, B. XI, Kap, 8.

240

DRITTES KAPITEL.

nach dem Ausdruck des hl. Thomas I die Form aller Tugenden. " Alle Tugenden sind sehr unvollkommen, sobald sie von der Liebe getrennt werden, denn ohne sie erreichen sie nicht ihre Bestimmung, nämlich, den Menschen glücklich zu machen. Ich leugne nicht, dass sie ohne die Liebe zustande kommen, ja, sogar zunehmen können, aber damit sie ihre Vollkommenheit besitzen, um als richtig ausgereifte und vollendete Tugenden zu gelten, brauchen sie die Liebe, die ihnen die Kraft gibt, sich zu Gott zu erheben und von seiner Barmherzigkeit den Honig des wahren Verdienstes und der Heiligung der Herzen zu sammeln ... Die Liebe ist unter den Tugenden, was die Sonne unter den Sternen. Sie verleiht allen Klarheit und Schönheit. Der Glaube, die Gottesfurcht und die Bussgesinnung kommen gewöhnlich vor ihr in die Seele, um ihr \"ohnung zu bereiten. Ist sie da, so gehorchen sie ihr und dienen ihr wie übrigens alle anderen. Und sie belebt, ziert und beseelt alle durch ihre Gegenwart." 2 Mit anderen Worten, da die Liebe unmittelbar unsere Seele auf Gott, das höchste Gut und letzte Ziel, richtet, verleiht sie auch allen anderen Tugenden, die sich ihrem Bereiche anschliessen, dieselbe Richtung und dadurch auch denselben Wert. So erhält z. B. ein Akt des Gehorsams und der Demut, ausser seinem eigentlichen Wert, von der Liebe einen viel grösseren, sobald er vollzogen wird, um Gott zu gifallen, weil er ein Akt der Liebe wird, d. h. ein Akt der vollkommensten Tugend. FÜgen wir hinzu, dass dieser Akt leic!zter und angenelmzer wird. Gehorchen und sich verdemütigen, kostet unserer stolzen Natur viel. Aber das Bewusstsein, dass man durch diese Akte Gott liebt und dessen Ehre fördert, macht sie leichter.

Somit ist also die Liebe nicht nur die Zusallzmen.fassung (Synthese), sondern auch die Seele aller

, S1I1I1. theot., 1P II"', q. 23, a. 8. _. Ht. Frmzz VOll Sates, I. c., k. 9.

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 2·1-1 Tugenden und vereinigt uns vollkommener und unmittelbarer als alle anderen mit Gott. Sie, nur sie, macht das \i\! esen der Vollkommenheit aus.

SCHLUSSFOLGERUNG.

320. Da das Wesen der Vollkommenheit in der Liebe zu Gott besteht, ergibt sich daraus, der kürzeste vVeg", um zu ihr zu gelangen, sei, viel zu lieben, grossmÜtig und leidenschaftlich, besonders mit reiner und selbstloser Liebe. \Vir lieben nun aber Gott nicht nur, so oft wir einen Akt der Liebe erwecken, sondern auch, so oft wir seinen 'Villen tun oder eine Pflicht erfüllen, mag diese auch noch so unbedeutend sein, um ihm zu gefallen. So kann denn jede unserer Handlungen, so gewöhnlich sie auch an und fÜr sich sein mag, in einen Akt der Liebe verwandelt werden und uns in der V ollkommenheit fördern. Der Fortschritt wird um so grösser und schneller sein, je heisser und edler diese Liebe und folglich auch je energischer und standhafter unsere Anstrengung sein wird. Was nämlich in den Augen Gottes gilt, ist der Wille, die Anstrengung, unabhängig von jeglicher Gemütserregung. Da die ÜbernatÜrliche Nächstenliebe auch ein Akt der Liebe zu Gott ist, werden alle Dienste, die wir unseren Mitmenschen leisten, in denen wir einen Abglanz der göttlichen Vollkommenheiten erblikken, oder, was dasselbe ist, in denen wir Jesus Christus sehen, zu Akten der Liebe, die zu unserem Fortschritte im Streben nach Heiligkeit beitragen.

Gott lieben und "den Nächsten aus Liebe zu Gott, darin liegt das Geheimnis der Vollkommenheit, vorausgesetzt, dass ·man hienieden das Opfer damit verbindet.

§ 11. Hienieden setzt die Liebe das Opfer voraus. 321. Im Himmel werden wir lieben, ohne uns opfern zu mÜssen. Auf Erden ist das nicht möglich.

242

DRITTES KAPITEL.

Im gegenwärtigen Zustande der gefallenen Natur sind wir nicht imstande, Gott wahrhaft und wirklich zu lieben, ohne uns fÜr ihn zu opfern.

Das ergibt sich aus dem bereits früher Gesagten (N. 74-75) Über die Neigungen der gefallenen Natur, die im wiedergeborenen Menschen bleiben. Wir können Gott nicht lieben, ohne diese Neigungen zu bekämpfen und zu zähmen. Und dieser Kampf beginnt mit dem Erwachen der Vernunft und endet erst mit unserem letzten Atemzuge. Wohl gibt es Zeiten der Ruhe, in denen die Hitze des Kampfes nachlässt, aber selbst dann darf man nicht die Waffen ablegen, da man sonst einen neuen Überfall zu erwarten hätte. Das beweist das Zeugnis der Heiligen Schrift.

I. Die Heilige Schrift betont ausdrücklich die unbedingte Notwendigkeit des Opfers oder der Selbstverleugnung, um Gott und den Nächsten zu lieben.

322. A) An alle seine Jünger richtete der Heiland die Aufforderung: " Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, trage sein Kreuz und folge mir, " " Si quis vult post me venire, abneget semetipsum, toll at crucetn suam et sequatur me." I J esus kann man nur folgen und lieben unter der wesentlichen Bedingung, auf sich selbst zu verzichten, d. h. auf die bösen Neigungen der Natur, auf die Selbstsucht, auf den Stolz, den Ehrgeiz, auf die Sinnlichkeit und die Fleischeslust, auf die ungeordnete Liebe zur Bequemlichkeit und zu den ReichtÜmern. Das aber heisst,sein Kreuz tragen,Leiden,Entbehrungen,Verdemütigungen, Schicksalsschläge, MÜhseligkeiten und Krankheiten auf sich nehmen, kurz, alle jene Kreuze, die Gottes Vorsehung uns schickt, um uns zu prüfen, unsere Tugend zu festigen und uns die

, lkfatth., XVI, 24; cfr. Lukas, IX, 23. - Siehe den Kommentar des Set. Grignion de j}fontjort in Letb'e cireulaire aux amis de ta eroix.

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 243

SÜhne für unsere Sünden leichter zu machen. Dann, nur dann, kann man sein JÜnger sein und auf den Pfaden der Liebe und der Vollkommenheit wandeln.

Diese Lehre bestätigt der Heiland durch sein Beispiel. Er, der nur deswegen vom Himmel herabgestiegen war, um uns den \Veg zur Vollkommenheit zu zeigen, hat keinen anderen Weg als den des Kreuzes betreten: " Tota vita Christi crux fuit et martyrium." Von der Krippe bis zum Kalvarienberge, welch' eine Reihe von Entbehrungen, Verdemütigungen, M~hseligkeiten, apostolischen Arbeiten, denen die Angste und Qualen seines schmerzlichen Leidens die Krone aufsetzten! Das ist die nähere, ausführliche Erläuterung seines Ausspruches: " Si quis vult venire post me. " Gäbe es einen Weg, der noch sicherer wäre, er hätte ihn uns gezeigt. Aber er wusste, dass es keinen anderen gibt und er schlug ihn selbst ein, um uns nach sich zu ~ziehen." Und ich, sobald ich von der Erde erhöht sein werde, werde alle Menschen an mich ziehen." " Et ego, si exaltatus fuero a terra, omnia trllltal'tt ad me ipsum. "I SO verstanden es die Apostel, die mit dem hl. Petrus wiederholen, Christus habe nur gelitten, um uns zur Nachfolge hinzureissen. " Christus passus est pro nobis, vobis relinquens exemplum ut sequamini vestigia ,!jus. "2

323. B) Der hl. Paulus lehrt dasselbe. Nach ihm besteht die christliche Vollkommenheit im Ablegen des alten Menschen, um den neuen anzuziehen. " Exspoliantes vos veterem hominem cum actibus suis et itzduetttes novum. " 3 Nun ist aber der alte Mensch die Gesamtheit der bösen Neigungen, die wir von Adam ererbt haben, nämlich die dreifache böse Begierlichkeit, die durch die Übung der Abtätung bekämpft und gezähmt werden muss. Darum sagt

'loh., XII, 32. - 2 I Petr., II, 21. - 3 Kotoss., IlI, 9·

244

DRITTES KAPITEL.

er auch ganz deutlich, diejenigen, welche JÜnger Christi sein wollen, müssen ihre Laster und bösen Begierden bekämpfen. Qui sunt Cltristi, canzem suam crucijixerunt cum vitiz's et concupiscentiis. I Das ist eine wesentliche Bedingung, sodass er sich selbst verpflichtet fÜhlt, seinen Leib zu zÜchtigen und die Begierde zu bekämpfen, um sich nicht der Gefahr der Verdammung auszusetzen. "Castigo corpus l1leum et in servitute11l redigo, ne forte cum aliis pra:dz'caverim, ipse reprobus efficiar. " 2

324. C) Der hl. Johannes, der Apostel der Liebe, vertritt dieselbe Lehre. Er sagt, man müsse, um Gott zu lieben, die Gebote halten und die dreifache Begierlichkeit bekämpfen, die als Gebieterin die 'Welt beherrscht. Und er fügt hinzu, man könne die Liebe zu Gott nicht besitzen, wenn man die Welt liebt und das, was in ihr ist, nämlich die dreifache Begierlichkeit. " Si quis diligit 1Jlundum, non est caritas P atris in eo. " 3 Um nun aber die Welt und ihre Verlockung"en zu hassen, muss man begreiflicherweise Opfergeist betätigen, indem man sich schlechte und gefährliche GenÜsse versagt.

325. 2. Das ergibt sich Übrigens aus dem ZJtstande der gifallenenNatur,so wie wir ihn beschrieben haben (N. 74) und aus der dreifachen Begierlichheitf die wir zu bekämpfen haben (N. 193 u. ff.). Es ist in der Tat unmöglich, Gott und den Nächsten zu lieben, ohne grossmÜtig alles zu opfern, was sich dieser Liebe in den Weg stellt. Nun aber stellt sich die dreifache Begierlichkeit der Liebe Gottes und des Nächsten in den \i\Teg, wie wir bewiesen haben. Folglich muss sie um jeden Preis bekämpft werden, will man in der Liebe Fortschritte machen.

326. Einige Beispiele sollen dieses beleuchten.

Unsere äusseren Sinne sind auf alles, was ihnen

1 (;alat., V, 24. - 2 I Cor., IX, 27. - 3 I .loh., II, 15.

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 245

angenehm ist, gierig und setzen dadurch unsere gebrechliche Tugend Gefahren aus. Was ist zu tun, um diesem Übel abzuhelfen? Der Heiland sagt es uns in seiner energischen Sprache. " Wenn dein rechtes Auge dich ärgert, reisse es aus und wirf es von dir. Denn es ist besser, dass von deinen Gliedern eins verloren gehe, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen werde" I. Das will sagen, dass man durch Abtötung lernen soll, seine Augen und Ohren und alle Sinne von jeder Gelegenheit zur SÜnde freizumachen, sonst gibt es weder Heil noch Vollkommenheit. Dasselbe gilt von unseren inneren Sinnen, besonders von der Phantasie und dem Gedächtnisse. Wer wüsste nicht, welchen Gefahren man sich aussetzt, tritt man nicht gleich anfangs den Abschweifungen derselben entgegen.

Selbst unsere höheren Fähigkeiten, Verstalld und vVille, können sich verirren. Der Neugierde, der Unabhängigkeit und dem Stolze fallen sie zuweilen anheim. Wie sehr müssen wir uns anstrengen und immer wieder kämpfen, um sie unter dem Joche des Glaubens und der demütigen Unterwerfung unter den Willen 'Gottes und dessen Stellvertreter gefangen zu halten!

Wir mÜssen also gestehen: Wollen wir Gott lieben und den Nächsten aus Liebe zu Gott, so müssen wir die Selbstsucht, die Sinnlichkeit und die ungeordnete Liebe zu den ReichtÜmern abzutöten verstehen. Und so bildet das Opfer die wesentliche Bedingung fÜr die Liebe zu Gott hienieden.

Ist das nicht auch, im Grunde genommen, der Gedanke des hl. Augustinus, wenn er sagt.: "Zwei Arten von Liebe erbauten zwei Städte. Die bis zur Verachtung Gottes gesteigerte Selbstliebe erbaute die irdische Stadt. Die bis zur Selbstverachtung gehende Gottesliebe errichtete die himmlische

I JlIatth., V, 29.

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DRITTES KAPITEL.

Stadt. I Mit anderen Worten, man kann Gott nicht lieben, ohne sich selbst zu verachten, d. h. ohne die bösen Neigungen zu verachten und zu bekämpfen. Was das Gute anbetrifft, das in uns ist, so müssen wir denjenigen, dem wir es zu verdanken haben, loben und es durch andauernde Anstrengung sorgfältig pflegen.

327. Die Schlussfolgerung, die sich ergibt, lautet also: Muss man, um vollkommen zu sein, öfters Akte der Liebe erwecken, so ist es ebenso notwendig, oft Opfer zu bringen, da man auf ~:den nur durch Hingabe seiner selbst lieben kann. Ubri· gens kann man sagen, alle unsere guten Werke seien Akte der Liebe und des Opfers zugleich. Insofern sie uns von den Geschöpfen und von uns selbst losschälen, sind sie Opfer. I nsoweit sie uns mit Gott vereinigen, sind sie Akte der Liebe. Nun wollen wir sehen, wie man beide Elemente verbinden kann,

§ III. Wechselseitiger Anteil der Liebe und des Opfers im christlichen Leben.

328. Da sowohl die Liebe wie auch das Opfer im christlichen Leben ihren Anteil haben sollen, fragt es sich, welche Rolle spielen beide? DiesbezÜglich stimmen alle in gewissen Punkten Überein, in anderen teilen sich die Meinungen, obwohl, praktisch genommen, die Vertreter der verschiedenen Schulen zu Schlussfolgerungen gelangen, die merklich dieselben sind.

329. I. Jeder gibt zu, die Liebe, an und.für sich, nehme in der ontologischen Ordnung oder der Würde nach den ersten Rang ein. Sie ist das Ziel und der wesentliche Bestandteil der Vollkommenheit, wie

1 De Civitate Dei, XIV, 28 : "Fecerunt itaque civitates duas amores duo: Terrenam scilicet amor sui usque ad contemptum Dei, crelestem vero amor Dei nsque ad contemptum sni ".

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 247

wir es in unserer ersten These (N. 312) bewiesen haben. Sie also muss man vor allen Dingen im Auge haben, unaufhörlich ihren Spuren folgen. Sie soll dem Opfer seinen Daseinszweck und seinen hauptsächlichen \Vert geben. " In omnibus respice jinem. " Von ihr muss deshalb gleich bei Beginn des geistlichen Lebens gesprochen werden. Es muss betont werden, dass einerseits die Liebe zu Gott das Opfer ausserordentlich erleichtere, andererseits aber ohne Opfer hienieden unmöglich sei.

330. 2. BezÜglich der chronologischen Ordnung geben noch alle zu, jene beiden Bestandteile seien unzertrennlich und mÜssen daher gleichzeitig gepflegt werden. Sie mÜssen sich gegenseitig durchdringen, da es hienieden keine wahre Liebe ohne Opfer gebe, und weil das fÜr Gott gebrachte Opfer eines der besten Kennzeichen der Liebe sei.

Somit besteht eigentlich die Hauptfrage darin:

Muss man in der cltronologisclten Ordnung mehr auf der Liebe oder mehr auf dem Opfer bestehen. Hier stehen wir zwei Meinungen und zwei Schulen gegenüber.

331. A) Der M. Franz von Sales stützt sich auf viele Vertreter der Schule der Benediktiner und Dominikaner und vertraut auf die Quellen, die uns die wiedergeborene menschliche Natur darbietet. Deshalb setzt er die Liebe zu Gott an erste Stelle und zwar um dadurch das Opfer leichter bringen zu können. Aber weit entfernt davon, dieses letztere auszllschliessen, verlangt er von seiner Philothea viel Entsagung und Opfer. Gebraucht er dabei grösste Zartheit und Milde in der Form, so geschieht es nur, um so sicherer seinen Zweck zu erreichen. Dieses kommt besonders im ersten Kapitel der Plulothea zum Ausdruck." \i\lahre und lebendige Andacht setzt Liebe zu Gott voraus, ja, sie ist nichts anderes als wahre Liebe zu Gott... Einen je

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DRITTES KAPITEL.

höheren Grad hervorragender Liebe die Andacht aufweist, desto williger, tätiger und eifriger macht sie uns in der Beobachtung aller Gebote Gottes. Ausserdem regt sie uns an, bereitwilligst und freudig möglichst viel gute Werke zu verrichten, selbst, wenn wir nicht dazu verpflichtet sind, sondern uns dazu nur geraten wird oder wenn wir durch Eingebung Gottes dazu angetrieben werden. " Die Gebote halten, die Räte oder Einsprechungen der Gnade befolgen, ist sicher ebensoviel als in hohem Grade Abtötung üben. Übrigens verlangt der Heilige von Philothea, sie möchte sich nicht nur von den schweren SÜnden reinigen, sondern auch von den lässlichen, von der Anhänglichkeit an unnÜtze und gefährliche Dinge und von bösen Neigungen. Und in seiner Abhandlung über die Tugenden, vergisst er keineswegs die Abtötung. Er will nur, dass alles mit der Liebe zu Gott und dem Nächsten durchwÜrzt sei.

332. B) Andererseits setzt die ignatianische und französische Schule des 17. Jahrhunderts, ohne zu vergessen, dass die Liebe zu Gott das Ziel ist und alle unsere Handlungen beleben soll, die Entsagung, die Kreuzesliebe oder die Kreuzigung des alten Menschen, besonders fÜr die Anfänger an erste Stelle und zwar als sicherstes Mittel, um zur wahren und wirksamen Liebe zu gelangen." I Sie scheinen zu befÜrchten, dass, falls man nicht gleich bei Beginn darauf besteht, viele Seelen der Illusion zum Opfer fallen, weil sie sich einbilden, bereits gros se Fortschritte in der Liebe zu Gott gemacht zu haben, während ihre Frömmigkeit mehr sinnlich und scheinbar als wirklich ist. Daher auch die bejammernswerten Niederlagen, sobald sich Versuchungen einstellen und man in geistige Trockenheit verfällt.

, Man wÜrde von der geistlichen Lehre Berulle' s einen unvollständigen Begriff geben, wollte man seine Grundsätze bezgl. eier Selbstver. leugnung schweigend Übergehen.

VOLLKÜflIMENHEIT DES CIlRJSTL. LEBENS. 249 Übrigens fÜhrt das Opfer, welches man aus Liebe zu Gott tapfer angenommen, zu ein~r grösseren und standhafteren Liebe. Beständige Ubung derselben setzt dann dem geistlichen Bauwerke die Krone auf.

333. Praktische Folgerung. Ohne diesen Streit endgiltig zu entscheiden, wollen wir einige von den Lelmnez"stem aller Schulen zugegebene Folgerungen aufzählen.

A) Zwei ÜbertreibulIgen mÜssen vermieden werelen. a) Zunächst die Seelen zu schnell auf den sogenannten vVeg-1~r Lz'ebe führen wollen, ohne sie gleichzeitig in eier Ubung der täglichen Selbstverleugnung zu halten. Das nämlich heisst, sie in Täuschungen grossziehen und oft bejammernswerte Niederlagen verschulden. vVieviele Seelen, welche jene sinnlichen Tröstungen fÜhlen, die Gott den Anfängern zukommen lässt, halten sich fÜr tugendfest, setzen sich sÜndhaften Gelegenheiten aus, begehen Unvorsichtigkeiten und fallen in schwere SÜnden! Etwas mehr Abtötungsgeist, mehr wahre Demut und Misstrauen gegen sich selbst, ein härterer Kampf gegen ihre Leidenschaften hätte sie vor jenen Niederlagen bewahrt!

b) Eine andere Übertreibung ist, nur immer von Selbstverleugnung und Abtötung reden, ohne zu betonen, dass diese nur Mittel seien, um zur Liebe Gottes zu gelangen oder Kennzeichen der Liebe. Einige Seelen, die zwar guten Willen, aber noch sehr wenig Mut haben, fÜhlen sich dadurch abgestossen, ja, verlieren sogar völlig ihren Mut. Sie hätten mehr Begeisterung und Willenskraft, würde man ihnen zeigen, dass jene Opfer bedeutend leichter werden, sobald man sie aus Liebe zu Gott vollbringe. " Ubi amatur, non laboratur ".

334. B) Der Seelen führer soll also diese Übertreibungen vermeiden und den Weg seinem Beichtkinde anweisen, der am besten dem Charakter

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DRITTES KAPITEL.

desselben wie auch den Anregungen der Gnade e.u.t.s\,1:icl:\t;...

a) Es gibt feinfültlende und gemütstiife Seelen, die erst die Abtötung liebgewinnen, nachdem sie sich eine Zeitlang in der Liebe zu Gott geÜbt haben. Es ist zwar sehr wahr, dass die Liebe oft unvollkommen, mehr feurig und sinnlich, als hochherzig und standhaft ist. Trägt man aber Sorge dafÜr, diese erste Begeisterung auszunÜtzen, um zu zeigen, dass die wahre Liebe nicht ohne Opfer andauern kann, und gelingt es, diese Seelen soweit zu bringen, dass sie aus Liebe zu Gott BussÜbungen, Akte der SÜhne und andere unbedingt notwendige Abtötungen vollziehen, um die SÜnde zu meiden, so festigt sich allmählich ihre Tugend, ihr Wille erstarkt und der Zeitpunkt kommt, in welchem sie begreifen werden, dass das Opfer mit der Liebe zu Gott Schritt halten muss.

b) Handelt es sich im Gegenteil um energisclle Charaktere, die gewohnt sind, aus Pflicht zu handeln, so kann man, obwohl man ihnen die Vereinigung mit Gott als eigentliches Ziel vor Augen hält, anfangs auf der Entsagung als ErkC1Znungszeichen der Liebe bestehen und ihnen so Busse, Demut und Abtötung praktisch Überlassen. Dabei aber muss man diese strengen Tugenden durch einen Beweggrund der Liebe zu Gott oder des Eifers fÜr die Seelen angenehm wÜrzen.

Auf diese Weise wird man nie die Liebe vom Opfer trennen und ze'igen, wie sich diese beiden Grundbestandteile verbinden lassen und sich gegenseitig vervollkommnen.

§ IV. Besteht die Vollkommenheit

in den Geboten oder in den Räten?

335. I. Worum es sich handelt. Wie wir gesehen haben, besteht die Vollkommenheit wesentlich in der Liebe zu Gott und dem Nächsten, und zwar bis

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 251 zum Opfer. Nun aber gibt es bezÜglich der Liebe zu Gott und dem Nächsten gleichzeitig Gebote und Räte. Gebote, die uns unter SÜnde bifehlen, dieses oder jenes zu tun oder zu unterlassen. Räte, die uns einladen, fÜr Gott mehr zu tun, als das, was wir unbedingt tun mÜssen, andernfalls wÜrden wir eine freiwillige Unvollkommenheit begehen und der Gnade widerstehen. J esus Christus spielt darauf an, und zwar im Gespräche mit dem reichen JÜngling:

"Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Willst du vollkommen sein, gehe hin, verkaufe, was du hast und gib es den Armen und du wirst einen Schatz im Himmel haben. Si autem vis ad vitam ingredi, serva mandata. Sz' vis peifectus esse, vende qua: habes et da pauperibus, et habebis thesaurU11l z'n ca:lo, et veni, sequere me." I Um in den Himmel zu gelangen, genÜgt es also, die Gesetze der Gerechtigkeit und der Liebe bezÜglich des Eigentums zu beobachten. Will man aber voll!i;o11l- 11len sein, so muss man seine GÜter verkaufen, den Erlös den Armen geben und freiwillige Armut Üben. Der h1. Paulus bemerkt auch, die Jungfräulichkez't sei ein Rat, kein Gebot. Heiraten sei gut, jungfräulich bleiben, besser. 2

336. 2. Die Lösung. Einige Verfasser haben daraus geschlossen, das christliche Leben bestehe in der Beobachtung der Gebote, die Vollko11l11lenhez't in den Räten. Diese Ansicht ist etwas einfältig und kann, versteht man sie falsch, zu traurigen 'Ergebnissen fÜhren. In Wirklichkeit verlangt dz'e Vollk01n1l1C1Zheit an erster Stelle dz'e Beobachtung der Gebote und dann erst dz'e Befolgung' einer gewz'ssen Anzahl von Räten.

So lehrt der h1. Thomas. 3 Erst beweist er, die

, flIattl!., X IX, 17-21. - 2 I. Kot'in/her, VII, 25-40.

3 Sumo !I!eol., lIa !Ire, q. 184., a. 3 : " Perfectio essentfali/er consis!i! in. p1'tl!ceplis ... sccundarz"o autem et instrume1ltaliter in consiliis qure oll1nia sicut et prrecepta ordinantur ad caritatem. "

252

DRITTES KAPITEL.

Vollkommenheit sei nichts anderes als die Liebe zu Gott und dem Nächsten. Daraus schliesst er, in der Praxis bestehe sie wesentlich in der Beobachtung der Gebote. Unter diesen sei das wichtigste das der Liebe. An zwez'ter Stelle bestehe sie in der Bifolgung der Räte, die sich auch auf die Liebe beziehen, da sie die Hindernisse, die sich der Übung derselben in den Weg stellen, beseitigen. Wir wollen diese Lehre näher beleuchten.

337. A) Die Vollkommenheit verlangt an erster Stelle und zwar mit Nachdruck die Beobachtung der Gebote. Und es ist wichtig, dieses gewissen Personen recht einzuschärfen, z. B. solchen, welche unter dem Vorwande von AndachtsÜbung ihre Standespflithten vergessen, oder welche, um sich durch reichliche Almosen auffällig zu machen, die Deckung ihrer Schulden auf unbestimmte Zeit hinausschieben. Kurz allen jenen, welche dieses oder jenes Gebot vernachlässigen u:ld dabei nach höherer Vollkommenheit streben. Nun ist es klar, dass die Übertretung eines wichtzg'en Gebotes, wie z. B. desjenigen, Schulden zu bezahlen, die Liebe in uns stört und dass der Vonvancl, Almosen zu spenden, diese Übertretung des Naturgesetzes nicht rechtfertigen kann. Ebel~so ist die freiwillige Nichtbeobachtung eines Gebotes in unwichtigen Dingen eine lässliche SÜnde, welche, ohne die Liebe zu zerstören, deren Übung mehr oder weniger erschwert, Gott beleidigt und unserem vertrauten Verkehr f!1it ihm schadet. Das gilt namentlich von der mit Uberlegung' begangenen und häujigm, lässlichen SÜnde. Sie legt uns Fesseln an und hindert uns somit, uns frei zur Vollkommenheit aufzuschwingen. Um vollkommen zu sein, muss man folglich vor allem die Gebote halten.

338. B) Daran muss sich die Bifolgung- der Räte knÜpfen, wenigstens einiger, besonders jener

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 253 die uns die ErfÜllung unserer Standespflichten auferlegt.

a) So können z. B. die Ordensleute, die sich durch Gelübde verpflichten, die drei wichtigen evangelischen Räte, Armut, Keuschheit und Gehorsam, zu befolgen, begreiflicherweise sich nicht heiligen, ohne ihren GelÜbden treu zu bleiben. Übrigens macht diese Art und Weise die Liebe zu Gott besonders leicht, da sie die Seele von den hauptsächlichsten Hindernissen, die sich der göttlichen Liebe in den Weg stellen, befreit. Die Armut entreisst sie der ungeordneten Liebe zu irdischem Besitz, begÜnstigt die Erhebung des GemÜtes zu Gott und zu den himmlischen GÜtern. Die Keuschheit entzieht sie den LÜsten des Fleisches, selbst denen, die in der Ehe erlaubt sind, und ermöglicht ihnen, Gott ohne Vorbehalt zu lieben. Der Gehorsam bekämpft den Stolz und den Geist der Unabhängigkeit, unterwirft ihren Willen dem göttlichen. Dieser Gehorsam ist, im Grunde genommen, nichts anderes als ein Akt der Liebe.

339. b) Was die anbetrifft, die keine GelÜbde abgelegt haben, so mÜssen sie, um vollkommen zu sein, nach deren Geiste leben, ein jeder nach seinem Stande, nach den Eingebungen der Gnade und den Ratschlägen eines klugen SeelenfÜhrers. So werden sie z. B. durch Verzichtleistung auf viele unnÜtze Dinge den Geist der A mlut Üben, um destomehr fÜr Almosen und gute Werke geben zu können. Den Geist der Keusch/zeit, selbst in der Ehe, durch mässigen Gebr?uch und einige Einschränkungen der erlaubten Freuden im ehelichen Verkehr und besonders durch sorgfältiges Meiden alles Gefährlichen und Verbotenen. Den Geist des Gehorsams durch bereitwillige Unterwerfung ihren Vorgesetzten gegenÜber, in denen sie die Stellvertreter Gottes sehen. Ebenso den Einsprechungen der Gnade

254

DRITTES KAPITEL.

gegenüber, die jedoch von einem erfahrenen SeelenfÜhrer als solche erkannt worden sind.

Gott lieben und den Nächsten gottzuliebe und sich hinzugeben verstehen, um destQ besser dieses zweifache Gebot zu halten und die Räte zu befolgen, die sich darauf beziehen, jeder nach seinem Stande, darin besteht die wahre Vollkommenheit.

§ V. Die verschiedenen Stufen d&r Vollkommenheit.

Die Vollkommenheit hat ihre Stufen und ihre Grenzen hienieden. Darum zwei Fragen: I. Welches sind die hauptsächlichsten Stufen der Vollkommenheit? - 2. vVelches sind ihre Grenzen hier auf Erden?

I. Von den verschiedenen Stufen der Vollko11lmenheit.

340. Die Stufen, auf denen man sich zur Vollkommenheit erhebt, sind zahlreich. Es handelt sich hier nicht darum, alle aufzuzählen, sondern nur die hauptsächlichsten hervorzuheben. Nach der allgemeinen und vom h1. Thomas ausführlich behandelten Lehre unterscheidet man hauptsächlich drei Phasen oder, wie man allgemein sagt, drez' Wege. Den der Anfänger, denjenigen der Seelen, die im Fortschrz'tt begriffen sind, und den der Vollkommenen, je nach dem hauptsächlichen Ziel, das man im Auge hat.

341. a) Auf der ersten Stufe ist die grösste Sorge der Anfäng-er, die Liebe, die sie besitzen, nicht zu verlieren. Sie geben sich deshalb MÜhe, die Sünde, namentlich die Todsünde, zu meiden und machen ernste Anstrengung, die schlechten GelÜste, die Leidenschaften und alles, wodurch sie die Liebe zu Gott verlieren könnten, zu besiegen I.

, " Nam primo quidem incumbit homini studium principale ad rece· dendum a peccato et resistendum concupiscentiis ejus, qua'! in contra-

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 255 342. b) Auf der zwez'ten Stufe will man in der praktischen Ubung der Tugenden Fortschritte machen und in der Liebe erstarken. Das Herz ist bereits gereinigt und dadurch schon fÜr das göttliche Licht und die Liebe zu Gott empfänglicher. Man ist entschlossen, J esus zu folgen und seine Tugenden nachzuahmen. Da man bei dieser Nachfolge im Lichte wandelt, heisst dieser Weg der Erleuchtungsweg I. Man bemÜht sich, nicht nur die schwere, sondern auch die lässliche SÜnde zu meiden.

343. c) Die auf der drz'tten Stufe der Vollkommenheit stehen, haben nur eine Sorge: Gott anhängen und ilZ i/tm ihre Freuden genz·essen. Da sie beständig die Vereinigung mit Gott suchen, so befinden sie sich auf dem Vereinigungswege. Vor der SÜnde schrecken sie zurÜck, weil sie Gott zu missfallen und ihn zu beleidigen fÜrchten. Tugenden ziehen sie an, besonders die theologischen, da sie in ihnen Mittel fÜr die Vereinigung mit Gott erblicken. Darum erscheint ihnen die Erde wie ein Ort der Verbannung und sie sehnen sich wie der hl. Paulus nach dem Tode, um mit Christus vereint zu sein 2.

Das sind nur kurze Andeutungen, auf die wir später zurückkommen werden. Im zweiten Abschnitte dieses Buches werden wir sie eingehender behandeln. W'ir werden einer Seele folgen, und zwar von der ersten Etappe an, der Seelenreinigung nämlich, bis zur umgestaltenden Vereinigung, die auf die beseligende Anschauung vorbereitet.

rium caritatis moveot : et hoc pertinet ad incipientes, in quibus caritas est nutrienda vel fovenda, ne corrumpatur. " (Sum. !heol., 2a 2"', q. 24,

a·9·)

, " Secundum autem studium succedit ut homo principaliter intendat

ad hoc quod in booo proficiat. Et hoc studium pertinet ad proficientes, qui ad hoc principaliter intendunt ut in eis caritas per augmen!mn roboretur. " (L. ci!.)

2 " Tertium autem studium est ut homo ad hoc principaliter intendat ut Deo adhrereat, et eo fruatur : et hoc pertinet ud perfectos. qui cupiunt dissolvi et esse cum Christo. " (L. ci!.)

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DRITTES KAPITEL.

I I. Die Grenzetl der Vollko1JZllUmhez't auf Erden. 344. Liest man das Leben der Heiligen, besonders das der grossen Beschaulichen, so staunt man, zu welch' gewaltigen Höhen eine grossmÜtige Seele, die Gott nichts verweigert, sich erheben kann. Doch hienieden sind unserer Vollkommenheit Gretlzetl gesetzt, die sie nicht Überschreiten darf, um nicht auf eine niedrigere Stufe hinabsteigen zu mÜssen oder sogar in SÜnde zu fallen.

345. I. Es ist gewiss, dass man Gott nicht so lieben kann, wie es dem hohen Grade seiner Liebenswiirdigkeit entspricht. Er ist nämlich unendlich liebenswÜrdig, unser Herz aber ist endlich und kann ihn selbst im Himmel, nur mit endlicher Liebe lieben. Immer kann man sich also bemÜhen, ihn mehr und mehr zu lieben. Nach dem hl. Bernhard ist das Mass, Gott zu lieben, ihn masslos zu lieben. Vergessen wir jedoch nicht, die wahre Liebe besteht weniger in frommen Gefuhlen als vielmehr in Willensakten. Das beste Mittel, Gott zu lieben, ist die Gleichförmigkeit unseres Willens mit dem seinigen, Bei der Abhandlung Über die Gleichförmigkeit mit dem göttlichen \iVillen werden wir es ausfÜhrlicher zeigen.

346. 2. Auf Erden kann man Gott weder fortwährend noch ohne Fehl lieben. Wohl vermag man durch besondere Gnaden, welche den Seelen, die guten Willens sind, nicht verweigert werden, jede gänzlich freiwillz'ge, lässliche SÜnde zu meiden, aber nicht jeden Gebrechlz'chkeitsfehler. Nie ist man unfähig, zu sÜndigen, wie die Kirche es verschiedene Male ausdrÜcklcich erklärt hat.

A) Im Mittelalter hatten die Begiwrden behauptet, der Mensch sei im gegenwärtigen Leben imstande, einen so hohen Grad von Vollkommenheit zu errei-

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 257 chen, dass er völlig unfähig sei zu sÜndigen und nicht mehr an Gnade zunehmen könne. I Daraus schlossen sie, derjenige, der diesen Grad von Vollkommenheit erreicht habe, brauche weder zu fasten noch zu beten, weil in jenem Zustande die Sinnlichkeit dem Geiste so unterworfen sei, dass er seinem Leibe alles, was ihm gefalle, bewilligen könne. Er sei nicht mehr verpflichtet, die Gebote der Kirche zu halten, auch brauche er nicht mehr den Menschen zu gehorchen, ja, er sei nicht einmal mehr verpflichtet, Tugendakte zu Üben, was nur dem unvollkommenen Menschen gezieme. Das sind gefährliche Lehren, die tatsächlich zur Unsittlichkeit führen. Hält man sich fÜr unfähig, zu sÜndigen und übt sich nicht mehr den Tugenden, wird man bald die Beute der niedrigsten Leidenschaften. Dieses widerfuhr den Begharden. Deshalb verurteilte sie das Ökumenische Konzil von Vienne i. J. 131 I.

347. B) Im 17. Jahrhundert ruft Molinos diesen Irrtum wieder ins Leben und lehrt, durch erworbene Beschaulichkeit erreiche man einen solchen Grad von Vollkommenheit, dass man weder schwere noch lässliche SÜnden begehe. Aber er zeigte nur zu deutlich, und zwar durch sein Beispiel, dass man mit solchen anscheinend erhabenen Grundsätzen nur zu leicht ausgesetzt ist, in schändliche U nordnung zu fallen. Er wurde mit Recht von Innocenz XI. am 19. November 1687 verurteilt. Liest man die Thesen, die er aufzustellen gewagt hatte, so erschrickt man Über die furchtbaren Ergebnisse, welche diese vermeintliche Unmöglichkeit zu sÜndigen, zur Folge hat. 2 Seien wir also bescheidener und sorgen wir nur dafÜr, uns von den ganz freiwilligen SÜnden loszumachen und die Zahl der GebrechlichkeitssÜnden zu verringern.

, DENZ.-BANN., N. 471. - VgJ. P. POURRAT, La Spiritualitl chrttienne, t. II, S. 327-328.

2 DENZ.-BANN., N. 1221 U. ff.

N° 683. - 9

258 DRITTES KAPITEL.

348. 3. Hienieden kann man Gott mit einer vollkommen reinen und selbstlosen Liebe, die jeglichen Akt der Hoffnung ausschlz'esst, weder beständig noch für gewöhnlich lieben. Welchen Grad von Vollkommenheit man auch immer erreicht haben mag, so ist man doch genötigt, von Zeit zu Zeit Akte der Hoffnung zu erwecken. Somit kann man nicht bezÜglich seines Seelenheils gänzlich gleichgiltig bleiben. Wohl gab es Heilige, welche in den sogenannten passz'zlen Prüfungen für einen Augenblick und bedingungsweise ihrer Verdammung zustimmten, falls sie nämlich von Gott gewollt sei. Gleichzeitig aber erklärten sie, selbst in diesem Falle nie aufzuhören, Gott zu lieben. Das sind aber Voraussetzungen, von denen man im allgemeinen absehen muss, da in \Virklichkeit Gott das Heil aller Menschen will.

Man kann jedoch von Zeit zu Zez't Akte der Liebe erwecken und zwar ohne jegliches Selbstinteresse, also ohne dabei gleichzeitig zu hoffen oder sich nach dem Himmel zu sehnen. Einen Beweis dafür liefert die h1. Therese in ihrem Liebesakte : I " Liebe ich Dich, 0 Herr, so geschieht es nicht wegen des Himmels, den Du mir versprochen hast. FÜrchte ich, Dich zu beleidigen, so ist es nicht aus Angst vor der Hölle. Was mich an Dich zieht, bist Du, o Herr, Du allein. Dich ans Kreuz genagelt zu sehen, Deinen zermarterten Leib in Todesängsten zu erblicken. Und Deine Liebe hat mein Herz so tief ergriffen, dass ich Dich lieben wÜrde, selbst, wenn es keinen Himmel gäbe. Auch ohne Hölle wÜrde ich Dich fÜrchten. Du brauchst mir nichts zu geben, damit ich Dich liebe, denn auch ohne Hoffnung auf das, was ich erhoffe, wÜrde ich Dich lieben, wie ich Dich liebe. "

I Geschiclzte der M. Therese nach den Bollandisten, 2. Band, 31. Kap.

VOLLKOMMENHEIT DES CHRISTL. LEBENS. 259 349. Gewöhnlich enthält unsere Liebe zu Gott eine JJ;fz'schung von reiner und von hoffender Liebe, mit anderen Worten, wir lieben Gott, sowohl um seinerselbst willen, weil er unendlich gut ist, als auch weil er die Quelle unseres GlÜckes ist. Diese zwei Beweggründe schliessen sich nicht gegenseitig aus, denn Gott hat gewollt, dass wir durch die Liebe zu ihm und durch seine Verherrlichung unser GlÜck fänden.

Beunruhigen wir uns darum keineswegs über diese Vermischung und so oft wir an den Himmel denken, sagen wir uns nur, dass unser GlÜck in dem Besitze Gottes bestehen wird, in seiner Anschauung, in unserer Liebe zu ihm, in seiner Verherrlichung durch uns. Die Sehnsucht nach dem Himmel und die Hoffnung auf ihn hindern dann nicht, dass der Hauptgrund unserer Handlungen wirklich die Liebe sei.

SCHLUSSFOLGERUNG.

350. Liebe und Opfer, darin also besteht die ganze, christliche Vollkommenheit. Wer aber könnte nicht mit Hilfe der göttlichen Gnade diese zweifache Bedingung erfüllen? Ist es denn so schwer, denjenigen zu lieben, der unendlich liebenswürdig ist und uns unendlich liebt? Die Liebe, die man von uns verlangt, ist nichts Aussergewöhnliches. Es ist die Hingabe unserer selbst, besonders aber die Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen. Lieben wollen heisst also lieben. Aus Liebe zu Gott die Gebote halten, heisst lieben. Beten heisst lieben. Seine Standespflichten aus Liebe zu Gott erfüllen, heisst lieben. Ja, noch mehr. Sich erholen, seine Mahlzeiten halten, mit derselben Absicht, heisst Gott lieben. Aus Liebe zu Gott seinem Nächsten Dienste leisten, heisst lieben. Es gibt also nichts Leichteres, mit Hilfe der göttlichen Gnade, als beständig die Liebe zu Gott zu Üben und dadurch unaufhörlich im Streben nach Vollkommenheit Fortschritte zu machen.

260

DRITTES KAPITEL.

351. Freilich erscheint das Opfer mühevoller.

Aber man verlangt von uns ja nicht, dasselbe seinetwegen zu lieben. Es genügt, es Gotteswegen zu lieben. Mit anderen Worten, man muss einsehen, dass man hienieden Gott nicht lieben kann, ohne auf dasjenige zu verzichten, was ein Hindernis für die Liebe zu ihm ist. Dann wird das Opfer zunächst erträglich und bald begehrenswert. Erträgt denn nicht eine Mutter, die Nächte am Krankenbette ihres Sohnes zubringt, gern alle MÜhen, wenn sie nur die. Hoffnung und besonders die Sicherheit hat, ihm das Leben zu retten? Nun aber haben wir nicht allein die Hoffnung, sondern auch die Sicherheit, Gott zu gefallen, seine Ehre zu fördern und gleichzeitig unsere Seele zu retten, sobald wir uns aus Liebe zu Gott die Opfer auferlegen, die er verlangt. Und haben wir nicht, um Kraft dazu zu finden, die Beispiele und die Hilfe des Gottmenschen? Hat er nicht ebensoviel, ja noch mehr als wir gelitten, um seinen Vater zu verherrlichen und um unsere Seelen zu retten? Und wir, seine Jünger, ihm durch die hl. Taufe einverleibt, mit seinem Fleische und seinem Blute ernährt, wir sollten zögern, vereint mit ihm, zu leiden? Aus Liebe zu ihm und in denselben Absichten, die er hatte? Und ist es nicht wahr, dass das Kreuz seine Einträglichkeiten hat, besonders für liebende Herzen? Im Kreuze ist Heil, sagt uns die Nachfolge Christi, I im Kreuze Leben, im Kreuze Schutz gegen unsere Feinde, im Kreuze himmlischer Trost. " In cruce salus, in cruce vita, in cruce protectio ab hostibus, in cruce infusio supernCl! suavitatis". Schliessen wir mit dem hl. Augustinus :

"Für liebende Herzen gibt es keine MÜhen, die zu gross wären. Ja, man findet darin seine Freude, wie man sie bei denen, die Jagd, Fischfang, Weinbau und Handel lieben, beobachtet. Denn licbt man etwas, so leidet man nicht oder man

, Nachfolge Christi, 2. B, 12. Kap.

0' Uf:1~

liebt das Leid, "aut non laboratur aut et labor amatur." I

So beeilen wir uns denn, auf dem Wege des Opfers uno der Liebe nach Vollkommenheit zu streben, denn es ist unsere Pflicht.

VIERTES KAPITEL.

Von der Verpflichtung,

nach Vollkommenheit zu streben. 2

352. Wir haben das Wesen des christlichen Lebens und dessen Vollkommenheit dargelegt. Es bleibt uns jetzt übrig, zu prüfen, ob wir wirklich die Pflicht haben, in diesem Leben Fortschritte zu machen oder ob es genüge, es nur sorgfältig wie einen kostbaren Schatz zu bewahren. Um mit grösserer Klarheit darauf zu antworten, werden wir diese Frage im Hinblick auf drei Klassen von Personen prüfen. I. Bezüglich der einfachen Gläubigen oder Christen, 2. der Ordensleute, 3. der Priester. Bei diesem letzteren Punkte wollen wir wegen unseres vorgesteckten Zieles besonders verweilen.

I. ABSCHNITT. VON DER PFLICHT DER CHRISTEN, NACH DER VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN.

Zunächst sprechen wir über die Pflicht als solche, dann über die BeweggrÜnde, welche diese Pflicht erleichtern.

§ 1. Von der Pflicht als solche.

353. Auf einem so wichtigen Gebiete ist möglichst grosse Klarheit erforderlich. Sicher ist es,

, S. A. De b01l0 viduilatis, c. 21. _

2 ALVAREZ DE PAZ, op. cit., Jib. IV-V; LE GAUDIER, P. III, sect. I,

c. VII-X; SCARAMELLI, Guide ascitique, Tr. I, art. II; RIBET, Ascelique, Kap. VII-IX; IGHINA, op. eil., Inlrod. XX-XXX.

262 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, dass man im Stande der Gnade sterben muss, um seine Seele zu retten. FÜr die Gläubigen scheint es somit keine andere strenge Verpflichtung zu geben, als den Gnadenzustand zu bewahren. Aber es handelt sich gerade darum, zu erfahren, ob man beträchtliche Zeit den Gnadenstand bewahren kann, ohne sich MÜhe geben zu müssen, Fortschritte zu machen. Nun aber zeigen uns die Autorität und die durch den Glauben erleuchtete Vernunft, dass man im Zustande der gefallenen Natur nicht lange im Gnadenstande verharren kann, ohne sich zu bemühen, im geistlichen Leben Fortschrittc zu machen und von Zeit zu Zeit irgendeinen der evangelischen Räte zu befolgen.

I. Der Autoritätsbeweis.

354. I. Die Heilig-e Schrift behandelt nicht unmittelbar diese Frage. Sie hat zwar den allgemeinen Grundsatz des Unterschiedes zwischen den Geboten und den Räten festgelegt, sagt uns aber für gewöhnlich nicht, was in den Ermahnungen

. J esu Christi verpflichtend ist oder nicht. Sie besteht jedoch so stark auf der allen Christen geziemenden Heiligkeit, stellt uns ein solches Vorbild von Heiligkeit vor Augen, predigt so offen allen von der Notwendigkeit der Entsagung und der Liebe, den wesentlichen Bestandteilen der Vollkommenheit, dass in jedem, der rein-objektiv denkt, die Überzeugung wachgerufen wird, in gewissen Augenblicken müsse man, um seine Seele zu retten, mehr tun, als das, wozu man schon an und für sich streng verpflichtet sei, folglich, sich MÜhe geben, Fortschritte zu machen.

355. A) So stellt der Heiland uns die Vollkommenheit selbst unseres himmlischen Vaters als Ideal der Heiligkeit vor Augen: "Seid vollkommen wie euer Vater im Himmel vollkommen ist. ~ Estote erg-o vos pe7fecti sz'cut et Pater vester cCl!lestis pe7fectus

NACH VOLLKOMl\IENHEIT ZU STREBEN. 263

est. " 1 Die also Gott Stll?l Vater haben, sollen sich dieser Vollkommenheit nähern, was begreiflicherweise nicht ohne irgendwelche Fortschritte geschehen kann. Und, im Grunde genommen, ist die ganze Bergpredigt nur eine Erläuterung und Entfaltung dieses Ideals. - Der Weg, der deshalb einzuschlagen ist, ist derjenige der Entsagung, der Nachfolge Christi und der Liebe zu Gott. " Wenn jemand zu mir kommt und seinen Vater, seine Mutter, sein Weib, seine Kinder, seine Geschwister, ja selbst sein Leben nicht hasst, (d. h. nicht opfert), kann meiD Jünger nicht sein. " Si quis venit ad 17le et non odz't patrem suum, matrem et UXOre1'tl et filios et fratres, adhuc autem et animam suam non potest meus esse discipulus." 2 Man muss also in gewissen Fällen Gott und dessen Willen der Liebe zu den Eltern, zu dem VJ eibe, zu seinen Kindern, zu seinem eignen Leben vorziehen und alles opfern, um J esus zu folgen. Das setzt einen heroischen Mut voraus, den man im gegebenen Augenblicke nicht haben wird, hat man sich nicht schon vorher durch allerlei Opfer, zu denen man nicht verpflichtet war, dafür vorbereitet. \iVohl ist dieser Weg eng und beschwerlich, und sehr wenige wandeln auf ihm. Jesus aber will, dass man ernstliche Anstrengungen mache, ihn zu betreten. " Contendite intrare per angustam portam. 3 Heisst das nicht, von uns verlangen, nach Vollkommenheit zu streben?

356. B) Seine Apostel reden keine andere Sprache. Der hl. Paulus erinnerte die Gläubigen oft daran, dass sie auserwählt seien, heilig- zu werden. " Ut essemus sancti et immaculati t'n conspectu ~fus t'n carz'tate. " 4 Das aber können sie nicht, ohne den alten Menschen auszuziehen und den neuen anzuziehen, d. h. ohne die Neigungen der bösen Natur

, MattI,. , V, 48. - 2 Lukas, XIV, 26, 27; Matth., X. 37, 38.

3 Lukas, XIII, 24. vgl. Matth., VII, 13, 14. - 4l!.plleser, I, 4.

264 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, abzutöten und ohne sich anzustrengen, um die Tugenden des Heilandes zu Üben. Der hl. Paulus fÜgt hinzu, sie könnten das nicht tun, ohne ::Jur vollen Mannesreife, ::Jum Altersmasse der Fülle Christi zu gelangen, I donec occurramus omnes ... in viru11Z perfectum, in mensura11t Cl!tatis plenitudi1tis Christi, was soviel heissen will, als dass wir als Einverleibte Christo seine Erg-än::Jung sind. Es ist unsere Pflicht, durch den Fortschritt in der Nachahmung seiner Tugenden dafür zu sorgen, dass er in uns wachse und wir ihn vervollständigen. Auch der hl. Petrus will, alle seine Jünger seien Heilige wie d~r, der sie zum Heile berief. " Secundum eum qui vocavz't vos Sanctunz, et ipsi in o11Z1ti co1tversatio1te sanctz' sitis. " 2 Können sie es werden, ohne in der Übung der christlichen Tugenden Fortschritte zu machen? - Im letzten Kapitel der Geheimen Offenbarung fordert der M. Johmznes die Gerechten auf, niemals aufzuhören, die Gerechtigkeit zu üben und ermahnt die Heiligen, sich stets noch mehr zu heiligen. "Qui

justus est,justificetur adhuc, et sa1tctus sa1tctificetur adhuc." 3

357. C) Das ergibt sich auch aus dem Wesen des christlichen Lebens, welches nach der Ausdrucksweise J esu und seiner Jünger ein Kampf ist, in welchem Wachsamkeit, Gebet, Abtötung und tatsächliche Übung der Tugenden für den Sieg erforderlich seien. " Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet. - Vzgilate et orate ut non intrrtz's in tentatz·onem. " 4 Wir haben nicht nur gegen Fleisch und Blut zu kämpfen, d. h. gegen die dreifache Begierlichkeit, sondern auch gegen die bösen Geister, die in uns dieselbe anfachen. Darum müssen wir geistige V/affen anlegen und tapfer kämpfen. Während eines langandauernden Kampfes aber,

I Epheser, IV, 10-16. - 2 I Petr., I, I5.

3 0t/mb. XXII, 2. - 4 Matt" .. XXVI, 41.

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 265

in welchem man sich nur immer auf die VerteidigUl.)g beschränkt, wird man fast immer besiegt. Man muss deshalb Gegenangriffe machen, d. h. wirklich Tugend Üben, wachen, beten, sich abtöten, seinen Glauben beleben, sein Gottvertrauen stärken. Diese Folgerung zieht der hl. Paulus. Er schildert den Kampf, den wir zu bestehen haben, und erklärt, wir mÜssen vom Scheitel bis zur Sohle bewaffnet sein, ganz wie der römische Soldat. "Die Lenden umgÜrtet mit Wahrheit, angetan mit dem Panzer der Gerechtigkeit, die FÜsse bekleidet mit der Bereitschaft des Evangeliums des Friedens, zu allem den Schild des Glaubens ergreifend, den Helm des Heiles und das Schwert des Geistes. I "State ergo succincti lumbos 7iestros in veritate, et induti loricam justitia:, et calceati pedes in pra:paratione evangelii pacis. In omnibus summtes seutum jidei ... et g-aleam salutis assltmite et g-ladium Spiritus." Und dadurch zeigt er uns, wir müssen, um unsere Gegner zu besiegen, mehr tun als das, was streng vorgeschrieben sei.

358. 2. Die Überlieferung bestätigt diese Lehre.

Wollen die Kirchenväter die Notwendigkeit der Vollkommenheit für alle besonders betonen, so

'(, erklären sie, man dÜrfe auf dem Wege, der zu Gott

und zum Heile fÜhre, nicht stehen bleiben. Man mÜsse vorwärts schreiten oder man gehe zurück. "In via Dei non prog-redi, reg-redi est. " Der hl. Augustin bemerkt, die Liebe sei tätig und er ermahnt uns, ja nicht auf dem Wege Halt zu machen, denn stehen bleiben hiesse soviel wie zurückkehren. " Retro redit qui ad ea revolvitur unde jam recesserat." 2 Pelagius, sein Gegner, gab den Grundsatz zu, so einleuchtend ist er. Der letzte der hl. Kirchenväter, der hl. Bernhard, setzt diese Lehre in besonders packender Weise auseinander. "Du willst nicht vorwärts-

I Epheser. VI, 14-17. - 2 Senno CLXJX, n. 18.

266 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, schreiten?" - "Nein." -" Also deine Absicht ist, zurÜckzugehen?" - "Durchaus nicht." -" Was willst du denn eigentlich?" - " Ich will so leben, dass ich da bleibe, wo ich angelangt bin. " - " Was du willst, ist unmöglich, denn nichts auf der Welt bleibt in demselben Zustande ... " I Und er fÜgt anderswo hinzu : "Man muss notwendigerweise entweder hinauf- oder herabsteigen. Versucht man, stehen zu bleiben, so stÜrzt man unfehlbar. " 2 Aus diesem Grunde erklärt auch S. H. Papst Pius XI, in seinem Rundschreiben vom 26. Januar 1923 Über den hl. Franz v. Sales klar und deutlich, alle Christen, ohne Ausnahme, hätten nach Heiligkeit zu streben. 3

I I. Der Vemunftsbezveis.

Den Hauptgrund, weshalb wir nach Vollkommenheit streben mÜssen, geben die Kirchenväter an.

359. 1. Da jedes Leben Bewegung ist, besteht .es wesentlich im Fortschritte, d. h., hört es auf, zuzunehmen, so beginnt es, abzunehmen. Der Grund dafür ist, weil in jedem lebenden Wesen Zersetzungsktäfte vorhanden sind, die, wenn sie nicht in Schranken gehalten werden, schliesslich Krankheit und Tod herbeiführen. Genau so verhält es sich mit unserem geistlichen Leben. Neben Neigungen, die . uns zum Guten hinziehen, gibt es andere, sehr

starke, die uns zum Bösen hinreissen wollen. Das einzige 'Mittel, diese zu bekämpfen, besteht in der Vermehrung lebender Kräfte in uns, d. h. der Liebe zu Gott und der christlichen Tugenden. Da lassen die bösen Neigungen nach. Hören wir aber auf, uns anzustrengen, um Fortschritte zu machen, so erwa-

. ehen unsere Laster wieder, erstarken, greifen uns

1 Episl. CCLIV.

2 EpiSI. XCI ab abbates Suessione congregatos, n. 3.

3 .. Nec vero quisquam putet ad paucos quosdam lectissimos id pertinere, ceterisque in inferiore quodarn gradu Heere consistere. Tenentur enim hac lege Offines, nulJo excepto. " (A. A. S., XV, 50')

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 267

heftiger und häufiger an und, erwachen wir nicht aus unserer Erstarrung, so wird der Zeitpunkt kommen, in welchem wir fast andauernd Zugeständnisse machen und in schwere SÜnde fallen werden. 1 Das ist leider die Geschichte sehr vieler Seelen. Erfahrene Seelen führer können das bestätigen.

Ein Vergleich wird uns das klar machen. Um unser Heil zu wirken, müssen wir gegen einen mehr oder weniger starken Strom schwimmen, nämlich gegen den unserer Leidenschaften, die uns zum Bösen hinreissen wollen. Solange wir uns abmühen, vorwärts zu kommen, gelingt es uns auch, gegen den Strom zu schwimmen oder doch wenigstens ihm zu widerstehen. In dem Augenblicke aber, in welchem wir kräftig zu arbeiten aufhören, reisst uns der Strom mit sich' fort und wir treiben dem Ozean zu, auf welchem uns Stürme erwarten, d. h. schwere Versuchungen und vielleicht bejammernswerte Niederlagen.

360. 2. Strenge Gebote gibt es, die zu gewissen Zeiten nur durch heroische Akte gehalten werden können. N ach den Gesetzen der Psychologie ist man für gewöhnlich nur dann imstande, heldenmÜtig zu handeln, wenn man sich vorher durch irgendwelche Opfer, d. h. durch Akte von Abtötung, darauf vor-, bereitet hat. Um diese Wahrheit besser zu veranschaulichen, mögen einige Beispiele folgen; Nehmen wir das Gebot der Keuschheit und erwägen wir einmal, welch' grosse, zuweilen heldenmütige Anstrengungen notwendig sind, um dieses Gebot das ganze Leben hindurch zu halten. Bis zur Verehelichung (viele verheiraten sich nicht vor 28 oder 30 Jahren) ist man unter schwerer Sünde zur unbeding-ten Enthaltsamkeit verpflichtet. Nun aber beginnen die schweren Versuchungen bei fast allen im Entwicklungsalter, manchmal schon früher. Um

I Dieses ist die allgemeine Lehre der Theologen. - SUAREz/assl sie in folgende Worte zusammen: .. Vix potest moraliter contingere ut homo etiam srecularis habeat firmum propositum nunquam peccandi mortaliter, quin consequenter nonnulla opera,superero'gationis faciat et habeat formale vel virtuale propositum ilJa faCiendi., ... (Di Religione,

I. IV, 1. 1, C. 4, n. 12.), ."

268 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, ihnen siegreich zu widerstehen, muss man beten, auf gewisse Lektüren, auf gewisse TheaterstÜcke und auf gefährliche Freundschaften verzichten. Ferner, sich Über die geringsten Zugeständnisse VorwÜrfe machen, aus seinen Fehltritten Nutzen ziehen, um sich sofort wieder aufzuraffen, und das eine lange Lebenszeit hindurch. Setzt dies alles nicht mehr als gewöhnliche Anstrengungen voraus, Werke die über unsere eigentlichen Verpflichtungen gehen? Ist man verheiratet, so ist man dadurch noch nicht vor schweren Versuchungen sicher. In gewissen Zeitabschnitten ist man zur ehelichen Enthaltsamkeit verpflichtet. Um das zustande zu bringen, ist heldenhafter Mut notwendig. Den aber erwirbt man sich nur durch die längere Gewohnheit, der sinnlichen Lust zu widerstehen und das Gebet treu zu üben.

361. Man werfe jetzt einen Blick auf die Gesetze der Gereclztig-keit bezüglich des Umsatzes auf dem Geldmarkte, auf dem Gebiete des Handels und Gewerbes und man bedenke die beträchtliche Zahl von Gelegenheiten, die sich bieten, gegen die Gerech- ' tigkeit Verstösse zu machen. Man denke ferner an die Schwierigkeit, vollkommen ehrlich zu bleiben, in einer Umgebung in welcher der Wettbewerb, die Gewinnsucht und die daraus sich ergebende, unlautere Preistreiberei vorherrschen, und man wird begreifen, dass man sich ausserordentliche Mühe geben und Entsagung Üben muss, nur um ehrlich zu bleiben. Wird der es können, der gewohnt ist, nur die wichtigsten Gebote zu halten, der sich auf Kosten seines Gewissens anfangs unbedeutende, später ernstere und schliesslich beunruhigende Ausgleiche gestattet? Muss man nicht, um dieser Gefahr auszuweichen, etwas mehr tun, als was streng befohlen ist, damit der durch diese edlen Akte erstarkte Wille so fest sei, dass er sich nicht zu Ungerechtigkeiten hinreissen lasse?

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 269

So bewahrheitet sich Überall das sittliche Gesetz:

Durch grossmütige Akte, die nicht unmittelbar unter das Gebot fallen, muss man der Gefahr, zu sündigen, ausweichen. Mit anderen Vlorten, um das Ziel wirklich zu erreichen, muss man höher zielen. Um die Gnade nicht zu verlieren, musS man durch Handlungen, zu denen man streng genommen, nicht verpflichtet ist, seinen Willen gegen gefährliche Versuchungen stärken, kurz, eine gewisse Vollkommenheit anstreben.

. '

§ Ir. Von den Beweggründen, welche diese Pflicht erleichtern .

Die vielen Beweggründe, welche die einfachen Gläubigen veranlassen können, nach Vollkommenheit zu streben, lassen sich auf drei hauptsächliche zurückfÜhren : I. Auf den Nutzen unserer Seele, 2. auf die Verherrlichung Gottes und 3· auf die Erbauung des Nächsten.

362. I. Der Nut::Jen unserer Seele besteht vor allem in der Sicherung des Seelenheils, in der Vermehrung unserer Verdienste und endlich in den Freuden eines guten Gewissens.

A) Das gros se Werk, das wir hienieden zu vollbringen haben, das notwendige, ja einzig notwendige, ist unser Seelenheil. Retten wir unsere Seele, so ist alles gerettet, sollten wir selbst alle irdischen Güter verlieren : Verwandte, Freunde, Ruf und Reichtum. Im Himmel werden wir' hundertfach alles, was wir verloren hatten, wiederfinden. Das beste Mittel aber, um unser Heil zu sichern, ist, nach Vollkommenheit zu streben, jeder seinen Verhältnissen entsprechend. Je mehr und je beständiger wir uns damit befassen, desto mehr entfernen wir uns von der Todsünde, die allein uns in die Hölle bringen kann. Es liegt klar auf der Hand, dass man durch das ehrliche Bestreben, vollkorn-

~,

270 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT.

mener zu werden, die Gelegenheiten zur Sünde besei~.igt, seinen Willen gegen die auf uns lauernden Uberfälle stärkt und dass der Wille im Augenblicke der Versuchung, durch sein Streben nach Vollkommenheit abgehärtet und gewöhnt, zu beten, um sich die Gnade Gottes zu sichern, mit Abscheu den Gedanken der schweren Sünde von sich weist. Potius mori quam fa:dari. Derjenige aber, der im Gegenteil sich alles erlaubt, was nicht schwere Sünde ist, setzt sich der Gefahr aus, eine solche zu begehen, sobald sich eine heftige und langwierige Versuchung einstellt. Hat er die Gewohnheit, in weniger ernsten Dingen der Lust nachzugeben, so ist zu befürchten, dass er in der Aufwallung der Leidenschaft schliesslich erliegt, ähnlich demjenigen, der fortwährend am Rande eines Abgrundes hin und her wandelt und zuletzt hineinstÜrzt. Um sicher zu sein, Gott nicht schwer zu beleidigen, ist das wirksamste Mittel, sich vom Rande des Abgrundes möglichst fern zu halten, indem man mehr tut, als das, was befohlen ist, d. h. eifrig nach Vollkommenheit strebt. Je mehr man mit Klugheit und Demut danach strebt, desto mehr sichert man sein ewiges Heil.

363. B) Dadurch vermehrt man auch täglich die Grade der heiligmachenden Gnade, die man besitzt, und die Grade der Seligkeit, auf die man Anspruch erhebt. Wir sahen bereits, jede ÜbernatÜrliche Anstrengung, die man aus Liebe zu Gott im Zustande der Gnade verrichtet, bringt eine Vermehrung der Verdienste mit sich. Wer sich um die Vollkommenheit nicht kÜmmert, seine Pflicht mehr oder weniger nachlässig erfÜllt, erwirbt nur wenig Verdienst, wie wir bereits dargelegt haben. (N. 243.) Wer aber nach Vollkommenheit strebt und sich bemüht, vorwärtszukommen, gewinnt sehr viele Verdienste. Jeden Tag vermehrt er seinen Schatz von Gnade und einstiger Seligkeit. Seine Tage sind

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 271

reich an Verdiensten. Jegliche Anstrengung wird hienieden mit einer Vermehrung der Gnade belohnt und später mit einer überschwenglichen, ewigen, alles überwiegenden Herrlichkeit" ./Eternum glorire pondus operatur z'n nobz's!" I

364. C) Will man auf Erden ein wenig Glüclr: geniessen, so gibt es nichts Besseres als die Fri.immigkez't. Sie ist, \vie der hl. Paulus sagt, zu allem nÜtzlich, da sie Verheissungen für das gegenwärtige und zukünftige Leben hat. " Pietas aute1lt ad olllnia utz'hs est, promissione1ll habens vz'tre qure nu nc est et futun:e. "2 Der Seelenfrieden, die Freude eines guten Gewissens, das Glück, mit Gott vereint zu sein, in seiner Liebe fortzuschreiten, zu grösserer Vertrautheit mit J esus zu gelangen, sind einige von den Belohnungen, welche Gott schon hienieden seinen treuen Dienern mitten in ihren Prüfungen zuteil werden lässt. Dazu kommt noch die trostreiche

_Aussicht auf ewiges Glück.

365. 2. Die EItre Gottes. Es gibt nichts Erltabeneres, als sie zu fördern, nichts Gerechteres, wenn wir uns erinnern, was Gott fÜr uns getan hat und noch immer für uns tut. Eine vollkommene Seele aber gereicht Gott mehr zur Ehre, als tausend gewöhnliche. Sie vermehrt täglich ihre Akte von Liebe, Danksagung und Sühne. Ihr ganzes Leben fÜhrt sie in diesem Sinne durch die öfters wiederholte Aufopferung ihrer gewöhnlichen Handlungen und verherrlicht auf diese \\Teise Gott von frÜh bis abends.

366. 3. Die Erbauung des llächsten. Um einen guten Einfluss auf unsere Umgebung zu gewinnen, SÜnder oder Ungläubige zu Gott zurückzuführen, wankelmÜtige Seelen standhaft zu machen, gibt es kein wirksameres Mittel, als die Anstrengung, die

'11 Korinther, IV, 17. - 2 1 Ti1ll. IV, 8.

272 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT. man selbst macht, praktisches Christentum zu üben. Gleichwie die Mittelmässigkeit des Lebens die Ungläubigen veranlasst, die Religion danach ungÜnstig zu beurteilen, ebenso erregt wahre Heiligkeit die Bewunderung einer Religion, die solche Wirkungen zu erzielen vermag. " An der Frucht erkennt man den Baum. " Ex fructibus eorum cognoscetz's eos." I Die beste Apologie ist die des Beispieles, wenn man nämlich damit die ErfÜllung aller sozialen Pflichten zu verbinden versteht. Es ist dieses auch eine vortreffliche Anregung fÜr die Mittelmässigen, die in ihrer Verweichlichung einschlafen wÜrden, wenn nicht die Fortschritte der eifrigen Seelen sie aus der Erstarrung reissen würden.

FÜr viele Seelen gilt auch folgender Grund: In diesem Jahrhundert der Proselytenmacherei verstehen Laien besser als je die Notwendigkeit, durch Wort und Beispiel ihren Glauben zu verteidigen und zu verbreiten. Es ist Sache der Geistlichen, diese Bewegung zu fördern, indem sie eine ausgesuchte Anzahl von eifrigen Christen um sich scharen, Christen, die sich nicht mit einem mittelmässig religiösen Leben begnügen, sondern darauf hinzielen, jeden Tag in der ErfÜllung aller ihrer Pflichten, der religiösen an erster Stelle, wie auch der bÜrgerlichen und sozialen, Fortschritte zu machen. Sie werden vortreffliche Mz'tarbeiter sein, die, weil sie in gewisse Kreise dringen, welche Ordensleuten und Geistlichen unzugänglich sind, die Priester wirksam in der AusÜbung des Apostolats unterstützen werden.

11. ABSCHNITT. DIE PFLICHT DER ORDENSLEUTE, NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN.2

367. Manche Christen wollen sich auf vollkommenere Weise Gott hingeben und mit grösserer

1 -'I:rat/h., VII, 20.

2 Codex, can. 487.672; S. THOM., lIa nre, q. 24, a. 9; q. 183, a. 1-4,

q. 18+-186; SUAREZ, De Religione Ir. VII; S. ALPHONSUS, 1. IV, n. I U. ff. S. FRAN<;:OIS DE SALES, Les vrays Entretims spirituels, ed. An-

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 273

Sicherheit ihre Seele retten und treten deshalb in den Ordensstand. Nach dem kirchHchen Gesetzbuch I ist aber dieser Stand "eine beständige Weise, gemeinschaftlich zu leben und zwar unter der Verpflichtung, ausser der Beobachtung der allgemeinen Gebote die evangelischen Räte zu befolgen. Zu diesem Zwecke legt man die Gelübde des Gehorsams, der Keuschheit und der Armut ab. "

Dass die Ordensleute verpflichtet seien infolge ihres Berufes nach Vollkommenheit zu streben, lehren einstimmig alle Theologen und daran erinnert auch das kirchliche Gesetzbuch, in welchem es heisst : " Alle und jeder einzelne der Ordensleute, die Oberen ebenso wie die Untergebenen, haben nach standesgemässer Vollkommenheit zu trachten ". Diese Verpflichtung ist so streng, dass der hl. A !phons von Liguori nicht zögert, zu erklären, eine Ordensperson sÜndige schwer, wenn sie den festen Vorsatz fasst, nicht nach der Vollkommenheit zu streben oder sich gar nicht darum zu kÜmmern. Dadurch nämlich verstösst sie sich schwer gegen ihre Standespflicht, die gerade im Streben nach Vollkommenheit besteht. Darum wird auch der Ordensstand ein Stand der Vollko7nl'nenhez't genannt, d. h. ein durch das Kirchengesetz amtlich anerkannter Stand als eine dauernde Lebensstellung, in welcher man verpflichtet ist, sich die Vollkommenheit zu erwerben. Es ist also nicht nötig, schon vor dem Eintritt dieselbe zu besitzen, sondern man wählt diesen Stand gerade, um sie zu erstreben, wie der hl. Thomas bemerkt. 2

Die Pflicht der Ordensleute, nach der Vollkommenheit zu streben, beruht auf zwei Hauptgründen :

,

neey; VERMEERSCH, De religiosis .. V ALUY, Les vertus religieuses, 1914; GAUTRELET, Traite de /'ttat religieux .. MGR GAY, De la vie et des vertus ehretiennes, Tl'. II; J. P. MOTHON, TraiN sur /'ttat religieux, 1923.

, Can. 487.

2 " Unde non oportet quod quieumque est in religione, jam sit perfeetus sed quod ad perfeetionem tendat. " Sum. lizeol., IIa IIre, q. 186, a. 1, ad 3.

274 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, Erstens, auf den GelÜbden, zweitens, auf den Konstz'tutionen und Regeln des Ordens.

I. Dz'e auf den Gelübden berulzende Pjliclzt.

368. Geht man in 's Kloster, so will man sich Gott hingeben, ihm sich auf vollkommenere Weise weihen und deshalb legt man die drei Gelübde ab. Nun verpflichten aber diese zu Tugenclakten, die nicht befohlen sind und um so vollkommener genannt werden können, als das GelÜbde ihrem inneren Werte noch den der Tugend der Gottesverehrung hinzufÜgt. Sie haben ausserdem den Vorteil, einige der grössten Hindernisse fÜr die Vollkommenheit entweder zu beseitigen oder sie zu verringern. Das alles werden wir besser verstehen, wenn wir die GelÜbde im einzelnen behandeln werden.

369. I. Durch das GelÜbde der Armut verzichtet man auf die äusseren GÜter, die man besitzt oder die man erwerben könnte. Ist das GelÜbde feierliclt, so verzichtet man auf das Eigenturrisrecht selbst, sodass alle etwaigen Verträge bezÜglich Eigentumserwerbung gesetzlich ungiltig sein würden, wie das kirchliche Gesetzbuch (can. 579) erklärt. Handelt es sich um ein ez'nfaclzes GelÜbde, so verzichtet man zwar nicht auf das Eigentumsrecht, wohl aber auf das Recht der freien VeifÜgung, von dem man nur mit Erlaubnis der Oberen und in den von ihnen angegebenen Grenzen Gebrauch machen darf.

Dieses GelÜbde hilft uns, eines der grössten Hindernisse fÜr die Vollkommenheit aus dem \iVege zu räumen : Die ungeordnete Liebe zu irdischen GÜtern und die Sorgen, welche die Verwaltung zeitlicher Besitze verursacht. Es ist somit ein vorzügliches Mittel für den geistlichen Fortschritt. Aber auch mit peinHchen Opfern' ist es' verbunden. Die Sicherheit und Unabhängigkeit ,die der freie Gebrauch der GÜter mit sich bringt, hat man nicht. Gar manchmal hat man gewisse Entbehrungen zu

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 275

erleiden, die das gemeinschaftliche Leben auferlegt. Es ist peinlich und verdemÜtigend, den Oberen aufsuchen zu mÜssen, so oft man etwas braucht. Mit diesem Gelübde sind demnach Tugendakte verbunden, zu denen wir verpflichtet sind und die uns nicht nur lehren, nach der Vollkommenheit zu streben, sondern uns auch vollkommener machen.

370. 2. Durch das GelÜbde der Keuschheit Überwinden wir das zweite Hindernis, nämlich die Fleischeslust. Es befreit uns von den Mühen und Sorgen des Familienlebens. Das erwähnt der hl. Paulus. Der, welcher nicht verheiratet ist, ist besorgt um Dinge, die Gott betreffen und sucht Gott zu gefallen. Der aber verehelicht ist, sorgt sich um Dinge der Welt und sucht, seinem Eheweibe zu gefallen. Er ist geteilt. I Das GelÜbde der Keuschheit beseitigt jedoch nicht die Begierlichkeit. Die Gnade, die uns gegeben wird, ist nicht eine Gnade der Ruhe, sondern des Kampfes. Um sein ganzes Leben enthaltsam zu sein, muss man wachen und beten, d. h. seine äusseren Sinne abtöten, seine Neugierde, die Abschweifungen der Phantasie und die Verirrung des Gefühls verhindern, ein arbeitssames Leben fÜhren und vor allen Dingen durch die Übung der christlichen Liebe das Herz Gott schenken, in vertraulichem und innigem Verkehr mit J esus leben, wie wir weiter unten bei der Abhandlung Über die Keuschheit darlegen werden. Das alles aber heisst nichts anderes, als nach der Vollkommenheit streben, heisst, beständig sich anstrengen, um sich zu überwinden und eine der heftigsten Neigungen der verdorbenen Natur beherrschen.

371. 3. Der Gehorsam geht noch weiter, denn er unterwirft das, woran wir am meisten hängen, nicht nur Gott, sondern auch den Regeln und den Oberen,

11 Korinther, VII, 32-33.

276 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, nämlich unseren Eigenwillen. Durch das Gelübde des Gehorsams verpflichtet sich die Ordens person, den Befehlen ihres rechtmässigen Oberen in allem zu gehorchen, was sich auf die Beobachtung der Gelübde und der Konstitutionen bezieht. Es handelt sich hier um einen ngelrechten Befehl, nicht aber um einen einfachen Rat. Man erkennt ihn an der vom Vorgesetzten angewandten Ausdrucksweise, z. B. " t'm Namen des hl. Gehorsams, " "im Namen unseres Herrn," oder in Form eines ausdriicldiclzen Befehles oder einer gleichbedeutenden Ausdrucksweise. Diese Vollmacht der Oberen hat zweifellos ihre Grenzen. Die Oberen mÜssen im Sinne der Regeln ihre Befehle erteilen, indem sie sich auf das beschränken, was in den Regeln entweder ausdrücklich oder einschliesslich enthalten ist. Dazu gehören die Konstitutionen, die gesetzmässigen Statuten, um die Beobachtun~ der letzteren zu sichern, die zur Bestrafung der Uberschreitungen und zur Verhütung VOi1 Rückfällen auferlegten Bussen, alles, was sich aL)f die Art und Weise bezieht, die verschiedenen Amter gut zu versehen, ebenso wie auf eine gute und gewissenhafte Verwaltung I.

Trotz dieser Einschränkungen bleibt es wahr, dass das GelÜbde des Gehorsams eines von jenen ist, welche der menschlichen Natur am meisten kosten, besonders, weil wir sehr an unserem eignen Willen hängen. Demut, Geduld und Sanftmut sind zur Beobachtung dieses Gelübdes notwendig. Vlir müssen die überaus starke Neigung, die in uns ist, die Vorgesetzten zu bekritteln, unser Urteil dem ihrigen vorzuziehen, unserem eignen Geschmack und unseren Launen nachzugehen, abtöten. Sich über diese Neigungen hinwegsetzen, ehrfurchtsvoll unseren Willen dem des Oberen unterwerfen, weil wir Gott

1 VALUY, Les VertztS religiellses, 19. Auf!. S. 106. Zur Giltigkeit vor dem forum externum ist erforderlich, dass der Befehl sc!zrittlich oder vor zwei Zeugen erteilt werde. " (Cod. e. 24.)

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 277 in ihm sehen, heisst nach der Vollkommenheit trachten, denn wir Üben dadurch eine der schwersten Tugenden. Und, da der wahre Gehorsam der beste Beweis der Liebe ist, so heisst das, im Grunde genommen, in der Tugend der Liebe wachsen.

372. Man sieht also, die gewissenhafte Beobachtung der Gelübde setzt die Übung nicht nur der grossen Tugenden, Armut, Keuschheit und Gehorsams voraus, sondern noch vieler anderer die zn ihrem Schutze notwendig sind. Sich zu ihrer Beobachtung verpflichten, ist sicher soviel als sich zu einem höheren Grad von Vollkommenheit verpflichten. - Das ergibt sich Übrigens auch aus der Pflicht, die Konstitutionen zu beobachten.

11. Die auf den Konstz'tutionen und den Regeln beruhende PßÜ'ht.

373. Tritt man in den Ordensstand, so verpflichtet man sich dadurch, dessen Konstitutionen und Regeln zu beobachten. Sie werden im Laufe des Noviziates vor Ablegung der Gelübde erklärt. Welcher Genossenschaft man auch immer beitreten mag, es gibt keine einzige, die sich nicht die Heiligung ihrer Mitglieder zum Ziele setzt und die nicht, oft bis ins Einzelne, die Tugenden bestimmt, d~~ man Üben muss, und die Mittel angibt, welche die Ubung derselben leichter machen. Will man also ehrlich sein, so verpflichtet man sich, die verschiedenen Verordnungen, wenigstens in ihrer Allgemenheit zu beachten und dadurch sich zu einem gewissen Grade von Vollkommenheit aufzuschwingen. Denn selbst, wenn man die Regeln nur im allgemeinen beobachtet, so findet man noch viele Gelegenheiten, sich in Dingen abzutöten, die nicht befohlen sind. Die Anstrengung, die man machen muss, um es zu tun, zielt auf die Vollkommenheit hin.

374. Hier drängt sich uns die Frage auf: Sind die Verfehlungen gegen die Ordensregeln eine

278 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, SÜnde oder nur eine einfache Unvollkommenheit? Um auf diese Frage zu antworten, mÜssen wir zu unterscheiden verstehen.

a) Es gibt Regeln, welche Treue den durch das Gebot befohlenen Tugenden oder den GelÜbden gegenÜber vorschreiben oder auch den notwendigen Mitteln gegenüber, um die Gelübde halten zu können, wie z. B. die Klausur fÜr geschlossene Genossenschaften Diese Regeln verpflichten im Gewissen, gerade weil sie nichts anderes bezwecken, als eine Verpflichtung öffentlich bekannt zu geben, die sich aus den GelÜbden selbst ergibt. Denn, legt man die Gelübde ab, so verpflichtet man sich, dieselben zu halten und die nötigen Mittel anzuwenden, die dafÜr bestimmt sind. Sie verpflichten unter lässlicher oder schwerer Sünde, je nachdem es sich um eine geringfügige oder wichtige Ursache handelt. Diese Regeln verpflichten also wie die Gebote. In gewissen religiösen Genossenschaften werden sie entweder direkt oder indirekt ganz offen als solche bezeichnet und zwar durch eine ausdrÜckliche Bestätigung, sodass die Nichtbeachtung der betreffenden Regel eine Sünde entsprechender Art zur Folge hat.

375. b) Andererseits gibt es Regeln, die ausdrÜcklich oder einschliesslich nur zur Leitung gegeben sind (regulre directivre). I) Dieselben ohne Grund nicht beobachten, ist zweifellos eine sittliche U nvollkommenheit, an sich jedoch nicht einmal eine lässliche SÜnde, weil dadurch weder ein Gesetz noch eine Vorschrift übertreten wird. 2) Der hl. Thol1'laS I bemerkt jedoch mit Recht, man könne sich schwer gegen die Regel versündigen, übertritt man sie aus Verachtung, d. h. der Regel selbst oder des Oberen. Eine lässliche SÜnde begehe man, wenn man sie aus freiwilliger Nachlässigkeit, aus Leidenschaft, aus Unwillen, aus Sinnlichkeit oder aus irgendeinem

1 Sumo tMol., IIa !Ire, q. 186, a. 9, ad I U. 3.

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 279

sÜndhaften Grunde Übertrete. Denn dieser Grund macht dann die SÜnde aus. Man kann mit dem h1. Alphons. v. Liguori hinzufÜgen, die Sünde könne sch~er sein, sobald die Übertretungen häufig u.~d mit Uberlegung geschehen, sei es wegen des Argernisses, das daraus entsteht und nach und nach einen bedeutenden Schaden der Ordnung herbeifÜhrt, oder weil der Betreffende sich der Gefahr aussetzt, zum grossen Nachteile seiner Seele, von der Genossenschaft ausgeschlossen zu werden.

376. Es folgt daraus, dass die Oberen als solche die Pflicht haben, darauf zu halten, dass die Regeln gewissenhaft beobachtet werden u.l}d dass der, welcher es unterlässt, selbst kleine Ubertretungen zu verhindern, sobald sie häufiger werden, eine schwere Sünde begehen kann, weil er dadurch die allmähliche Erschlaffung begünstigt. Diese aber bedeutet in einer klösterlichen Gemeinschaft eine ernstliche Störung. So lehren Lug-o, der hl. Alp/tons v. Lzguori, Schram I und viele andere Theologen.

Übrigens befasst sich ein echter Ordensmann nicht erst mit diesen Unterscheidungen, sondern beobachtet die Regel möglichst gewissenhaft, denn er weiss, das ist das beste Mi~tel, Gott zu gefallen. " Qui regulre vivz't, Deo vivit." Der Regel gemäss leben, heisst, für Gott leben. Ebenso begnÜgt er sich nicht damit, die GelÜbde streng zu halten, sondern er lebt ganz nach ihrem Geiste, indem er sich MÜhe gibt, von Tag zu Tag im Streben nach Vollkommenheit Fortschritte zu machen, nach den Worten des h1. J ohannes : " Der, welcher heilig ist, möge sich noch mehr heiligen; " dann bestätigen

I Communis est theologorum sententia prrelatum gravt"ter peccare, si culpas veniales et transgressiones sanctre regulre, alioquin forte sub peccato non obligantis, corrigere negligat, quia ait LUGO (De just. et fure, disp. 9, sect. 3, 11 •. 21) : per bujusmodi defectus toleratos observantta regularis maxime labefactatur. Cujus exempla affert in transgressione silentii, lectionis, ingressus in aliorum cubicula, ete ... - SCHRAM, Instit. Theol. mysticce. § 655, Scholion.

280 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, sich an ihm die Worte des hl. Paulus : "Der diese Regel befolgt, wird des Friedens teilhaftig und wird auch auf die Barmherzigkeit Gottes rechnen können. Pax super illos et misericordia. I

3. ABSCHNITT. VON DER PFLICHT DER PRIESTER, NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 2

377. In Anbetracht der Verrichtungen und der Aufgabe, die Priester zu vollziehen haben, die Seelen zu heiligen, sind sie zu grijsserer, innererer Heiligkeit, als einfache Ordenspersonen, die nicht zum Priesterstand erhoben worden sind, verpflichtet. So lehrt der hl. Thomas. Seine Lehre wird durch kirchliche Dokumente, deren Echtheit ausser jedem Zweifel steht, bestätigt. " Quia per sacrum ordinem aliquis deputatur ad dignissima 1ltz'nisteria, quibus zpsis Christo servitur in sacramento altaris, ad quod requiritur major sanctitas z'nterior, quam requirat etiam religiosus status. " 3 Die Konzilien, namentlich das von Trient, 4 die Päpste, besonders Leo XIII. 5 und Pius X.,6 bestehen so sehr auf der Notwendigkeit der Heiligkeit für den Priester, dass derjenige, der unsere These ablehnen würde, sich in schreienden Widerspruch mit jenen unumstösslichen Autoritätem setzt. Es genüge, daran zu erinnern, dass Pius X. gelegentlich seines goldenen

, Galat., VI, I6.

2 Ausser den bereits erwähnten Verfassern siehe ARVISENET, lI/emoriale vita: sacerdotalis. - MOLINA LE CHARTREUX, L'lnstruction des pretres, 2. Tr. - J.-J. OLlER, Traite des SS. Ordres. - TRoNSON, Exam. partieulier. - DUBOIS, Le Saint Prefre. - CAUSETTE, lv/allrese du Pretre. - GIBBONS, L'Ambassadeur du Christ. - GIBAUD, Pretre et Hostie. - MANNING, Le Sacerdoce eterne!. - MGR. LELONG, Le Pretre. - CARD. MERCIER, La Vie interieure, I9I9, S. I49-226.

3 Sumo theol .. IIa Ure, q. I84, a. 8. 4 Sess. XXII, de Reform. C. I.

5 Rundschreiben" Quod mult"", ", 22 Aug. I886. - Rundschreiben " Seit dem Tag", 8 Sept. I899.

6 Exhortatio ad clerum catholiclt1l1, 4 Aug. I908. Man lese den ganzen Brief.

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 281

Priesterjubiläums ein Schreiben veröffentlichte, das an den katholischen Klerus gerichtet war. In diesem beweist er die Notwendigkeit der Heiligkeit für den Priester und gibt klar und deutlich die Mz'ttel an, dahin zu gelangen. Sie sind, nebenbei bemerkt, gen au dieselben, wie sie in unseren Priesterseminarien eingeschärft werden. Erst schildert er die innere Heiligkeit (vz'ta: ln01'umque sanctimonia), dann erklärt er, nur diese Heiligkeit mache uns zu solchen, wie sie unser göttlicher Beruf erfordert, der \1\' elt gekreuzigte Männer, die den neuen Menschen angetan haben, nur nach himmlischen Gütern streben und sich durch alle möglichen Mittel bemühen, anderen dieselben Grundsätze beizubringen." Sanctitas una nos effidt quales vocatio divina exposdt :

Homines videlicet mundo crucifixos ... homines in novitate vitce ambulantes ... qui unice in ccelestia tendant et alios eodem adducere omni ope contendant. "

378. Das kirchliche Gesetzbuch hat diese Ansichten Pius X. gutgeheissen. Es betont schärfer als das frühere die Notwendigkeit der Heiligkeit der Priester. Ebenso die Mittel, die zu ihr führen. Es erklärt kurz und bündig, die Priester hätten ein heiligeres innerliches und äusserliches Leben zu führen, als die Laien. Sie sollen durch ihre guten Werke ihnen ein gutes Beispiel geben, Und es fügt hinzu, es sei PJlicltt der Bischöfe, dafür zu sorgen, dass alle Kleriker häufig beichten, um sich von ihren Fehlern zu reinigen. Jeden Tag sollen diese eine gewisse Zeit der Betrachtung widmen, das Allerheiligste Altarssakrament besuchen, den Rosenkranz zu Ehren Mariens beten und das Gewissen erforschen. Alle drei Jahre wenigstens sollen die Weltpriester eine von ihrem Bischofe bestimmte Zeit hindurch Exerzitien machen, und zwar in einem Kloster oder in einem religiösen Hause. Nur im Einzelfalle, aus triftigen Gründen und mit ausdrücklicher Erlaubnis ihres Bischofs seien sie davon

282 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, ausgenommen. Alle Kleriker, namentlich aber die Priester, seien verpflichtet, ihrem Bischofe Ehrfurcht und Gehorsam zu bezeugen. I

Übrigens lässt sich die Notwendigkeit für den Priester, nach Vollkommenheit zu streben, bewei-. sen: I. Aus der Autorz'tät Unseres Herrn, und des M. Paulus, 2. Aus dem Pontifikale, 3. Aus dem Wesen der priesterliclzen Verrichtu ng-en.

I. Die Lehre Jesu und des hl. Paulus.

379. I. Jesus Chrz'stus lehrt in beredtster Weise, sowohl durch sein Beispiel, wie auch durch sein Wort die Notwendigkeit der Heiligkeit für den Priester.

A) Durch sein Beispiel. - Er, der von Anfang an voll Gnade und Wahrheit war, "vidimus eUJ1l ... plenum gratia: et veritatis ", wollte sich nach Möglichkeit dem Gesetze des Fortschrittes unterwerfen. "Er nahm zu," sagt der hl. Lukas, "an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen." " Profieiebat sapientia et a:tate et gratia apud Deum et homines." - Dreissig Jahre hindurch bereitete er· sich durch die Ubung des verborgenen Lebens auf seine öffentliche Tätigkeit vor und zwar mit allem, was damit verbunden ist: Gebet, Abtötung, Demut, Gehorsam. Drei Worte fassen dreissig Lebensjahre des Fleischgewordenen Wortes kurz zusammen, " Erat subditus illis. "2 Um mit grösserem Erfolge die christlichen Tugenden zu predigen, hat er selbst sie vorher geübt. " Ca?Pz't facere et docere." 3 Mit Recht konnte er also von allen Tugenden sagen, was er von der Demut und der Sanftmut geäussert hat : " Discite a 11fe quia mitis SUlll et hU11Ulz'S corde. " 4 Er erklärt deshalb am Ende seines Lebens in aller Einfachheit, er heilige und opfere sich (das

, Can. 124-127. - 2 Lukas, II, SI.

3 Aposfelgesclzicltte, I, I. - 4 Matth., XI, 29.

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 283

Wort sanctifico hat diesen zweifachen Sinn) damit seine Apostel und seine Priester als deren N achfolger sich in aller Wahrheit heiligen. "Et ego pro eis sanctifico melpsum ut sint et lpsi sanctificati in veritate. " [ Nun ist aber der Priester der Stellvertreter J esu Christi auf Erden, ein zweiter Christus. "Pro Christo ergo legatz'one fungimur. " 2 Auch wir müssen demnach unaufhörlich nach Heiligkeit streben.

380. B) Das geht übrigens aus den Unterweisungen des göttlichen Meisters hervor. Während der drei Jahre seines öffentlichen Lebens besteht sein Hauptwerk in der Heranbildung der Zwölf. Es machte seine gewöhnliche Beschäftigung aus, da die Predigt zum Volke erst an zweiter Stelle in Betracht kam und, sozusagen, für die Jünger als Muster dienen sollte. Daraus nun ergeben sich folgende Schlüsse:

a) Die so überaus erhabenen Lehren von der Seligkeit, der inneren Heiligkeit, der Selbstverleug~.ung, der Liebe zu Gott und zum Nächsten, der Ubung des Gehorsams, der Demut, der Sanftmut und aller anderen Tugenden, die so oft im Evangelium hervorgehoben werden, sind zwar an alle Christen gerichtet, die nach Vollkommenheit streben, vor allem aber an die Apostel und deren Nachfolger. Sie nämlich sind beauftragt, diese wichtigen Pflichten zu predigen, und zwar mehr durch das eigene Beispiel als durch Worte. Daran erinnert das Pontifikale die Diakone : "Curate ut quibus Evangelz'u11Z ore annuntiatis, vz'vis operibus exponatzs." Nach dem Geständnisse aller aber bilden diese Lehren den J{odex der Vollkommenheit, einer sehr hohen Vollkommenheit. Infolgedessen sind die Priester durch ihren Beruf verpflichtet, nach Heiligkeit zu streben.

'folI., XVll, I9. - 2 1I Korintller, V, 20.

284 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT,

381. b) An die Apostel ganz besonders und an die prz'ester sind jene Ermahnungen zum Streben nach höherer Vollkommenheit, wie sie so oft im Evangelium zu finden sind, gerichtet. " Ihr seid das Salz der Erde ... Ihr seid das Licht der Welt" I Vos estis sal terra:... Vos estis lux mztndi. Das Licht, von dem hier die Rede ist, bedeutet nicht nur die Wissenschaft, sondern auch, ja besonders das Beispz'el, welches mehr als die Wissenschaft erleuchtet und hinreisst. "Euer Licht leuchte vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater, der im Himmel ist, verherrlichen." Sie luceat lux vestra coram hominibus ut videant opera vestra bona et glorificent Patrem vestrum, quz' in ca:lis est." 2 Auf sie beziehen sich auch die Räte bezüglich der Armut und der Enthaltsamkeit, denn durch ihren Beruf sind sie verpflichtet, dem Heiland näher und zwar bis zum Ende zu folgen.

382. c) Schliesslich gibt es eine Reihe von Lehren, welche unmittelbar und ausdrÜcklich die Apostel und ihre Nachfolger angehen. 3 Das sind die, welche er den Zwölfen und den Zwei und Siebzigen gab, als er sie nach J udäa sandte, wo sie zu predigen hatten. Ferner die, welche er beim letzten Abendmahle verkündete. Diese Reden enthalten einen . Kodex von so hoher, priesterlicher Vollkommenheit, dass sich daraus für die Priester eine unbedingte Pflicht ergibt, unaufhi?,rlich nach Heiligkeit zu streben. Sie sind zur Ubung unbedingter Selbstloszgkeit, Armut im Geiste und w,jrklicher Armut durch Verzichtleistung auf alles Uberflüssige verpflichtet. Sie sollen Eifer, christliche Nächstenliebe, vollständige Hingabe, Geduld und Demut zeigen, inmitten von Verfolgungen, die sie zu erwarten haben, mutzg Christus bekennen und das Evan-

, Matth., v, I3-I5. - 2 Jl1'atth., v, I6.

3 DELBREL, S. J. flsus, Iducateur des Apotres, Kap. IV-VI.

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 285 gelium für und gegen alle predigen, sich von Welt und Familie freimachen, das Kreuz tragen und sich selbst gänzlich verleugnen. I

383. Beim letzten Abendmahle 2 gibt er ihnen das neue Gebot. Es besteht in der gegenseitigen brüderlichen Liebe, wie er selbst sie stets geübt, d. h. bis zur vollständigen Aufopferung. Er spricht ihnen von der Notwendigkeit eines lebendigen Glaubens, des unbedingten Vertrauens auf das in seinem Namen verrichtete Gebet. Von der Liebe zu Gott, die sich in der Beobachtung der Gebote zeigt. Ferner von der Notwendigkeit des inneren Friedens, um die Lehren des Hl. Geistes zu vernehmen und zu verkosten, von der innigen und beständigen Vereinigung mit ihm, dem Heiland selbst, als wesentliche Bedingung für die Heiligung und die apostolische Wirksamkeit. Von der Geduld inmitten von Verfolgungen seitens der Welt. Von eier Fügsamkeit dem Heiligen Geiste gegenüber, der sie in ihren Trübsalen trösten wird. Von der Festigkeit im Glauben und von der Zuflucht zum Gebete zur Zeit der Prüfungen, kurz, von den wesentlichen Bedingungen für das, was wir heute innerliches oder vollkommenes Leben nennen. Und er schliesst mit jenem }lOhenpriesterlichen, innigen, Gebete, in welchem er seinen Vater bittet, seine JÜnger zu beschützen, wie er sie selbst während seines sterblichen Lebens behütet habe. Sie vor dem Übel zu bewahren, mitten in der Welt, der sie das Evangelium predigen sollen, und sie z'n Wahrheit BU hezligen. Dieses Gebet verrichtete er nicht nur fÜr die Apostel allein, sondern auch für alle jene, die an ihn glauben werden, damit sie, ähnlich der Einigkeit der drei göttlichen Personen, stets durch das Band brüderlicher Liebe vereint seien. Und dass alle mit Gott vereinigt seien und alle mit

'l11atth., X, XI; Lukas, X, u. ff. - 2 loh .• XIV-XVII.

286 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, Christus" damit die Liebe, mit welcher Du mich geliebt, in ihnen sei und ich in ihnen. "

Ist das nicht ein vollständiger Plan von Vollkommenheit, welchen der Hohepriester, dessen Stellvertreter wir auf Erden sind, schon im voraus entworfen hat? Und ist es nicht ein grosser Trost für uns, festzustellen, dass er gebetet hat, damit wir diesen Plan auch wirklich ausführen können?

384. 2. Darum. schildert auch der Hl. Paulus, durchdrungen von dieser Lehre, die apostolischen Tugenden. Erst bemerkt er, die Priester seien die Ausspender der Geheimnisse Gottes, die Gesandten Christi, die Vermittler zwischen Gott und den Menschen, dann zählt er in den Hirtenbriefen die Tugenden auf, mit denen die Diakone, Priester und Bischöfe geschmückt sein müssen. Es sei nicht genug, die Weihegnade erhalten zu haben, sie müssten dieselbe in sich wachrufen, wieder lebendig machen, aus Angst, sie könnte geringer werden. " A dmoneo te ut resuscites gratia11l qua: est in te per z'mpositiol1em manuum 11learum." I Die Diakone sollen keusch, züchtig, mässig, selbstlos, bescheiden und rechtschaffen sein und mit Klugheit und WÜrde ihr Haus zu verwalten verstehen. Noch vollkommener sollen Priester und Bischöfe sein. 2 So rein soll ihr Leben sein, dass man nichts an ihnen zu tadeln habe. Sie sollen deshalb den Stolz, den Zorn, die Unmässigkeit und die Habgier energisch bekämpfen, die sittlichen und theologischen Tugenden, die Demut, die Mässigkeit, die Enthaltsamkeit, die Heiligkeit, Güte und Gastfreundschaft, Geduld und Sanftmut und vor allem die Frömmigkeit pflegen,

, If Tim., I, 6.

2 Tit. I, 7-9 : .. Oportet enim episcopum sine crimine esse, sicut Dei dispensatorem : non superbuOl, non iracunduffi, non vinolentum, non I'ercnssorem, non turpis lucri cupidnm. Sed hospitalem, benignum, sobrium. justum, sanctum, continentem, amplectentern eum qui secun~ dum doctrinam est, fidelem sermonen1, ut potens sit exhortari in doctrina. "

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 287 die zu allem nützlich sei. Ebenso den Glauben und die Liebe. I Sie sollen ein Beispz'el dieser Tugenden sein und deshalb dieselben in höherem Grade üben. "ln om1lZ'bus te zpsum pra:be exemplum bonorum operum. 2 Alle diese Tugenden setzen gleichzeitig eine gewisse, bereits erworbene Vollkommenheit und hochherziges, standhaftes Streben nach derselben voraus.

Ir. Die Autorz'tät des Pontifikale.

385. Man könnte leicht beweisen, dass die Kirchenväter bei der Erklärung der Evangelien und Episteln diese Lehren näher auseinandergesetzt und durch ausfÜhrliche Erörterung dargestellt haben. Wir könnten sogar hinzufügen, dass sie Briefe und ganze Abhandlungen über die vVürde und Heiligkeit des Priestertums geschrieben haben. Um jedoch nicht zu lang zu werden, beschränken wir uns darauf, die Autorität des Pontifikale anzurufen, welches gleichsam der Kodex oder das priesterliche Gesetzbuch des Neuen Gesetzes ist und die Zusammenfassung alles desjenigen enthält, was die katholische Kirche von ihren Dienern verlangt. Diese einfache Darstellung wird zeigen, welch' hoher Grad von Vollkommenheit von den Weihekandidaten und, um so mehr, von den Priestern gefordert wird. 3

386. I. Vom jungen Kleriker, der kaum die Tonsur erhalten hat, verlangt die Kirche allgemeine Losschälung von allem, was für die Liebe zu Gott ein Hindernis ist. Ebenso innigen Verkehr mit Jesus Christus, um die Neigungen des alten Men-

,I Tim., VI, II : " Sectare vero justitiam, pietatern, fidem, caritatem, patientiam. mansuetudinem. '1 - 2 Ti!., II, 7.

3 Bezgl. der Erklärung des Pontifikale, vgl. J.-J. OLlER, op. cit. BACUEZ, Inst1'uct. et .Med. a l'usage des Ordinands. -GIRAUD, op. cit., t. 11. - GONTHIER, Explication du Pontifical. - Die meisten Abhandlungen üb~r das Priestertum finden sich im Buche von RAYNAUD,

,Le Pretre d'aprl:s fes Peres ... I2 in-8. - Paris, VgL auch TRoNsoN.

288 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, schen zu bekämpfen und den neuen Menschen anzuziehen. Das "Dominus pars ", welches er täglich wiederholen soll, erinnert ihn daran, dass Gott allein sein Anteil, sein Erbteil sei und dass alles, was sich nicht auf Gott beziehe, zu verachten sei. Das "lnduat me" zeigt ihm, das Leben sei ein Kampf, ein Kampf gegen die bösen Neigungen der Natur, eine Anstrengung, um die übernatürlichen Tugenden zu üben, die bei der hl. Taufe in unser Herz gepflanzt wurden. So wird ihm schom gleich beim Anfange die Liebe zu Gott als Ziel und das Opfer als Mittel vorgehalten, mit der Verpflichtung, diese zweifache Verfassung zu vervollkommnen, um im geistlichen Berufe Fortschritte zu machen.

387. 2. Mit den niederen Weil zen erhält der Kleriker eine zweifache Vollmacht, die eine über den eucharistischen Leib J esu, die andere über den mystischen Leib Jesu, d. h. über die Seelen. Und man verlangt von ihm, ausser der Losschälung, eine zweifache Lz'ebe, die Liebe zum eucharistischen Gott und die Liebe zu den Seelen. Beide setzen das Opfer voraus.

So . macht er sich als Pfiirtner von häuslichen Beschäftigungen frei, um der amtliche Hüter des Gotteshauses zu werden und auf Ordnung am heiligen Orte und der Altäre zu halten. Als Lektor verzichtet er auf rein-weltliche Lesungen, um sich in die Lesung der Heiligen Schrift ~u vertiefen und jene Lehre daraus zu schöpfen, die ihm helfen soll, sich und die anderen zu heiligen. Als Exorzist reinigt er sich immer mehr von der Sünde und ihrem Überbleibsel, um dadurch um so sicherer dem Bereiche des Teufels zu entweichen. Ist er Akolyth geworden, so geht sein Bestreben dahin, sz'nnlichen Freuden zu entsagen, um schon jetzt in jener Reinheit zu leben, wie sie der Altardienst verlangt. Gleichzeitig erstarkt er an Liebe zu Gott. Er liebt Gott im Tabernakel, dessen Behüter er ist.

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 289

Er liebt das Fleischgewordene Wort, verborgen unter den Buchstaben der Heiligen Schrift. Er liebt den, der sich auf dem Altare opfert. Und diese Liebe entfaltet sich immer mehr und mehr im Eifer. Er liebt die Seelen, die er gern zu Gott führt, sei es durch Wort oder Beispiel. Er hält es für ein Glück, sie durch seine Tugenden zu erbauen, durch seine Exorzismen zu reinigen und durch seine Beteiligung am heiligen Messopfer zu heiligen. Und so macht er allmählich Fortschritte in der Vollkommenheit.

388. 3. Der Subdz'akon weiht sich endgiltig Gott und opfert sich aus Liebe zu ihm auf, gleichsam als Einleitung, wie Maria es einst tat, auf das erhabenere Opfer, das er einst auf dem Altare Gottes darbringen wird. " Pra:ludit meliorz' quam mox offeret hostiam." Durch das Gelübde der Enthaltsamkeit opfert er seinen Leib und durch die Verpflichtung, täglich Brevier zu beten, seine Seele auf. Die Enthaltsamkeit setzt Abtötung der äusseren und inneren Sinne, nämlich des Geistes und des Herzens, voraus. Die Pflicht des Breviergebetes fordert Sammlung und Gebetsgeist, andauernde Anstrengung, mit Gott vereint zu leben. Diese und jene Pflicht ist unerfüllbar ohne eine glÜhende Lz'ebe zu Gott, zu Gott, der allein das Herz gegen die Lokkungen sinnlicher Liebe zu schützen vermag. Ebenso notwendig ist die innere Sammlung, um den Gebetsgeist zu bewahren. - Also auch vom Subdiakon verlangt die Kirche Opfer und Liebe. Ein griisseres Opfer als die bisherigen, denn die Bewahrung der Keuschheit während des ganzen Lebens setzt oft heldenmütige Anstrengungen voraus und für gewöhnlich einen beständig wachsamen Geist, demütiges Misstrauen gegen sich selbst und Abtötung. Ein unwiderrufliches Opfer:" Quod si hunc Ordinem susceperitz's, amplius non licebz't a proposito resz'lire, sed Deo, cui servire regnare est, perpetuo famulari. " - Damit das Opfer miiglz'ch und beständzg sei, muss

N° 683. -10

290 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, man viel Liebe hineinlegen. Nur die innige Liebt zu Gott und den Seelen kann vor weltlicher Lieb( schützen. Sie allein vermag, uns die Süssigkeit de: beständigen Gebetes verkosten zu lassen, da si< alle unsere Gedanken und Gefühle des Herzens au den richtet, der allein ihnen ein beständiges Zie geben kann. So ruft denn auch der Bischof dil sieben Gaben des Heiligen Geistes auf die Subdia kone herab, damit sie imstande seien, die ihnel auferlegten, strengen Pflichten zu erfüllen.

389.4. Von den Dial?onen, welche die Mithelfe des Priesters bei der Darbringung des heilige! Messopfers sind, - "Comministri et cooperatore estis corporis et sanguinis Domini" - fordert da Pontifikale eine noch vollkommenere Reinhei1 "Estote nitidi, mundi, puri, casti." Und, da si, berechtigt sind, das Evangelium zu predigen, ver langt man von ihnen, mehr durch das Beispiel al mit dem Munde zu predigen: " Cu ra te, ut quibu Evangelium ore annuntz"atis vivis operibus exponatis. - Ihr Leben soll eine lebendige Übertragung de Evangeliums sein und dadurch schon eine bestän dige Nachahmung der Tugenden Jesu Christi. Deshalb richtet auch der Bischof in der Bitte, de Heilige Geist möge auf sie mit allen seinen Gaber besonders aber mit der des Starkmutes, herabkom men, folgendes schöne Gebet an Gott: " Abunde in eis totius forma virtutis, auctoritas modesta, /Judo constans, innocentice puritas et spiritualis observanti. disciplince. " - Heisst das nicht, für sie die Übunj der Tugenden, die zur Heiligkeit führen, erbitten Im Schlussgebet bittet der Bischof tatsächlich, si, möchten mit allen Tugenden geschmückt werder " virtutibus universis ... instructi. "

390. 5. Und doch verlangt die Kirche noch meh vom Priester. Weil er das hl. Messopfer darbring1 muss er zu gleicher Zeit Opfer und Opfere?' sein. E

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 291

wird es sein, opfert er seine Leidenschaften. " Agnoseite quod agitis. Im itaminz' quod tractatis, quatenus mortis dominicCli mysterium celebrantes, lllortificare membra vestra a vz"tiis et concupiscentiz"s omnibus procuretis." - Das aber geschieht durch beständige Erneuerung des Geistes der Heiligkeit. ,,11l1Zova in visceribus eorum spiritum sanctitatis. " Deshalb soll er Tag und Nacht das Gesetz Gottes betrachten, um es andere zu lehren und selbst es zu beobachten und so das Beispiel aller christlichen Tugenden zu geben. " Ut in lege tua die ac nocte meditantes, quod legerint, credant, quod crediderint, doceant. Quod docuerint, imitentur, justitiam, constantiam, misericordz'am, fortitudz'nem, ceterasque virtutes z'n se ostendant." - Da er sich auch für die Seelen opfern muss, soll er durch Hingabe die brüderliche Liebe üben. "Accipe vestem sacerdotalem per quam caritas intelligitur." -- Wie der hl. Paulus soll er sich gänzlich für die Seelen aufopfern." Omnia impenda11l et superimpendar ipse pro animis vestris." I Das geht auch aus den priesterlichen Verrichtungen hervor, auf die wir noch näher zu sprechen kommen.

391. So verlangt also das Pontifikale bei jedem neuen Schritt ins Priestertum mehr Tugend, mehr Liebe, mehr Opfer. Und beim Priestertum angelangt, fordert es die Heiligkeit, wie der hl. Thomas 2 sagt, damit der Priester würdig das hI. Opfer darbringen und die ihm anvertrauten Seelen heiligen könne. Dem Weihekandidaten bleibt es freigestellt, vorzutreten oder nicht. Empfängt er aber die Weihen, so nimmt er natürlich die vom Bischofe ausführlich geschilderten Bedingungen an, d. h. die Verpflichtung, nach Vollkommenheit zu streben, eine Ver-

, Il Kor;,ttlterbrief, XII, IS.

2 .. Ad idoneam executionem ordinum non sufficit bonitas qualiscumque, sed requiritur bonitas excelleos, ut sieut illi qui ordinem suscipiunt, super plebem constituuntur gradu ordinis, ita et superiores sint merito sanctitatis ... (S. THOMAS, Suppl., q. 35, a. I ad 3')

292 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, pflichtung, die, weit davon entfernt, durch die Ausübung des Priesteramtes geringer zu werden, im Gegenteil noch strenger wird, wie wir aus dem Folgenden beweisen werden.

IH. Das Wesen der priesterlichen Verrichtungen verlangt Heiligkeit.

392. Nach dem Zeugnisse des hI.Apostels Paulus ist der Priester der Vermittler zwischen den Menschen und Gott, zwischen der Erde und dem Himmel. Unter den Menschen auserkoren, um ihr Stellvertreter zu sein, soll er Gott wohlgefällig und von ihm berufen sein, um das Recht zu haben, vor ihm zu erscheinen, ihm die Huldigung der Menschen entgegenzubringen und Wohltaten dafür zu empfangen." Omnis namque Pontifex, ex JtOminibus assumptus, pro hominibus constituitur in iis qUa? sunt ad Deum, ut offerat dona et sacrificia pro peccatis ... Nec quisquam sumit sibi honorem, sed qui vocatur a .Deo tanquam Aaron. " I

Seine Amtsverrichtungen lassen sich auf zwei hauptsächliche zurückführen. Er ist im engsten Sinne des \tVortes Diener Gottes (le Religieux de Dieu) 2, beauftragt, ihn im Namen des ganzen christlichen Volkes zu lobpreisen. Er ist ein Retter, Heilig11lacher der Seelen, weil er die Aufgabe hat, mit J esus Christus an ihrer Heiligung und ihrem Heil mitzuwirken. Aus diesem zweifachen Grunde muss er ein Heiliger 3 sein und darum beständig nach Vollkommenheit trachten. Nie wird er nämlich wirklich so heilig sein wie seine Verrichtungen es erfordern.

, Hebräer, V, I, 4.

" Le Religieux de Dielt. Wir wollen damit nicht sagen, er sei Religiose im Sinne dffjenigen, die in einen Orden treten und drei Gelühde ablegen, sondern insofern als er amtlich heauftragt ist, Gott gegenÜber die Pflichten der Gottesverehrung zu erfüllen.

3 " Qui divinis mysteriis applicantur regiam dignitatem assequuntur et per/eeti in virtute esse debent. .. (S. TnoMAs, I V Sent., dis!. 24, q. 2.)

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 293

1. DER PRIESTER ALS DIENER GOTTES MUSS HEILIG SEIN.

393. Es ist Aufgabe des Priesters, Gott im N amen aller Geschöpfe, besonders aber des christlichen Volkes, ZTJ verherrlichen. Er ist also wirklich und zwar durch das von Jesus Christus eingesetzte Priestertum der Mann Gottes" pro hominibus constituitur in iis qUa? sunt ad Deum, ut offerat dona et sacrijicia. " - Dieser Pflicht kommt er besonders durch die Darbringung des hl. Messopfers und durch das Breviergebet nach. Alle seine Handlungen, selbst die gewöhnlichsten, können dazu beitragen, wie wir oben gesagt haben, geschehen sie, um Gott zu gefallen. Dieser Aufgabe ist aber nur ein heiligmässigel' Priester gewachsen, oder wenigstens einer, der den Vorsatz hat, heilig zu werden.

394. A) Welche Heiligkeit wird für das hl.lVlessopfer verlangt? Wollten die Priester des Alten Testamentes sich Gott nahen, so mussten sie, unter Androhung von Strafe, heilig sein. Es handelte sich hier freilich um die gesetzliche Heiligkeit vor allem. " Sacerdotes, qui accedunt ad Dominum, sanctijicentur, ne percutiat eos." I Um Weihrauch und die für den Altar bestimmten Brote opfern zu können, mussten sie heilig sein. " Incensum enim Domini et paues Dei sui offerunt, et ideo sancti erunt. 2.

Um wieviel heiliger, und zwar innerlich, müssen die sein, welche nicht nur Schatten und Sinnbilder, sondern das erhabenste Opfer und das unendlich heilige Schlachtopfer darbringen! Alles ist heilig bei diesem Opfer : Das Opfer und der eigentliclze Opferpriester, der kein anderer als Jesus Christus selbst ist, welcher, wie der hI. Paulus sagt, heilig, schuldlos, unbefleckt, gesondert von den Sündern und höher als die Himmel ist : Talis decebat

'Exod., XIX, 22. - 2 Le.'il., XXI, 6.

294 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT,

ut nobis esset pontifex, sanctus, innocens, impollutus, segregatus a peccatoribus et excelsior ca?lis factus. " 1 Die Kirche, in deren Auftrage der Priester das hI. Messopfer darbringt. ] esus hat sie mit seinem Blute geheiligt. "Seipsu1lZ tradidit pro ea ut illam sanctificaret... ut sit sancta et i1llmaculata" 2 Der Zweck, der in der Verherrlichung Gottes und in der Heiligung der Seelen besteht. Die Gebete und Zeremonien, die an das Opfer auf dem Kalvarienberge und an die Wirkungen der Heiligkeit erinnern, welches dasselbe hervorbrachte. Besonders die Kommunion, die uns mit der Quelle aller Heiligkeit vereinigt. Muss denn also nicht auch der Priester, der als Stellvertreter J esu Christi und der Kirche dieses erhabene Opfer darbringt, heilig sein? Wie könnte er sonst in würdiger Weise ] esus Christus vorstellen? Wie ein zweiter Christus sein, würde sein Leben nicht aus dem gewöhnlichen Rahmen hervortreten und er nicht nach höherer Vollkommenheit streben? Ist seine Seele voll lässlicher Sünden und er selbst unbekümmert um Fortschritt im geistlichen Leben, wie könnte er der Diener der unbefleckten Kirche sein? \Vie könnte er mit einem Herzen, das von Liebe und Opfer leer, Gott verherrlichen? Wie wäre er imstande, Seelen zu heiligen, hätte er nicht selbst das Verlangen, sich zu heiligen?

395. \iVie würde er es wagen können, an den heiligen Altar zu treten und die Messgebete zu verrichten, welche die reinsten GefÜhle der Busse, eies Glaubens, der Gottesverehrung, der Liebe und Entsagung atmen, während dieselben seiner Seele fremd sind? - Wie sollte er es wagen, sich mit dem giJ'ttlichen Schlaclttopfer zugleich aufzuopfern, " ill spiritu humilitatis et in animo contrito suscipiamur a te, Domine," 3 da doch diese Gefühle mit seinem Leben im vVielerspruch stehen? - vVie

, Hebr., VII, 26. - 2 Ep1teser, V, 25-27. - 3 Gebet beim Offertorium.

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 295

könnte er wagen, um Teilnahme an der Gottheit J esu zu bitten, "e/us dz'vinz'tatis esse consortes," solange sein Leben rein-menschlich ist? Wie die Erklärung von Schuldlosigkeit aussprechen : " Ego autem in innocentia 11Zea ingressus sum, " wenn er sich nicht die geringste Mühe gibt, sich vom Staube tausenderlei freiwilliger, lässlicher Sünden zu reinigen? Wie darf man wagen, das Sanctus zu beten, in welchem man die Heiligkeit Gottes feierlich verkündet, wie darf man zu konsekrieren wagen, da man sich dabei J esus, der Urquelle der Heiligkeit gleich stellt, wenn man sich keine Mühe gibt, sich mit ihm und durch ihn zu heiligen? Wie das Vaterunser beten, ohne sich dabei zu erinnern, dass wir vollkommen wie unser himmlischer Vater sein sollen? Und das Agnus Dei, ohne ein Herz voll Zerknirschung und Demut zu hahen? Und erst die herrlichen Vorbereitungsgebete für die hI. Kommunion : "Fac me tuis sem per in/leerere mandatis et a te nunqua11l separari permittas, " wenn das Herz fern von Gott, fern von Jesus ist? Wie könnte man sich täglich mit dem Allerheiligsten vereinig"en, ohne den aufrichtigen \Vunsch, an dieser Heiligkeit teilzunehmen? Sich täglich wenigstens einen Schritt dieser Heiligkeit zu nähern? Wäre das sonst nicht ein schreiender Widerspruch, ein Mangel an Ehrlichkeit, eine Herausforderung, ein Missbrauch der Gnade, eine Treulosigkeit dem Berufe gegenüber? Man betrachte das fünfte Kapitel eies vierten Buches der Nachfolge Christi unel wende es auf sich an : "DE DIGNITATE SACRAMENTI ET STATU SACERDOTALI. "-" Si haberes angelicam puritatem et S. J. Baptista: sanctitatem, non esses dzg'nus IIOC sacramentum accipere nec tradare ... Non alleviasti onus tUU7Jl, sed arctiorijam alligatus es vinculo disdplz'nce et ad majorem teneris peJj'ectionem sanctitatis. "

396. B) Was wir von der hI. Messe sagten, kann man in gewissem Sinne auch auf die Verrichtung

296 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, des Brevierg-ebetes anwenden. Im Namen der J(irclze, in Vereinigung mit Jesus, dem grossen Diener Gottes (le grand l'eligieux de Dieu) im wahren Sinne des V/ortes, und für das ganze clwistliclte Voll? erscheinen wir sieben mal am Tage vor Gott, um ihn anzubeten, ihm zu danken und von ihm zahlreiche Gnaden zu erbitten, deren die Seelen bedürfen. Beten wir aber nur mit den Lippen und nicht mit dem Herzen, so gilt uns mit Recht der V orwurf, den Gott den Juden machte : " Dieses Volk ehrt mich zwar mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit von mir: ", ,,/Jopulus flic labiis 1I1e honorat, cor autem eorum longe est a me." Und werden die auf solche Weise erbetenen Gnaden in reichlichem Masse gewährt werden?

397. Müssen wir nicht ebenso, um aus unseren gewöhnlichen Handlungen gottwoMgefällig-e Opfer zu machen, diese im Geiste der Liebe und des Opfers verrichten? (N. 309). - Auf welche Seite man sich auch immer wenden mag, die Schlussfolgerung bleibt dieselbe: Als Diener Gottes muss der Priester nach Heiligkeit streben.

Dieselbe Verpflichtung hat er auch, will er Seelen retten.

2. KEIN PRIESTER KANN SEE;'LEN RETTEN, OHNE NACH HEILIGKEIT ZU STR~~BEN. 2

398. A) Seelen retten und heiligen, ist Standespflicht des Priesters. J esus wählte seine Apostel aus, um "Merzscllenjiscller" aus ihnen zu machen. " Facia7ll vosjieripiscatores Izo1llinum." 3 Sie sollen in sich selbst und in anderen reiche FrÜchte des Heils hervorbringen. " Non vos me elegistis, sed ego elegi vos, ut eatis et fructum afferatis et fructus vester maneat. "4 - Zu diesem Zwecke sollen sie das

, l]fatllt., xv, 8; Isa., XXIX, I3.

2 Lies das Buch von DOM CHAUTARD, "L 'dme de tout apostolat. 3 Matt"-, IV, I9. -4Jolt., XV. 16.

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 297

Evangelium predigen, die Sakramente spenden, ein gutes Beispiel geben und eifrig dem Gebete obliegen.

Nun ist es aber ein Glaubenssatz, dass die Gnade Gottes die Seelen bekehrt und heiligt, wir aber sind nur Werkzeuge, deren Gott sich bedient. Nur insofern als diese mit der Hauptursache vereinigt sind, arbeiten sie erfolgreich. "lnstrumentum CU11Z Deo conjunctum. " Das lehrt der hl. Paulus. " Ich habe gepflanzt, Apollo hat begossen, aber Gott hat das Gedeihen gegeben. Daher ist weder der etwas, welcher pflanzt, noch der, welcher begiesst, sondern der das Gedeihen gibt, Gott. Ego plantavi, Apollo rigavit, sed Deus incrementum dedit. ltaque neque qui plantat est aliquid, neque qui rigat, sed qui incrementum dat, Deus.' Ausserdem ist es sicher, dass diese Gnade besonders auf zweifache Art erlangt wird. Durch Gebet und Verdienst. In beiden Fällen erlangen wir umso mehr Gnaden, je heiliger und' eifriger wir sind und je inniger wir in Vereinigung mit Jesus leben (N. 237). Besteht also unsere Standespflicht in der Heiligung der Seelen, so bedeutet das soviel als: Wir müssen erst uns selbst heiligen. " Pro eis ego sanctijico 11le ipsum ut sint et ipsi sanctificati in veritate. " 2

399. B) Wir kommen übrigens zu demselben Schlusse, ziehen wir die hauptsächlichen Mittel des Apostolates in Betracht: Wort, Tat, Beispiel und Gebet.

a) Das Wort. Es wirkt nur dann heilskräftig, wenn wir es im Namen und durch die Kraft Gottes aussprechen. " Tanquam Deo exhortante per nos." 3 Das trifft bei einem eifrig-en Priester zu. Bevor er spricht, betet er, damit die Gnade sein Wort belebe. In der Rede sucht er nicht zu gefallen, sondern lediglich zu unterweisen, Gutes zu tun, zu überzeugen und hinzureissen. Da sein Herz eng mit

, I Korinther, III, 6-7. - 2 loh. XVII, I9. - 3 11 Korinther, V, 20.

298 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, dem des Heilandes vereint is.~, liegt in seiner Stimme ein gewisses Etwas, eine Uberzeugungskraft, die nicht ohne Wirkung auf die Zuhörer bleibt. Sich selbst völlig vergessend, zieht er den Heiligen Geist auf sielt herab. Die Seelen werden von der Gnade berührt, bekehren oder heiligen sich. - Ein minder eifriger Priester, im Gegenteil, betet nur mit den Lippen, und, da er sich selbst sucht, arbeitet er vergeblich und ist oft nichts als tönendes Erz oder eine klingende Schelle. "L'Es sonans aut cymbalullZ tinniens. "1

400. b) Das gute Bez'spiel kann nur ein Priester geben, der selbst um Fortschritt im geistlichen Leben besorgt ist. Nur er allein kann zuversichtlich wie der hl. Paulus die Gläubigen ermahnen, ihn nachzuahmen, wie er selbst sich MÜhe gibt, Christus nachzufolgen. ,,111litatores mei es tote sieut et ego Christi." 2 Nehmen die Gläubigen seine Frömmigkeit, seine Güte, seine Armut und ~btötung wahr, so sagen sie sich: "Dieser ist ein Uberzeugter, ja, ein Heiliger!" Sie achten ihn und fühlen sich angetrieben, ihn nachzuahmen: Verba 11Zovent, exempla trahunt. Ein ganz mittelmässiger Priester kann wohl für einen braven Menschen gehalten werden, aber man wird sagen: " Er betreibt sein Handwerk, wie wir das unsrige." Seine amtliche Tätigkeit wird wenige oder gar keine Früchte tragen.

401. c) Was nun das Gebet betrifft, welches das wirksamste Mittel des Apostolates ist und stets bleiben wird, worin liegt der Unterschied diesbezüglich zwischen einem heiligmässigen und einem gewöhnlichen Priester? Der erstere hat die Gewohnheit, vz'elund beständig zu beten, da seine aus Liebe zu Gott verrichteten Handlungen, im Grunde genommen, Gebete sind. Er vollbringt nichts, erteilt keinen einzigen Rat, ohne gleichzeitig sich zu ver-

, I Korint/ter, XIII, I. - 2 I K01-i71ther, IV, I6.

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 299

demütigen und Gott zu bitten, ihm mit seiner Gnade zu Hilfe zu kommen. Gott aber schenkt sie ihm reichlich, denn "humilz'bus autem dat gratiam. "1 Seine Arbeit ist mit Früchten gesegnet. Der gewöhnliche Priester betet wenig und schlecht. Schon dadurch wird seine Tätigkeit lahm gelegt.

Wer also Seelsorge erfolgreich ausüben will, muss sich bemühen, täglich Fortschritte zu machen :

Die Heiligkeit ist die Seele jeglichen, apostolischen Wirkens.

SCHLUSSFOLGERUNG.

402. Aus allen diesen Dokumenten geht hervor, der Priester müsse noch vor dem Empfange der Priesterweihe einen gewissen Grad von Heiligkeit sich erworben haben und als Priester das Streben nach höherer Vollkommenheit fortsetzen.

I) Vor dem Empfange der Priesterweihe muss ein gewisser Grad von Vollkommenheit erworben worden sein. Das ergibt sich aus allen oben erwähnten Texten des Pontifikale. Denn schon von dem, der die erste Tonsur erhält, verlangt man Losschälung von der \iVelt und von sich selbst, um sich um so enger an Gott und J esus Christus anzuschliessen. Schreibt die Kirche gewisse Zeiträume bei den verschiedenen 'vVeihen vor, so geschieht es, um dem Weihekandidaten Zeit zu lassen, sich die verschiedenen Tugenden, die für die einzelnen Weihen erforderlich sind, anzueignen. Das sagt klar und deutlich das Pontifikale 2 : " Atque ita de gradu in gradu11Z ascendant, ut in eis, cum eetate, vita: meritum et doctrz'na major accrescat." - Deshalb verlangt man vom Weihekandidaten erprobte Tugend. " Quorum probata virtus senectus sit. " Diese aber erwirbt man sich nur durch al}dauernde Erfüllung der Standespflichten, durch Ubung der Tugenden, welche

, Jak .• IV. 6. - - 2 De ol'dinibus confel'endis.

300 VIERTES KAPITEL. - VON DER PFLICHT, der Bischof dem Weihekandidaten bei jeder einzelnen Weihe ausdrÜcklich ans Herz legt. Diese Tugend muss so fest sein, dass sie derjenigen bejahrter Männer (senectus sit) gleicht, die durch lange und mÜhevolle Anstrengungen die ihrem Alter angemessene Reife und Ausdauer erworben haben.

403. Es wird fÜr erfolgreiche AusÜbung der priesterlichen Verrichtungen nicht etwa irgendeine Tugend verlangt, sondern eine ganz hervorragende, wie der hl. Thomas I sagt. " Ad idoneam executionem ordinum non sufficit bonitas qualiscumque, sed requiritur bonitas excellens." Wir haben in der Tat festgestellt, das f,ontijikale verlangt von den Weihekandidaten die Ubung eines lebendigen und tätigen Glaubens, grossen Gottvertrauens, einer bis zur Hingabe sich steigernden Liebe zu Gott und dem Nächsten, ohne zu reden von den sittlichen Tugenden' der Klugheit, Gerechtigkeit, Gottesverehrung, Demut, Enthaltsamkeit, des Starkmutes und der Standhaftigkeit. Und alle diese Tugenden sollen in einem höheren Grade geÜbt werden, denn der Bischof ruft auf die Weihekandidaten die sieben Gaben des Heiligen Geistes herab, welche die Tugenden vervollständigen und ermöglichen sollen, dieselben auf vollkommene Art zu Üben. Es genügt also nicht, einer von jenen Anfängern zu sein, die noch in Gefahr schweben, TodsÜnden zu begehen. Man muss seine Seele von Sünden und Neigungen gereinigt und sich in den Tugenden gefestigt haben, welche den Erleuchtungsweg bilden, und nach einer immer innigeren Vereinigung mit Gott trachten.

404. 2) Ist man erst Priester geworden, so darf man nicht Halt machen, sondern muss im Gegenteil von Tag zu Tag an Tugend zunehmen. Das lehrt die Naclifolge Christi. 2 " Non alleviasti onus tuum,

• Supptem., q. 35, a. I, ad 3. - 2 4 Buch, 5 Kap.

NACH VOLLKOMMENHEIT ZU STREBEN. 301

sed arctiorijam alligatus es vinculo disciplince, et ad majorem tene1'is perfectionem sanctitatis. "Deine BÜrde ist nicht leichter geworden. Es ist dir vielmehr eine neue Pflicht zu heiligerem Wandel auferlegt worden. Der Priester soll mit allen Tugenden geschmückt sein und soll seinen Mitmenschen als V orbild heiligen Lebens leuchten. Ganz abgesehen davon, dass nicht vorwärts schreiten, rückwärts gehen bedeutet (N. 358 u. 359), liegt, wie wir bereits bei der Abhandlung über die priesterlichen Verrichtungen erwähnt haben, eine solche Verpflichtung, Christus nachzuahmen und den Nächsten zu erbauen, vor, dass wir trotz aller unserer Anstrengungen immer noch nicht das vom Evangelium und dem Pontifikale entworfene Ideal erreichen. Wir haben uns also jeden Tag zu sagen, es bleibe uns noch viel zu tun Übrig, um es wirklich zu erreichen. " Grandis enim tibi restat via. " I

405. Ausserdem leben wir inmitten der \i\Telt und ihren Gefahren, während die Ordensleute durch ihre Regeln und die Vorteile des gemeinschaftlichen Lebens geschÜtzt sind. Sind sie aber verpflichtet, beständig nach Vollkommenheit zu trachten, sind wir es dann nicht ebenso, ja umso mehr? Haben wir nicht, wie sie, äusserliche Mauern, um unsere Tugend zu schÜtzen mÜssen wir. darum nicht fÜr grössere, innere Stärke sorgen? Diese aber kann man nur durch ein beständiges, immer wieder erneuertes Streben nach vollkommenerem Leben erlangen. - Die Welt, mit der wir notwendigerweise in BerÜhrung kommen, versucht unaufhörlich, unser Ideal niederzureissen. Aus diesem Grunde müssen wir es uns durch Erneuerung des priesterlichen Geistes immer wieder vor Augen halten.

Dieser Fortschritt ist um so wichtiger, als vom Grade unserer Heiligkeit das Heil und die Hei-

'llI Reg. XIX, 7.

302

VIERTES KAPITEL.

ligung der uns anvertrauten Seelen abhängt. Nach den allgemeinen Gesetzen übernatürlicher Vorsehung wirkt ein Priester um so segensreicher, je heiliger er ist, wie wir es bewiesen haben (N. 398). Würde es unsrer Aufgabe, die Seelen zu heiligen, entsprechen, mitten auf dem Wege oder gar schon am Anfange desselben, der zur Vollkommenheit führt, stehen zu bleiben, während so viele in Gefahr schwebende Seelen von allen Seiten uns zurufen:

"Hilf uns"? "Transiens... adJuva nos"? I Auf diesen Notschrei gibt es nur eine Antwort, die des Priesters würdig ist. Jesus selbst gab sie einst. " Ich heilige mich und opfere mich, damit auch sie in der Wahrheit geheiligt seien." 2

406. Wir befassen uns hier nicht mit der Frage, ob der Priester, der zu einer grösseren inneren V ollkommenheit, als der einfache Ordensmann verpflichtet ist, im Stande der Vollkommenheit sei. Das nämlich ist eine Frage des Kirchenrechts. Sie wird allgemein verneint, weil der Priester, selbst als Seelsorger, nicht die Beständigkeit hat, welche der Stand der Vollkommenheit nach dem Kirchenrecht fordert.

Was nun den Priester anbetrifft, der zugleich

Ordensmann ist, so hat er natürlich alle Verpflichtungen des Priestertums und ausser diesen noch die seiner Gelübde und er findet in seiner Regel reichlichere Hilfe, um ein Heiliger zu werden. Er soll aber nicht vergessen, sein Priestertum verpflichtet ihn zu einer grösseren Vollkommenheit als der des Ordensstandes.

So sollen W elt- und Ordensklerus sich gegenseitig achten und unterstützen, ohne jegliche Eifersucht, weil beide dasselbe Ziel verfolgen, nämlich, Gott zu verherrlichen, indem sie möglichst viele Seelen für ihn gewinnen und aus den Tugenden und Erfolgen,

1 Apostelgesch., XVI, 9. -2Joh., XVII, 19·

FÜNFTES KAPITEL.

303

die sie an ihren Mitbrüdern wahrnehmen, Nutzen ziehen, um sich in edlem Wetteifer anzuspornen. " Consideremus invice1l1 in provocationem caritatis et bonoru1I1 operum. " I

FÜNFTES KAPITEL.

Von den allgemeinen Mitteln,

um zur Vollkommenheit zu gelangen.

407. Nachdem wir die innerste Überzeugung gewonnen haben, nach Vollkommenheit streben zu mÜssen, bleibt uns noch übrig, uns nach den Mitteln umzusehen, die uns dem vorgesteckten Ziele näher bringen, und dieselben anzuwenden. Es ist hier von allgemeinen Mitteln die Rede, d. h. für alle Seelen geeignet, die Fortschritte machen wollen. Im zweiten Abschnitte werden wir von besonderett Mitteln sprechen, die den verschiedenen Stufen des geistlichen Lebens entsprechen.

Diese Mittel sind teils innerlich, teils äusserlich.

Die ersten sind Verfassungen oder Akte der Seele selbst, die sie stufenweise zu Gott erheben. Die letzteren bestehen ausser diesen Akten in äusseren Hilfsmitteln, welche der Seele bei diesem f.>,ufstiege behilflich sind. Es ist wichtig, eine kurze Ubersicht darÜber zu geben.

408.1. Von den inneren sind besonders vier hervorzuheben. 1. Das Verlangen nach Vollkommenheit, welches der erste Schritt zu ihr ist und uns die notwendige Begeisterung verleiht, um die Hindernisse zu Überwinden.

2. Die Erkenntnis Gottes und seinerselbst. Da es sich darum handelt, die Seele mit Gott zu vereinen, so wird dieses um so leichter sein, je besser man

'Heb,.., X, 24.

304 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

beide kennt. "Noverim te, Domine, ut amem te, noverim me, ut despiciam me.

3. Die Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen, welche durch Unterwerfung unseres Willens demjenigen Gottes das sicherste Kennzeichen der Liebe und das wirksamste Mittel ist, uns mit der Quelle aller Vollkommenheit zu vereinigen: Unum velle, unum nolle.

4. Das Gebet, im weitesten Sinne, als Anbetung, Bitte, betrachtendes oder mündliches Gebet, privates oder öffentliches. Ascensio mentis ad Deum. Durch das Gebet vereinigen wir mit Gott alle unsere inneren Fähigkeiten, unser Gedächtnis, unsere Phantasie, unseren Verstand, unseren Willen und selbst unsere äusseren Handlungen, insofern als sie der Ausdruck unseres Gebetsgeistes sind.

11. Auch die äusseren Mittel können auf vier hauptsächliche zurückgeführt werden.

1. Die Führung. Wie nämlich Gott eine sichtbare Obrigkeit für die äussere Leitung der Kirche eingesetzt hat, so war es auch sein Wille, dass die Seelen im innerlichen Leben von einem erfahrenen, geistlichen Führer geleitet werden, durch den sie den Klippen ausweichen lernen und welcher ihren Eifer anregt und lenkt.

2. Eine Lebensordnung, welche vom FÜhrer genehmigt, auf die Seelen beständigen Einfluss ausübt.

3. Geistliche Vorträge, Unterweisungen oder Lesungen, die, wenn sie gut ausgewählt sind, uns mit der Lehre und den Beispielen der Heiligen bekannt machen und uns antreiben, sie nachzuahmen.

4. Die H eiligung der sozialen oder g'esellschaftlichen Beziehungen mit den Verwandten, Freunden oder der geschäftlichen. Dadurch .. wird es uns möglich, nicht nur unsere frommen Ubungen, son-

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 305 dern auch alle unsere Handlungen, besonders aber unsere Standes pflichten auf Gott zu richten.

{Verlangen nach Vollkommenheit. 1. Innere Kenntnis Gottes und seinerselbst.

Mitte!. Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen.

Gebet.

11. {FÜhrUng.

Aussere Lebensordnung.

Mittel Geist!. Vorträge und Lesungen.

. Heiligung der sozialen Beziehungen.

I. ABSCHNITT. VON DEN INNEREN MITTELN, UM ZUR VOLLKOl\IMENHEIT ZU GELANGEN.

§ 1. Das Verlangen nach Vollkommenheit 1

409. Der erste Schritt zur Vollkommenheit ist der aufrichtige, heisse und beständige Wunsch, sie zu besitzen. Um dieses gut zu verstehen, wollen wir das Wesen desselben, seine Notwendigkeit, seine Wirkung, seine Eigenschaften und die Mittel, ihn lebendig in uns zu erhalten, näher betrachten.

1. Das Wesen dieses Verlangens.

410. 1. Der \i\Tunsch, im allgemeinen, ist eine Bewegung der Seele zu einem abwesenden Gut. Er unterscheidet sich somit von der Freude, welche in der Befriedigung besteht, ein gegenwärtiges Gut zu besitzen. Es gibt zwei Arten von Verlangen. Das sintlliche oder die leidenschaftliche Sehnsucht nach dem abwesenden, sinnlichen Gute. Das von der Vernunft eingegebene Verlangen, welches in einem

'S. FR. DE SALES, Am. de Dieu, 12 B, 2-3 Kap. - ALVAREZ DE PAZ, De vita spirit., t. I, 1. V. - RODRIGUEZ, Prat. de ta perf. LE GAUDI ER, lJe perfectione vita; spirituatis, P. II, seCL Ia. J. ARINTERO, Du desir de ta perftction, Vie spirituelle, Fevr. 1920, S.296.

306 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

Willensakt besteht, der sich mit Begeisterung auf ein geistliches Gut bezieht. - Zuweilen hat dieses Verlangen eine Rückwirkung auf das Empfindungsvermögen, und so mischt sich das Gefühl hinein. In der übernatürlichen Ordnung werden unsere guten Wünsche von der göttlichen Gnade beeinflusst, wie wir oben bereits gesagt haben.

411. 2. Man kann also das Verlangen nach Vollkommenheit auf folgende Weise begrifflich bestimmen : Ein Akt des vVillens, weIdtel' unter dem Ez'nflusse der Gnade unaufhiirlich nach geistlichem Fortschritte verlangt. Dieser Akt ist zuweilen von Bewegungen, von frommen Gefühlen begleitet, die den Wunsch steigern. I Notwendig ist letzteres nicht.

412. 3. Dieses Verlangen geht aus dem von der Gnade und dem vVillett gemeinschaftlichen Einwirken hervor. Gott liebt uns von Ewigkeit her und verlangt schon aus diesem Grunde nach Vereinigung mit uns. "Et in caritate perpetua dz'lexi te. Ideo attraxi te, mt·serans." 2 Mit rastloser Liebe

, sucht er uns auf, als könnte er ohne uns nicht glücklich sein. Andererseits fÜhlt unsere, durch das Licht des Glaubens erleuchtete Seele, so oft sie sich selbst betrachtet, eine furchtbare Leere, die durch nichts ausgefüllt werden kann, durch nichts anderes als durch etwas Unendliches, durch Gott selbst." Fecisti nos ad te, Deus, et inquietum est co1' nos trum donec requz'escat in te. " 3 Sie lechzt nach Gott, nach göttlicher Liebe, nach Vollkommenheit, sie dürstet danach wie der Hirsch nach der Quelle lebendigen Wassers. " Quemadmodum desiderat cervus adfontes aquarum, ita desiderat anima mea post te ... Sitivit in te anima

'S. THOMAS, Ia Ir"', q. 30, a. I, ad I. "Appetitus sapienti", vel aliorulll spiritualium bonorul11, interdum concupiscentia nominatur. .. proprer intensionem appetitus superioris partis, ex quo fit redundantia in appetitum inferiorem, ut simui etiarn ipse inferior appetitus SUQ modo tendat in spirituale bonum consequens appetitum superiorem ... sient dicitur : Cor meum et caro nlea exsultaverunt in Deum vivum. "

2 Jeremias, XXXI, 3. - 3 S. AUGUST. Confess. l. I, n. 1.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 307 mea " ... I Da jedoch dieser 'Wunsch hienieden nie gestillt wird, weil wir immer noch Fortschritte zu machen haben bezüglich der Vereinigung mit Gott, so folgt daraus, dass dieses Verlangen, falls wir keine Hindernisse in den Weg legen, immer grösser werden wird.

413. 4. Leider suchen sehr viele Hindernisse dieses Verlangen zu ersticken oder wenigstens abzuschwächen : Da ist zunächst die dreifache Begierlichkeit, die wir bereits geschildert haben. (N. 193). Ferner die Angst, Schwierigkeiten überwinden, sich immer wieder von neuem anstrengen zu müssen, um der Gnade zu entsprechen und vorwärts zu kommen. Man muss sich also von der Notwendigkeit dieses Verlangens überzeugen und die nötigen Mittel anwenden, um es wieder wachzurufen.

11. Die Notwendigkeit und Wirksamkeit des Verlangens.

414. 1. Notwendigkeit. Das Verlangen ist der erste Schritt zur Vollkommenheit, die Bedingung, "sille qua non, " um sie zu erreichen. Der Weg, der zur Vollkommenheit führt, ist steil. Er setzt energische und andauernde Anstrengung voraus. Ohne Opfer, ohne Kampf gegen die dreifache Begierlichkeit und gegen die Neigung zur Bequemlichkeit kann man nämlich in der Liebe zu Gott keinen Fortschritt machen, wie wir schon sagten. Nun aber betritt man nicht erst einen schwierigen, abschüssigen Weg, wenn man nicht sehnlichst wünscht, auf ihm zum Ziele zu gelangen. Ja, hätte man ihn sogar schon beschritten, so würde man ihn schleunigst wieder verlassen, wäre man nicht durch die Begeisterung der Seele für die Vollkommenheit in seinen Anstrengungen kräftig unterstützt.

,Ps. XLI, 2; LXTl, 2.

308 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

A) Darum geht alles in der Heiligen Schrift darauf hinaus, in uns dieses Verlangen wachzurufen. Sowohl in den Evangelien, wie in den Episteln ermahnt man uns beständig zur Vollkommenheit. Wir bewiesen es, als die Rede war von der Pflicht, nach Vollkommenheit zu streben. Die Schriftstellen, welche diese Notwendigkeit darlegen, bezwecken, unser Verlangen nach Fortschritt anzuregen. Stellt man uns die Nachahmung der göttlichen Tugenden als .f deal und J esus selbst als Vorbild vor Augen, erzählt man uns immer wieder von seinen Tugenden und drängt man uns dazu, ihn nachzuahmen, geschieht das nicht alles, um in uns das Verlangen nach Vollkommenheit zu erwecken?

415. B) Die Liturgie macht das Gleiche. Sie stellt uns im Laufe des Kirchenjahres die verschiedenen Lebensabschnitte des Heilandes vor Augen. Sie legt uns inbrünstige Gebete auf die Lippen, und zwar während der Adventszeit, damit das Reich J esu Christi in die Seelen gelange, während der Weihnachtszeit und der Erscheinung des Herrn, damit dieses Reich sich mehr und mehr in unseren Herzen ausbreite. In der Fastenzeit lässt sie uns um den Geist der Busse flehen und uns auf diese Weise auf die Gnaden des Osterfestes vorbereiten. Zur Osterzeit lehrt sie uns, um innige Vereinigung mit Gott bitten. Zu Pfingsten um die Gaben des Heiligen Geistes. So sucht sie während des ganzen liturgischen Jahres, bald in dieser, bald in jener Form, unser Verlangen nach Fortschritt im geistlichen Leben zu steigern.'

416. C) Die E1fahrung, die man sich durch das Lesen der Biographieen von Heiligen oder durch die Seelen führung erwirbt, zeigt, dass die Seelen ohne das immer wieder und wieder erneuerte Verlangen nach Vollkommenheit auf den geistlichen Wegen nicht vorwärtskommen. Das sagt auch die

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 309

hl. Therese: I "Lassen wir ja nicht von unseren Wünschen ab, das ist sehr wichtig. Seien wir fest überzeugt, mit Gottes Hilfe und unsere; Mühe werden auch wir allmählich das erreichen, was die Heiligen mit göttlichem Beistande erlangten. Hätten sie niemals ähnliche Wünsche gehabt und dieselben nicht nach und nach verwirklicht, nie würden sie eine solche Höhe erreicht haben. Ach, wie wichtig ist es doch im geistlichen Leben, sich für grosse Dinge zu begeistern! " - Die Heilige selbst ist ein treffliches Beispiel dafür. Solange sie nicht den Entschluss gefasst hatte, alle Fesseln, die ihren Flug auf die Gipfel der Vollkommenheit behinderten, zu brechen, schleppte sie sich mühselig in der Mittelmässigkeit fort. Vom Tage an, an dem sie sich entschloss, sich Gott gänzlich hinzugeben, machte sie wunderbare Fortschritte.

417. Die Ausübung der Seelen führung bestätigt die Lehre der Heiligen. Begegnet man edlen Seelen, die aufrichtig und standhaft im geistlichen Leben Fortschritte zu machen wünschen, so zeigen sie für die Mittel, die man ihnen anweist, um zur Vollkommenheit zu gelangen, grosses Verständnis und machen von denselben fleissigen Gebrauch. Fehlt aber dieses Verlangen oder ist es nur sehr schwach, so wird man bald gewahr, dass selbst die dringendsten Ermahnungen keinen oder nur wenig Erfolg erzielen. Die Nahrung der Seele, wie die des Leibes, bekommt nur denen, die nach ihr hungern oder dürsten. Gott überschüttet jene mit seinen Gnaden, die nach ihnen sehnlichst verlangen, verteilt sie aber nur spärlich an die, welche sich nicht darum kümmern. "Esurientes implevit bonis et divites dimisit inanes." 2

Das geht auch aus der Wirksamkeit des Verlangens hervor.

, Setbstbiograpllie, 13. Kap. - 2 Lukas, I, 3.

310 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

418. 2. Die Wirksamkeit des Verlangens nach Vollkommenheit.

Dieses Verlangen ist eine wirkliche Kraft, die uns im Streben nach einem vollkommeneren Leben vorwärts bringt.

a) Die Psychologie beweist nämlich, dass der Gedanke, wenn er tief ist, den entsprechenden Akt hervorzurufen bestrebt ist. Das aber trifft umsomehr zu, wenn der Gedanke vom Verlangen begleitet wird. Denn das Verlangen ist schon ein Akt des Willens, der unsere ausübenden Fähigkeiten in Tätigkeit setzt. Nach Vollkommenheit verlangen, heisst also, nach derselben streben. Nach ihr streben bedeutet den Beginn von Verwirklichung. Verlangen, Gott zu lieben, heisst schon, ihn lieben, denn Gott sieht bis in die Tiefe des Herzens und berücksichtigt alle unsere Absichten. Deshalb das inhaltsschwere \'Vort Pascal's : Du würdest mich nicht suchen, hättest du mich nicht gefunden." - Nun aber ist verlangen soviel wie suchen. Wer aber sucht, der findet. " Omnis enim qui queerit, invenit. " I

419. b) Ausserdem ist in der übernatürlichen Ordnung das Verlangen ein Gebet, eine Erhebung der Seele zu Gott, eine Art geistliche Gemeinschaft mit ihm, die unsere Seele zu ihm emporhebt und ihn gleichsam zu uns hinabzieht. Gott aber erhört gern unsere Gebete, besonders, wenn sie unsere Heiligung bezwecken, weil diese ja der sehnlichste Wunsch seines Herzens ist : "Heec est enim voluntas Dei, sallctijicatio vestra. "2 So kommt es auch, dass Gott im Alten Testament drängt, die Weisheit, d. i. die Tugend zu suchen und ihr zu folgen, dass er ferner die herrlichsten Versprechen gibt und die Tugend denen freigebig verleiht, die sich nach ihr sehnen. " Propter hoc optavi et datus est mihi sensus. Et invo-

'Matth .. VII, 8; I Thess., IV, 3. 2 I Thessal., IV, 3.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 311

cavi et venit in 1ne spzntus sapienti{e." I Und im Evangelium ladet uns J esus ein, an ihm unseren geistlichen Durst zu stillen:" Si quis sz'tit, veniat ad 11te et bibat. "2 Je grösser also unser Verlangen ist, desto reichlicher werden die Gnaden sein, denn die Quelle lebendigen Wassers ist unerschöpflich.

420. c) Endlich erweitert das Verlangen unsere Seele und macht sie dadurch für die göttlichen Eingebungen em pfänglicher. Von seiten Gottes ist die Fülle an Güte und Gnade so gross, dass unser Aufnahmsvermögen nie unzureichend wird. Je mehr wir also durch aufrichtiges und glühendes Verlangen unsere Seele erweitern, desto fähiger wird sie für die göttliche Gnadenfülle. "Os meum aperui et attraxi spiritum ... Dilata os tUUJlt et implebo illud." 3

III. Eigenschaften, welche das Verlangen naclt Vollkommenheit haben muss.

Um diese glücklichen Erfolge zu erzielen, muss der Wunsch nach Vollkommenheit ÜbernatÜrlich, vorherrschmd, fortschreitend und praktisch sein.

421. 1. Er muss sowohl seinem Beweggrunde, wie auch seinem Prim;ip nach ÜbernatÜrlich sein.

a) Seinem Beweggrunde nach, d. h. er muss sich auf Gründe stÜtzen, die der Glaube bietet und die wir schon erwähnt haben: Auf das Wesen und die Erhabenheit des christlichen Lebens sowie der Vollkommenheit. Auf die Ehre Gottes, die Erbauung des Nächsten, auf das Heil unserer Seelen

u. s. w.

b) Seinem Prinzip nach, d. h. er muss unter dem Einflusse der Gnade entstehen, die allein uns

, B. d. Weis/zeit, VII, 7, Spricllw., I, 20-33·

'loh., VII. 37. Nach dem Iil. Thomas macht das Verlangen gewisser. massen die Seele geeigneter, empfänglicher für das Ersehnte. (1, q. 12,

a. 6).

3 Ps. CXVIII, 131; LXXX, II.

312 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

erleuclztm kann, um diese BeweggrÜnde zu verstehen und zu verkosten und .~llein uns die nötige Kraft g~ben kann, um in Ubereinstimmung mit unserer Uberzeugung zu handeln. Weil die Gnade durch Gebet erlangt wird, müssen wir Gott inständig bitten, das Verlangen nach Vollkommenheit in uns zu vermehren.

422. 2. Das Verlangen muss vorherrschend sein.

Mit anderen vVorten : lebendiger als jeder andere Wunsch. Da nämlich die Vollkommenheit der verborgene Schatz, die kostbare Perle ist, die man um jeden Preis erkaufen muss, und weil mit jedem Grade christlicher Vollkommenheit ein Grad späterer Seligkeit, Anschauung Gottes und Liebe verbunden ist, muss man. sie mehr als jede andere Sache wünschen und suchen. " Qua:rite ergo primu1Il regnullZ Dei et justitiam ((jus. " I

423. 3. Beställdig und fortschreitend. Da die Vollkommenheit ein sehr mühsames Werk ist, welches Standhaftigkeit und Forstchritt verlangt, muss man fortwährend das Verlangen erneuern, immer vollkommener zu handeln. Deshalb ermahnt uns auch J esus, nicht rückwärts zu blicken, um den bereits zurückgelegten Weg zu überblicken und mit Zufriedenheit über die bereits geleisteten Anstrengungen Halt zu machen. "Nemo mittens manum ad aratrum et respiciens retro, aptus est regno Dei." 2 Wir müssen im Gegenteil, wie der hl. Paulus sagt, vorwärts blicken, um nach dem Wege zu schauen, den wir noch zurückzulegen haben. Unsere ganzen Kräfte müssen wir aufbieten, ähnlich dem Wettläufer, der den Arm vorstreckt, um besser das Ziel zu erreichen. " Qua: quidem retro sunt obliviscens, ad ea qua: sunt priora extendo meipsum, ad destinatum prosequar bravium superna: vocationis. " 3 Später, wie wir sehen werden, besteht der M. Augu-

, Matth., VI, 32. - 2 Lukas, IX, 62. - 3 Pililip., Ill, 14-

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 313 stz'nus auf dieser Wahrheit mit Nachdruck. Denn, sagt er, Halt machen, heisst, zurückgehen. Sich verspäten, um den zurückgelegten Weg zu überblicken, heisst, seinen Eifer verlieren. Stets bemüht sein, es immer noch besser zu machen, stets vorwärtsschreiten, ist das Losungswort für diejenigen, die nach Vollkommenheit streben. " Noli in via remanere, noli deviare ... Semper adde, sem per ambula, sem per

profice. " I •

Man denke also nicht an das Gute, das man

getan hat, sondern an das, was noch zu tun übrig bleibt. Man sehe nicht auf die, welche weniger Gutes leisten als wir, sondern auf die, welche uns übertreffen, auf die Eifrigen, die Heiligen und besonders auf den allergrössten Heiligen, auf J esus, unser eigentliches Vorbild. Je mehr man dann fortschreitet, desto entfernter fühlt man sich vom Ziele, eben gerade weil man deutlicher sieht, wie hoch das

Ziel ist. 2

Wir dürfen jedoch in unseren Wünschen nicht

zu übereilt, fieberhaft und besonders nicht anmassend sein. Allzu heftige Anstrengungen sind von kurzer Dauer. Tollkühne sind nach den ersten Misserfolgen sogleich entmutigt. Was uns vorwärts bringt, ist <,;~n ruhiges, ü berlegtes Verlangen, das auf innerster Uberzeugung beruht, von der Allmacht der Gnade unterstÜtzt und oft von uns erneuert wird.

424. 4. Dann wird der Wunsch praktisch und bleibt nicht ohne Wirkung, weil er sich nicht auf

, S. AUGUSTTNus, Sermo 169, N. 18.

2 Das hatte PSTCHART in .. Les Voix qui crient dans le desert" ver-

standen. als er vor seiner endgiltigen Bekehrung in der Wüste von t.'fauritanien vom Heiligen sagte, so wie er sich ihn vorstellte: Bis zu seinem Tode bewahrt er die Unrnhe der Vollkommenheit. Jene Unzufriedenheit mit sich selbst, die nichts anderes ist, als das Gefühl seiner wirklichen Ohnmacht. Je grössere Fortschritte er in seinem sittl. Leben macht. desto grösser wird die Kluft zwischen ibm und Gott. Je mehr er sich der Vollkommenheit nähert, desto deutlicher scheint sie vor ihm zu fliehen. So ist denn auch sein Leben ein beständiges Zurückprallen. eine andauernde Bewegung, ein glorreicher Aufstieg und wie eine Sturmleiter des Himmels, auf der man nicht rasten darf.

314 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

ein Ideal bezieht, das unmöglich verwirklicht werden kann, sondern auf die lvIittel, die uns zur VerfÜgung stehen. Seelen gibt es, die zwar ein herrliches Ideal verfolgen, welches sich aber nicht verwirklichen lässt. Seelen, die nach hoher Vollkommenheit streben, dabei aber die Mittel ausser Acht lassen, die zu ihr führen. Man kann hier eine zweifache Gefahr feststellen: Man kann glauben, die Vollkommenheit bereits erreicht zu haben, da man von ihr träumt, und darauf sich etwas einbilden. Man kann Halt machen und - dabei zu Grunde gehen. Man soll sich im Gegenteil an das Sprichwort erinnern : " Wer den Zweck wÜnscht, will auch die Mittel. " Die Treue im Kleinen bÜrgt für Treue im Grossen. Deshalb ist es notwendig, sofort seinen Wunsch nach Vollkommenheit bei der augenblicklichen Handlung, möge sie auch noch so unbedeutend sein, zum Ausdruck zu bringen "Qui jidelz's est in lIlinimo et in majori jidelis est." I Nach Vollkommenheit streben wollen und die Anstrengung auf morgen verschieben, sich bei besonderen Gelegenheiten heiligen wollen und die kleinen Übersehen, ist eine doppelte Täuschung. Sie lässt einen Mangel an Aufrichtigkeit erkennen oder aber wenigstens eine psychologische Unwissenheit. \Vohl ist ein holzes Ideal notwendig, aber auch unmittelbare und fortschreitende Verwirklielzungen desselben dürfen nicht fehlen.

IV. Mittel, um dieses Verlang'e7l nacll VollkoJ/l1lle7l1zei! in uns wadlzurufen.

425. l. Da das Verlangen nach Vollkommenheit auf ÜbernatÜrlichen GrÜnden beruht, so kann man dasselbe namentlich durch Betrachtung und Gebet hervorrufen und es lebendig gestalten. Vor allem muss man Über die ewigen Wahrheiten nacltdenken,

, Lukas. X\'[, 10.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 315 die wir im Vorausgegangenen dargestellt haben, nämlich über das Wesen und die Erhabenheit jenes Lebens, das wir von Gott selbst erhalten haben, über die Reichtümer einer Seele, die jenes Leben sorgfältig pflegt, über die Freuden, die Gott für sie im Himmel bereit hält. Ferner muss man das Leben der Heiligen betrachten, die um so grässere Fortschritte machten, je glühender und standhafter ihr Verlangen war, vollkommener zu werden. Damit aber diese Betrachtung um so nützlicher sei, muss man das Gebet hinzufüg~n, welches die Gnade herabruft, sodass diese Uberzeugung bis in das Innerste unserer Seele dringt.

426. 2. Es gibt jedoch gÜnstigere Umstände, in denen die Wirkung der Gnade sich deutlicher bemerkbar macht. Ein erfahrener Seelenführer wird diese benützen, um in seinen Beichtkindern das' Verlangen nach Vollkommenheit wachzurufen.

a) So z. B. regt Gott schon gleich beim ersten Erwachen der Vernunft das Kind an, sich ihm hinzugeben. Wie wichtig ist es deshalb, dass Eltern und Beich väter diesen Zeitpunkt benÜtzen, um in diesen jungen Herzen die Begeisterung zu entflammen! Dasselbe kann von der Zeit der ersten oder der feierlichen Kommunion gesagt werden. Ebenso von der Zeit der Berufswahl oder vom Eintritt in ein Pensionat, Seminar oder Noviziat. Auch bei der Verehelichung. I n allen diesen Umständen verleiht Gott besondere Gnaden, und es ist sehr wichtig, ihnen hochherzig zu entsprechen.

427. b) Auch die Zeit der Exerzitien ist dafür günstig. Die andauernde, geistliche Sammlung, die sie mit sich bringen, die Vorträge, die man hört, die Lesungen, die Gewissenserforschungen, die Gebete, besonders aber die reichlicheren Gnaden, die man in dieser Z~it empfängt, tragen viel dazu bei, unsere religiöse Uberzeugung zu stärken, unse-

316 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

ren Gewissenszustand besser zu erkennen und die Sünden, sowie deren Ursachen, aufrichtig zu verabscheuen, praktischere und edlere Entschlüsse zu fassen und uns eine neue Begeisterung für die Vollkommenheit einzuflössen. So ist es auch seit einigen Jahren durch Abhaltung geschlossener Exerzitien gelungen, im Klerus und unter den Laien hervorragende Männer und Frauen heranzubilden, die nur den einen Ehrgeiz haben, im geistlichen Leben Fortschritte zu machen. Die Leiter bischöflicher Seminarien wissen auch, welch' erstaunliche Erfolge die Exerzitien beim zukünftigen Klerus erzielen, die Exerzitien, die bei Beginn des Jahres oder gelegentlich der hl. Weihen abgehalten werden. Gerade dann erwacht, erneuert sich das Verlangen nach einem vollkommeneren Leben. Man muss also jene Gelegenheit gut benützen, um dem Rufe Gottes zu folgen und die Reform seiner selbst zu beginnen oder zu vervollständigen.

428. c) Die durch die göttliche Vorsehung eintreffenden PrÜfungen, mögen sie physisch oder geistig sein, wie z. B. Krankheit, Todesfall in der Familie, Seelen ängste oder Schicksalsschläge, sind oft von inneren Gnaden begleitet, die uns zu einem vollkommeneren Leben anregen. Sie schälen uns von allem, was nicht Gott ist, los, reinigen durch das Leiden die Seele, bewirken, dass wir uns nach dem Himmel sehnen und nach der Vollkommenheit, die zu ihm führt, vorausgesetzt, dass die Seele aus diesen Heimsuchungen Nutzen zieht, um sich zu Gott zu wenden.

429. d) Schliesslich gibt es Zeiten, in denen der Heilige Geist in den Seelen innere Regttngen hervorruft, durch die sie Neigung zu vollkommenerem Leben empfinden. Er klärt sie über die Eitelkeit der menschlichen Dinge, über das Glück, sich Gott vollständiger zu schenken, auf und drängt sie, grössere Anstrengungen zu machen. Es ist klar, dass

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 317

man diese inneren Gnaden benützen muss, um desto mutiger seinen Weg fortzusetzen.

430. 3. Es gibt endlich auch GebetsÜbungen, die ihrem Wesen nach den Zweck haben, unser Verlangen nach Vollkommenheit anzur~gen.

a) Die besondere Gewissense1j"orschung, die uns verpflichtet, täglich bezgl. eines besonderen Punktes einen Blick in uns zu werfen, nicht nur, um unsere Niederlagen oder Fortschritte festzustellen, sondern auch, und zwar in erster Linie, um unsern Willen zu erneuern, in der Übung dieser oder jener Tugend Fortschritte zu machen (N. 468).

b) Die gut verrichtete Beichte, die mit der Absicht abgelegt wird, uns von diesem oder jenem Fehler freizumachen.

c) Die monatliche, geistliche Erneuerung und die jährlichm Exerzitien, die dazu beitragen, in uns das Verlangen wachzuhalten, von Tag zu Tag besser zu werden.

SCHLUSSFOLGERUNG.

431. Gebrauchen wir diese Mittel, so wird unser Wille beständig oder wenigstens für gewöhnlich auf den geistlichen Fortschritt gerichtet bleiben. Dann werden wir unter dem Beistande der göttlichen Gnade leichter die Hindernisse überwinden. Wohl begehen wir zuweilen leichte Fehler, da wir aber von dem Wunsche nach Fortschritt beseelt sind, nehmen wir mutig unsern Weg, der uns vorwärts führt, wieder auf. Unsere teilweisen Niederlagen, die uns in der Demut bewahren, dienen nur dazu, uns Gott näher zu bringen.

§ 11. Von der Erkenntnis Gottes und seiner selbst.

432. Da die Vollkommenheit in der Vereinigung unserer Seele mit Gott besteht, ist es klar, dass wir,

318 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

um sie zu erreichen, erst die beiden Ausgangspunkte der Vereinigung, Gott und die Seele, kennen müssen. Die Erkenntnis Gottes wird uns unmittelbar zur Liebe führen. "Noverim te ut amem te!" Die Selbsterkenntnis lernt uns schätzen, wieviel Gutes Gott in uns hineingelegt. hat und wird uns zur Dankbarkeit stimmen. Der Anblick unserer Armseligkeiten und unserer Sünden wird in uns eine gerechte Verachtung unserer selbst hervorrufen und uns somit unmittelbar demütig machen. "Noverim me, ut despiciam me! " Gleichzeitig aber auch uns, und zwar als notwendige Folge, zur Liebe Gottes führen, denn die Vereinigung Gottes und unserer Seele vollzieht sich in der Leere unserer selbst.

1. Von der Erkenntnis Gottes. I

433. Um Gott zu lieben, muss man ihn vor allem erkennen: Nil volitum quill pra:cognitum. Je mehr wir uns mit der Erforschung seiner Vollkommenheiten befassen, desto grösser wird unsere Liebe zu ihm werden, denn alles in ihm ist liebenswürdig. Er ist die Fülle des Seins, der Schönheit, Güte und Liebe. Deus caritas est. Das ist klar. Es bleibt uns nur Übrig, zu bestimmen: 1. Was müssen wir von Gott wissen, um ihn zu lieben? 2. Wie gelangen wir zu dieser mit Liebe verbundenen Erkenntnis?

I. WAS WIR VON GOTT WISSEN MÜSSEN.

Wir müssen von Gott alles das wissen, was dazu beiträgt, ihn zu bewundern und zu lieben. Folglich

, BossUET, De la eonnaissance de Dieu et de soi-mhne. Eltvations sur fes mysÜres. - MIditations sur I'Evangile. - L. BAlL, Theologie a(fective. - LESSIUS, De perfectionibus divinis. - P. D'ARGENTAN, Les Grandeurs de Dieu. - CONTENSON. Theologia menfis et eordis. FABER, Createur et Creature, Betllfehem. The preeious blood. - BEAUDENOM. Les Sourees de la Pitte. - SAUVE. Dieu intime. llsus intime. L'homme intime, de. - P. SAUDREAU, O. P., Les divi1les paroles. M. D'HERBIGNY, La Theologie du rtvelt!, Kap. VIll-IX. - P. R. GARRTGOu-LAGRANGE, Dieu, son existenee, sa nature, 1920.

320 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

Werken, d. h. nach einem unendlichen Gefühl der Liebe." I

435. b) Gehen wir von hier zum göttliclte1t Wesen über, so schält uns das Wenige, das wir davon wissen, von den Geschöpfen und von uns selbst los, um uns zu Gott zu erheben. Er ist die Fülle des Seins. " Ego SU11l qui SUl/l. " Mein Sein ist also nur entlehnt, unfähig, von selbst zu bestehen. Es muss seine unbedingte Abhängigkeit vom göttlichen Sein anerkennen. Das wollte Gott der h1. Katharina von Siena 2 einschärfen, als er zu ihr sagte : " Weisst Du, meine Tochter, was Du bist und was ich bin? ... Du bist die, welche nicht ist, und ich bin der, welcher ist. " ... Welche Lehre von Demut und Liebe!

436. c) Ebenso verhält es sich mit den EigenscJtaften Gottes. Es gibt keine, die richtig betrachtet, nicht auf diese oder jene Art unsere Liebe anfeuert. Die göttliche Einfachheit regt uns an, diese Einfachheit oder Reinheit der Absicht zu üben, mit welcher wir unmittelbar nach Gott streben, und zwar in selbstloser Weise. Seine Unermesslichkeit, die uns einhüllt und uns durchdringt, regt uns an, Gottes Gegenwart stets vor Augen zu haben, eine Gewohnheit, die frommen Seelen lieb und teuer und von grossem Nutzen ist. Seine Ewigkeit trennt uns von allem, was vergänglich ist, weil sie uns daran erinnert, alles, was nicht ewig dauere, sei nichts. " Quod mternu1IZ non est, ni/til est. " - Seine Unveränderlzdtkeit hilft uns, mitten im Wechsel des menschlichen Lebens die für die enge und beständige Vereinigung überaus notwendige Ruhe zu bewahren. Seine unendliche Tätigkeit regt die unsrige an und verhindert uns, nachlässig zu werden oder in eine Art gefährlichen Quietismus zu verfallen. Seine im

, Dialog., r. S. 40.

2 RAYMOND DE CAPOUE, Leben der hl. Katharina von Siena. B. I,

S. 71.


ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 321

Dienste seiner unendlichen Weisheit und Ba1"11lIzerzigkeit stehende Allmacht flösst uns kindliches Vertrauen ein und erleichtert uns in besonderer 'Weise Gebet und Zuversicht. Seine Heiligkeit bewirkt, dass wir die Sünde hassen und Herzensreinheit lieben, die zur innigeren Vereinigung mit Gott führt. " Eeati lllundo corde quoniam ipsi Deum videbunt. " Seine unfehlbare Wahrheit ist der stärkste Grundstein unseres Glaubens. Seine Schönheit, seine Güte, seine Liebe reissen unser Herz hin und entzÜnden in ihm Flammen der Liebe und Dankbarkeit. Darum vertiefen sich heiligmässige Seelen gern in die Betrachtung der göttlichen Eigenschaften. Während sie dieselben erwägen und anbeten, bleibt irgend etwas von diesen in ihrer Se~le zurÜck.

437. B) Besonders gern betrachten sie die geoffenbarten Wahrheiten, welche sich alle auf die Gesclticlzte des göttlichen Lebms zurÜckführen lassen. Auf seinen Ursprung in der Heiligsten Dreifaltigkeit, seine ersten Mitteilungen durch die Erschaffung und Heiligung des Menschen. Seine Wiederherstellung durch die Fleischwerdung, seine gegenwärtige Verbreitung' durch die Kirche und die Sakramente. Endlich seine Vollendung in der Glorie. Jedes dieser Geheimnisse entzückt und entflammt sie in Liebe fÜr Gott, für J esus, für die Seelen und für alle himmlischen Dinge.

438. a) Das göttliche Leben in seinem Ursprunge ist die Allerheiligste Dretfaltigkeit. Gott, welcher die Fülle des Seins und der Liebe ist, betrachtet sich von Ewigkeit her. Während er sich betrachtet, erzeugt er sein Wort. Dieses Wort ist sein Sohn. Von ihm unterschieden und doch ihm vollkommen gleich. Sein lebendiges und wesentliches Abbild. Er liebt diesen Sohn und wird von ihm geliebt. Aus dieser gegenseitigen Liebe geht der Heilige Geist hervor, vom Vater und dem Sohne, aus denen er entspriesst, unterschieden und sowohl dem einen,

N° 683.-11

322 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

wie dem anderen vollkommen gleich. Und siehe, an diesem Leben nehmen wir teil!

439. b) Weil Gott unendlich gut ist, will er sich anderen Wesen mitteilen. Er tut es durch die ScMpfimg, besonders aber durch die Heiligung. Durch die Schöpfung sind wir Diener Gottes geworden und das allein ist schon eine grosse Ehre für uns. Von Ewigkeit her hat Gott an mich gedacht, aus Milliarden von möglichen Wesen mich auserwählt, um mir das Dasein, das Leben, den Verstand zu schenken, wie nötigt mich das alles zur Bewunderung, Dankbarkeit und Liebe! Dass er mich aber berief, an seinem göttlichen Leben teilzunehmen, dass er mich an Kindesstatt angenommen hat und mich zur klaren Anschauung seiner Wesenheit und für eine ungeteilte Liebe bestimmte, ist das nicht der Gipfel der Liebe? Ist das nicht ein mächtiger Beweggrund, ihn ohne Vorbehalt zu lieben?

440. c) Durch die Sünde unseres Stammvaters hatten wir unser Anrecht auf das göttliche Leben verloren und waren unfähig, es durch uns selbst wiederzugewinnen. Aber siehe, der So/zn Gottes erblickt unser Elend, wird Mensch wie wir, wird auf diese Weise das Haupt eines mystischen Leibes, sÜhnt durch sein bitteres Leiden unsere Sünden. Sein Tod am Kreuze versöhnt uns mit Gott und bewirkt, dass unsere Seelen von neuem an jenem Leben teilnehmen, das J esus selbst aus dem Schosse seines Vaters schöpft. Gibt es wohl einen triftigeren Grund als diesen, um unser Herz zum Fleischgewordenen Worte entflammen zu lassen und uns innig mit ihm zu vereinigen und durch ihn mit dem Vater?

441. d) Um uns diese Vereinigung zu erleichtern, bleibt J esus unter uns. Er weilt auf Erden durch seine Kirche, die uns seine Lehre übermittelt und erklärt. Durch seine Sakramente, die uns als geheim-

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 323 nisvolle Kanäle der Gnade das göttliche Leben vermitteln. Er weilt bei uns besonders durch die hl. Eucltaristie, in welcher er gleichzeitig seine Gegenwart, seinen wohltuenden Einfluss und sein Opfer dauernd fortsetzt. Sein Opfer durch die heilige Messe, in welcher er seine Aufopferung auf geheimnisvolle Weise erneuert. Seinen wohltumden Einfluss durch die heilige Kommunion, in welcher er die Seele mit allen seinen Gnadenschätzen bereichert und seine Tugenden ihr mitteilt. Seine ständzge Gegenwart, denn er selbst macht sich Tag und Nacht zum freiwilligen Gefangenen im Tabernakel, wo wir ihn besuchen, mit ihm Zwiegespräche halten, mit ihm die anbetungswürdige Dreifaltigkeit verherrlichen, in ihm Genesung von unseren geistlichen VJunden und Trost in unserer Trauer finden können." Venz"te ad me omnes qui laboratis et onerati estz's et ego rejicz"a17l vos."

442. e) Und das ist nur das Vorspiel jenes z'n Gott ganz auj'gehmdm Lebens, das wir ewig geniessen werden. Wir werden ihn von Angesicht zu Angesicht schauen, so wie er in sich selbst ist und werden ihn mit vollkommener Liebe lieben. I n ihm werden wir alles Grosse und Edle lieben. Durch die Schöpfung sind wir von Gott ausgegangen. Durch die Verherrlichung kehren wir wieder zu ihm zurück und finden in ihr unser vollkommenes Glück.

Das Dogma ist somit die Quelle wahrer Frömmigkeit, ja, ihre Nahrung. Es bleibt noch darzulegen übrig, welchen Gebrauch wir von demselben zu machen haben, um Nutzen daraus zu erzielen.

2. MITTEL ZUR GEWINNUNG DIESER GOTTESERKENNTNIS.

443. Drei hauptsächliche Mittel bieten sich uns, um diese mit Liebe verbundene Gotteserkenntnis

324 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

zu erwerben: I. Das fromme Studium der Philosophie und der Theologie. 2. Die Betradttung und das Gebet. 3. Die Gewohnheit, Gott in allen Dingelt zu sehen.

A) Das fromme Studium der Philosophie und Theologie. Mann kann auf zweifache Art Philosophie und Theologie studieren, Mit dem Verstande allein, wie man jede andere Wissenschaft studiert, und mit Verstand und Herz zugleich. Diese letztere Art ist es, welche die Frömmigkeit erzeugt. So oft sich der hl. Thomas in das tiefe Studium wichtiger, philosophischer oder theologischer Fragen versenkte, machte er es nicht wie ein Weiser Griechenlands, sondern wie ein JÜnger und Verehrer Christi. Die Theologie handelt, wie er sagte, von göttlichen Dingen und menschlichen Akten, insofern sie zur vollkommenen Kenntnis Gottes führen und folglich zur Liebe. " De quibus agit secundum quod per ~os ordinatur homo ad perfectarn Dei cognitionem, itt qua ceterna beatitudo consistit. " I Seine Frömmigkeit Überragte deshalb sein Wissen. Ebenso verhielt es sich mit dem hl. Bonaventura und anderen Gottesgelehrten. Wohl haben die meisten von ihnen keine frommen Betrachtungen Über die grossen Geheimnisse unseres Glaubens niedergeschrieben. Sie beschränkten sich darauf, diese Geheimnisse darzulegen und zu beweisen. Aber aus dem Grunde selbst dieser Vv' ahrheiten spriesst Frömmigkeit hervor. Und wer immer im Geiste des Glaubens das Studium betreibt, kann nicht umhin, demjenigen in Liebe zugetan zu sein, dessen Grösse und GÜte uns die Theologie offenbart. Das trifft besonders bei denen zu, welche die Gabe der Wissenschaft und des Verstandes zu benützen verstehen. Die erstere bewirkt, dass wir uns von den Geschöpfen zu Gott erheben, da sie uns deren Beziehungen mit der Gottheit

• Sumo theol., I, q. I, a. 4.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 325 enthÜllt. Mit Hilfe der letzteren dringen wir in das Innere der geoffenbarten Wahrheiten, wo wir wunderbare Harmonieen wahrnehmen.

Der fromme Theologe wird es mit Hilfe dieser Erleuchtungen verstehen, sich von den Glaubenswahrheiten, mögen sie auch noch so spekulativ sein, zu Akten der Anbetung, Bewunderung, Dankbarkeit und Liebe, die aus dem Studium der christlichen Dogmen gleichsam von selbst sich ergeben, zu erheben. Diese Akte, weit entfernt davon, seine Verstandestätigkeit lahm zu legen, werden dieselbe anregen und intensiver machen. Man studiert dasjenige besser, eifriger und mit grösserer Ausdauer, was man liebt. Man entdeckt dabei Tiefen, die der Verstand allein nicht ergrÜnden würde. Man leitet davon Folgerungen ab, welche das Gebiet der Theologie erweitern, gleichzeitig aber auch die Frömmigkeit fördern.

444. B) Zum Studium muss sich jedoch auch die Betrachtung gesellen. Man betrachtet die christlichen Dogmen nicht genug, oder man betrachtet nur zu oft an ihnen, was nebensächlich ist. Man darf sich nicht fÜrchten, sie ihrem Hauptinhalte nach zum unmittelbaren Gegenstar.de der Betrachtung zu machen. I Vom Glauben erleuchtet und unter Einwirkung des Heiligen Geistes erreicht die Seele dann Höhen und durchdringt Tiefen, die der Verstand allein nie entdecken wÜrde. Den Beweis dafür finden wir jn den Schriften einfältiger, zur Beschauung erhobener Seelen, die uns Über Gott, über J esus Christus, seine Lehre, seine Sakramente Erläuterungen hinterliessen, wie sie die grössten Theologen nicht besser' hätten geben können. Hat nicht Übrigens der hl. Thomas erklärt, er hätte in der Schule seines Kruzifixes mehr als in den

I Das vollführt die französische SchnJe des 17. Jahrhunderts, Btrulle, Cond,'en, Olier, BI. loh. Budes und andere. Siehe H. B~EMOND, 3. B.

326 FÜNFTES KAPITEL. ,..- MITTEL

BÜchert) der Doktoren gelernt? Der Grund daVon ist,; weil Gott, im Schweigen und in der Ruhe des Gebetes leichter zum Herzen spricht und weil sein Wort zunächst besser verstanden wird, dann aber auch .den Verstand erleuchtet, das Herz erwärmt und den Willen in Tätigkeit. setzt. Dann auch würdigt sich der Heilige Geist, ,ausser den Gaben der \iVissenschaft und des Verstandes, die der Weisheit zu verleihen. Diese nun bewirkt, dass man die Glaubenswahrheiten verkostet, sie lieben und praktisch verwerten lernt und so eine innige Vereinigung zwischen Gott und der Seele herstellt. Alles das schildert die Nachfolge Christi I ganz vortrefflich. "Selig die Seele, die den Herrn in ihrem Innersten hört und aus seinem Munde das Wort des Trostes vernimmt. Beata anima qua: Dominus in se loquentem audit et de ore t;jus verbum consolatiottis accipit. "

Der häufige und innige Gedanke an Gott während des Tages verlängert und vollendet die glÜcklichen Wirkungen des Gebetes. Der Gedanke an ihn steigert unsere Liebe zu ihm und die Liebe fördert die klare Erkenntnis.

445. C) Es wird dann auch leichter, sich von den Geschöpfen gewöhnlich zu Gott zu erheben und Gott in allen seinen Werken zu sehen, in den mannigfaltigen Dingen, Pel:::onen und Ereignissen.

Die Grundlage dieser Ubung ist der göttliclte Exemplarismus, welchen Plato lehrte und den der hl. Augustinus wie auch der hl. Thomas vervollständigten, den die Schule des hl. Viktor ans Licht brachte und den die französische Schule des XVII. Jahrhunderts wieder aufnahm. 2 Alle Wesen waren vor ihrer Erschaffung im Gedanken Gottes vorhanden. Ehe er sie nach aussen hin hervorbrachte,

'Nachfolge, 3. Buch, I. Kap.

o Siehe " La Jour"te ehreti",,,e" vo" OLlER. Daselbst ist diese Lehre in hervorragender Weise in Anwendung gebracht.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 327 hatte er sie in seinem Verstande erfasst und er wollte, dass alle in verschiedenem Grade ein Abg'lan~ seiner göttlichen Vollkommenheiten seien. Betrachten wir also die geschaffenen Dinge nicht nur mit den Augen des Leibes, sondern auch mit denen der Seele, so werden wir, durch den Glauben erleuchtet, dabei' feststellen :

a) dass alle Geschöpfe, je nach dem Grade ihrer Vollkommenheit, eine Spur, ein Abbild oder eine Ahnlichkeit Gottes sind. Ferner, dass uns alle sagen, Gott sei ihr Urheber lind dass alle uns einladen, ihn zu loben, da ihr ganzes Sein, ihre ganze Schönheit und ihre Güte nur eine erschaffene und begrenzte Teilnahme am göttlichen Sein sei.

b) dass die mit Vernunft begabten GescMpfe, insbesondere, nachdem sie zur übernatürlichen Ordnung erhoben worden sjrd, Abbilder Gottes darstellen und lebendige Ahnlichkeit mit ihm haben, da sie, obschon in begrenzter Weise, an seinem Geistesleben teilnehmen. Dass ferner alle, welche die h1. Taufe empfangen haben, Glieder Christi sind. Dass wir Christus in ihnen sehen sollen. In omnibus Christus.

c) dass alle Ereignisse, ob glückliche oder unglückliche, von Gott die Bestimmung erhalten, das übernatürliche Leben, das er uns schenkte, zu vervollkommnen und die Heranbildung der Auserwählten zu erleichtern, sodass wir aus allem Nutzen ziehen können, um unsere Seele zu heiligen.

Fügen wir jedoch hinzu, dass nach chronologisclter Ordnung die Seelen zuerst zu J esus gehen und durch ihn zum Vater und dass sie, sobald sie erst einmal bei Gott angelangt sind, nie aufhören, mit

J esus innig vereint zu bleiben. '

328 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

SCHLUSSFOLGERUNG: ÜBUNG DER GEGENWART GOTTES. I

446. Die mit der Liebe verbundene Gotteserkenntnis führt uns zur Übung der Gegenwart (;:ottes. Wir wollen die Grundlage, die praktische Ubung und die Vorteile derselben kurz anführen.

A) Die Grundlage ist die Lehre von der Allgegenwart Gottes. Gott ist überall, nicht allein durchseinen Blick und seine Handlung, sondern auch seinem \Nesen nach. " In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, " sagt der hl. Paulus. 2 " In ipso vivimus, 17zovemur et sumus. " Das trifft sowohl vom natürlichen, als auch vom übernatürlichen Standpunkte aus zu. Als Sc/zäpfer schenkte er uns das Sein und das Leben, erhält sie uns beide, setzt durch seinen Beistand unsere Fähigkeiten in Tätigkeit. Als Vater erzeugt er uns für das ÜbernatÜrliche Leben, welches eine Teilnahme an seinem eignen Leben ist, wirkt mit uns als erste Ursaclte (causa principalis) an der Erhaltung und Vermehrung dieser Teilnahme und befindet sich auf. diese V/eise gegenwärtig in uns, mitten in unserer Seele, ohne jedoch aufzuhören, sich dem Wesen nach von uns zu unterscheiden. \Vie wir schon sagten, (N. 92) lebt der Dreieinige Gott in uns. Der Vater, der uns wie seine Kinder liebt, der Solzn, der uns wie seine Geschwister behandelt, der Heilig-e Geist, der sowohl seine Gaben, als auch seine Person uns schenkt.

B) Die pra/etisclte Übung. Um Gott zu finden, brauchen wir ihn nicht erst im Himmel zu suchen, denn wir finden ihn : a) in unserer allernächsten Nähe, in den Geschäpfen, die uns umgeben. Dort

, S. THOMAS. I, q. 8, a. 3. LESSlUS, De Perfectionibus 1noribusque divinis, lib. I!. ROORIGUEZ, Pratique, 1. P., 6. tr. PINY, O. P., La p,.,!sence de Dielt. P. PLUS, S. J., Dieu en nous.

2 ApostellJesch. XVII, 28.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 329

sollen wir ihn anfangs suchen. Alle erinnern uns an irgendeine göttliche Vollkommenheit, besonders aber die, welche mit Vernunft begabt, den lebendigen Gott in sich besitzen (N. 92). Sie dienen uns gleichsam als Stufen, um bis zu ihm hinaufzusteigen. b) Wir rufen uns dann ins Gedächtnis zurück, dass er ganz nahe denen sei, die mit Vertrauen zu ihm beten. "Prope est Dominus omnibus invocll1ztibus eum". I Und unsere Seele ruft ihn gern an, sei es durch einfache Stossgebete, sei es durch

längere Gebete.

c) Besonders aber vergessen wir nie, dass die drei göttlichen Personen in uns wohnen und dass unser Herz ein lebendiger Tabernakel, ein Himmel ist, in welchem sie sich schon jetzt un? schenken. Es genÜgt somit, uns in uns selbst zurÜckzuziehen, in die" innere Klause," wie die hl. Katharina von Siena sich ausdrÜckt, und mit dem Auge des Glaubens den göttlichen Gast zu betrachten, der sich würdigt, darin zu wohnen. Dann werden wir unter seinen Augen, unter seinem Einflusse leben, werden ihn anbeten und mit ihm an der Heiligung unserer

Seele arbeiten.

447. C) Welche Vorteile diese Übung vom Gesichtspunkte unserer Heiligung aus bringt, ist klar

einzusehen.

a) Sie bewirkt, dass wir sorgfältig die Sünde meiden. \Ver nämlich wÜrde es wagen, die göttliche Majestät zu beleidigen, wenn er bedenkt, dass Gott in ihm lebt mit seiner Heiligkeit, die nicht den geringsten Fleck duldet, mit seiner Gerechtigkeit, die ihn nötigt, den geringsten Fehler zu bestrafen, mit seiner Macht, die seinen Arm gegen den Schuldigen bewaffnet und besonders mit seiner GÜte, die

unsere Liebe und Treue verlangt?

, Ps. CXLlV, 18.

330 FÜNFTES' KAPITEL. "-- MITTEL

b) Sie treibt unseren Eifer im Streben nach der Vollkommenheit an. Kämpft ein Soldat unter den Augen seines Generals, so bemüht er sich, hervorragende Tapferkeit ,zu zeigen, und wir sollten l1ns nicht zu den grössten Mühen und Anstrengungen bereit fÜhlen, da wir doch wissen, dass wir nicht nur unter den Augen Gottes kämpfen, sondern sogar unter seinem stets siegreichen Beistande, ermutigt durch die unsterbliche Krone, die er uns verspricht, besonders aber durch die Vermehrung der Liebe, die er uns als Belohnung gibt?

c) Welche~ Vertrauen flösst uns dieser Gedanke ein! Welche Prüfungen, Versuchungen, Mühseligkeiten, Schwächen wir auch immer haben mögen, ~ind wir nicht doch schliesslich des Sieges sicher, sobald wir' uns erinnern, dass der, welcher die Allmacht ist, in uns lebt und seine göttliche Kraft in unseren Dienst stellt? Vlohl können wir teilweise Niederlagen erleiden, doch sind wir sicher, dass wir siegen werden, wenn wir uns auf ihn stützen und dass unsere Kreuze selbst nur dazu dienen, unsere Liebe zu Gott zu vermehren und unsere Verdienste fÜr den Himmel zu erhöhen.

d) Endlich,welche Freude für uns ist das Bewusstsein, dass der, welcher das Glück der Seligen im Himmel ausmacht und den wir einst schauen werden, schon jetzt in unserem Besitze ist und dass wir seine Gegenwart geniessen und 'mit ihm tagsüber Zwiegespräche führen können!

" Die Gotteserkenntnis und der häufige Gedanke an Gott tragen sehr viel zu unserer Heiligung bei. Dasselbe kann man von der Selbsterkenntnis sagen.

Ir. Die Selbsterkenntnis.

Die Gotteserkenntnis .führt uns unmittelbal- zur Liebe Gottes, denn Gott ist unendlich liebenswürdig. Die Selbsterkenntnis führt uns mittelbar dazu, weil sie uns zeigt, wie Überaus notwendig wir

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 331 Gott brauchen, um die guten Eigenschaften, die er uns verliehen hat, zu vervollkommnen und unser gros ses Elend zu lindern. Wir werden deshalb jetzt an erster Stelle von der Notwendigkeit der Selbsterkenntnis sprechen, darauf von dem Geg-enstande derselben und zuletzt von den Mitteln, um sie zu erlangen.

I. NOTWENDIGKEIT DER SELBSTERKENNTNIS.

Einige Worte werden genügen, um uns davon zu überzeugen.

448. A) Kennt man sich nicht selbst, so ist es moralisch unmöglich, sich zu vervollkommnen. Man täuscht sich nämlich dann über seinen Zustand und verfällt, je nach dem Charakter oder je nach der Eingebung des Augenblicks, bald in einen anmassenden OptimislIlus, der uns glauben macht, wir seien schon vollkommen, bald in die 1l1utlosig-keit, in der wir unsere Fehler und unsere Sünden übertreiben. Sowohl in dem einen, wie in dem anderen Falle ist das Ergebnis fast dasselbe, nämlich die Untätigkeit oder wenigstens der Mangel an energischer und andauernder Anstrengung, die Erschlaffung. - Wie soll man übrigens die Fehler verbessern, die man gar nicht oder schlecht kennt? Tugenden üben, sich gute Eigenschaften angewöhnen, von denen man nur einen sehr unklaren, verworrenen Begriff hat?

449. B) Die klare und aufrichtige Kenntni.s

_ unserer Seele treibt uns zur Vollkommenheit ari.

Unsere guten Eigenschaften regen uns an, Gott zu danken, indem wir treuer. der Gnade entsprechen. Unsere Fehler und das Bewusstsein unserer Hilflosig-

- keit beweisen uns, dass wir noch viel zu tun haben und dass es wichtig für uns sei, keine Gele_genheit zum Fortschritt zu verlieren. Ja, dann benützt man alle Gelegenheiten, um seine Laster

332 ,

FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

auszurotten oder doch wenigstens abzuschwächen, abzutöten und zu beherrschen, ferner, um seine guten Eigenschaften weiter auszubilden und zu fördern. Und, da man weiss, wie unfähig man aus sich selbst dazu sei, bittet man Gott demütig um die Gnade, täglich Fortschritte zu machen. Gestützt auf dieses Gottvertrauen, erhofft und ersehnt man glÜckliche Erfolge. Diese wiederum flössen neue Begeisterung und Standhaftigkeit in der Anstt"engung ein.

2. DER GEGENSTAND DER SELBSTERKENNTNIS.

450. Allgemeine Bemerkungen. Um die Wirksamkeit dieser Kenntnis zu erhöhen, muss sie sich auf alles, was in uns ist, erstrecken, auf Vorzüge und Fehler, auf natürliche und Übernatürliche Gaben, auf Sympathieen und Abneigungen, mit einem Rückblick auf unser vergangenes Leben, alle unsere Fehler, Bemühungen und Fortschritte einschliessend. Alles muss ohne Pessimismus genau erforscht werden, und zwar rein-sachlich und mit einem aufrechten, vom Glauben erleuchteten GeWIssen.

a) Man muss also in aller Offenheit und ohne falsche Demut alle guten Eigenscltaftm feststellen, die Gott in uns gelegt hat. Das aber geschieht nicht, um uns damit zu rühmen, sondern um dem Urheber derselben unseren Dank zum Ausdruck zu bringen und um diese Eigenschaften sorgfältig auszubilden. Es sind Talente, die er uns anvertraut hat und über deren Gebrauch wir einstens Rechenschaft werden ablegen müssen. Das Arbeitsfeld ist darum sehr ausgedehnt, da es sich sowohl auf die natürlichen wie auch auf die übernatürlzchm Gaben erstreckt, d. h. was wir unmittelbar von Gott, was wir von unsern Eltern, was wir durch die Erziehung erhielten und was wir unseren eignen, von der Gnade unterstützten Anstrengungen verdanken.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 333

451. b) Man muss auch mutig und furchtlos seinen Armseligkeiten und Fehlern ins Auge sehen können. Aus dem Nichts erschaffen, fÜhlen wir uns unaufhörlich zu ihm hingezogen, vermögen ohne den beständigen Beistand Gottes weder zu leben noch zu handeln. Durch die dreifache Begierlichkeit (N. 193 u. ff.) zur Sünde neigend, haben wir diesen Hang durch unsere eignen Sünden und bösen Gewohnheiten, die das Ergebnis davon sind, vermehrt. Man muss es demÜtig eingestehen und sich mit Hilfe der göttlichen Gnade ans Werk machen, diese Wunden durch die Übung der christlichen Tugenden zu heilen und uns so der Vollkommenheit unseres himmlischen Vaters nähern.

452. Nutzanwendung. Um uns bei dieser Prüfung zurechtzufinden, ist es am besten, nacheinander unsere natÜrlichen und ÜbernatÜrlichen Gaben zu Überprüfen und zwar unter Anwendung einer Reihe von Fragen, die uns die Aufgabe erleichtern wird.

A) Was die natürlichen Gaben angeht, so können wir uns im Angesichte Gottes fragen, welches die hauptsächlichen Neigungen sind, die unseren Fähigkeiten eigen sind. Wir beobachten dabei keine streng philosophische, sondern nur eine praktische Ordnung. I

453. a) BezÜglich des Empfindungsvermögens: FÜhrt dasselbe bei uns das Scepter? Oder der Verstand und der Wille? In uns allen ist eine Mischung von beiden, aber nicht bei allen in derselben Zusammensetzung. Lieben wir mehr mit Gefühl oder mit Willen oder Hingabe?

Beherrschen wir unsere äusseren Sinne oder sind wir deren Sklave? Welchen Einfluss übt bei uns die Phantasie und das Gedächtnis aus? Sind sie nicht ausserordentlich flatterhaft, oft mit eitlen Träumereien beschäftigt? Wie verhalten wir uns zu unseren Leidenschaften? Sind sie gere-

, Im Anhange dieses Buches j1ndet man eine kleine Studie über die verschiedenen Charaktere. Sie wird· diese f'rüfung erleichtern. - Vgl. DOSDA, L' Union avec Dielt, t, I, 11. T, xxi. K.

334 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

gelt, gezähmt? Herrscht· d,ie Sinnlichkeit in uns vQr oder vielleicht der Stolz oder die Eitelkeit?

Sind wir apathisch, weichlich, nachlässig, träge? Gehören wir zu den Langsamen, geben wir uns dann wenigsten's andauernd MÜhe, schneller zu, sein?

454. b) Der Verstand. Wie sieht es mit ihm aus? Ist er lebhaft und klar, aber vielleicht oberflächlich, oder langsam und scharf? Sind wir Gehirnmenschen, Philosophen oder mehr pra~tische Menschen, stets darauf bedacht, alles mit I...iebe zu tun? Wie pflegen wir unsere geistigen Fähigk!!iten? Geschieht es mit einer gewissen Nachlässigkeit oder mit Sorgfalt? 'Andauernd oder nur zeitweise? Welche Erfolge erzielen wir? Welche Arbeitsmethode beobachten wir dabei? Könnten wir sie nicht vielleicht vervollkommn'en?

Sind wir in unseren Urteilen leidenschaftlich? In unseren Ansichten starrkojJjig.2 Verstehen wir auch die anzuhören, die anders als wir denken, und dem beizustimmen, was sie mit Recht behaupten?

455. c) Der Wille. Ist er schwach, schwankend oder stark und standhaft? Was tun wir, um ihn zu stärken? Er soll der König der Fiihigkeiten sein. Das aber ist nur dann möglich, wenn er Takt und Energie besitzt. Was tun wir, um seine Herrschaft über unsere äusseren und inneren Sinne, über den Gebrauch unserer geistigen Fähigkeiten zu sichern und um ihm selbst noch mehr Energie und Ausdauer z.u geben? Haben wir feste Grundsätze? Erneuern wir sie oft? Uben wir unsern Willen in kleinen Dingen, in den kleinen Opfern des Tages?

456. d) Der Charakter spielt eine Hauptrolle im Verkehr mit den Mitmenschen: Ein guter Charakter, der sich dem Charakter der anderen anzupassen versteht, ist ein vortreffliches Mittel für das Apostolat. Ein schlechter Charakter ist eins der grössten Hindernisse, Gutes zu wirken. Nun aber ist ein (ehrenvoller Charakter) charaktervoller Mensch derjenige, der feste Grundsiitze hat und sich el"iergisch und andauernd Mühe gibt, sein Leben damit in Einklang zu bringen. Der gute Charakter ist eine Mischung von Güte und Festigkeit, Milde und Starkmut, Offenheit und TaktgefÜhl, welche bewirkt, dass man geachtet und geliebt wird. Der schlechte Charakter kennt keine Aufrichtigkeit, Güte, Taktgefühl odel' Festigkeit oder räumt dem Egoismus die erste Stelle ein. Er ist roh in seinen Umgangsformen, unbeliebt, und macht sich oft dem Mitmenschen verhasst. Ein wichtiges Element ist also hier zu ergründen .

. 457. e) Die Gewohnheiten: Sie entstehen aus der Wiederholung derselben Akte und verleihen eine gewisse Leichtig-

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 335

keit, ähnliche Akte ungesäumt und gern zu vollziehen. Es ist also wichtig, die sich bereits angeeigneten Gewohnheiten zu ÜberprÜfen, um sie zu festigen, sollten sie gut sein, um sie auszurotten, falls sie verwerflich sind.

Was wir im zweiten Teil dieses Buches über die Todsünden und Tugenden sagen werden, wird uns bei dieser Unter,.uchung gute Dienste leisten.

458. B) Unsere übernatürlichen G:aben. Da unsere Fähigkeiten das Gepräge des Ubernatürlichen an sich haben, würden wir sie nicht vollständig kennen, wollten wir nicht unsere Aufmerksamkeit auf die Übernatürlichen Gaben lenken, die Gott in uns gelegt hat. Wir haben sie schon früher (N. 199 u. ff) beschrieben. Die göttliche Gnade ist jedoch von verschiedenartiger Wirkung, multiformis g1-atia Dei. Somit ist es von Bedeutung, ihre besondere Wirkung in unserer Seele zu beobachten.

a) Die Neig-ungen, die sie uns zu diesem oder jenem Berufe, zu dieser oder jener Tugend einflösst. So hängt tatsächlich unsere Heiligung von der Bereitwilligkeit ab, jenen Anregungen der Gnade zu folgen.

I) Es gibt entsclleidende Augenblicke im Leben, in denen sich die Stimme Gottes deutlicher und dringlicher hören lässt. Dann auf sie zu hören und ihr zu folgen, ist von grösster Bedeutung.

2) Wir müssen uns fragen, ob unter diesen Neigungen nicht eine sei, die vorllerrsclte, die sich immer wieder bemerkbar mache und stärker sei als die anderen, für diese oder jene Lebensweise, für diese oder jene Gebetsform oder fÜr diese oder jene Tugend. Das ist dann der besondere Weg, auf dem wir nach dem Willen Gottes wandeln sollen. \Vir müssen ihn betreten, um der Gnade besonders zugänglich zu sein.

459. b) Ausser den Neigungen mÜssen wir auch dem Widerstande gegen die Gnade, unseren Nz'ederlagen, unseren SÜnden unsere Aufmerksamkeit schen-

336 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

ken, um sie aufrichtig zu bedauern, sie wieder gutzUfllachen und in Zukunft zu vermeiden. Das ist ein mÜhsames, verdemütigendes Forschen, besonders, wenn man ehrlich und gewissenhaft dabei vorgeht, aber auch äusserst nÜtzlich. Einerseits nämlich hilft uns das, die Demut zu Üben, andererseits wirft es uns vertrauensvoll in die Arme Gottes, der allein unsere Schwächen heilen kann.

3· Dm BESONDEREN MITTEL, UM ZUR ~ELBSTERKENNTNIS ZU GELANGEN.

460. Zunächst müssen wir bemerken, dass die Selbsterkenntnis eine scllwierige Sache ist. a) Wir stehen ganz unter dem Einflusse der Aussenwelt. Deshalb blicken wir nicht gern in unser eignes Innere, in diese kleine, unsichtbare Welt. Da wir von Natur aus zum Stolze neigen, wollen wir nicht gern unsere Fehler feststellen.

b) Diese inneren Akte sind sehr kompliziert. Zwei Menschen wohnen in uns, wie der hl. Paulus sagt. Oft gibt es einen heftigen Kampf zwischen den beiden. Um auszuscheiden, was von der Natur und was von der Gnade kommt, was freiwillig und was ungewollt ist, bedarf man angestrengter Aufmerksamkeit, grossen Scharfblickes, vielen Starkmutes und grosser Standhaftigkeit. Erst nach und nach wird es Licht. Eine Kenntnis zieht die andere nach sich und diese wieder bereitet den Weg zu einer noch tieferen Kenntnis vor.

461. Da man durch die Gewissenselj"orschung zur Selbsterkenntnis gelangt, wollen wir hier, um diese Übung zu erleichtern, einige allgemeinen Regeln dafÜr angeben. Ferner eine il1'ethode vorschlagen und die Gesinnungen andeuten, die man dabei haben muss.

462. A) Allgemeine Regeln. a) Um sich gut zu erforschen, muss man vor allem den Heiligen Geist

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 337 anrufen. Er durchforscht Herz und Nieren. Ihn mÜssen wir bitten, alle Falten, selbst die verborgensten, unserer Seele uns aufzudecken und uns die Gabe der 'Wissenschaft zu verleihen, die uns hilft, uns selbst zu erkennen und den Weg zu Gott zu finden.

b) Dann muss man sich in die Gegenwart Jesu Christi versetzen, des vollkommenen Vorbildes, dem wir von Tag zu Tag ähnlicher werden sollen. Nicht nur seine äusseren Handlungen, sondern auch seine Gesinnung mÜssen wir anbeten und bewundern. Unsere Fehler und Unvollkommenheiten werden um so deutlicher hervortreten, wenn wir den Kontrast zwischen uns und dem göttlichen Vorbilde feststellen. Wir dürfen jedoch deshalb nicht den Mut verlieren, da J esus gleichzeitig Seelenarzt ist, der sehnlichst wÜnscht, unsere Wunden zu pflegen und zu heilen. Ihm, sozusagen, alles beichten und ihn demÜtig um Verzeihung bitten, ist eine vortreffliche Übung.

463. c) Dann erst sollen wir in das Innerste unserer Seele eintreten. Von den äusserlichen Handlungen werden wir auf die Gesinnungen schliessen, die ihnen zu Grunde liegen, d. h. auf ihre eigentliche Ursache. Haben wir z. B. gegen die Nächstenliebe gesündigt, so sollen wir uns fragen, ob es durch Leichtsinn, Neid oder Eifersucht geschah, oder, um geistreich zu erscheinen, oder aus Geschwätzigkeit.

Um den sittlichen Wert, die Verantwortlichkeit, richtig abzuschätzen, wird man sich fragen müssen, ob der Akt freiwillig an und fÜr sich oder in seiner Ursache gewollt war, ob er mit voller Kenntnis seiner Bosheit oder nur mit teilweiser geschah, ob mit gänzlicher oder halber Zustimmung. Anfangs ist das schwer zu unterscheiden, aber nach und nach wird es leichter.

Um in seinen Urteilen ganz unparteiisch zu sein, ist es ratsam, sich in die Gegenwart des höchsten

338 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

Richters zu versetzen und ihn zwar mit GÜte, aber auch mit Autorität uns sagen zu hören:" Redde ratione1lZ 'villicationis tua:." Dann sollen wir mit ebensoviel Aufrichtigkeit, als wäre es beim jüngsten Gerichte, ihm zu antworten versuchen.

464. d) Es ist besonders [Ur An/linger zuweilen gut, diese Erforschung schriftlt'ch zu machen, um derselben grössere Aufmerksamkeit zu schenken und die Ergebnisse jeden Tages und jeder Woche leichter vergleichen zu können. Man muss dabei jede Selbstsucht, jede literarische Anmassung vermeiden und die nötigen Massnahmen treffen, um zu verhindern, dass diese Aufzeichnungen in unrechte Hände fallen. Benützt man eine Tabelle mit besonderen Zeichen, so muss man verhüten, dass dieser Gebrauch eine leere Gewohnheit wird oder dass die Gewissenserforschung ganz oberflächlich gemacht wird. Jedenfalls kommt gewöhnlich der Zeitpunkt, wo es besser ist, sich dieses Mittels zu entledigen und sich zu gewöhnen, in aller Einfachheit, unter den Augen Gottes die hauptsäcblichsten Handlungen der Reihe nach zu prüfen, um darauf am Abende eine GesamtÜbersicht des verflossenen Tages zu gewinnen.

465. Hierin, wie im Übrigen, soll man auf den Rat eines erfahrenen Seelen fÜhrers hören und man soll ihn bitten, uns behilflich zu sein, uns selbst besser kennen zu lernen. Als unbeteiligter und erfahrener Beobachter durchschaut er besser als wir selbst das Innerste unseres Gewissens und schätzt unbefangener den wirklichen \Vert unserer Handlungen ab.

466. B) Methoden der Gewissenserforschung.

Jeder erkennt an, dass der M. Ignatius ~.ie sehr vervollkommnet hat. In seinen geistlichen Ubungen unterscheidet man die allgemeine von der besonderen Gewissenserforschung. Die erste erstreckt sich auf alle Handlungen des Tages. Die zweite auf einen besonderen Punli?t, einen Fehler zu verbessern oder eine bestimmte Tugend zu üben. Man kann jedoch beide gleichzeitig machen. In diesem Falle begnÜgt man sich bezüglich der allgemeinen Gewissenserforschung mit einem kurzen Blick auf alle Hand-

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 339 lungen des Tages, um seinen hauptsächlichsten Fehler zu entdecken. Darauf geht man sogleich zur besonderen Gewissenserforschung Über, die von viel grösserer Wichtigkeit als die erste ist.

467. a) Was die allgemeine Gewissenserforschung anbetrifft, welche jeder gute Christ machen soll, um sich selbst kennenzulernen und seine Fehler auszurotten, so umfasst sie fünf Punkte, wie der

M. Ignatius lehrt. I

1) "Der erste Punkt besteht in der Danksagung fÜr alle e~pfangenen Wohltaten ". Das ist eine vortreffliche Ubung, sie tröstet und heiligt zugleich, da sie auf die Reue vorbereitet, unsere Undankbarkeit uns deutlich vor Augen stellt und unser Gottvertrauen lebendig erhält. 2

2) " Beim zweiten Punkte handelt es sich um die Gnade zu bitten, die Sünden recht zu erkennen und sie aus dem Herzen zu bannen". \iViU man sich kennen lernen, so will man sich bessern. Beides vermag man nur unter göttlichem Beistande.

3) " Beim dritten Punkte fordern wir von unserer Seele eine genaue Rechenschaft, und zwar von der Zeit unseres Aufstehens bis zur Zeit der Gewissenserforschung. Wir gehen dabei die Stunden des Tages nacheinander durch oder aber gewisse, durch die Einteilung unserer Beschäftigungen geregelte Zeitabschnitte. Zunächst soll man sich über die Gedanken, dann Über die Worte und zuletzt über die Handlungen Rechenschaft ablegen nach der in der besonderen Gewissenserforschung angedeuteten Ordnung".

, Geistliche Übungen. 1. Woche. - Die zwischen Anführungszeichen gedruckten Worte sind dem Texte des hl. Ignatius entnommen.

2 In der Methode von Sankt-Sulpitilts fügt man oie Anbetung hinzu,

d. h. alle jene Akte von Gottesverehrung, durch die wir Gott anbeten, loben, preisen, lieben und ihm danken. Man versetzt sich dabei in die Gegenwart J esu Christi, unseres Vorbildes und Richters, wie wir bereits erwähnt haben. N. 462.

340 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

4) " Vierter Punkt. Gott, unsern Herrn, wegen unserer Sünden um Verzeihung bitten". Man darf nämlich nicht vergessen, dass die Reue der wichtigste Bestandteil der Gewissenserforschung ist und dass gerade sie das Werk der Gnade ist.

5) " Fünfter Punkt : EntscMuss, mit Hilfe der Gnade sich zu bessern. Man schliesse mit dem Vaterunser". Der Vorsatz soll praktisch sein, d. h; sich auf die Besserung's1l1ittel beziehen. Wer den Zweck will, will auch die Mittel. Das Beten des Vaterunsers erinnert uns an die Verherrlichung Gottes, zu welcher auch wir beizutragen haben, und in Vereinigung mit J esus bitten wir um die Verzeihung unserer Sünden und um die Gnade, letztere in Zukunft zu meiden. Damit ist diese Selbstprüfung trefflich beendet.

468. b) Die, besondere Gewissenserforschung ist nach dem Urteile des hl. Ignatius noch wichtiger, als die allgemeine, ja, selbst als das Gebet. Sie nämlich ermöglicht uns, unsere Fehler der Reihe nach energisch zu bekämpfen und sie leichter abzulegen. Handelt es sich um eine besonders wichtige Tugend, so werden wir nicht nur diese erwerben, sondern auch alle anderen, die mit ihr in Verbindung stehen. Im Gehorsam Fortschritte machen, heisst z. B. zugleich Akte der Demut, Abtötung und lebendigen Glaubens verrichten. Ebenso Demut erwerben ist ebenso viel als im Gehorsam, in der Gottesliebe, in der Nächstenliebe fortschreiten, da der Stolz das Haupthindernis fÜr die Übung dieser Tugenden ist. Hierbei sind jedoch bezüglich der WaM des Gegenstandes wie auch der Art und Weise der AusfÜhrung gewisse Regeln zu beachten.

, 469. Wahl des Gegenstandes. 1) Im allgemeinen muss man sich auf den vorherrschenden Fehler werfen, indem man sich bemüht, die ihm entgegengesetzte Tugend zu üben, Dieser Fehler

ZUR ERLANGU NG DER VOLLKOMMENHEIT. 341 ist nämlich das Haupthinclernis, der Hauptanführer des feindlichen Heeres. Ist er erst geschlagen, ergreift die ganze Armee die Flucht.

2) Hat man den Gegenstand gewählt, so bekämpft man zunächst die äussere1Z Kennzeichen desselben, um zu beseitigen, was. den Nächsten unangenehm berührt oder ihm ein Argernis gibt. Z. B. bezüglich der christlichen Liebe soll man damit beginnen, Worte oder Handlungen, die dieser Tugend widersprechen, zu verringern oder ganz zu unterlassen.

3) Ohne lange zu zögern, müssen wir dann auf die iunere Ursac!te unserer Fehler zurückgehen. So z. B. auf die Gefühle von Neid, auf den Wunsch, für geistreich gehalten zu werden u. s. w. und auf andere, welche die eigentliche Ursache davon sein können.

4) Von Wichtigkeit ist es, sich nicht auf die negative Seite der Tugenden oder auf den Kampf gegen die Fehler zu beschränken, sondern man muss auch sorgfältig die Tugend Üben, die den Fehlern etttgeg-engesetzt sind. Man beseitigt nur das, was man durch etwas anderes ersetzt.

5) Schliesslich soll man, um mit grösserer Sicherheit Fortschritte zu machen, den Gegenstand der Gewissenserforschung nach den Stufen der Tugenden einteilen, und zwar so, dass man nicht die Tugend in ihrer ganzen Grösse Übt, sondern nur einige Akte, die besser unseren besonderen Bedürfnissen entsprechen. So z. B., was die Demut anbetrifft, soll man sich zunächst in der Selbstvergessenheit üben, wenig sprechen, den anderen hingegen durch wohlüberlegte Fragen Gelegenheit zum Sprechen geben, während man selbst die Verborgenheit und das Nichtbeachtetwerden liebt. I

, Die" Examens pa1"liculiers" von TRONSON deuten für jede Tugend und jeden Fehler Eillzelheiten an, welche den Gegenstand der Gewis'senserforscbung mit grösserer Genauigkeit finden lassen.

344 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

barmherzigen Vater zu beleidigen. Hieraus soll aufrichtige Demut hervorgehen, durch die wir aus eigener Erfahrung unsere Gebrechlichkeit, unsere Ohnmacht und unsere Unwürdigkeit feststellen. Beim Anblick unserer immer wiederkehrenden Niederlagen sollen wir uns beschämt fÜhlen. Wir sollen uns glÜcklich schätzen, die unendliche Barmherzigkeit eines stets zur Verzeihung geneigten Vaters preisen zu dÜrfen und uns freuen, weil gerade unser Elend die unendliche Vollkommenheit Gottes um so deutlicher hervortreten lässt. Diese Gefühle dürfen nicht vorÜbergehend sein, sondern mÜssen durch den Bussgeist in uns erhalten bleiben. Diese Bussgesinnung soll uns immer wieder unsere SÜnden vor Augen halten. "Peccatum meum contra me est sem per. "

475. c) Damit soll die feste Absicht verbunden sein, SÜhne zu leisten und unser Leben zu bessern. SÜhne zu leisten durch Busswerke. Wir sollen deshalb Sorge tragen, uns irgendeine Busse fÜr unsere Übertretungen aufzuerlegen, um die Liebe zum Genusse, der Quelle unserer SÜnden, abzutöten. Unser Leben zu bessern. Aus diesem Grunde müssen wir die geeigneten Mittel, die Zahl unserer Sünden zu vermindern, genau bestimmen. Bei dieser Willensverfassung muss Anmassung vermieden werden, weil diese uns ein allzu grosses Vertrauen auf unsern guten \;Villen und unsere Energie einflössen und uns so vieler Gnaden berauben könnte. Auch kämen wir in Gefahr, uns neuen Unvorsichtigkeiten une! neuen Niederlagen auszusetzen. Unser Wille soll sich vielmehr vertrauensvoll auf die Allmacht und die unendliche GÜte Gottes stÜtzen, denn Gott ist stets bereit, uns zu I-Iilfe zu kommen, sobald wir uns unserer Unfähigkeit bewusst werden.

476. d) Und um diesen göttlichen Beistand zu erflehen, sollen wir mit einem Gebete schliessen, das

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 345

um so demütiger und flehentlicher sein muss, je grösser das Misstrauen gegen uns selbst ist, welches der Anblick unserer Sünden hervorrief. In der festen Überzeugung, von selbst die Sünde nicht meiden zu können u~d noch viel weniger imstande zu sein, durch die Ubung der Tugenden uns aus eigner Kraft zu Gott erheben zu können, sollen wir aus e!er Tiefe unseres Elends und gestützt auf die unendlichen Verdienste J esu Christi, Gott flehentlich bitten, sich zu uns herabzuneigen, uns aus dem Sündenpfuhl, in welchen wir gesunken, zu retten, uns von der SÜnde und deren Ursache zu befreien und uns zu sich emporzuheben.

Gerade durch diese Gefühle, mehr als e!urch das genaue Absuchen nach unseren Fehlern, geschieht es, dass sich unsere Seele unter der Einwirkung der Gnade allmählich umgestaltet.

SCHLUSSFOLGERUNG.

477. Somit kann die Selbsterkenntnis, verbune!en mit der Gotteserkenntnis, die innige und herzliche Vereinigung unserer Seele mit Gott nur begünstigen. Er ist die unendliche Vollkommenheit, wir aber sind die äusserste Armut. Zwischen beiden ergibt sich wie von selbst eine natürliche Proportion. Wir finden in ihm alles, was uns notwendig ist. Er neigt sich zu uns herab, um uns seine Liebe und seine Wohltaten zu teil werden zu lassen. Wir aber streben nach ihm, e!em einzigen Wesen, e!as imstande ist, unsere Not zu lindern und unsere unheilba"re Schwäche zu verbessern. \;Vir sehnen uns nach Glück und Liebe und finden" beide nur in ihm. Seine Liebe befriedigt alle Wünsche unseres Herzens und verleiht uns Vollkommenheit und Glück zugleich. Wiederholen wir deshalb recht oft die Worte: "Noverim te, Domine, ut ameln te! Noverim me, u t despicia11l me! "

346 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

§ III. Von der Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes. I

478. Die Gotteserkenntnis vereiÖt nicht nur unseren Verstand mit dem göttlichen Gedanken. Sie strebt nach Liebe, weil alles in Gott liebenswürdig ist. Die Selbsterkenntnis zeigt uns, wie notwendig wir Gott brauchen und bewirkt, dass wir uns inbrünstig nach ihm sehnen und uns in seine Arme werfen. J ee!och die Gleichfo"nnigkeit mz't dem göttlz"chen Willen vereint uns noch unmittelbarer und inniger mit ihm, der die Quelle jeglicher Vollkommenheit ist. Sie unterwirft und vereinigt mit Gott unseren Willen, welcher, da er die edelste unserer Fähigkeiten ist, alle anderen in den Dienst des höchsten Herrn stellt. Man kann also sagen, unser Grad von Vollkommenheit hänge von unserem Grade von Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen ab. Um dieses begreiflicher zu machen, wollen wir erstens von dem Wesen dieser Gleichförmigkeit und zweitens, von ihrer Aufgabe, uns zu hezHgen, näheres sagen.

I. Das Wesen der Glez'chfönnigkez"t mÜ dem Willen Gottes.

479. Unter Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes verstehen wir die völlige, mit Liebe verbundene Unterordnung unseres Willens demjenigen Gottes, sei es nun ob es sich um den ausdrücklz"ch kundgegebenen Willen Gottes hane!le oder· um das Wohlgefallen Gottes.

Der göttliche Wille offenbart sich uns nämlich

I P. DE CAUSSADE, De l'abandon a la divinl! Providence, I. T, 1. B. - LE GAUDI ER, op. cit. 3. T, 2. Abschn. - S. FR. DK SALES, Am. de Dieu. 8. u.9. B. - RL. ALPH. V. LIGUORI, Von der Gleiclljörmigkeit mit dem Willen Gottes. - DEsuRMoNT, <Euvres. 2. B. über die Vorsehung. - MGR. GAY, Vie et vertus ehret. Tr. Xl, XIV. - DOM V. LEHODEY, Le Saint Abandon, I. T.

ZUR ERLANGUNGDER VOLLKOMMENHEIT. 347 in zweifacher Weise. a) Er ist die sittlz'che Regel unserer Handlungen, indem er durch die Gebote oder die Räte uns deutlich zu verstehen gibt, was wir zu tun haben. b) Er regiert alles mit Weisheit, leitet die Ereignisse, um seine Ehre und das Wohl der Menschen zu fördern und offenbart sich uns durch das, was nach göttlz"chem Ratschlusse in uns und um uns vorgeht.

Der erste wird der kundgegebene Wille genannt, weil er uns klar und deutlich auf das hinweist, was wir zu tun haben. Der zweite heisst das Wohlgefallen, insofern als uns die Begebenheiten der Vorsehung sagen, was Gott wohlgefällt.

Wir wollen also erörtern, was man unter dem kundgegebenen Willen Gottes zu verstehen habe, ferner, worin das göttliche Wohlgefallen bestehe und endlich, welches die Grade e!er Unterwerfung unter dasselbe seien.

1. DER KUNDGEGEBENE WILLEN GOTTES.

480. Die Gleichförmigkeit mit dem kundgegebenen Willen Gottes besteht darin, dass man alles will, was Gott uns als seinen Willen bezeichnet. " Nun aber," sagt der hl. Franz v. Sales, I " legt uns die Christenlehre klar und deutlich die Wahrheiten dar, welche wir ,.nach göttlichem Willen glauben müssen, ferner die Güter, auf die wir nach seinem Willen hoffen sollen, ebenso die Strafen, die er von uns gefürchtet zu wissen wÜnscht. Ausserdem stellt sie uns vor Augen, was wir nach seinem Willen zu lieben haben, ferner die Gebote, die er uns zu halten befohlen hat und die Räte, e!ie wir nach seinem Wunsche befolgen sollen. Alles das nennt man den kundgegebenen Willen Gottes, weil er uns zu verstehen gab und geoffenbart hat, sein Wille und seine Absicht sei es, dass

, Abhandl. über die Liebe zu Gott, B. VIII, Kap. 3.

348 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

alles das geglaubt, erhofft, gefÜrchtet, geliebt und geÜ bt werde. "

Der kundgegebene Wille umfasst also nach der Lehre des hl. Franz v. Sales I vier Dinge : Die Gebote Gottes und der Kirche, die Räte, die Eingebungen der Gnade und, fÜr die Ordensgemeinschaften, die Konstitutionen und Regeln.

481. a) Da Gott unser höchster Herr ist, steht ihm das Recht zu, uns Befehle zu erteilen. Da er unendlich gut und weise ist, befiehlt er uns nichts, das nicht gleichzeitig seiner Ehre und unserm Glücke förderlich sei. Wir mÜssen uns also in aller Einfachheit und Gefügigkeit seinen Gesetzen unterwerfen, dem Naturgesetze oder dem göttlichen, positiven, dem kirchlichen oder dem gerechten bÜrgerlichen Gesetze. Denn nach dem hl. Paulus kommt jede rechtmässige Obrigkeit von Gott, und so oft die Oberen innerhalb ihrer Rechtsbefugnisse etwas befehlen, muss man ihnen gehorchen. Das nämlich heisst ebensoviel wie Gott gehorchen. Ihnen widerstehen bede1,ltet Gott widerstehen. " Omm's anz'ma potestatibus sub!z'mz'oribus subdz'ta sz't. Non est enz'm potestas m'sz' a Deo. Quce autem su.nt, a Deo ordinatce sunt . .!taque qui resz'stz't potestatz', Dei o1'dz'natz'om' resz·stÜ. Quz' autem resistunt, zjm' sz'bz' damnationem al-qju·1'unt. " 2 \Nir jJrüfen hier nicht, in welchen Fällen der Gngehorsam den verschiedenen Gesetzen gegenüber schwer sÜndhaft oder nur lässliche Sünde sei. Das geschah in unserer Moraltheologz'e. Es möge hier vom Standpunkte der Vollkommenheit aus genÜgen, zu erklären, dass wir uns, je gewzssenltafter und christlicher wir die Gebote halten, Gott um so mehr nahen, denn das Gebot ist der Ausdruck seines Willens. Fügen wir noch hinzu, dass die Standespflz'chten in die Kategorie der Gebote einzureihen sind. Sie sind gleich-

1 Entretien XV. - 2 Römerbrief, XIlI, 1-2.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 349 sam besondere Vorschriften, welche in bezug auf die einzelnen Berufe und Beschäftigungen von den Christen im Gehorsam gegen Gott zu beachten sind.

Man kann sich infolgedessen nicht heiligen, ohne die Gebote zu halten und die Standespflichten zu erfüllen. Sie unter dem Vorwande vernachlässige!1, nachher Werke verrichten zu wollen, zu denen man nicht verpflichtet ist, heisst, sich einer gefährlichen Täuschung, einer wahren Verirrung überlassen. Es ist selbstverständlich, dass das Gebot über dem Rat steht.

482. b) Die Befolgung der Räte ist, an und fÜr sz'cll, zum Seelenheil niclzt notwendig. Sie fällt uoter kein direktes und ausdrückliches Gebot. Wir sagten jedoch bereits, (N. 353) als von der Verpflichtung zur Vollkommenheit die Rede war, es sei, um im Stande der Gnade zu verharren, zuweilen notwendig, Werke zu verrichten, zu denen man, streng genommen, nicht verpflichtet ist, also irgendwelche Räte praktisch zu befolgen. Dieses ist eine indirekte Verpflichtung, die auf dem Grundsatz beruht" Wer den Zweck will, muss auch die Mittel wollen. "

Handelt es sich aber um die Vollko17tlllenlzez't, so haben wir bereits bewiesen, (N. 338) man könne nicht ehrlich und erfolgreich nach ihr streben, ohne einige Räte zu befolgen und zwar solche, die mit unserer Stellung übereinstimmen. So z. B.kann keine verheiratete Person einen Rat befolgen, der ihren Pflichten, dem Gatten oder den Kindern gegenüber, widerspricht. Ein Seelsorgspriester kann nicht wie ein Einsiedler leben. Strebt man aber nach V 011- kommenheit, so muss man sich entschliessen, mehr zu tun, als wozu man unbedingt verpflichtet ist. Je hochherziger man sich der Befolgung von Räten hingibt, die mit den Standespflichten gut vereinbar sind, desto mehr nähert man sich J esus und der göttlichen Vollkommenheit, denn jene Räte sind der Ausdruck seiner Wünsche, die uns anbetreffen.

350 .

FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

483. c) Dasselbe ist von den Eingebungen der Gnade zu sagen, vorausgesetzt, dass sie klar ausgedrückt wore!en sind und e!em Urteile des Seelenführers unterbreitet wurden. Dann kann man sie besondere Räte nennen, die für diese oder jene Seele bestimmt sind.

Wohl muss man sie in ihrer Allgemeinheit dem Urteile des Beichtvaters unterbreiten, da man sonst leicht in Irrtum verfallen kann. So z. B. glauben feurige und lez'denschaftliche Seelen, die eine lebendige Phantasie haben, leicht, Gott spräche zu ihnen, während im Gegenteil ihre Leidenschaften ihnen diese oder jene sehr gefährliche. Übung zuflüstern. Furchtsame und ängstliche Seelen würden für Eingebung Gottes halten, was in Wirklichkeit nur das Ergebnis einer Überspannten Phantasie oder teuflische EinflÜsterung ist, um die Seele zu entmutigen. Kassian erzählt in seinen Abhandlungen über die Vorsicht I mehrere Beispiele davon. Erfahrene Seelenführer wi~?en, die Einbildung und der Teufel geben zuweilen Ubungen ein, die moralisch unmöglich sind und den Standespflichten widersprechen. Sie geben ihnen den äusseren Schein, als kämen sie von Gott. Diese Zuflüsterungen rufen in den Seelen Unruhe hervor. Folgt man ihnen, macht man sich lächerlich und raubt sich und anderen die kostbare Zeit. \;\Tidersteht man ihnen, so glaubt man, gegen den Willen Gottes zu handeln. Man verliert den Mut und lässt im Eifer nach. Eine gewisse Prüfung ist darum erforderlich. Die Verhaltungsmassregel, die man in solchen Fällen geben kann, ist folgende:

Handelt es sich um gewo'hnliclze Dinge, welche eifrige Menschen desselben Standes im allgemeinen zu tun pflegen, so verrichte man sie in hochherziger Weise, mit dem Vorsatze, später mit dem Seelenführer darüber zu sprechen. Handelt es sich jedoch um aussergewo'hnliche Dinge, mögen sie an und für

, 2. Abhandlung, Kap. 5-8

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 351 sich noch so unbedeutend sein, die jedoch von frommen Seelen gewöhnlich nicht getan werden, so soll man sich deren enthalten, bis man seinen geistlichen Führer um Rat gefragt hat. Man soll sich inzwischen nicht beunruhigen und treu seine Standespflichten erfüllen.

484. Ist erst diese Einschränkung gemacht, so ist es klar, dass e!er, welcher nach Vollkommen heit strebt, sorgsam auf die Stimme des Heiligen Geistes, e!er im Inneren spricht, hören muss. " Audz'am quz'd loquatur in me Dominus Deus. " I Bereitwillig und freigebig muss er ausfÜhren, was er von ihm verlangt. " Ecce venio ut facz'mfl, Deus, voluntatem tuam. " 2 Das aber ist nichts anderes, als der Gnade entsprechen und dieses willige, beständige Entsprechen ist gerade das, was uns vollkommen macht. "Ac{juvantes exhortamur ne in vacuum gratz'am Dez' recz'piatis." 3 Das Charakteristische der vollkommenen Seelen besteht gerade darin, den Eingebungen Gottes Gehör zu schenken und sie in e!ie Tat umzusetzen. " Qua: placz'ta SU1Zt eifacio semper. " 4

485. d) Was nun die Personen anbetrifft, die in Gemeinschaft leben, so werden sie um so vollkommener sein, je besser sie ihre Regeln und Konstitutz'onen beobachten. Diese nämlich sind von der Kirche ausdrücklich oe!er einschliesslich bestätigte Mittel, um zur Vollkommenheit zu gelangen. Beim Eintritt in den Orden verpflichtete man sich, sie zu beobachten. Schon früher (N. 375) legten wir dar, es sei zwar an und für sich keine Sünde, irgendeine Regel im einzelnen aus Gebrechlichkeit nicht zu beachten, aber abgesehen davon, dass sich in diese freiwilligen Nachlässigkeiten ein mehr oder weniger sündhafter Beweggrund einschleicht, ist es sicher, dass man durch die Nichtbeachtung, selbst, wenn

, Ps. LXXXIV, 9. -. Hebr., X, 9·

31I Korinther, VI, 1. - 4 loh., VIII, 29.

352 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

sie aus Schwäche geschieht, eine wertvolle Gelegenheit, Verdienste zu erwerben, verliert. Es bleibt wahr, dass die Beobachtung der Regeln zu den sichersten Mitteln gehört, Gottes Willen zu tun und für ihn zu leben. " Quz' reguke vz'vz't, Deo vivz·t. " Sich freiwillig und grundlos dagegen verfehlen, heisst, die Gnade missbrauchen.

Somit ist der Gehorsam dem kundgegebenen Willen Gottes gegenÜber das normale Mittel, zur Vollkommenheit zu gelangen.

2. VON DER GLEICHFÖRMIGKEIT MIT DEM WILLEN DES GÖTTLICHEN WOHLGEFALLENS.

486. Diese Gleichförmigkeit besteht darin, dass man sich allen, zu unserem Besten une! besonders zu unserer Heiligung von Gott gewollten oder zugelassenen Ereignissen unterwirft.

a) Sie stützt sich auf e!ie Grundwahrhez't, nichts geschehe ohne den Willen oder ohne Zulassung Gottes und, da Gott unendlich weise und unendlich gut sei, er nur stets das Wohl der Seelen im Auge habe, auch wenn man es nicht sehe. Das sagte Tobias inmitten seiner Trübsale und bei den Vorwürfen seines Weibes : "Justus es, Domine, ... et omnes vz'ce tUCl! mz'sericordz'a et veritas et judz'dum " I Im Buche der Weisheit heisst es " Tua autem, Pater, Provz'denÜ'a gubernat ... Attingz't ergo a fine usque ad finem fm'titer et disponz't omnia suaviter. " 2 Besonders aber der hl. Paulus prägt uns das ein : " DiHgentibus Deum omnia cooperantur in bonum. " 3

Um jedoch dies~ Lehre zu verstehen, muss man sich auf den Standpunkt des Glaubens, der Ewigkeit, der Ehre Gottes und des Heils der Menschen stellen. Sieht man nur das gegenwärtige Leben und das irdische GlÜck, so kann man die Pläne Gottes nicht verstehen. Er will uns auf Erden

, Tob., III, 2. - 2 Sap. XIV, 3; VIII, I. - 3 j?öm., VIII, 28.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 353 prüfen, um uns dann im Himmel zu belohnen. Alles ist ~lesem Zweck untergeordnet. Die gegenwärtigen Ubel sind nur ein Mittel, um unsere Seele zu reinigen, in der Tugend zu festigen und uns Verdienste gewinnen zu lassen. Alles im Hinblick auf die Ehre Gottes, die der letzte Zweck der Schöpfung bleibt.

487. b) Es ist also unsere Pflz'cht, uns Gott zu unterwerfen und zwar in allen glücklichen und unglücklichen Ereignissen, in öffentlichen oder ane!eren Heimsuchungen, in e!en Unwettern der Jahreszeiten, in Armut und im Leiden, in Trauerfällen, wie in angenehmen Ereignissen, in der ungleichen Verteilung natürlicher oder übernatürll.cher Gaben, in Entbehrungen ebenso wie im Uberflusse, in den Misserfolgen oder in Erfolgen, in der Trockenheit, in Tröstungen, in Krankheit, im Wohlbefinden, im Tode und in den Leiden und Ängsten, die er mit sich bringt. - Wie Job, I der Mann Gottes, sagte : "Empfangen wir aus der Hand Gottes e!as Gute, warum sollten wir nicht auch das Übel in Empfang nehmen? - Sz' bona suscepimus de manu Dei, mala qua re non suscipiamus?" Der hl. Franz von Sales erläutert diese 'Worte une! bewundert ihre Schönheit. ,,0, Gott, welch' überaus grosse Liebe liegt in diesem Worte! Er denkt daran, 0, Theotimus, aus der Hand Gottes die Güter erhalten zu haben und beweist, diese nicht so sehr als solche geschätzt zu haben, sondern vielmehr, weil sie aus der Hand Gottes kamen. Und so zieht er den logischen Schluss : " Man mÜsse deshalb auch geduldig die Widerwärtigkeiten ertragen, weil Gott sie uns schicke; der stets liebenswürdig sei, ob er nun Leiden sende oder Tröstungen schenke." 2 Tatsächlich geben uns Leiden Gelegenheit, besser unsere Liebe zu Gott zu bewei-

I Job, ~I, 10. - 2 S. FR. V. SALES, Amour de Dieu, 1. IX, c. 2.

N° 683. -12

354 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

sen. Ihn zu lieben', wenn er uns mit Gütern überschüttet, ist leichte Sache. Aber es gehört vollkommene Liebe dazu, aus seiner Hand Übel entgegenzunehmen, da diese nur insofern liebenswÜrdig sind, als er es ist, der sie über uns kommen lässt.

488. Diese Unterwerfungspflicht unter Gottes Wohlgefallen ist eine Pflicht der Gerechtigkeit und des Gehorsams, da Gott unser höchster Herr ist, der alle Gewalt über uns besitzt. Eine Pflicht der Kluglzez't, e!enn es wäre \iVahnsinn, dem \iVirken der Vorsehung sich entziehen zu wollen, während wir doch in der demütigen Ergebung Frieden finden. Eine Pflicht eignen Nuü;ens, denn Gottes \;Ville prüft uns nur zu unserem Wohle, damit wir Tugend üben und Verdienste fÜr den Himmel sammeln können. Besonders aber eine Pflicht der Lz'ebe, e!enn die Liebe ist Hingabe seiner selbst bis zur Aufopferung.

489. c) Um indessen den heimgesuchten Seelen die Unterwerfung unter e!en Willen Gottes leidtter zu machen, ist es gut, ihnen, falls sie noch nicht zur Liebe des Kreuzes gelangt sein sollten, sie auf einige Mittel hinzuweisen, um ihre Leiden ;~u lindern. Zwei Heilmittel dienen zur Erleichterung. Das eine ist negativ, das andere posz'tz·v. I. Das erste ist, die Leiden e!urch ein falsches Verhalten nicht zu vergrössern. So z. B. gibt es Menschen, die ihre vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen 'Übel sammeln und daraus gleichsam einen riesigen Felsblock machen, der ihnen unerträglich erscheint. Gerade das Gegenteil muss man tun. J ee!em Tage genügt seine Plage. "Suffiät diei malitia sua." I Anstatt die Wunden der Vel'gal1genlteit, die schon vernarbt sind, wieder aufzureissen, muss man nur claran denken, den Nutzen festzuhalten, den sie uns brachten. Die gesammelten Verdienste, den

I Afattli., VI, 34.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 355 durch die Geduld erlangten Fortschritt in der Tugend, die Gewohnheit, Schmerzliches zu ertragen. J\.uf diese Weise lässt der Schmerz nach, denn ein Ubel fÜhlen wir erst eigentlich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken. Eine Ehrabschneidung, Verleumdung, Beleie!igung ärgert uns um so mehr, je öfter wir daran denken.

Was die Zukunft anbetrifft, so ist es töricht, sich damit zu befassen. Wohl ist es klug, sie vorauszusehen, um sich auf sie, soweit es möglich .. ist, vorzubereiten. Aber im voraus schon an die Ubel denken, e!ie uns möglicherweise begegnen können, und sich schon darüber betrÜben, heisst, seine Zeit und seine Kräfte verschwenden. Denn diese Übel können ausbleiben. Kommen sie aber über uns, so mÜssen wir sie mit Gottes Hilfe, die uns zur Milderung der Leiden verliehen wird, ertragen. Gegenwärtig haben wir sie noch nicht und sind unseren eignen Kräften Überlassen. Darum setzen wir uns der Gefahr aus, unter der Last, die wir uns selbst auflcgen, zusammenzubrechen. Ist es deshalb nicht klüger, sich gänzlich der göttlichen Vorsehung anzuvertraucn und alle Gedanken und Phantasiebilder, die uns vergangene oder zukünftige Leiden vor Augen halten, grundsätzlich von uns zu weisen?

490. 2. Das positive Mittel besteht darin, dass man zur Zeit des Leidens an die grossen Vorteile denkt, welche das Leiden mit sich bringt. Das Leiden ist ein Ersz'eher, eine Quelle von Verdz'enS~e7t. Erzieher, d. h. ein Spender von Licht und Kraft. Es erinnert uns daran, dass wir auf Erden Verbannte sind, auf dem "Vege zur Heimat, und dass wir nicht irdischem Troste nachjagen sollen, weil das wahre GlÜck nur im Himmel sei. Aber, wie ein Dichter schrieb:

" Ist die Verbannung zu angenehm, So macht man aus ihr seine Heimat! "

(" Quane! l'exil est trop e!oux, on en fait sa patrie! ")

356 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

Das Leiden ist auch eine Kraft. Die Gewohnheit, stets nur Angenehmes zu geniessen, lähmt allmählich die Tatkraft, verweichlicht die Gemüter, ja, führt zu schändlichen Zugestäne!nissen. Das Leiden hingegen, zwar nicht durch sich selbst, wohl aber durch die Rückwirkung, die es hervorruft, hält unsere Willenskräfte in Spannung und stärkt sie. Es befähigt uns für die hervorragendsten Tugenden, wie man es während des Weltkrieges beobachten konnte.

491. Das Leie!en ist auch eine Quelle von Verdz'ensten für uns selbst und für die anderen. Ertragen wir aus Liebe zu Gott und in Vereinigung mit J esus gee!uldig unser Leiden, so erwirbt es eine ewige, alles überwiegende Herrlichkeit, wie der hl. Paulus immer wieder e!en ersten Christen einzuschärfen pflegte. "Ich halte dafür, dass die Leiden dieser Zeit nicht zu vergleichen sind mit der zukünftigen Herrlichkeit in uns. Denn unsere gegenwärtige Trübsal, die augenblicklich und leicht ist, bewirkt eine ewige, alles überwiegende Herrlichkeit in uns. - Existimo enim quod non sunt condignm passiones hujus temporz's ad futumm gloriam qum revelabz'tur in nobis. I Momentaneum et leve tribulationz's nostrm ... mternum glorza: pondus operatur z'n nobz's. " 2 Und fÜr ee!le Seelen fügt er hinzu, sie trügen zum Wohle e!er Kirche bei und vervollständigten das Leiden Christi, wenn sie mit Jesus leiden." Adimpleo ea qum desunt passionullZ Christi in ranze llZea pro c01jJore ejus quod est Ecclesz·a. " 3 Das ergibt sich nämlich aus der Lehre von der Einverleibung mit Christus (N. 142). Diese Gedanken beseitigen zwar nicht e!as Leiden, aber sie lindern eigenartig seine Bitterkeit, da sie uns die Fruchtbarkeit desselben, sozusagen, handgreiflich machen.

Alles ladet uns somit ein, unseren \;Villen dem göttlichen, selbst im Leiden, gleichförmig zu

1 Römer, VIII, 18. - 211. Korinther, IV, 17. - 3 Kolosser, 1,24·

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 357

machen. Sehen wir jetzt einmal, welches die Grade dieser Gleichförmigkeit sind.

3. DIE GRADE VON GLEICHFÖRIIIJGKEIT MIT DEM WILLEN GOTTES.

492. Der M. Bernhard unterscheidet drei Grade dieser Tugend. Sie entsprechen e!en drei Graden der christlichen Vollkommenheit. " Der Anfänger trägt aus Furcht geduldig das Kreuz Christi. Der Fortschreitende fühlt sich durch die Hoffnung bewogen, es mit einer gewz'sse1Z Freude zu tragen. Der Vollkommene, der ganz in Liebe aufgeht, umarmt es inbrÜnstig. " I

A) Die Anfänger treibt die Gottesfu1'cltt an; sie lieben nicht das Leiden und gehen ihm eher aus dem Wege. Indessen lieber leiden sie, als Gott zu beleidigen. Wohl seufzen sie unter der Last des Kreuzes, aber sie tragen dasselbe geduldig. Das sind die Ergebenen.

B) Die Fortschreitmdm stützen sich auf die Hoffnung- und den Wunsch nach himmlischen GÜtern. Weil sie wissen, jedes Leiden verdiene eine ewige, überwiegende Herrlichkeit, tragen sie zwar gern und freuoig e!as Kreuz, aber auch sie suchen es noch nicht. "Euntes z'bant et ßebant mittentes semina sua. Venientes autem vem'ent CU1lt exsultatione, portantes lIIanipulos suos. " 2

C) Die Volll<o11lmenen, die von der Lz'ebe geleitet werden, gehen weiter. Sie wollen Gott, den sie lieben, verherrlichen und J esus auf vollkommenere Art gleichförmig werden. Sie gehen deshalb den Kreuzen entgegen, ja, wünschen sie sehnlichst, Ulnarmen sie inbrÜnstig, nicht weil sie, an und für sich, Liebe verdienen, sondern, weil sie fÜr uns ein Mittel sind, Gott und J esus unsere Liebe zu bezeu-

I " Qui initiatur a timore, crncem Christi slIstillet patimter. Ql1i proficit in spe, portat libenter. Qui vero consummatur in caritate, a111plecti/ur jam ardenfer. "S. BERN. I. Sermo S. Andrere, 5. _.2 Ps. CXXV, 6.

358 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

gen. Wie die Apostel, so freuen sie sich, für würdig gehalten worden zu sein, um des Namens J esu willen zu leiden. Ihr Herz schwelgt in Freude mitten in ihrer Trübsal. 1 Dieser letzte Grad wird e!ie heilige Hingabe genannt. Wir werden später bei der Abhandlung über die Gottesliebe darauf zurückkommen. 2

11. Die Glez'chför1Iu'gkez't mit del/l Wz'llen Gottes soll uns hez'lig;en.

493 .. Aus allem, was wir gesagt haben, geht deutlich hervor, diese Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen könne uns nur heiligen, da sie unseren "Villen und e!adurch unsere anderen Fähigkeiten mit e!emjenigen vereint, der die Quelle aller Heiligkeit ist. Um e!ieses besser zu verstehen, wollen wir einmal untersuchen, wie sie uns reinz'gt, umgestaltet und uns J esus Christus älmlz'clt macht.

494. I. Diese Gleichförmigkeit reinzj;t uns. Schon im Alten Testament liess Gott oft wissen, er sei bereit, alle SÜnden zu verzeihen und der Seele den Glanz ihrer ursprünglichen Reinheit wiederzugeben, wenn sie Herz und Willen ändere. " Lavalllini, mundz' estote. Auferte malum cogitationulIl 'uestrarum ab oculis meis. Quiescite agere perverse, discite benefacere ... Si fuerint peccata vestra ut coccinu1/l, quasi nix dealbabuntur ... " 3 Seinen Willen dem göttlichen gleichförmig machen, heisst aber zweifellos, das Herz ändern, aufhören, Böses zu tun und lernen, Gutes wirken. Will das nicht die so oft wiederholte Schriftstelle sagen : " Me/im' est enim obedientia quam victilllcE"? 4 - Im Neuen Testament erklärt J esus gleich bei seinem Eintritt in die Welt, durch den Gehorsam ersetze er alle Opfer des Alten Gesetzes: "Holocautomata pro peccato non tibi pla-

'Nachfolge Christi, III B., 17 Kap.

2 FR. V. SALES " Amou,- de Dieu. " IX. B., 1.0 Kap. - 3 Isa. , I, 16-18. 4 [Buch der Könige XV, 22; vgl. Os., \'1, 6; Mattlt., IX, I3; XII, 7·

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 359

cuerunt, tune dixi : Ecce vem·o ... ut facia1ll, Deus, voluntatem tua11l." I Und tatsächlich hat er uns während seines Lebens und besonders auf dem Kalvarienberge durch den bis zur Hinopferung seiner selbst gesteigerten Gehorsam wiedererkauft. " Factus obediens ztsque ad mortem, mortelll autelll crucis. " 2 So sollen auch wir durch Gehorsam und Annahme der von der Vorsehung fÜr uns bestimmten Heimsuchungen in Vereinigung mit J esus unsere Sünden sühnen und unsere Seele reinigen.

495. 2. Die Gleichförmigkeit gestaltet uns um.

Was uns missgestaltet hat, ist die ungeordnete Liebe zum Genuss. Wir gaben ihr aus Bosheit oder ScJlwäc.1ze nach. Die Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes aber heilt uns von dieser zweifachen Ursache unserer Rückfälle.

a) Sie heilt uns von der Bosheit, die selbst ihren Grund in unserer Anhänglichkeit an die Geschöpfe und besonders am Festhalten an unserem Urteil und an unserem Eigenwillen hat. Sobald wir nämlich unseren Willen dem göttlichen gleichförmig machen, nehmen wir die Urteile Gottes als Richtlinie für die unsrigen und seine Gebote und seine Räte als Regel fÜr unsern vVillen an. So machen wir uns von den Geschöpfen und von uns selbst frei, ebenso von e!er Bosheit, die von jener Anhänglichkeit herkam.

b) Sie heilt unsere Schwäche, die Ursache so vieler Niederlagen. Anstatt uns auf uns selbst zu stützen, die wir doch so gebrechlich sind, lehnen wir uns durch den Gehorsam an Gott, den Allmächtigen, an, der uns an seiner Kraft teilnehmen lässt. So vermögen wir, den schwersten Versuchungen zu widerstehen. " 011tnia POSSU11l in eo qui me confortat. " 3 Tun wir seinen "Villen, so gefällt es ihm,

, Heh·., X, 6,7. - 2 Phii., II, 8. - 3 Phii., IV, 13.

360 FÜNFTES KAPITEL - MITTEL

den unsrigen zu erfüllen und zwar durch Erhörung unserer Gebete und durch Kraftverleihung in unserer Schwäche.

Frei von Bosheit und Schwäche, hören wir dann auf, Gott freiwillig zu beleidigen und gestalten allmählich unser Leben um.

496. 3. Wir machen es dadurch dem Leben Jesu Christi glez'chförmig. a) Die der Wirklichkeit am meisten entsprechende, innigste une! tiefste Gleichförmigkeit ist die, welche zwei Willen verbindet. Durch die Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen aber unterwerfen wir unseren Willen dem Willen Jesu, dessen Speise es war, den Willen seines Vaters zu tun, und vereinigen ihn mit dem seinigen. Wie er und mit ihm wollen wir nur, was er will, und e!as währene! e!es ganzen Tages. Es ist dieses also ein Zusammenschmelzen beider Willen in einen einzigen. Unum 'velle, unum nolle. Wir machen nur mehr eins mit ihm aus. Seine Gedanken, GefÜhle, Wünsche werden auch die unsrigen : "Hoc mim sentite in vobis quod et in Christo Jesu. " I Und bald können wir mit e!em hl. Paulus sagen : " Vz'vo autem,jam non ego, vivit vel'O z'n Jlte Christus. " 2

497. b) Durch die Unterwerfung unseres Willens, unterordnen wir Gott und vereinigen mit ihm alle Fähigkeiten, über die wir verfügen. Folglich unsere ganze Seele, die allmählich mit den Gesinnungen, Willensäusserungen une! Wünschen e!es Heilandes übereinstimmt. Dadurch erwirbt sie nacheinander alle Tugenden ihres göttlichen Meisters. Was wir von der Liebe sagten, (N. 3 I8) kann man auch auf die Gleichförmigkeit mit dem Willen ~es beziehen. Sie ist der beste Ausdruck der Liebe zu Gott. Sie enthält also, wie der hl. Frallz von Sales 3 lehrt, alle Tugenden, ganz wie die Liebe. "Die Hingabe ist die Tugend der Tugene!en. Sie ist das Kostbarste

I Phil., II, 5. - 2 Galat., II, 20. - 3 Entretien XI.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 361 der Liebe, der Duft der Demut, und, wie es scheint, der Lohn für die Geduld und die Frucht der Standhaftigkeit. "- Deshalb auch gibt] esus allen denen, welche den \;Villen seines Vaters tun, den trauten Namen "Bruder, Schwester, Mutter." Quz'cumqlle enim fecerz't voluntatem Patris mei qui in ccelis est, zpse lneus frater et soror et mater est. " I

SCHLUSSFOLGERUNG.

498. Die Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen gehört somit zu den wirksamsten Mitteln der Heiligung. Wir können darum nicht besser als mit den Worten der hl. Therese 2 schliessen : " Der einzige Ehrgeiz desjenigen, der sich mit dem Gebet zu beschäftigen beginnt - vergessen Sie das nicht, denn es ist wichtig - soll im ernsten Bestreben liegen, seinen Willen dem göttlichen gleichförmig zu machen... Darin besteht voll und ganz die höchste Vollkommenheit, e!ie man auf dem geistlichen Wege erreichen kann. Je vollkommener diese Gleichförmigkeit ist, desto mehr empfängt man von Gott und desto schneller kommt man auf diesem \;Vege vorwärts." - Die hl. Therese fügt hinzu, gern hätte sie selbst auf diesem Wege der Gleichförmigkeit zu leben gewünscht, ohne zu Verzückungen und Extasen erhoben zu werden, so tief war sie überzeugt, dieser Weg genüge zur höchsten Vollkommenheit.

§ IV. Das Gebet. 3

499. Das Gebet fasst alle vorigen Akte zusammen und vollendet sie. Es ist ein Verlangen nach

, iv/alt!,., XII, 50.

2 Chdteau interieur, 2. Dem., S. 71, ed. des CarmeJites.

3 S. THOMAs, Ira Irre, q. 83-84. - SUAREZ, De Religione, Tr. IV, lib. 1. De oratio71e. - ALVAREZ DE PAZ, t. III, lib. 1. - S. ALPH. DE LIGUORI, Du grand 1JZoyen de la priCre. - P. MONSABRE, La P,-;ere, Philosopltie et TM%gie de la priere. - P. RAMIERE, L'Apostolat de la prifre. - P. SERTILLANGES, La PriCl'e, 1917.

362 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

Vollkommenltez't. Man würde nicht ehrlich beten, wollte man nicht besser were!en. Es setzt eine g-ewisse Gottes- und Selbsterkenntnz's voraus, da es Beziehungen zwischen bei den anknüpft. Es macht unsern vVz'llen dem göttlichen glez'cJiförlll(r;, denn jedes gute Gebet enthält ausdrÜcklich oder einschliesslich einen Akt der Unterwerfung unter den höchsten Herrn. Es vervollko11lmnet alle diese Akte, weil es uns zu Füssen der göttlichen Majestät legt, um sie anzubeten und um neue Gnaden zu erflehen, die es uns ermöglichen, auf dem \;V ege der Vollkommenheit neue Fortschritte zu machen. Wir werden darlegen : I. Das Wesen des Gebetes, 2. seine Wirksa1ll/feit als Mittel, um zur Vollkommenheit zu gelangen, 3. die Art und vVeise, unser Leben in ein andauerndes Gebet zu verwane!eln.

1. Das vVesen des Gebetes.

500. Wir nehmen hier das Wort" Gebet" in seiner allgemeinen Bedeutung, nämlich als Erhebung unserer Seele zu Gott. Es soll Näheres gesagt werden, erstens, über seinen Begriff, zweitens, über seine verschiedenen Formen und drittens, Über clas vollkommene Gebet oder e!as Vaterunser.

J. \VAS MAN UNTER GEBET VERSTEHT.

501. Bei den Kirchenvätern finden wir drei Begriffsbestimmungen oder Definitionen in bezug auf das Gebet. Sie vervollständigen.ltch gegenseitig. Im gebräuchlichsten Sinne ist, I) wie der hl. J ohannes von Damaskus I sagt, das Gebet eine Erhebung des GemÜtes zu Gott. "Ascensio mentis in Deu1lZ. " Vor ihm nannte der hl. Augustinus 2 das Gebet eine innige Hinwendung des Gemütes zu Gott. "Oratio namque est melttz's ad DeulIl affectuosa iutentio." 2) In engerem Sinne nennt man es die

I De Fide ort/IOd., I. EI, c. 24. P. G. XCIV, 1090. 2 Senn. IX, l\. 3.

'"

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 363

Bitte zu Gott um geziemende Dinge. "Petitio decentium a Deo." I 3) Um die gegenseitigen Beziehungen auszudrücken, welche das Gebet zwischen Gott und der Seele herstellt, schildert man dasselbe als Gespräch mit Gott. " Oratio, conversatio, sermodnati(ique cum Deo est." 2 Alle diese Auffassungen sind wahr. Fasst man sie zusammen, so kann man das Gebet begrifflich erklären als eine Erhebung unserer Seele zu Gott, in·der Absicht, ihm gegenüber unsere Pflichten zu elfiillen und seine Gnade zu erflehen, um durch sie, zu seiner Eitre,

besser zu werden.

502. Das Wort Erhebung ist nur ein bildlicher Ausdruck, welcher das BemÜhen andeuten soll, dem wir uns unterziehen, um uns von den Geschöpfen und von uns selbst freizumachen und an Gott zu denken, der uns nicht nur von allen Seiten umgibt, sondern im Innersten unserer Seele wohnt. Da wir nur zu leicht dazu neigen, unsere Fähigkeiten mit einer Unmenge von Dingen zu beschäftigen, so ist eine Anstrengung notwendig, um sie jenen nichtigen und verführerischen Dingen zu entreissen, zu sammeln und auf Gott allein zu richten. Diese Erhebung nennt man ein Gespräch, weil das Gebet, ob es nun eine Anbetung oder eine Bitte sei, eine Erwiderung von seiten Gottes erheischt und auf diese Weise eine Art Zwiegespräch ist, mag dasselbe auch noch so kurz sein.

In diesem Gespräch muss natürlich unser erster Akt sein, Gott gegenüber unsere Pflichten der ihm gebührenden Verehru ng- zu erfüllen, ganz wie man erst die Person begrüsst, mit der man sprechen will. Ist erst dieser natürlichen Pflicht Genüge geleistet, so kann man sein Anliegen vorbringen. Viele vergessen das. Gerade das ist einer von den Gründen, derentwegen so manche Gebete wenig Erhörung

, S. JOH. DAMAsc., ibidem.

2 S. GRKG. Nys. Oratio I. de oral. Domini. P. G. XLIV. II24·

364 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

finden. Selbst, wenn wir Gnaden für unsere Heiligung oder für unser Seelenheil uns erbitten, dürfen wir nicht vergessen, der Hauptzweck soll die Ehre Gottes sein. Deshalb fügten wir der Definition des Gebetes die Worte bei: um durch sie, zu seiner Ehre, besser zu werden.

2. DIE VERSCHIEDENEN GEBETS ARTEN.

503. A) Im Hinblick auf den doppelten Zweck des Gebetes unterscheidet man die Anbetung und die Bitte.

a) Die Anbetung. Die Anbetung, als solche, gilt dem höchsten Herrn. Da aber Gott auch unser Wohltäter ist, sind wir ihm zum Danke verpflichtet. Ferner, weil wir ihn beleidigt haben, müssen wir '11 dieses Unrecht wiedergutmachen.

I) Der erste Gedanke, der sich aufdrängt, sobald man sich an Gott wendet, ist die Anbetung, d. h. die Anerkennung der Oberhoheit Gottes und unserer allergrössten Abhängigkeit von ihm. r Die gesamte Natur betet in ihrer Weise Gott an. Die aber, die weder mit einem Empfindungsvermögen, noch mit Vernunft begabt ist, hat kein Herz, um Gott zu lieben und keinen Verstand, um ihn zu begreifen. Sie begnügt sich deshalb damit, ihre Ordnung, ihre verschiedenartigen Tätigkeiten und ihren Schmuck vor unseren Augen auszubreiten. " Sie selbst kann nicht sehen, aber sie zeigt sich. Sie selbst kann nicht beten, aber sie treibt uns dazu an und gestattet nicht: dass uns Gott, den sie selbst nicht wahrnimmt, unbekannt bleibe. Der Mensch jedoch, das göttliche Lebewesen, mit Vernunft begabt, ist fähig, Gott zu erkennen, und zwar durch sich selbst und durch alle Geschöpfe. Von selbst und von allen anderen Geschöpfen wird er gleichsam gezwungen, Gott Anbetung zu zollen. Aus

, BOSSUET, Sermon sur le culte de Dielt, ed. Lebarq, t. V. S. r06.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 365 diesem Grunde ist er mitten in die Welt hineingesetzt, eine kleine, geheimnisvolle Welt für sich, um das ganze Weltall zu betrachten und es in sich selbst aufzunehmen und so sich selbst und alle Dinge auf Gott allein zurückzuführen, so dass er nur der Beobachter der sichtbaren Wesen sei, um das unsichtbare Wesen anzubeten, welches durch seine Allmacht alles aus dem Nichts hervorgebracht hat." r Mit anderen Worten, der Mensch ist der Hohepriester der Schöpfung. Er hat die Aufgabe, sowohl in seinem N amen, wie auch im Namen aller Geschöpfe, Gott zu verherrlichen. Diese Aufgabe erfüllt er, indem. er erkennt, "dass Gott ein vollkommenes und daher unerfassliches, erhabenes und Wohltaten spendendes Wesen ist. Es liegt in unserer Natur, was vollkommen ist, zu verehren und dem Erhabenen uns zu unterordnen, allem Guten anzuhaften." 2

504. Darum verehren die Mystiker gern in den Geschöpfen die Macht, die Majestät, die Schönheit, die Tatkraft und Fruchtbarkeit Gottes, der sich unter diesen Geschöpfen verbirgt. ,,0, mein Gott, ich verehre dich in allen Geschöpfen, ich bete dich an als wahre und einzige Stütze der Welt. Ohne dich wäre nichts. Alles, was besteht, besteht nur in dir. Ich liebe dich, 0, mein Gott, und preise deine Majestät, die allen Geschöpfen eingeprägt ist. Alles, was ich erblicke, 0, mein Gott, dient nur dazu, deine, den Augen der Menschen verborgene Schönheit zu erkennen zu geben. Ich bete deine Pracht und deine Majestät an, die tausendmal schöner als die der Sonne ist. Ich bete deine befruchtende Kraft an, die tausendmal bewunderungswürdiger ist, als die der Gestirne ... " 3

505. 2) Der Anbetung folgt die Danksagung.

Denn Gott ist nicht nur unser höchster Herr und

'BOSSUET, L ci!. S. !O5. - 2 BOSSUET, L cit. S. roS. 3 OLlER, journee chrlt. Il. P

366 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

Gebieter, sondern auch unser grösster Wohltäter. I hm verdanken wir alles, was wir sind und was wir haben, sowohl in der Ordnung der Natur wie in der Ordnung der Gnade. Aus diesem Grunde kann er auf beständige Dankbarkeit von unserer Seite Anspruch erheben, denn aus seiner Hand empfangen wir unaufhörlich neue Wohltaten. Deshalb fordert uns die Kirche täglich vor d~ feierlichen Augenblick des Kanon auf, Gott für alle seine Wohl~aten zu danken, besonders aber für diejenige, die alle anderen in sich scbliesst, für die Wohltat der beiligen Eucharistie. " Gratias agamus Domino Deo nostro. Vere dignum et justuln est, a:quum et salutare gratias agere ... " Zu diesem Zwecke legt sie uns die erhabenen Dankesworte auf die Lippen: " Gratias agimus tibi propter magna11l gloriam tuam." 1 Und darin befolgt sie nur das Beispiel J esu, der oft seinem Vater dankte, ebenso die Lehren des h1. Paulus, der uns auffordert, Gott für alle Wohltateri zu danken : "In olllnz'bus gratias agite, luz:c est voluntas Dei ... 2 Gratias Deo super inenarrablli dono '!ius. " 3 Übrigens braucht man Menschen, die ein fühlendes Herz in der Brust haben, nicht an diese Pflicht zu erinnern. Durch den Gedanken an die göttlichen Wohltaten fühlen sie sich von selbst angetrieben, unaufhörlich ihrem Danke Ausdruck zu verleihen. Und es kommt ihnen aus dem Herzen.

506.3) Im Zustande der gifallenen Natur haben wir noch eine dritte Pflicht, nämlich die SÜhne und die Wiedergutmachung. Nur allzu oft haben wir die unendliche Majestät Gottes durch unsere Sünden beleidigt, ja, wir haben sogar zu diesem Zwecke die Gaben Gottes missbraucht. Das ist ein Unrecht, welches' eine möglichst vollkommene Wiedergutmachung von uns fordert. Sie besteht hauptsächlich in drei Akten : In dem demütigen Geständnz'sse

1 Gloria in excelsis Dco. - :2 I T/zess., V, 18. 311 Korinth., IX, r5,

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 367

unserer Sünden. " Conjiteor Deo olllnipotenti." In aufrichtiger Reue : " Co!' contritu11l et humiliatullt non despides." In der mutigen Amtahllle von Prüfungen, die uns Gott schicken wird. Wollen wir hochherzig sein, so werden wir damit die Atifopferung unserer selbst in Vereinigung mit dem Opferlamm des Kalvarienberges verbinden. Dann werden wir demütig Verzeihung erflehen und erhoffen können. " J11isereatltr ... Indu!gentialll." Wir werden auch neue Gnaden erbitten können.

507. b) Die Bitte. Petitio decentiulll a Deo. Sie ist an und für sich eine .flttldigung', die man Gott wegen seiner Macht, seiner GÜte und wegen der Wirksamkeit der Gnade entgegenbringt. Sie ist ein Akt des Vertrauens, der denjenigen ehrt, an den er gerichtet ist. r

Der eigentliche Grund des Gebetes ist einerseits die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen und Kindern, andererseits unser dringendes Bedürfnis seiner Hilfe. Als unerschöpfliche Quelle aller Güter verlangt er sehnlichst danach, diese letzteren in unsere Seelen zu ergiessen : bonu11l est sui dijfusivu1lt. Als unser Vater wünscht er nichts so sehr, als uns an seinem l...eben teilnehmen zu lassen und es in uns zu vermehren. Um dieses leichter zu erreichen, sendet er seinen Sohn auf die Welt, seinen einzigen Sohn, der voll Gnade und vVahrheit erscheint, um uns mit seinen Schätzen zu bereichern. Ja, noch mehr. Er ladet uns alle ein, um seine Gnaden zu bitten und verspricht, sie uns zu gewähren. "Petite et dabitur vobis, qua:rÜe et iltvenietis, pulsate et aperietur vobis. " 2 Wir sind also sicher, Gott wohlgefällig zu sein, wenn wir unsere Bitten an ihn richten.

I" Per orationem homo Deo reverentianl exhibet, in quantum scilicet ci se subjicit, et profitetur orando se co illdigere SiCllt auctore suorum bonorum ... S, THOM" lIa Ila:, q, S3, a, 3,

2 jl1"IIII., VII, 7.

t#

368 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

508. Übrigens haben wir es dringend nötig.

Sowohl in der Ordnung der Natur, wie in derjenigen der Gnade sind wir arm, "mendici Dei sumus." Wir sind in grösster DÜrftigkeit. Selbst in der natürlichen Ordnung wesentlich von Gott abhängig, vermögen wir nicht einmal die Existenz, die er uns gab, zu erhalten. Wir hängen dabei von physischen Ursachen ab, die ihrerseits Gott gehorchen. Vergeblich werden wir sagen, wir hätten doch Gehirn und Arme und könnten durch unsere Willenskraft aus dem Schosse der Erde holen, was wir zu unserem Unterhalte brauchen. Gehirn und Arme werden von Gott erhalten und treten nur mit seinem Beistande in Tätigkeit. Die Erde bringt uns Früchte hervor, wenn Gott sie mit seinem Regen befeuchtet und mit den Strahlen seiner Sonne befruchtet. Ach, und wieviele unvorhergesehene, unglückliche Ereignisse können reife Ernten vernichten! - Um wievielmehr jedoch hängen wir in der ÜbernatÜrlichen Ordnung von Gott ab! \,y'ir brauchen LZ'cllt, um den richtigen Weg zu sehen. Wer aber soll es uns geben, wenn nicht der Vater des Lichtes? Uns ist Mut und Kraft notwendig, um dem Lichte folgen zu können. Wer soll uns dieselben verleihen, wenn nicht der Allmächtige? \,y'as bleibt uns also anderes übrig, als den Beistand dessen zu erflehen, der uns gern helfen will?

509. Man sage nicht, Gott kenne durch sein Wissen alles, was uns notwendig und nützlich sei. Der hl. ThOl1laS antwortet darauf : Zweifellos bewilligt er uns lediglich durch seine Freigebigkeit viele Dinge, ohne dass wir ihn darum gebeten haben, aber andere gibt es, die er nur auf unser Gebet hin gewährt, und das zu unserm Besten, damit wir nämlich unser ganzes Vertrauen auf ihn setzen und ihn als Urheber aller unserer Güter anerkennen. " Ut sdlz'cet jiduciam quamdam acczpiamus recurrendi ad Deum, et ut recognoscamus eum esse bonorulll

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 369

1lostrorum auctorem." r Beten wir, so haben wir einerseits mehr Vertrauen, erhört zu werden, andererseits sind wir weniger der Gefahr ausgesetzt, Gott zu vergessen. Wir vergessen ihn schon so wie so viel zu oft. Was aber würde sich ereignen, fühlten wir nicht das BedÜrfnis, in unserer Bedrängnis zu ihm zu flüchten?

Gott verlangt demnach mit gutem Recht das Gebet in Form einer Bitte.

510. B) In bezug auf die venchiedenen Arten des Gebetes unterscheidet man das betrachtende, das mÜndliclle, das ijifentliclle und das persönliche Gebet. a) Nach der Ausdrucksweise ist das Gebet betrachtend oder mÜndlz'ch, je nachdem es sich im Inneren der Seele vollzieht oder äusserlich sich kundgibt.

I) Das betrachtende Gebet ist somit eine Art innerliches Gespräch mit Gott, das sich nach aussen hin nicht bemerkbar macht. " Orabo spiritu, orabo et mente. "2 J edel' innere Akt, welcher bezweckt, uns durch Erkenntnis und Liebe mit Gott zu vereinigen, geistige Sammlung, Erwägung, Vernunftschluss, Erforschung, Vertrauen, Beschauung, Erhebung des Herzens zu Gott, kann man betrachtendes Gebet nennen. Alle diese Akte nämlich erheben uns zu Gott, auch der Blick in unser eigenes Ich, der ja unsere Seele nur weniger unwürdig dessen machen soll, der in ihr wohnt. Alle dienen zur Stärkung unserer Überzeugungen und um uns die Tugend üben zu lehren. Sie sind gleichsam eine Vorbereitung auf das Leben im Himmel, das in nichts anderem, als in der beseligenden, ewigen Anschauung Gottes besteht. Dieses Gebet ist auch die Nahrung und die Seele des mündlichen Gebetes. 3

511. 2) Dieses äussert sich durch Worte und Gebärden. Es wird oft in den heiligen Büchern

, S"m, theot, IIa Ure, q. S3, a. 2 ad 3, - 2 [ Korinther, XIV, 15· 3 Wir kommen im 2, Teile darauf zurück.

370 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

erwähnt, die uns auffordern, Stimme, Mund und Lippen zur Lobpreisung Gottes zu gebrauchen. " Voce mea ad Dominum clamavi ... Domine, labia lIlea aperies et os meU11l nuntiabit laudem tuam." 1 Aber warum auf diese Weise unsere Gefühle ausdrÜcken, da Gott sie doch in der Tiefe unseres Herzens liest? Es geschieht, um Gott nicht nur die Huldigung unserer Seele, sondern auch unseres Leibes und besonders der Spraclte darzubringen, denn er verlieh sie uns, um damit unsere Gedanken auszudrÜcken. Im Grunde genommen, ist dies die Lehre des hl. Paulus. Nachdem er nämlich dargelegt hat, J esus sei für uns ausserhalb J erusalems gestorben, ladet er uns ein, aus uns selbst herauszutreten und uns mit dem Vermittler des Glaubens zu vereinigen, um Gott ein Lobopfer darzubringen. " Durch ihn iasset uns Gott allzeit das Opfer des Lobes darbringen, das ist die Frucht der Lippen, welche seinen Namen preisen. Per ipsulIl erg-o offeraulUS Izostia1ll lau dis semper Deo, id est, j'ructulll labiorulIl conjitentium nOlllini ejus. " 2 - Es geschieht auch, um unsern Eifer anzuregen und zwar durch den Ton unserer Stimme. " Ut homo seipsu1/l excitet verbis ad devote oranduln. " 3 Die Psychologie beweist nämlich, dass die Gebärde das innerliche Gefühl steigert. ~ Auch zur Erbauung- des Nächsten dient es, denn andere andächtig beten sehen oder hören, vermehrt unsere Andacht.

512. b) Das mündliche Gebet selbst ist persönliclt oder öffentlich, je nachdem es von einer einzelnm Person oder im Namen einer Gemei1Zsclzaj't verrichtet wird. Wir haben übrigens bewiesen, die Gellleillsclzaj't, als solclte, schulde Gott öffentliche Huldigungen, da auch sie ihn als den höchsten Herrn und Wohltäter anerkennen muss. Darum ermahnte auch der hl. Paulus die ersten Christen,

, Ps, III. r7; L. 5, - 2 Hebr,. XIII, r5,

3 S, TIIOMAS, fit libl', Sm/eilt, 17, dis!. XV, 2, 4. a. 4.

ZUl{ ~[{LAN(jUN(j lJ~JZ VOLLKOMMENHEIT. 0/1

sie sollten nicht nur ein Herz sein, sondern auch einstimmig Gott mit J esus Christus verherrlichen. " Ut unani1l2es uno ore honorijicetis Deu1lZ et pat1'em Dominz' lZostri Jesu Christi." I Schon rler Heiland hatte seine Jünger aufgefordert, sich zum Gebete zu vereinigen und versprach ihnen, in ihre Mitte zu kommen, um ihre Bitten zu unterstützen." Ubi enim SUlZt duo vel tres congregati in nomine meo, ibi sum in medio eoru11t." 2 Gilt dieses von einer Versammlung von drei oder vier Personen, um wievielmehr, wenn eine grosse Menge sich versammelt, um Gott pflichtgemäss zu preisen. Der h1. Thomas erklärt, die \Virksamkeit des Gebetes sei dann unfehlbar. ,,/mpossibile est preces lIlultorU1ll nOll exau(lz"ri si ex multis oratz'onibus fiat quasi una. " 3 'Wie ein Vater, der den Bitten eines seiner Söhne widersteht, sich erweichen lässt, sobald er sieht, dass alle seine Kinder dasselbe erbitten, ebenso kann unser Vater im Himmel der eigenartigen Gewalt nicht widerstehen, die das gemeinschaftliche Gebet einer grossen Zahl seiner Kinder auf ihn ausÜbt.

513. Es ist also wichtig, dass die Christen sich oft vereinigen, um gemeinschaftlich Gott anzubeten und andere Gebete zu verrichten. Zu diesem Zwecke ruft die Kirche an Sonn- und Feiertagen zur heiligen Messe, die das vorzüglichste, öffentliche Gebet ist, und zu anderen gottesdienstlichen Veranstaltungen.

514. Weil sie jedoch nicht täglich die Gläubigen sammeln kann, Gott aber Tag für Tag verherrlicht zu werden verdient, so erteilt sie ihren Priestern und ihren Ordensleuten den Auftrag, mehrmals am Tage dieser heiligen Pflicht des öffentlichen Gebetes nachzukommen. Das geschieht durch das Breviergebet, welches sie nicht in ihrem persönlichen

, Römer, XV, 6, - 2 lila""" XVIII, 20, 3 COIllIIIClltar. in 111 alt h., c, X\' J I L

372 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

Namen, sondern im Auftrage der ganzen Kirche und für alle Menschen verrichten. Darum ist es auch wichtig, dass sie sich dann ganz besonders mit dem grossen Diener Gottes (le "Grand Religieux de Dieu "), dem Fleischgewordenen Worte, vereinigen, um mit ihm und durch ihn, per ipsul1l et cum ipso, et in ips'J, Gott zu verherrlichen und gleichzeitig um alle Gnaden zu bitten, deren das christliche Volk bedarf.

3, DAS PATER NOSTER ODER VATERUNSER.

515. Unter den Gebeten, die wir einzeln oder öffentlich verrichten, ist keines schöner als das, was uns der Heiland selbst gelehrt hat, das Vaterunser. A) Wir finden darin eine sehr geschickt verfasste Einleitung, durch die wir in die Gegenwart Gottes versetzt werden : " Pater noster qui es in ca:lis." Will man beten, so muss man s-ich zu allererst Gott nähern. Nun aber versetzt uns das Wort" Vater" unmittelbar in die Gegenwart desjenigen, welcher der beste Vater, der Vater des Wortes durch Zeugung, unser Vater durch Adop~ion ist. Der Gott der Dreifaltigkeit erscheint somit vor unserem Geist, derselbe Gott, der uns mit der gleichen Liebe umgibt, wie er seinen Sohn umfasst. Und, da dieser Vater im Himmel ist, d. h. allmächtig ist und die Quelle aller Gnaden, fühlen wir uns geneigt, ihn mit kindlichem, unbedingtem Vertrauen anzurufen, zumal wir zur Gottesfamilie gehören, alle Geschwister sind, da wir alle Gottes Kinder sind : Pater noster.

516. B) Dann kommt der eigentliche Gegenstand des Gebetes. Wir bitten um alles, was wir wünschen können, und zwar in der Reihenfolge, wie es sich gehört. a) Vor allem um den Hauptzweck " die Ehre Gottes. "Geheiligt werde Dein Name," d. h. er werde für heilig gehalten und als solcher öffentlich erklärt; b) dann bitten wir um den Nebenzweck, die Ausbreitung des Gottesreiches in uns. Sie

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 373 bereitet unseren Eintritt in das Himmelreich vor. "ZU uns komme Dein Reich;" c) um das wesentliche Mittel, welches uns ermöglicht, diesen zweifachen Zweck zu erreichen, nämlich um die Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen. "Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden." Daran reiht sich die Bitte um die Mittel zweiten Grades an, die den zweiten Teil des Vaterunsers bilden. d) Das positive Mittel, das tägliche Brot, das Brot für den Leib und das Brot für die Seele. Beide sind zu unserem Unterhalte und Wachst urne notwendig. e) Die negativen Mittel, welche folgendes umfassen: I) Die .. Verzeihung der SÜnde, des einzigen, wirklichen Ubels. Sie wird uns in demsel ben Masse zuteil, in welchem wir selbst anderen verzeihen, 2) Die Abwendung- von PrÜfungen und Versuchungen, in denen wir unteJ,")iegen könnten.3) Das Fernhalten von physischen Ubeln, von Lebensnöten, insofern als diese ein Hindernis für unsere Heiligung sind. " Sondern erlöse uns vom Übel. Amen! "

Wie erhaben ist doch dieses Gebet, weil darin sich alles auf die Verherrlichung Gottes bezieht und weil es so einfach und für alle erfasslich ist! Obwohl wir nämlich Gott darin verherrlichen, bitten wir doch zugleich um alles für uns Nützliche. Das war der Grund, weshalb die heiligen Kirchenväter und die Heiligen mit Vorliebe es auslegten. 1 Der Katechismus des Konzils von Trient enthält deshalb auch eine lange und ausführliche Erläuterung dazu.

I I. Wirksamkeit des Gebetes als Mittel fÜr die Vollkommenheit.

517. Das Gebet ist von so bedeutender Wirksamkeit für unsere Heiligung, dass die Heiligen immer wieder auf das Sprichwort hinwiesen:" Wer

, HURTER, Opu,'cula Patrum seleeta, 1. II; cfr. Sum, tlzeol" Ila 1I"', q, S3, a, 9; HL THERESE, Weg z. Vollkommenheit; P. MONSABRE, La priere dzvi1!e, te Pater.

374 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

recht zu beten versteht, versteht auch recht zu leben. file recte llOVit vivere qui recte novit orare." Besonders drei wunderbare Wirkungen ruft das Gebet hervor. I. Es macht uns von den Geschöpfen frei. 2. Es vereinigt uns gänzlich mit Gott. 3. Es verwandelt uns allmählich in ihn.

518. 1. Es macht uns von dm Gescltöpfen frei, insofern sie ein Hindernis für unsere Vereinigung mit Gott sind. Das geht schon aus seinem Begriffe hervor, denn, um uns zu Gott zu erheben, müssen wir uns zuvor von den Fesseln der Geschöpfe freimachen. Durch die verführerischen Reize, mit denen sie uns locken und durch den Egoismus, der uns beherrscht, vermögen wir dieser zweifachen Gefangennahme nur dadurch zu entweichen, dass wir die Fesseln sprengen, die uns an die Erde ketten. Nichts aber eignet sich dazu besser als die Erhebung der Seele zu Gott durch das Gebet. Um ihn und seine Ehre vor Augen zu haben, um ihn zu lieben, müssen wir aus uns selbst heraustreten, die Geschöpfe und ihre verräterischen Reize vergessen. Und sind wir erst einmal bei- ihm, durch trautes Gespräch mit ihm vereint, so vervollständigen seine unendlichen Vollkommenheiten, seinc liebenswürdigen Eigenschaften und der Blick auf die himmlischen Güter die Losschälung der Seele. " Quam sordet tellus dum ca:lum aspicio!" \iVir hassen immer mehr und mehr die TodsÜnde, die uns gänzlich von Gott abwenden würde, ja, selbst nach und nach die freiwilligen Unvollkommenheiten, die unsere Vertrautheit mit ihm verringern könnten. \Vir lernen auch die ungeordneten Neigungen energischer bekämpfen, die von Natur aus uns anhaften, weil wir besser verstehen, wie sehr sie uns von der Vereinigung mit Gott fern zu halten suchen.

519.2. Auf diese Weise wird unsere Vereinigung mit Gott vollkommener. Sie wird vollständiger und vollkommener.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 875

A) Vollständiger. Das Gebet nimmt alle unsere Fähigkeiten in Anspruch, um sie mit Gott zu vereinigen. a) Den höheren Teil der Seele, den Verstand, den es mit Gedanken an himmlische Dinge beschäftigt, den Willen, den es auf die Ehre Gottes und das Heil der Seelen richtet, das Herz, dem es gestattet, sich einem stets offnen, liebreichen und mitleidigen Herzen gegenÜber auszuschütten und Gefühle in sich wachzurufen, die der Heiligung nur förderlich sein können. b) Die sinnlichen J<(jhigkeiteu, indem es uns behilflich ist, unsere Phantasie, unser Gedächtnis, unsere HerzensergÜsse und unsere Leidenschaften, soweit sie Gutes an sich haben, auf Gott zu richten. c) Selbst den Leib, weil es uns hilft, die äusseren Sinne, die Quellen so vieler Abschweifungen, abzutöten und unser Benehmen nach den Regeln der Bescheidenheit einzurichten.

B) Vollko1ll1lteuer. \Vie wir das Gebet geschildert haben, ruft es in der Seele Akte der Gottesverehrung hervor. Eingegeben werden sie durch den Glauben, getragen von der Hoffnung und belebt durch die Liebe. " Fides credit, spes et c,lritas orant, sed sine jide esse no1Z possunt. Ac per hoc et jides orat. " r Gibt es nun aber etwas Edleres und für unsere Heiligung Wirksameres als diese Akte der theologischen Tugenden? Man muss noch damit die Akte der Demut, des Gehorsams, des Stark,mutes, der Standhaftigkeit verbinden, welche das Gebet voraussetzt. Und so ist es leicht einzusehen, wie durch diese Übung unsere Seele sich auf eine sehr vollkommene Weise mit Gott vereint.

520. 3. Es ist also nicht zu verwundern, dass sie sich dadurch allmählich in Gott umgestaltet. Das Gebet bewerkstelligt sofortige Verbindung mit Gott. Während wir ihm demütig unsere Huldigungen und Bitten darbringen, neigt er sich zu uns herab und

, S, AUGUSTIIWS, Enchiridion, VII.

376 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

teilt uns seine Gnaden mit, welche diese glückliche Umgestaltung herbeiführen.

A) Die Tatsache allein, seine göttlichen Vollkommenheiten zu betrachten, sie zu bewundern, sich darüber zu freuen, zieht dieselben schon durch das Verlangen, irgend einen Anteil an ihnen zu haben, in uns. Unsere Seele versinkt in jene innige Beschauung und fühlt sich gleichsam ganz durchdrungen von jener Einfachheit, jener Güte, jener Heiligkeit und Ruhe, die sich uns gern mitteilen.

521. B) Alsdann neigt sich Gott zu uns herab, um unsere Gebete zu erhören und um uns reichliche Gnaden zu bewilligen. Je besser wir unsere Pflichten ihm gegenüber erfüllen, desto mehr beschäftigt er sich damit, unsere Seele, die zu seiner Ehre arbeitet, zu heiligen. Wir können viel von ihm erbitten, wenn wir es nur demütig und voll Vertrauen tun. Er kann demütigen Seelen, die sich mehr mit seinen Interessen als mit den ihrigen beschäftigen, nichts verweigern. Er erleuchtet sie mit seinem Lichte, um ihnen die Leere und das Nichts der menschlichen Dinge zu zeigen. Er offenbart sich ihnen als das höchste Gut, die Quelle alle Güter, und zieht sie dadurch an sich. Er verleiht ihrem Willer: Kraft und Ausdauer, deren dieser bedarf, um nur das zu wollen und zu lieben, was dessen würdig ist. Besser als mit den Worten des hl. Franz von Sales I können wir nicht schliessen. "Durch das Gebet sprechen wir mit Gott, und Gott spricht mit uns. \Vir sehnen uns nach ihm und atmen in ihm, und er wieder sehnt sich nach uns und atmet in uns." Glücklicher Austausch, de'r ganz zu unserem Vorteile ist, denn er zielt auf nichts anderes, als uns in Gott umzugestalten,durch Teilnahme an seinen Gedanken und seinen Vollkommenheiten. Wie aber können wir alle unsere Handlungen in Gebet verwandelt?

, Amour de Dielt, I. IV, eh. I.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 377

III. Wie wir unsere Handlungen in Gebet verwandeln.

522. Da das Gebet ein so wirksames Mittel für die Vollkommenheit ist, sollen wir oft und inbrünstig beten, sagt doch der Heiland: " Oportet semper orare et non dejicere." r Der h1. Paulus bestätigt es, sowohl durch seine Ratschläge, als auch durch sein Beispiel. "Sine intermissione orate ... Memoriam vestri facientes sine intermissione. "2 Wie aber kann man ununterbrochen beten und dabei doch seine Standespflichten erfüllen? Ist das nicht ein Ding der Unmöglichkeit? Wie wir sehen werden, ist das sehr gut möglich, vorausgesetzt, dass man sein Leben richtig zu ordnen versteht. Um aber darin Erfolg zn habel~, muss man 1. eine bestimmte Zahl von geistlichen Ubungen in bezug auf seine Standespflichten verrichten. 2. die gewöhnlichen Handlungen in Gebete verwandeln.

523. 1. Geistliche Übungen. Um das Gebetsleben zu erhalten, muss man gewisse geistliche Übungen verrichten, deren Zahl und Länge von den Stand,~spflichten abhängt. Hier wollen wir nur von den Ubungen sprechen, die sich für Priester und Ordenspersonen geziemen. Wir überlassen es den Seelenführern, diesen Plan für die Gläubigen entsprechend umzuändern.

Drei Arten von Übungen verleihen der priesterlichen Seele die für das Gebet geeignete Verfassung. Die Morgenbetrachtung mit der h1. Messe hält uns das Vorbild, das wir nachzuahmen haben, vor Augen 'und hilft uns, es in uns zu verwirklichen. Das Brevier, d~~ geistliche Lesung und die anderen notwendigen Ubungen erhalten die Seele in der Gewohnheit des Gebetes. Die Gewissenserforschung

~ Luk., XVIII, r. -.1 Thess., V, I7·

378 FÜ NFTES KAPITEL. - MITTEL

am Abend wird uns helfen, unsere begangenen Fehler zu erkennen und wiedergutzu1Ilaclten.

524. A) Die MorgenÜbztng-en sind etwas so Heiliges, dass man sie als Priester oder Ordensmanl1 nicht unterlassen kann, ohne gleichzeitig auch das Streben nach Vollkommenheit aufzugeben. a) Sie bestehen vor allem in der Betrachtung-, dem innigen Gespräch mit Gott, um uns das Ideal ins Gedächtnis zu rufen, welches wir stets vor Augen haben und nach welchem wir energisch streben sollen. Dieses Ideal ist dasselbe, welches der göttliche Meister uns vor Augen gestellt hat. "Es tote erg"(} vos pel:fecti sicut et Pater vester ca:lestis pet:fectlts est. "r Wir müssen also im Geiste vor das ;1llgesicllt Gottes treten, Quelle und Urbild aller Vollkommenheit. Um noch praktischer zu handeln, werden wir auch vor den Heiland hintreten, welcher auf Erden jenes Ideal von Vollkommenheit verwirklicht hat und uns die Gnade erwarb, seine Tugenden nachzuahmen. Zuerst bringen wir ihm unsere Huldigung dar, dann ziehen wir ihn gleichsam an uns, indem wir seine Gedanken z~ den unsrigen machen und zwar durch die tiefe Uberzeugung der Notwendigkeit der besonderen Tugend, die wir Üben wollen, und durch inbrÜnstiges Gebet, das uns die Gnade erlangt, diese Tugend zu Üben. Demütig, aber auch energisch wirken wir mit dieser Gnade mit, denn wir fassen einen hochherzigen Entscltluss in bezug auf diese besondere Tugend. \Vährend des ganzen Tages werden wir uns bemühen, ihn auszuführen. 2 b) Die heilige 1I1esse bestärkt uns in diesem Vorsatze. Sie stellt uns das h1. Opfer, das wir nachahmen sollen, vor Augen, legt es in unsere Hände, stellt es uns zur Verfügung. Die heilige Kommunion teilt uns seine Gedanken, seine Gefühle, seine ganze innere Verfassung, seine Gnaden, und seinen gött-

, Matth, , v, 4S. - 2 Bei der Besprechung der Gebetsweise werden wir später darauf zurückkommen.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 379·

lichen Geist mit, der uns auch tagsÜber nicht verlässt. Wir sind darum fÜr die Handlung bereit, die durch seine Einwirkung Leben erhält und zu andauerndem Gebet wird.

525. B) D~!TIit dieses aber geschehe, sind von Zeit zu Zeit Ubungen nötig, welche unsere Gottvereinigung erneuern und anregen. a) Das wird in erster Linie das Breviergebet sein, welches der h1. Benedikt so treffend das" opus divinulIl" nennt und durch welches wir in Vereinigung mit dem grossen Diener Gottes, J esus Christus, Gott verherrlichen und für uns und die ganze Kirche um Gnaden bitten sollen. Nach der heiligen Messe ist diese Handlung die wichtigste des ganzen Tages. b) Ferner fromme Lesungen, sei es aus der Heiligen Schrift oder aus den Werken oder dem Leben der Heiligen, die uns von neue m in innige Beziehung mit Gott und seinen Auserwählten versetzen sollen. c) Auch sollen sich wesentliclle Andachtsiibunge1l anschliessen, die unsere Frömmigkeit nähren; der Besuch des Allerheiligsten, der, im Grunde genommen, nichts anderes ist, als ein inniges Zusammensein mit J esus, das Gebet des h1. Rosenkranzes, welches UllS ermöglicht, uns mit Maria zu unterhalten und im Herzen ihre Geheimnisse und Tugenden zu erwägen.

526. C) Kommt der Abend heran, so soll die allgemeine und besondere Gewisse1lse1forschung, die wir in ein demÜtiges und aufrichtiges Geständnis dem Hohenpriester gegenüber kleiden werden, zeig'en, wie wir das am Morgen erfasste Ideal im Laufe des Tages verwirklicht haben. Leider wird stets ein Unterschied zwischen unseren Vorsätzen und deren Ausführung zu bemerken sein. Das aber darf uns den Mut nicht rauben. Immer wieder sollen wir frisch ans Werk gehen. In einem Gefühle von Vertrauen und Hingabe sollen wir uns dann

380 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

zur Ruhe begeben, um am folgenden Tage besser arbeiten zu können.

Die wöchentliche oder wenigstens vierzehntägige Beichte, sowie die monatliche Geisteserneuerung, die uns zwingt, einen Überblick auf einen grösseren Abschnitt unseres Lebens zu werfen, sollen die Kontrolle vervollständigen und bei dieser Gele~ genheit unser innerliches Leben fördern .

.. 527. 2. Das ist die Gesamtzahl der geistlichen Ubungen, die uns verhindern sollen, die Gegenwart Gottes auf längere Zeit zu verlieren. Was aber sollen wir tun, um die Lücke zwischen diesen verschiedenen Übungen auszufüllen und alle unsere Handlungen in Gebet zu verwandeln? Der hl. Augustinus und der hl. Thomas geben uns Aufschluss darüber. Der erstere 1 rät uns, aus unserem Leben, unseren Handlungen, unserer Berufsbeschäftigung, unseren Mahlzeiten, ja selbst aus unserem Schlummer ein Loblied zur Ehre Gottes zu machen." Vita sie canta ut nunquam sileas... si ergo laudas, non tantum lingua canta, sed etiam assumpto bonoru11Z operum psalterio. Laudas CU11Z agis negotium, laudas cum cibum et potum ca pis, lau das CU??l in lecto requiescis, laudas cum dormis. Et quando llon laudas ? " Der zweite fasst den Gedanken des ersten so zusammen : " Tamdiu homo orat, quamdiu totam vitam suam in Deum ordinat. " 2

Die Liebe gibt unserem ganzen Leben die Richtung zu Gott. Das praktische Mittel, um alle unsere Handlungen zu solchen zu machen, besteht darin, sie, bevor man sie verrichtet, in Vereinigung mit Jesus, der in uns lebt, und in seinen Absichten der Heiligsten Dreifaltigkeit aufzuopfern (N. 248.)

528. Wie wichtig es sei, unsere Handlungen ift Vereinigung mit Jesus zu vollziehen, erklärt Olier sehr treffend. Er zeigt zunächst, wie J esus in uns

, In Ps. CXLVI, n. 2. - 2 Comment. in Rom., e. I, leet. 5.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 381

weile, um uns zu heiligen: 1 "Nicht nur als Wort durch seine Allgegenwart wohnt er in uns, sondern auch als Christus durch seine Gnade, um uns an seiner Weihe und seinem göttlichen Leben teilnehmen zu lassen ... ] esus ist in uns, um uns zu heiligen, sowohl uns selbst, als auch unsere Handlungen, und alle unsere Fähigkeiten zu durchdringen. Er will das Licht unseres Geistes, die Liebe und der Eifer unseres Herzens, die Kraft und Stärke aller unserer Fähigkeiten sein, damit wir in ihm den Willen Gottes, seines Vaters erkennen, lieben und erfüllen, sei es, um zu seiner Ehre zu handeln, sei es, um zu seiner Verherrlichung zu leiden und zu ertragen, was es auch immer sei. " Dann erklärt er, wie mangelhaft die Werke seien, die wir in uns selbst und für uns selbst vollbringen. 2 Durch unsere verdorbene Natur sind unsere Absichten und unsere Gedanken auf die Sünde gerichtet. Hamleln wir in uns selbst und folgen wir der Neigung unserer Gefühle, so werden wir in Sünde wirken. Es ergibt sich die Folgerung daraus, auf seine eignen Absichten verzichten zu müssen, um sich mit denen des Heilandes zu vereinigen. "Du siehst also, wie sehr du bei Beginn deiner Handlungen darauf achten musst, auf deine Gefühle, alle deine Wünsche, alle deine eignen Gedanken, alle deine Absichten zu verzichten, um, wie der hl. Paulus sagt, die Gefühle und Absichten ] esu Christi zu den deinigen zu machen. "Hoc enim sentite in vobis quod et in Christo Jesu." 3

Dauert die Handlung längere Zeit an, so ist es nützlich, durch einen innigen Blick auf das Kruzifix, oder, noch besser, auf den in uns lebenden Heiland, diese Aufopferung zu erneuern und öfters Stossgebete zu verrichten, die unser Herz zu Gott erheben werden.

, CaiIch. c1,,·tl. IIe P., le<;:. V. - Vg1. P. CHARLES, S. J., La p";er, de foules fes heures, BrÜgge, 1922. - 2 Calech., 1. VI. - 3 Philip., II, 5·

382 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

Auf diese Weise werden selbst die gewöhnlichsten Handlungen ein Gebet, eine Erhebung des GemÜtes zu Gott sein und wir werden so den 'Wunsch des Heilandes erfÜllen. " Oporte! selllper orare et 1Zunqualll dejicere. " I

529. Das sind also die vier inneren Mittel fÜr die Vollkommenheit. Alle trachten danach, Gott zu verherrlichen und gleichzeitig unsere Seele zu vervollkommnen. Das Verlange!. nach Vollkommenheit ist ein erster Aufschwung zu Gott. Der erste Schritt auf dem \Vege, der zur Heiligkeit fÜhrt. Gott erkennen heisst gleichsam ihn fÜr uns gewonnen haben und mit seiner Hilfe durch die Liebe uns ihm schenken. Die Selbsterkenntnis zeigt uns deutlicher, wie notwendig wir die Hilfe Gottes brauchen. Sie ruft in uns den Wunsch wach, ihn in uns aufzunehmen, um die Leere auszufÜllen, die in uns ist. Die GleichfÖrmigkeit mit seinem Willen verwandelt uns in ihn. Das Gebet erhebt uns zu ihm. Gleichzeitig erwirkt es seine Vollkommenheiten in uns und lässt uns daran teilnehmen, um uns ihm ähnlicher zu machen. Alles fÜhrt uns somit ZL1 Gott, weil alles von ihm kommt.

Gehen wir jetzt zu den äusseren Mittel Über, die zu demselben Ziele fÜhren.

ZWEITER ABSCHNITT. DIE ÄUSSEREN MITTEL, UM ZUR VOLLKOMMENHEIT ZU GELANGEN.

530. Sie können hauptsächlich auf vier zurÜckgefÜhrt werden. Die Lez'tu1Zg, die uns ein sicherer FÜhrer gibt. Die Lebmsregelung-, die den Einfluss der Leitung fortsetzt und vervollständigt. Die geistlz'chen Lesungen und Unterweisungen, die uns das Ideal vor Augen stellen, dem wir zu folgen haben. Die Heiligung- der sosialm Beszdmngm, die uns ermöglicht, dem Verkehr mit den anderen

, Lukas, XVIII, r.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 383 Menschen einen Übernatürlichen Charakter zu verleihen.

§ 1. Die geistliche Leitung. I

Zwei Dinge wollen wir besonders hervorheben.

Die moralische Notwendigkeit der Leitung und die JWittel, um aüs ihr glückliche Erfolge zu erzielen.

I. Die moralische Notwendigkeit der Leitung.

Die Leitung ist zwar nicht unbedingt zur Heiligung der Seelen notwendig, ist aber fÜr die Seelen das normale Mittel, um im geistlichen Leben Fortschritte zu machen. Das beweisen die Autorität und der auf Etj'ahrung beruhende Verstand.

J. DER AUTORITÄTSBEWEIS.

531. A) Da Gott die Kirche als hierarchische Gesellschaft gegründet hat, will er, dass die Seelen durch die Unterordnung dem Papste und den Bischöfen gegenüber, in bezug auf das Bereich der Öffentlichkeit, den Beichtvätern gegenÜber, in bezug auf das Bereich des Gewissens, geheiligt werden. Deshalb hat auch ]esus, als Sau! sich bekehrte, diesen, an statt selbst ihm seine Absichten zu offenbaren, zu Ananias geschickt, um aus dessen Munde zu erfahren, was er tun sollte, Auf diese Tatsache stÜtzen sich Kassian, der hl. Franz von Sales und Leo XII 1., um die Notwendigkeit der Leitung nachzuweisen. " Wir finden, " sagt letzterer, " selbst in den allerersten Zeiten der Kirche eine feierliche

'CASSIANUS, Co!!atiol1es, eoll. II, c. 1-13. - S. JEAN CLIMAQUE, L'Echelle du Paradis, 4. Degre, N. 5-I2. - GODINEZ, Praxis Tlzeol, mystictI, lib. VI lI, e. 1. - SCHRAM, Inslil. theol. mystictI, P. II, eap. I, § 327-353. - S. FR. DE SALES, Plzilolhea, I. Teil, Kap. 4· TRONSON, Traitl de l'oblissance, lIe Partie. - P. FABER, ProgrCs spiriluel (Grow/h in holincss), eh. XVIII. - F. VINCENT, S. Fr. de Sales direcleur d'6mes, 1923, p. 397-562. - H. NOBLE, O. P. Lacordaire apoire el direcleur des jeunes gens, 19IO. - DESURMONT, Charilt sacerdotale, § 183-225. - ABBE D'AGNEL EI' Dr. D'ESPINEY, Directioll de COllsez'ence, 1922.

384 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

Offenbarung dieses Gesetzes : Obwohl Saul, der nach Rache und Blutbad dürstete, die Stimme] esu selbst vernommen und die Frage gestellt hatte :

"Herr, was bejiehlst du mir zu tun? ", wird er nach Damaskus zu Ananias geschickt. " Suche die Stadt auf, und dort wird man dir sagen, was du tun sollst. " - Und Leo XIII. fügt hinzu: " Dasselbe wurde andauernd in der Kirche getan. Das ist die einstimmig'e Lehre aller, die sich im Laufe der ] ahrhunderte durch Wissenschaft und Heiligkeit ausgezeichnet haben. " 1

532. B) Wir können hier nicht alle diese Grössen einzeln aufzählen, sondern wir wollen nur die erwähnen, die man als unzweifelhafte Vertreter der aszetischen Theologie betrachten kann. Kassian, der lange] ahre hindurc9-. mitten unter den Mönchen Palästinas, Syriens und Agyptens gelebt hat, hinter- , legte ihre und seine Lehre in zwei Werken. Im ersten, dem Buche der Institutionen, legt er den jungen Mönchen dringend ans Herz, ihr Inneres dem mit ihrer Führung betrauten Greise zu offenbaren, ihm ohne falsche Scham ihre geheimsten Gedanken mitzuteilen und seinem Urteile sich gänzlich zu unterwerfen, um zu wissen, was gut und was schlecht sei. 2 Er kommt in seinen Konferenzen auf diesen Punkt zurück. Erst schildert er die Gefahren, denen sich die aussetzen, welche die Alten nicht um Rat fragen. Dann zieht er die Schlussfolgerung, das beste Mittel, die heftigsten Versuchungen zu überwinden, sei, diese einem klugen Berater aufzudecken. Dabei beruft er sich auf die Autorität des hl. Antonius und des Abtes Serapion. 3

Was Kassian den Mönchen des Westens lehrt, schärft der hl. ] ohannes Klimakus in seiner Scala

, Epist. Teste", benevolenlil2, 22 Jan. 1899.

2 CASSIANUS, De CcEllObiorum inslilut., 1. IV, e. 9. P. L., XLIX, 16r. 3 Collaliones, II, 2, 5, 7, IO-II. P. L., XLIX, 526, 529, 534, 537-542.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 3H5 Paradisi den Mönchen des Ostens ein. Den AnJäng~m gegenÜber betont er, dass diejenigen, welche

Agypten verlassen und ihre ungeordneten Leidenschaften zähmen wollen, eines Moses bedÜrfen, der sie führe. Denen, die bereits Fortschritte machen, erklärt er, man mÜsse, um ] esus nachzufolgen und sich der Freiheit der Kinder Gottes zu erfreuen, demÜtig die Sorge fÜr seine Seele einem Menschen als dem Stellvertreter des göttlichen Meisters Überlassen. Dieser sei vorsichtig zu wählen, weil man ihm einfältig werde gehorchen mÜssen, ungeachtet der kleinen Fehler, die man an ihm bemerke. Das Einzige nämlich, was zu befÜrchten sei, ist, dass man seinem eignen Urteile folge. I

533. FÜr das Mittelalter sollen zwei Fachgrössen genÜgen. Der hl. Bernhard wÜnscht, dass die N ovizen einen FÜhrer im geistlichen Leben haben, einen Nährvater, der sie unterweise, führe, trÖste und ermutige. 2 Denen, die schon Fortschritte gemacht haben, so z. B. dem Regular-Domherrn Ogier, erklärt er, derjenige, der sich zu seinem eignen Lehrer oder FÜhrer mache, sei der Schüler eines Narren. " Qui se sibi magistru11t constituit, stulto se discipulum facit." Und er bemerkt dazu: " Ich weiss nicht, was andere von sich denken in dieser Hinsicht. Was mich betrifft, so spreche ich aus Erfahrung und erkläre, es sei für mich leichter und sicherer, anderen zu befehlen, als mich selbst zu führen. "3 Im XIV. Jahrhundert versichert der hl. Vinzenz Ferrier, der berÜhmte Prediger aus dem Dominikanerorden, dass die Seelen, die Fortschritte machen wollen, sich stets führen lassen müssen. Wer einen FÜhrer habe, dem er ohne Vorbehalt

'Scala Paradisi, Grad. I, IV. P. G., LXXXVIII, 636, 68o-68r.

2 .. Sed quoniam arcta et ardua est via qua'! dueit ad vitam, tanquam parvulis in Christo pa'!dagogus vobis. 0 filioli, ae nutritius neeessarills est, qui doeeat, dedueat, foveat vos, et tanquam alllldat parvulis, ac blanditiis qllibusdam consoletur. " (De diversis, sermo VIII, 7.)

3 Ep. LXXXVII, 7.

N° 683. -13

386 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

in allen Dingen gehorche, werde leichter und schneller zur Vollkommenheit gelangen, als er allein es imstande wäre, trotz sehr grossen Verstandes und hervorragender BÜcher aszetischen Inhaltes. I

534. Nicht nur in den KlÖstern fÜhlte man das BedÜrfnis eines geistlichen FÜhrers. Die Briefe eines hl. Hieronymus, eines hl. Augustinus und mehrerer anderer Kirchenväter an Witwen, ] ungfrauen und andere Weltleute beweisen es hinreichend.2 Mit Recht erkärt der hl. Alphons gelegentlich der Darlegung der Pflichten des Beichtvaters, eine der wichtigsten sei die Leitung frommer Seelen. 3

Übrigens beweist die vom Glauben und von der Erfahrung erleuchtete Vernunft, wie notwendig ein FÜhrer sei, um in der Vollkommenheit Fortschritte zu machen.

2. DER AUF DEM WESEN DES GEISTLICHEN FORTSCHRITTES BERUHENDE VERNUNFTSBEWEIS.

535. A) Der geistliche Fortschritt ist ein langandauernder und mÜhevoller Aufstieg und zwar auf einem schroffen, an AbgrÜnde grenzenden Pfade. Es wäre eine gros se U nklugheit, wollte man sich ohne einen erfahrenen Führer auf ihn wagen. Ist es doch so leicht, sich Über seinen eignen Zustand zu täuschen! Wir vermögen bezÜglich unserer eignen Person nicht klar zu sehen, sagt der hl. Franz von Sales. In unserer eignen Sache können wir keine unparteiische Richter sein und das infolge einer gewissen Selbstgefälligkeit, die so verborgen und unwahrnehmbar ist, dass man sie nicht entdecken

, De vild spirituali, P. II, e. I.

2 Siehe die von P. F ABER angeführten Beispiele im .. Progres spirztue!", 18 Kap.

3 Praxis confessarii, n. 121-171. Er weist (n. 122) auf den hauptsächliehsten Gegenstand dieser Leitung hin: .. In tribus prrecipue posita est directio confessarii quoad animas spirituales, seilieet in meditatione et contemplatione, in mortificatione et in freqllentia saeramentorum. "

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 387 kann, wenn man nicht ein scharfes Auge hat. Selbst die, welche damit behaftet sind, geben es nicht zu, wenn man ihnen es auch beweist. 1 Er schliesst daraus, wir brauchen einen geistlichen Arzt, um einen tatsächlich objektiven Befund unseres Seelenzustandes zu ermöglichen und uns die wirksamsten Heilmittel angeben zu lassen. Warum sollten wir in geistlichen Dingen durchaus unser eigner Herr sein wollen, da wir es nicht in leiblichen sind? Wissen wir denn nicht, dass die Ärzte, wenn sie erkranken, andere Ärzte herbeirufen, um sich von ihnen die nötigen Arzneien verschreiben zu lassen? 2

536. B) Um diese Notwendigkeit besser zu veranschaulichen, genügt es, in aller KÜrze auf die hauptsächlichsten Klippen hinzuweisen, denen man auf jedem der drei Wege, die zur Vollkommenheit führen, begegnet.

a) Anfänger haben RÜckfälle zu befürchten. Um diese zu vermeiden, mÜssen sie sich einer langwährenden und mÜhevollen Busse unterziehen, je nach der Menge und Schwere ihrer begangenen Sünden. Nun aber vergessen die einen die Vergangenheit allzu schnell. Sie wollen sogleich den Weg der Liebe betreten. Dieser Anmassung folgt bald der Verlust jeglichen fÜhlbaren Trostes. Darauf Entmutigung und neue Sünden. Andere übertreiben die äusseren Abtötungen, finden dabei eine gewisse Genugtuung, zerstören ihre Gesundheit und in der Meinung, sich zu pflegen, fallen sie in die Lauheit. Deshalb braucht man einen erfahrenen Führer, der die einen bezüglich der Geistesverfassung und der ~ussÜbungen standhaft erhält, die anderen in ihrem Ubereifer mässigt.

Eine andere Klippe ist die geistliche Trocl<enheit, die auf die fÜhlbaren Tröstungen folgt. Man be-

, Phifolhea, 3. Bueh, 28 Kap.

2 Gesammelte P,'ediglen. Am Feste U. L. Frau vom Sehnee.

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fürchtet, von Gott verlasen zu sein, unterlässt die geistlichen Übungen, denn man hält sie fÜr nutzlos, und wird lau. Wer kann diese Gefahr beseitigen, wenn nicht ein kluger FÜhrer, der zur Zeit der Tröstungen voraussagen wird, sie würden nicht immer dauern und der zur Zeit der Trostlosigkeit die Seelen trösten, beruhigen und stärken wird, indem er ihnen zeigt, es gäbe nichts Besseres, um uns in der Tugend zu befestigen und unsere Liebe zu läutern?

537. b) Auch beim Betreten des Erleuchtungsweges braucht man einen Führer, um die hauptsächlichen Tugenden zu erkennen, in denen man sich, je nach dem inneren Zustande, üben muss. Ferner, um die Mittel zu erfahren, die uns dazu notwendig sind, wie auch die Methode, die man anwenden muss, um sich in geeigneter Weise bezÜglich der Fort. schritte oder der Niederlagen zu prüfen. Macht sich eines schönen Tages ein Gefühl von MÜdigkeit bemerkbar, sobald man feststellt, der Weg zur Vollkommenheit sei länger und beschwerlicher, als man sich ihn vorgestellt hatte, wer könnte dann diesen Eindruck, der zur Lauheit führen kann, wirksamer verhindern, als ein mit väterlicher Liebe erfÜllter Führer, der verstehen wird, die Schwierigkeit zu erraten, der Mutlosigkeit vorzubeugen, das Beichtkind zu trösten, es zu neuer Anstrengung anzuspornen und auf die Früchte dieser tapfer bestandenen Prüfung aufmerksam zu machen?

538. c) Noch viel notwendiger ist die Führung auf dem Verein igu ngswege. Um auf ihm zu wandeln, mÜssen durch edelmÜtige und standhafte Folgsamkeit den Eingebungen der Gnade gegenÜber die Gaben des Hl. Geistes gepflegt werden. Nun aber braucht man oft die Ansichten eines klugen und selbstlosen Führers, um die göttlichen Eingebungen von denjenigen zu unterscheiden, die von der Natur oder dem Teufel herkommen. Noch unentbehrlicher

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 389

ist er, wenn man die ersten passz·ven PrÜfungen durchmacht, wenn die Trockenheit, die Langweile, die Angst vor der Gerechtigkeit Gottes, die lästigen Versuchungen, die Unmöglichkeit, aus der Betrachtung SchlÜsse zu ziehen und die Widersprüche von aussen auf die Seele einstÜrmen und sie in grösste Verwirrung versetzen. Es ist klar, dass ein FÜhrer da sein muss, um mit sicherer Hand diesem schwankenden Schiffe die gute Richtung zu geben. Ebenso notwendig ist er, schwelgt man in den Freuden der Beschauung. Dieser Zustand setzt soviel Klugheit, Demut und Folgsamkeit, besonders aber Vorsicht voraus, um die Passivität mit der Aktivz'tät in Einklang zu bringen, dass es moralisch unmÖglich ist, sich nicht zu verirren, ohne die Ratschläge eines erleuchteten FÜhrers. Das war auch der Grund, weshalb die hl. Therese mit so grosser Einfachheit ihre Seele ihren FÜhrern offenbarte. Darum kommt auch der hl. ] ohannes vom Kreuz so oft auf die Notwendigkeit zurÜck, dem SeelenfÜhrer alles zu' offenbaren. "Gott, sagt er, liebt so sehr, dass der Mensch sich der Leitung eines anderen Menschen. anvertraue, dass er durchaus nicht will, dass wir den ÜbernatÜrlichen Wahrheiten, die er selbst uns mitteilt, Glauben schenken, bevor sie aus dem Munde eines Menschen gekommen sind. "I

539. Um alles kurz zusammenzufassen, geben wir hier die Worte P. Godinez's wieder: " Von tausend Personen, die Gott zur Vollkommenheit beruft, folgen kaum zehn, und von hundert, welche Gott zur Beschauung beruft, folgen neunundneunzig diesem Rufe nicht. Man muss zugeben, einer der hauptsächlichsten Gründe ist der Mangel an Meistern des geistlichen Lebens. Kann man keine Wissenschaft, keine Kunst, so einfach sie auch sei, ohne Meister erlernen, der darin unterweist, um so weni-

, Smfences et avis spiriluels, n. 229, Hoornaert, S. 372,

390 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

ger wird man die hohe Weisheit der evangelischen Vollkommenheit erlernen, worin so tiefe Geheimnisse vorhanden sind! Darum halte ich es für moralisch unmöglich, dass eine Seele, ohne Wunder und ohne Lehrmeister, langejahre hindurch das durchschreiten kann, was das Höchste und Schwierigste im geistlichen Leben ist, ohne sich der Gefahr auszusetzen, zu Grunde zu gehen. "

540. Man kann also sagen, der normale \Veg, um im geistlichen Leben fortzuschreiten, bestehe Ü'1 der Befolgung der Ratschläge eines erfahrenen Führers. Tatsächlich verstehen das auch die meisten eifrigen Seelen und lassen sich deshalb von ihrem Beichtvater leiten. Als man in den letzten Jahren eine Schar Ausgesuchter heranbilden wollte, fand man kein besseres Mittel als die Leitung im strengsten Sinne des Wortes, sei es in den Vereinen oder in den Ferienkolonieen, sei es - und das ganz besonders - in geschlossenen Exerzitien. Es gibt somit nichts Wirksameres für die Heiligung der Seelen, vorausgesetzt, man befolgt dabei die Regeln, an die wir jetzt erinnern wollen.

II. Regeln, um den Eifolg- der Leitung zu sichern.

Soll die Leitung Nutzen bringen, so muss man

I. das Objekt genau bestimmen " 2. die gemeinsame Arbez't des Leiters und des Geleiteten sicherstellen.

1. DAS OBJEKT DER LEITUNG.

541. A) Allgemeiner Grundsatz. Objekt oder Gegenstand der Leitung ist alles, was auf die geistliche Heranbildung der Seelen Bezug nimmt. Die Beichte beschränkt sich auf die Anklage der Sünden. Die Leitung geht viel weiter. Sie geht auf die Ursachen unserer Sünden zurÜck, auf die eingewurzelten Neigungen, auf den Charakter, auf das Gemüt, auf die angenommenen Gewohnheiten, auf

LU1( ~KLAliGU1~G U~l( VVLL1'-V1YllVl~Nti~lT. 6\.11

die Versuchungen und U nvorsichtigkeiten. Und das alles, um die g~eigneten Gegenmittel finden zu können, die jene Ubel an der Wurzel fassen. Um die Fehler energischer zu bekämpfen, befasst sie sich mit Tugenden, die diesen entgegengesetzt sind, mit Tugenden, die jeder Christ Üben soll, aber auch mit solchen, die den verschiedenen Ständen und Personen entsprechen. Die Leitung .beschäftigt sich ferner mit den Mitteln, um die Ubung der Tugengen leichter zu ermöglichen, mit den geistlichen Ubungen, die, wie das Gebet, die Gewissenserforschung, die Andacht zum Allerheiligsten Altarssakrament, zum Heiligsten Herzen] esu, zur Allerseligsten ] ungKrau, uns geistliche Waffen verleihen, um in der Ubung der Tugend Fortschritte zu machen. Ebenso befasst sie sich mit Berufsfragen und, sind diese gelöst, mit den Pflichten eines jeglichen Standes. Man sieht also, ihr Gegenstand ist sehr vielseitig.

542. B) Anwendungen. a) Um eine Seele gut zu leiten, muss der Leiter das Wichtigste aus deren vergattgenem Leben kennen, ferner, ihre Gewohnheitssünden, sowie die bereits gemachten Anstrengungen, sich davon zu befreien. Ebenso die erzielten Erfolge, um ~ich ein klares Bild zu machen, was noch zu tun übrig bleibe. Dann die gegenwärtige Ve1jassung, die Neigungen und Abneigungen, die Lebensweise, die gefÜhrt wird, die Versuchungen, denen man begegnet und die Art, wie man sie bekämpft, die Tugenden, die man besonders nötig hat, und die bereits angewendeten Mittel, um sich dieselben anzueignen. Alles im Hinblick auf ganz bestimmte Ratschläge, die er zu erteilen hat.

b) Dann erst kann man auch leichter den Plan der FÜhrung entwerfen und zwar einen, den man nac/I Bedmj ändern kann und der dem gegenwärtigen Seelenzustande des Beichtkindes angepasst ist, um diesen zu heben. Es ist unmöglich, alle Seelen auf

392 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

dieselbe Art zu leiten. Man muss die Stufe berücksichtigen, auf der sie stehen, um ihnen behilflich zu sein, allmählich und ohne Überstürzung den steilen Pfad der Vollkommenheit zu erklimmen. Dazu kommt noch, dass die einen eifriger und grossmütiger, andere ruhiger und langsamer sind. Ausserdem sind nicht alle zu demselben Grad von Vollkommenheit berufen.

543. Dabei muss man jedoch einefortschreitende Ordnung- beobachten. Sie ermöglicht eine gewisse Einheit in der Leitung. Einige Beispiele seien hier angeführt.

r) Gleich von Anfang an ist es wichtig, den Seelen beizubringen, alle illre xewöhnlichen Handlungen zu heiligen, indem sie dieselben in Vereinigung mit J esus Gott aufopfern. (N. 248.) Das soll zur Gewohnheit fürs ganze Leben werden. Darauf soll man immer wieder zurückkommen und den Glaubensgeist damit verbinden, der uns in dieser Zeit des Naturalismus so notwendig ist.

2) Die Reinigung der Seele durch Übung der Busse und Abtötul1;; darf nie ganz aufhören und man muss die Geleiteten oft darauf zurü~kführen, dabei aber ihren Seelenzustand beachten, um die Ubung dieser Tugenden abzuwechseln.

3) Da die Demut eine grundlegende Tugend ist, soll sie fast gleich beim Anfang eingeprägt und den Beichtkindern auf allen Stufen des geistlichen Lebens immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden.

4) Die clzrislliche Nächstenliebe, die selbst von frommen Personen öfter verletzt wird, soll zum Gegenstand der Gewissenserforschung und der Beichten gemacht werden.

5) Die habituelle Vereini;;un,l;' mit dem Heiland, unserem Vorbild und Mitarbeiter. Sie ist eines der wirksamsten Mittel fÜr die Heiligung. Man soll daher nicht fürchten, sie oft zu betonen.

6) Die auf tiefer Überzeugung beruhende Charakterstärke, die heutzutage überaus notwendig ist, muss sorgfältig gepflegt werden. Rechtschaffenheit und Treue müssen damit verbun· den sein.

7) In unserem Jahrhundert der Proselytenmacherei oder des Bekehrungseifers ist das Apostolat von grösster Wichtigkeit. Es gehört zur Aufgabe des SeelenfÜhrers, besonders etfri;;e Seelen auszusuchen, die dem Priester in der Seelsorge behilflich sein können.

ZUR ERLANGU NG DER VOLLKOMMENHEIT. 393

Das Übrige, das noch zu sagen wäre, wird man bei der Darlegung der drei geistlichen Wege finden.

2. PFLICHTEN DES LEITERS UND DES GELEITETEN.

N ur dann wird die Leitung wirkliche Erfolge erzielen, wenn der Leiter und der Geleitete mit gutem Willen gemeinsam an diesem vVerke arbeiten.

I) Die Pflichten des Leiters.

544. 'Nach dem hl. Franz von Sales muss der Seelenführer vor allem drei Eigenschaften besitzen:

Er muss voll Liebe, Wissenschaft und Klugheit sein. Fehle eine von diesen Eigenschaften, so sei man Gefahren ausgesetzt.

A) Die Liebe, die er haben muss, soll übernatÜrlich und väterlich sein. Er soll in denen, die er leitet, seine geistlichen Kinder erblicken, die ihm Gott selbst anvertraute, damit er Sorge trage, dass Christus und dessen Tugenden in ihnen wachsen. "Filioli 'mei quos iterlt17l parturio donec for11tetur Christus in vobis. " I

a) Deshalb umgibt er sie mit gleicher Sorge und.clerselben Aufopferung. Er wird allen alles, um sie alle zu heiligen. Er opfert ihnen seine Zeit und sich selbst, um in ihnen die christlichen Tugenden heranzubilden. Allerdings wird er sich trotz aller MÜhen zuweilen mehr zu diesen als zu jenen Seelen hingezogen fühlen. Sein Wille jedoch wird gegen seine Sympathien oder seine Abneigungen kämpfen. Mit grosser Sorgfalt wird er jene sinnlichen Neigungen vermeiden, die zwar anfangs unschuldige Anhänglichkeiten schaffen, dann aber ihn gänzlich gefangen nehmen, seinem guten Ruf schaden und seiner Tugend gefährlich werden könnten. Herzen gewinnen zu wollen, die fÜr Gott geschaffen wurden, ist eine Art Verrat, sagt mit Recht Olier. "Der Heiland hat sie (die SeelenfUhrer) auserwählt, um Königreiche zu erobern, d. h. Menschenherzen, die ihm gehören, die er mit seinem kostbaren Blute erkaufte und in denen er sein Reich aufrichten will. Anstalt nun diese Herzen ihm, als dem rechtmässigen Könige, zu geben, nehmen sie dieselben fÜr sich in Anspruch und betrachten sich als deren Gebieter und

1

, Gaf., IV, 19.

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Herren. 'Welche Undankbarkeit! \Velche Treulosigkeit, welche Schmach und welche Verräterei!'" Das hiesse auch ein fast unüberwindliches Hindernis sowohl dem geistlichen Fortschritte seiner Beichtkinder, als auch seinem eignen, entgegenstellen, da Gott ein geteiltes Herz verschmäht.

545. b) Diese GÜte darf aber auch keine Schwäche sein, sondern muss sich gleichzeitig mit Festigkeit und Offenheit verbinden. Der Beichtvater muss den Mut haben, väterliche Ermahnungen zu erteilen, die Fehler seiner Beichtkinder zu nennen und zu bekämpfen und darf sich vor allem nicht von letzteren leiten lassen. Sehr gewandte und von Liebenswürdigkeit Überfliessende Personen wünschen zwar einen geistlichen Führer, aber unter der Bedingung, dass er sich ihrem Geschmack und ihren törichten Einfällen anpasse. Was sie suchen, ist weniger eine Leitung, als vielmehr eine Gutheissung ihres Betragens. Um sich vor einem solchen Missbrauch zu schützen, der sein Gewissen in Schuld bringen könnte, soll sich der Seelen führer durch das Mänöver jener weiblichen oder männlichen Pönitenten nicht einwickeln lassen, sondern sich erinnern, dass er ] esus Christus selbst vertrete. Er soll kurz und Qündig entscheiden und diese Entscheidung richte sich nach den Regeln der Vollkommenheit und nicht nach den Wünschen seiner Beichtkinder.

546. c) Besonders in der Seelenführung 7veiblicJter Persolien muSS er Zurückhaltung und Energie zeigen. Ein Mann von reicher Erfahrung, P. Desurmont, schreibt diesbezÜglich : 2 "Keine zärtlichen Worte, keine Kosenamen, kein unnötiges Alleinsein mit ihnen, keinen aussergewöhnlichen Ausdruck weder im Blick noch in den Bewegungen, keinen Schatten von Vertraulichkeit. Was die Unterhaltung anbetrifft, sich nur auf das Notwendige beschränken, ausser der Beichte keinerlei Beziehungen, die nicht wirklich ernsten Nutzen bringen. Möglichst keine Leitung ausserhalb des Bei :htstuhles und keinen Briefwechsel." - Obschon man Teilnahme bezeugen kann, die man an ihrem Seelenheil

, L'esprit d'ult directeu,' des ames, SS. 60-61. Er kommt in dem Büehlein oft auf diesen Gedanken zurüek.

2 La Charitt sacerdotafe, 2. B, § 196.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 395

nimmt, muss man diejenige an ihrer Person verbergen." Ihr geistiger Zustand ist so beschaffen, dass, wenn sie auf den Gedanken kommen und fÜhlen können, man befasse sich mit besonderer Hochachtung und LieC mit ihnen, ~.ie fast instinktiv, sei es aus Eitelkeit, sei es au Liebe, das UbernatÜrliche aus dem Auge verlieren." Und r fUgt hinzu: "Im allgemeinen ist es gut, dass sie fast gar nicht wissen, dass man sie leite. Die Frau hat den Fehler ihrer hohen Eigenschaft: Sie ist instinktiv fromm, aber auch instinktiv stolz auf ihre Frömmigkeit. Die" Toilette" der Seele macht auf dieselbe den gleichen Eindruck wie die des Leibes. Wissen, dass man sie mit Tugenden schmÜcken will, ist gewöhnlich gefährlich fÜr sie." Man leitet sie deshalb, ohne es ihr zu sagen. Gibt man ihr Ratschläge, so muss man tun, als handle es sich um Dinge, die sehr vielen Seelen gemeinsam seien.

547. B) Mit der Hingebung soll er Wissenschaft vereinen, d. h. in der fÜr jeden Beichtvater unumgänglich notwendigen, aszetischen Theologie bewandert sein, wie wir bereits früher (N. 36) gezeigt haben. Er wird also eifrig Aszeten lesen und seine eignen Urteile dementsprechend formen, ebenso wie er auch seine persönliche LebensfÜhrung mit derjenigen der Heiligen vergleichen wird.

548. C) Besonders aber muss er sehr klug und schal/sinnig sein, um die Seelen nicht etwa nach seinen eignen Ideen, sondern nach den Anregungen der Gnade, nach der GemÜtsbeschaffenheit und dem Charakter der Beichtkinder zu leiten, wie auch nach ihren Übernatürlichen Neigungen. I

a) P. Libermann wies mit Recht darauf hin, der Seelen· fÜhrer sei nur ein Werkzeug des HI. Geistes. 2 Seine erste Pflicht sei deshalb, durch kluge Fragen die Tätigkeit des HI. Geistes in einer Seele zu erkennen. " Ich betrachte es als eines der wichtigsten Dinge fÜr die Leitung ", schrieb er, "in jeder Seele die Verfassung wahrzunehmen, in der sie sich befindet ... , was der innere Zustand dieser Seele aufzunehmen imstande sei, die Gnade ganz frei darin schalten und walten zu lassen, die vermeintlichen Einladungen der Gnade von den wirklichen zu unterscheiden, die Seelen zu verhin::'

, Dieses pflegte der kl. Fram: von Srzles, zu tun, wie F. VINCENl' es \'ortrefflieh naehweist. Op. eil., S. 439-481.

2 La direction spiriluelle. N aeh den Schriften und Beispielen des

Ell/w. Liberman71. 2. [rz. Ausgabe, S. IO-22.

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dern, diesen Einladungen aus dem Wege zu gehen, oder aber darin nicht Mass zu halten." In einem anderen Briefe fügt er hinzu: "Sobald der Beichtvater die Einwirkung Gottes in einer Seele festgestellt und klar erkannt hat, bleibt ihm nichts anderes zu tun übrig, als diese Seele anzuleiten, der Gnade zu folgen und ihr treu zu bleiben. Nie darf er einer Seele seinen eignen Geschmack und seine Neigungen aufdrängen, noch sie nach seiner persönlichen Handlungsweise führen oder nach seinen eignen Ansichten. Sonst würde er die Seelen der Führung Gottes entziehen und oft der in ihnen wohnenden Gnade zuwiderhandeln. "

Er bemerkte jedoch gleichzeitig, es handele sich in diesem Falle um jene Seelen, die den wahren Weg zur Vollkommenheit eingeschlagen haben. Was diejenigen anbetrifft, die feig und lau sind, so müsse der Führer deren Leitung in die Hand nehmen. Durch Ermahnungen, Ratschläge, Tadel, durch alle Bestrebungen seines Eifers müsse er sich bemühen, sie ihrer geistlichen Lethargie oder Erschlaffung zu entreissen.

549. b) Die Klugheit, um die es sich hier handelt, ist also übernatürlich, durch die Gabe des Rates gefestigt, um die ein Seelen führer ständig beten soll. Besonders in schwierigen Fällen soll er den Hl. Geist anrufen, im Herzen das" Veni .')'ancte Spiritus" beten, bevor er eine wichtige Entscheidung' trifft. Hat er ihn um Rat gefragt, so soll er mit der Gelehrigkeit eines Kindes auf die innere Antwort hören, um sie seinem Beichtkinde zu übermitteln. " Sicut audio,judico, et judt'cium meum justU111 est. " 1 Dann wird er wirklich das Werkzeug des Hl. Geistes sein, instru1lZentum Deo conJunctum, und sein Amt wird mit Erfolg gekrönt sein.

Diese Sorge jedoch, Gott um Rat zu bitten, soll ihn nicht abhalten, alle Mittel zu gebrauchen, welche die Klugheit ihm eingibt, um den gut kennenzulernen, den er fUhrt. Er wird sich mit den Versicherungen desselben nicht begnügen, sondern seine Lebensführung beobachten und auch auf die hören, die ihn kennen, ohne jedoch allen ihren Urteilen beizustimmen. Er wird sich deren nur insofern bedienen, als die Regeln der Klugheit es erfordern.

550. c) Die Klugheit soll ihn nicht nur bei den Ratschlägen, die er gibt, begleiten, sondern auch in

'loh., V, 30.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 397 allen Umständen, die sich auf die Leitung beziehen. I) SO z. B. wird er für diese Amtsverrichtung nur die unbedingt erforderliche Zeit dazu verwenden. Keine langen Unterhaltungen. Kein unnützes Geschwätz, keine überflÜssigen Fragen. Sich nur auf das Wesentliche beschränken, auf das, was den Seelen tatsächlich nützlich ist. Ein mit wenigen Worten erteilter Rat,,,eine klar und deutlich angegebene, praktische Ubung, sind hinreichend, um eine Seele zwei oder drei Wochen hindurch zu beschäftigen. Seine Leitung soll mannhaft sein. Er soll sich bemühen, die Seelen so zu fÜhren, dass sie nach einiger Zeit, zwar nicht sich selbst genügen, sich jedoch mit einer wortkargen Leitung begnügen und mittels der allgemeinen Grundsätze, die er ihnen eingeschärft hat, die gewöhnlichen Schwierigkeiten beseitigen können.

2) Kann man jungen Leuten und Männern überall, ja selbst auf einem Spaziergange U nterweisungeu für ihr geistliches Leben geben, so muss man weiblichen Personen gegenÜber viel zurÜckhaltender sein und sich im a\1gemeinen nur auf den Beichtstuhl beschränken, sie nur während der Beichte leiten, kurz und bÜndig sein, ohne sich in a\1erlei Unnützes und Nebensächliches dabei einzulassen. Wir gehären allen, und, da unsere Zeit sehr bemessen ist, dÜrfen wir sie nicbt vergeuden. Wohl muss man Geduld Üben und jeder Seele die notwendige Zeit widmen, darf aber nicht vergessen, dass noch andere Seelen unserer Hilfe bedÜrfen.

2) Die Pflichten des Beichtkindes.

551. Die Person, die sich führen lässt, soll in der Person ihres FÜhrers den Heiland selbst sehen. Ist es wahr, dass alle Obrigkeit von Gott kommt, so gilt dies besonders, wenn es sich um die Autorität handelt, die der Priester auf die Gewissen ausübt. Die Vollmacht, zu binden und zu lösen und die Pforten des Himmels zu öffnen und zu schliessen, die Seelen auf den Wegen der Vollkommenheit zu leiten, ist die göttlichste von allen und kann deshalb nur in demjenigen vorhanden sein, welcher der

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rechtmässige Stellvertreter, der Gesandte Christi ist. "Pro Christz' ergo leg-atione fungimur, tanquam Deo exllOrtante per nos. " r Von diesem Grundsatze aus lassen sich alle Pflichten dem Führer gegenüber ableiten: Ehl'furcht, Vertrauen, Gelehngkeit.

552. A) Man muss ihn achten als Stellvertreter Gottes, mit dessen Autorität er bekleidet ist in allem, was das Geheimste und Ehrenvollste ist. Bemerkt man also an ihm einige Fehler, so hält man sich nicht darüber auf, sondern sieht nur seine Autorität und seine Aufgabe. Sorgfältig muss man aus diesem Grunde jene bitteren Kritiken meiden, welche die kindliche Ehrfurcht, die man ihm schuldet, untergraben oder vermindern. Auch Übermässige Vertraulichkeit vermeiden, weil sie mit der wahren Ehrfurcht unvereinbar ist. Diese Ehrfurcht soll durch die Liebe gemässigt sein, durch die schlichte, herzliche, aber ehrfurchtsvolle Liebe eines Kindes zu seinem Vater. Liebe, die das Verlangen ausschliesst, besonders geliebt zu werden, ebenso die kleinlichen Eifersüchteleien, die oft eine Folge von unrichtiger Liebe sind. " Kurz, diese Freundschaft soll stark und doch sanft, durch und durch heilig, verehrungswÜrdig, göttlich und geistlich sein. " 2

553. B) Ebenso soll sich mit dieser Ehrfurcht ein kindliches Vertrauen und eine se/zr grosse Aufrichtzgkeit des Herzens verbinden. "Sprechen Sie mit ihm," sagt der hl. Franz von Sales,,, 3 mit grosser Offenherzigkeit, in aller Aufrichtigkeit und Treue. Offenbaren Sie ihm fhre Tugenden und Fehler klar und deutlich, ohne Falschheit und Heuchelei. Durch dieses Mittel wird Ihre Tugend geprÜft und sicherer sein, Ihre Fehler werden gebessert und wiedergutgemacht werden ... Setzen Sie in ihn ein recht grosses Vertrauen, mit heiliger

'11. Kor .. V, 20.

2 HL, FRANZ V. SALES. Phifolhea I. B, 4. K. - 3 Ebendaselbst.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 3911 Ehrfurcht gepaart, so dass die Ehrfurcht keineswegs das Vertrauen schmälert und das Vertrauen keineswegs die Ehrfurcht unmöglich macht. "

Vertrauensvoll muss man also ihm sein Herz öffnen, die Versuchungen und Schwächen offenbaren, damit er behilflich sei, jene zu überwinden oder diese zu heilen, WÜnsche und Entschlüsse, um sie seiner Bestätigung zu unterbreiten. Wir mÜssen dem Beichtvater das Gute, das wir tun, offenbaren, damit er uns darin bestärke, ihm unsere Zukunftspläne zeigen, damit er sie prüfe und uns die Mittel andeute, um sie durchzufÜhren, kurz, alles, was sich auf unser Seelenheil bezieht. ] e besser er uns durchschauen wird, desto leichter wird er uns wertvolle Ratschläge geben, uns ermutigen, trÖsten und uns stärken können, so dass wir, so oft wir ihn verlassen, mit den Jüngern von Emmaus sagen können : "Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns sprach?" 1

554. Manche möchten ganz gern offen sein, verstehen aber durch eine gewisse Schüchternheit oder ZurÜckhaltung nicht, ihren Seelenzustand zu schildern. Sie sollen dieses mit einem Worte ihrem FÜhrer andeuten. Dieser wird ihnen dann durch einige geeignete Fragen dazu behilfich sein oder ihnen nötigenfalls ein Buch leihen, um ihnen zu ermöglichen, sich besser kennenzulernen und sich gleichsam zu analysieren. Ist erst einmal das Eis gebrochen, so wird der Verkehr

leichter.

Andere wieder sind geneigt, zlJviel zu reden und die Führung in frommes Geschwätz ZU verwandeln. Sie mögen sich erinnern, dass die Zeit des Priesters bemessen ist, dass andere Personen bereits warten und wegen des langen \Vartens die Geduld verlieren können. Man soll sich darum kurz fassen und lieber etwas fÜr das nächste Mal vorbehalten.

555. C) Ausser der Aufrichtigkeit muss eine grosse Gelehrigkeit oder Bereitwilligkeit vorhanden sein, auf die Ratschläge des Seelenführers zu hören, denselben zu folgen. Nichts ist weniger übernatür-

, Luk., XXIV, 32.

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lich, als ihn unseren Gefühlen und Gedanken gefügig machen zu wollen. Nichts schadet so sehr dem Heile unserer Seele. Dann sucht man nämlich nicht mehr den göttlichen Willen, sondern seinen eignen, unter dem erschwerenden Umstande, ein göttliches Mittel für einen selbstsüchtigen Zweck zu missbrauchen. Unser einziger Wunsch muss sein, durch unseren Führer den Willen Gottes zu erfahren, nicht aber durch mehr oder weniger geschickte Manöver ihm eine Zustimmung abzuzwingen. Wohl kann man seinen Führer täuschen, jedoch nicht den, dessen Stelle er vertritt.

Gewiss ist es unsere Pflicht, ihn unsere Neigungen und Abneigungen erkennen zu lassen. Stehen wir vor Schwierigkeiten, diesen oder jenen Rat zu befolgen, so müssen wir es ihm in aller Aufrichtigkeit eingestehen. Ist dieses geschehen, so bleibt uns nichts anderes Übrig, als zu gehorchen. Unser Führer kann sich täuschen. Was uns anbetrifft, so täuschen wir uns bestimmt nicht, wenn wir ihm gehorchen, ausgenommen natürlich, wenn er uns etwas zu tun befiehlt, was sich gegen den Glauben oder die guten Sitten verstösst. In diesem Falle müsste man sich einen anderen Führer suchen.

556. D) Nicht ohne triftigen Grund und ohne reifliche Überlegung darf man sich einen anderen FÜhrer wählen. Es muss nämlich eine gewisse Beständigkeit in der Führung sein. Diese aber ist unmöglich, wenn man alle Augenblicke seinen Führer wechselt.

a) Manche sind geneigt, einen anderen Beichtvater aufzusuchen, zunächst aus Neugierde, um nämlich zu erfahren, wie dieser andere sich verhalten wird. Man empfindet Uberdruss, stets dieselben Ratschläge anhören zu müssen, besonders, wenn diese für die Natur peinlich sind. Ferner aus Unbestiindigkeit. Nie kann man längere Zeit hindurch denselben Gewohnheiten treu bleiben. Dann aus Stolz. Man will den zum Beichtvater, der den grössten Ruf hat oder man will einen, der mehr Schmeicheleien sagt. Auch wegen einer Art Unruhe, welche bewirkt, dass man nie zufrieden ist mit dem,

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 401

was man hat und weil man stets von einer Vollkommenheit träumt, die nur im Reiche der Phantasie besteht. Manche suchen einen anderen Seelenführer wegen des ungeordneten Verlangens, ihr Inneres versclziedenen Beichtviitern zu Offiltbaren, damit diese ihre Aufmerksamkeit darauf lenken oder immer wieder beruhigend einwirken. Auch aus falscher Scham, um dem eigentlichen Beichtvater gewisse verdemÜtigende Schwächen zu verheimlichen. Das sind nätÜrlich ungenügende Gründe, die man verwerfen muss, will man im geistlichen Leben wirkliche Fortschritte machen.

557. b) Andererseits soll man nie vergessen, dass die Kirche immer mehr auf der Freiheit besteht, sich selbst einen Beichtvater zu wählen. Hat man triftige Gründe, sich an einen anderen zu wenden, so soll man es ohne Zögern tun. Welches sind nun die hauptsächlichsten GrÜnde? I) Kann man beim besten \Villen vor dem Beichtvater keine Ehrfurcht haben, ihm auch kein Vertrauen schenken oder ihm gegenÜber nicht ganz aufrichtig sein, so muss man zu einem anderen gehen, selbst wenn dieses Widerstreben nicht sehr stark ist. 1 In diesem Falle würde man nämlich aus seinen Ratschlägen keinen Nutzen erzielen. - 2) Dasselbe und zwar aus noch triftigeren Gründen wäre notwendig, wenn man fÜrchten müsste, er mache uns von dem Streben nach Vollkommenheit abwendig und zwar wegen seiner allzu natürlichen Ansichten oder einer zu heftigen und sinnlichen Zuneigung, die er bei gewissen Gelegenheiten offenbart. 3) Wenn man feststellen würde, es fehle ihm offenbar das nötige Wissen, die erforderliche Klugheit und Urteilsfähigkeit.

Solche Fälle sind zwar selten, treten sie aber ein, so soll man bedenken, die Leitung bringe nur

, Liberma1Z1l schrieb einem jungen Manne (ap. cit., S. 131) .. Ich bin fest überzeugt, alles, was Sie gegen den lieben Herrn N ... haben, ist unbegründet. Das macht aber nicht,. Um einen anderen Beichtvater zu wählen, handelt es sich nicht darum, zu wissen, ob die Bedenken, die sich bei uns einstellen, wahr oder falsch seien, es genügt, dass es uns schade.

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insofern Nutzen, als Beichtvater und Beichtkind gemeinsam arbeiten,

§ II. Die Ordnung des Lebens. 1

558. Diese Ordnung ist deshalb notwendig, weil man so die Einwirkung des Leiters anhaltend gestaltet, indem dieser seinem Beichtkinde Grundsätze und Regeln angibt, welche dem letzteren ermöglichen, durch Gehorsam alle Handlungen zu heiligen und eine kluge und sichere Richtlinie innehalten zu können.

Wir sagen im Folgenden Näheres über den Nutzen, dieser Lebensordnung, über ihre Eigensc/laften und über die Art und Weise, sie durchzuführen.

I. Nutzen einer Lebensordnung.

Ist diese Ordnung selbst den einfachen Gläubigen, die sich in der Welt heiligen wollen, nützlich, um so unentbehrlicher wird sie ganz besonders den Mitgliedern klösterlicher Gemeinschaften und den Seelsorgern sein. Sie ist sowohl unserer jJersijnliclzen Heiligung nützlich, als auch derjenigen unseres Nächsten.

559. I. Der Nutzen für die persönliche Heiligung. Um sich zu heiligen, muss man seine Zeit gut LlZjSttiitze1l, seinen Handlungen einen iibernatiirliche1l Wert verleihen und einen gewissen Plan, den man sich in bezug auf das Streben nach Vollkommenheit gemacht hat, gewissenhaft verfolgen. Nun aber gewährt uns eine Lebensordnung, die wir in Gemeinschaft mit dem Seelenführer recht genau festgelegt haben, diesen dreifachen Vorteil.

A) Sie ermöglicht uns, die Zeit besser zu benÜtzen.

Vergleichen wir einmal das Leben einer Person,

, HL. FRANZ V. SALES, Philothea. r. Buch, III. Kap.; III. Buch, XI. Kap. - TRoNsoN, lvIanuel du Seminariste, I. Teil. - Traite de j'oblissance, III. Teil. - RlBET, L'Asdtique, XLI. Kap.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 403

die eine bestimmte Lebensordnung innehält, mit demjenigen einer anderen, die keine kennt.

a) Olme Ordnung vergeudet man unglÜcklicherweise viel Zeit: I) weil man fortwährend Überlegt, was besser zu tun sei. Man braucht beträchtliche Zeit, um das Für und das Gegen zu erwägen und, da für sehr viele Dinge kein eigentlicher Grund vorhanden ist, bleibt man im Ungewissen. Die Natur gewinnt die Oberhand. Man sieht sich der Gefahr ausgesetzt, der Neugierde, der Lust oder der Eitelkeit nachzugeben. 2) Weil man dann auch eine gewisse Anzahl von Pflichten vemaclzlässigt, da man keine Zeit mehr fÜr sie findet. Di~ für die Erfüllung derselben günstige Zeit sowie den Ort sieltt man nie voraus, noch bestimmt man sie.

3) Diese Vernachlässigungen haben die Unbeständigkeit zur Folge. Bald strengt man sich wirklich an, um sich wieder aufzuraffen, bald wird man wieder gleichgiltig, weil man eben keine feste Regel hat, um die Unbeständigkeit unserer Natur zu bekämpfen.

560. b) Ganz im Gegenteil erspart man sich mit einer klug entw01:fenen Lebensregel viel Zeit. I) Kein Zögern meltr. Man weiss genau, was man und zu welcher Zeit man das und jenes zu tun hat. Konnte man auch nicht die Tagesordnung mit mathematischer Genauigkeit bestimmen, so hat man wenigstens bestimmte Grenzlinien gezogen, Grundsätze bezüglich der Andachtsübungen, der Arbeit, der Erholungszeit u. s. w. aufgestellt. 2) Nzchts Unverhofftes meltr. Wenigstens selten. Denn selbst für aussergewöhnlic)!e Ereignisse hat man genau bestimmt, welche Ubungen man in diesem Falle abkürzen kann und wie man sie gegebenenfalls ersetzen kann. Weil das Unvorhergesehene verschwindet, so wird man unmittelbar von der Regel in Beschlag genommen. 3) Keine Unbeständig/mi mehr. Die Regel treibt uns unaufhörlich

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an, das zu tun, was vorgeschrieben ist, und zwar Tag für Tag und zu ganz bestimmter Zeit. So bilden sich Gewohnheiten, die zur Verlängerung unseres Lebens beitragen und unsere Ausdauer verbÜrgen. Unsere Tage sind voll von guten Werken und Verdiensten.

561. B) Durch diese Lebensordnung können wir allen unseren Handlungen eine1Z iibertzatürliclzen TYert verleihen. a) Alle nämlich geschehen aus Gehorsam. Diese Tugend fügt ihr besonderes Verdienst dem allen unseren tugendhaften Handlungen anhaftenden hinzu. In diesem Sinne sagt man bekanntlich: " Wer nach der Regel lebt, lebt für Gott." Das nämlich heisst, beständig den Willen Gottes tun. Übrigens liegt in der Treue der Regel gegenüber ein unleugbarer,erzielterischer Wert. Nicht launischer Einfall und Unordnung, die beide in einem schlecht geregelten Leben die Herrschaft zu erlangen suchen, sondern Wille und Pflicht gewinnen die Oberhand und dadurch, als natürliche Folge, auch Ordnung und Organisation. Der Wille unterwirft sich dem \Villen Gottes. Die niederen Fähigkeiten fügen sich gehorsam dem Willen. Es ist dieses eine fortschreitende Rückkehr in den Zustand ursprünglicher Gerechtigkeit.

b) Dann ist es leicht, in allen Handlungen ÜbernatÜrliclze BeweggrÜnde zu haben. Die Tatsache allein, unsere Wünsche und Einfälle zu besiegen, bringt schon an und fÜr sich Ordnung in unser Leben und richtet unsere Handlungen auf Gott. Aber mehr noch verlangt eine gediegene Lebensregel vor jeder wichtigen Handlung einen Augenblick geistiger Sammlung und gibt uns übernatürliche BeweggrÜnde an, um diese oder jene Handlung möglichst gut zu verrichten. So ist jede ausdrÜcklich geheiligt und wird zu einem Akt der Liebe zu Gott. \Ver könnte die Zahl der Verdienste

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 405 angeben, die sich auf diese Weise an einem einzigen Tage anhäufen!

562. C) Die Lebensordnung zieht uns eine Rz'chtlinie bezüglich unseres Strebens nach Vollkommenheit. a) Was wir bisher gezeigt haben, ist schon ein Plan. Nach ihm handeln, heisst im Streben nach Vollkommenheit einen Schritt vorwärts kommen. Nämlich die von den Heiligen soviel gepriesene Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes.

b) Es gibt jedoch keine vollständige Lebensregel, die nicht auch zu gleicher Zeit auf jene Tugenden hauptsächlich hinweist, die dem Berufe des Beichtkindes und seinem Seelenzustande angemessen sind. Wohl wird manchmal wegen neuer Bedürfnisse diese Lebensordnung Anderungen erfahren müssen. Aber alles soll mit Zustimmung des Beichtvaters geschehen und in die Lebensordnung eingereiht werden, um sich danach zu richten.

563. 2. Die Heiligung des Nächsten. Sie kann dabei nur gefördert werden. Um andere zu heiligen, muss man das Gebet mit der Tat vereinigen, die Zeit gut ausnÜtzen, die für die apostolische Wirksamkeit bestimmt ist und mÜ gutem Beispiele vorangehen. Dieses alles trifft bei dem zu, der seiner Lebensordnung treu bleibt.

A) Durch ein wohlgeordnetes Leben ist es ihm möglich, Gebet und Tat harmonisch zu verbinden. Er weiss, die Seele des Apostolates ist das innerliche Leben und so sorgt er in seiner Lebensregelung für eine bestimmte Anzahl von Stunden, die dem Gebete, der hl. Messe .. der Danksagung geweiht sind, wie auch für alle Ubungen, die zur geistlichen Nahrung seiner Seele notwendig sind (Nr. 523).

Das aber hindert ihn nicht, eine beträchtliche ZeÜ dem Apostolat zu widmen. Er versteht, seine Zeit gut auszunützen (Nr. 560) und dadurch ist es ihm möglich alles ordnungsgemäss und methodisch zu

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vollziehen. Für die verschiedenen Pfarr-Angelegenheiten, für den Beichtstuhl und fÜr die Spendung der Sakramente hat er bestimmte Stunden festgesetzt. Die Gläubigen wissen es. Widmet er ihnen die unbedingt notwendige Zeit, so sind sie selbst zufrieden, denn sie wissen genau, wann sie ihn bestimmt antreffen können.

564. B) Sie erbauen sich auch an der musterhaften PÜnktlichkeit und Regelmässigkeit, die der Priester zeigt, und unwillkürlich kommt ihnen der Gedanke, den sie auch aussprechen, dass er nämlich ein Mann der Pflicht sei, der die Vorschriften seiner Behörde gewissenhaft und beständig beachte. Hören sie ihn von der Kanzel aus oder im Beichtstuhle von der Notwendigkeit reden, den Geboten Gottes oder der Kirche zu gehorchen, so reisst sein persönliches Beispiel mehr hin als seine Worte und sie beobachten tatsächlich fleissiger die Gebote.

So heiligt der Priester, dessen Leben genau geregelt ist, sich und die anderen. Dasselbe gilt auch von denen, die sich dem Apostolat widmen.

11. Die Eigenschaften der Lebensregel.

Soll eine Regel diese glücklichen Erfolge erzielen, so muss sie mit Zustimmung des Seelen fÜhrers veifasst werden. Sie muss anpassungs1IZöglich und doch gleichzeitig fest sein und muss die Pflichten nach ihrer relativen Bedeutung untereinander ordnen.

565. 1. Sie muss mit Zustimmung des Seelenführers verfasst werden. Das erfordern die Klugheit und der Gehorsam. a) Die Klugheit. Eine praktische Lebensregel aufzustellen, setzt Klugheit und Erfahrung voraus. Nicht nur das wahrnehmen, was an und für sich gu.t ist, sondern auch das, was für eine bestimmte Person wirklich gut ist oder nicht. Nun gibt es aber sehr wenige, die das gut

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 407 verstehen. b) Ausserdem hat die Lebensregelung auch den Vorteil, Gelegenheit zu bieten, Gehorsam zu Üben. Das aber wäre nicht der Fall, wollte man diese Lebensregel sich selbst geben, ohne sie der rechtmässigen Obrigkeit zu unterbreiten.

566. 2. Sie muss genügend fest sein, um den Willen zu unterstÜtzen, aber auch anpassungsmiJ"glielt, um sich nach den verschiedenen Verhältnissen richten zu können, die zuweilen sich einstellen und unsere Pläne durchkreuzen.

a) Enthält sie alles Notwendige, um wenigstens von Grund aus die Zeit und die Art und Vleise zu bestimmen bezüglich unserer geistlichen Übungen, 4.er Erfüllung unserer Standes pflichten und der Ubung unserer Standestugenden, so ist sie fest.

567. b) Sie wird anpassungsmiJ"glich genannt werden können, lässt sie trotz Festlegung obiger Punkte eine gewisse Freiheit, um die Stundenordnung zu ändern, um z. B. an Stelle einer AndachtsÜbung, die nicht wesentlich ist, eine andere zu setzen, die gleichwertig ist und für die Umstände besser passt, oder um die oder jene fromme Übung abzukürzen, sobald die Nächstenliebe oder eine dringende Pflicht es erfordern und sie zu anderer Zeit zu vollenden.

Diese Anpassungsmöglichkeit soll sich besonders auf die Formeln von Gebeten und Aufopferungen der Handlungen beziehen, wie der hl. J ohann Eudes' sehr treffend bemerkt. " Denn, " .. sagt er, " ich bitte Sie, recht gut darauf zu achten, dass die Ubung aller Ubunger;, das Geheimnis aller Geheiml:isse, die Andacht aller Andachten darin besteht, an keiner Ubung oder besonderen Andacht zu hängen, sQ!1dern gros se Sorgfalt darauf zu verwenden, in allen Ihren Ubungen und Handlungen sich dem Geiste J esu gänzlich hinzugeben und zwar demütig, vertrauensvoll und losgeschält von allen Dingen, damit er Sie ohne das Festhalten an Ihrem eignen Sinne und Ihren persönlichen Ansichten und Ihrer inneren

I Le Royaume de jtsllS, Paris, 1905. S. 452.

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Verfassung sehe und so mit aller Macht und Freiheit nach seinem Willen wirken und Ihnen nach seinem Gutdünken Andachtsstimmungen und Empfindungen verleihen und Sie 'N ege führen könne, wie es ihm gefällt. "

568. 3. Die Lebensordnung soll endlich jeder Pflicht besondere Bedeutung verleihen. Unter den verschiedenen Pflichten gibt es eine Rangordnung. a) Gott muss darin selbstverständlich den ersten Platz einnehmen. Dann das Heil der eignen Seele und schliesslich die Heiligung des Nächsten. Sicherlich besteht kein eigentlicher Widerspruch zwischen diesen Pflichten. Sie sollen im Gegenteil ausserorden tl ich gut harmonieren, Das aber hängt lediglich von uns ab. Gott verherrlichen, ist, im Grunde genommen, zunächst selbst ihn erkennen und lieben, d. h. sich heiligen, zugleich aber auch darauf bedacht sein, dass er ebenfalls vom Nächsten erkannt und geliebt werde. Wollte man jedoch seine ganze Zeit für das Apostolat verwenden und dabei die grosse Pflicht des Gebetes ausser Acht lassen, dann freilich würde man das wirksamste Mittel des Eifers vernachlässigen. Ebenso einleuchtend ist es, dass man bald den wahren Eifer verlieren würde, andere zu heiligen, wenn man die eigene Heiligung unterlassen würde. Gibt man also Gott, was Gottes ist, das ist das Allerwichtigste, und arbeitet man ernstlich an der persönlichen Heiligung, so kann man sicher sein, mit grösserem Erfolge apostolisch zu wirken. Daher sollen sowohl die ersten als die letzten Augenblicke des Tages Gott und uns gewidmet sein. Dann werden wir uns ganz der Tat hingeben können. Hin und wieder werden wir indessen durch kurze Herzenserhebungen zu Gott diese unsere Tätigkeit unterbrechen. Auf diese vVeise wird unser Leben aus Gebet und Apostolat bestehen.

b) In gewissen dringenden Fällen jedoch muss ein anderer Grundsatz Beachtung finden. Was dringend ist, muss zunächst getan werden. ld prius

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 40$)

quod est 11lagis necessariulll. Das z. B. trifft zu, wird ein Priester zu einem Sterbenden gerufen. Man lässt alles im Stiche, um sich sofort zu ihm zu begeben. Unterwegs aber versucht man, sich mit Gött zu beschäftigen, und das ersetzt die Andachtsübung, die man sonst zu jener Zeit hätte verrichten müssen.

Ir I. vVie man seine Regel zu beobac!lten Ilat. 569. Soll die Regel uns heiligen, so muss man sie ganz gen au und in c!tristlic!telll Sinne beobachten.

1. Ganz genau, d. h. nicht nur teilweise. Ebenso pünktlich. Beobachten wir sie nur teilweise und das ohne ventÜl1jtigen Grund, so werden wir nur das tun, was uns nicht unangenehm ist und das unterlassen, was uns schwer fällt. Wir werden folglich die hauptsächlichsten Vorteile, die an die strenge Beobachtung geknüpft sind, verlieren. Ja, selbst in den Punkten, in denen wir sie balten, werden wir der Gefahr ausgesetzt sein, uns durch Laune oder wenigstens Eigenwillen lenken zu lassen. Man muss also die ganze Regel möglichst genau beobachten. Ist dies durch einen triftigen Grund unmöglich, so muss man im Geiste der Regel das tun, was in unserer Möglichkeit liegt.

570. Zwei Fehler sind zu vermeiden : Der Skrupel und die Laxheit. I) Keinen Skrupel. Hat man einen ernsten Grund, einen Pun~t nicht zu beobachten, ihn zu verschieben oder durch etwas Ahnliches zu ersetzen, so tue man es ruhig. So z. B. befreit uns eine dringende Standespflicht, ein Krankenbesuch, von der Pflicht des Besuchs des Allerheiligsten falls wir zu spät zurückkehren. Wir ersetzen ihn unterwegs durch den Gedanken an den Heiland. So entbindet auch die Sorge für die Kinder eine Mutter von der ~onst gewohnten Kommunion, sobald sich bei des nicht vereinigen lässt. Die geistliche Kommunion tritt dann an die Stelle der sakramentalen.

2) Kei11e Laxheit. Der Mangel an Abtötung, der Wunsch

z. B. recht lange und ohne Notwendigkeit zu plaudern, die Neugierde u. s. w. sind keine GrÜnde, um eine Ubung aufzuschieben und zwar auf die Gefahr hin, sie ganz zu unterlas-

410 FÜNFTES KAl'ITEL. - MITTEL

sen. Kann man diese oder jene Pflicht nicht nach gewohnter Art erfÜllen, so soll man sich bemühen, auf andere Weise ihr gerecht zu werden. Wird z. B. ein Priester während seiner Gebetszeit zu einem Schwerkranken gerufen, so soll er sich bemÜhen, die ErfÜllung der Üblichen Gebetspflicht in eine Art Liebesakt zu verwandeln, nämlich durch Lobpreisungen des eucharistischen Gottes, den er auf der Brust trägt. '

571. Die Pünktlichkeit gehört .,zur wesentlichen Beobachtung der Regel. Eine Ubung nicht zur vorgeschriebenen Zeit beginnen, und zwar ohne Grund, heisst schon, der Gnade widerstehen, die keine Versäumung kennt. Man setzt sich dann der Gefahr aus, nicht mehr die Zeit zu finden, um diese Übung unverkürzt nachzuholen. Ist man Seelsorger, so lässt man durch Unpünktlichkeit die Gläubigen unnötigerweise warten, wenn es sich um eine öffentliche Andacht handelt. Ist man Lehrer, so gibt man durch diesen Fehler seinen Schülern ein schlechtes Beispiel, das nachzuahmen, diese nur allzu leicht geneigt sind.

572. 2. In christlichem Sinne, d. h. aus ÜbernatÜrlichen Beweggründen, um den \Villen Gottes zu tun und so auf die untrÜglichste Weise Liebe zu bezeugen. Das ist die Intentionsreinheit, die Seele der Regel. Sie verleiht jeder unserer Handlungen ihren wahren Wert, weil sie dieselben in Akte des Gehorsams und der Liebe verwandelt. Um sie praktisch anzuwenden, soll man sich vor jeder Handlung sammeln und sich fragen, was die Regel in diesem Augenblicke verlange, und man soll sich dann dementsprechend verhalten, um Gott zu gefallen. " Qua: placita sunt ei,/acio se1liper." Durch die

, Der hl. Frallz vo" Sales verstand ausgezeichnet, eine Lebensregel, die sich auf die Standespflichten bezog. aufzustellen und zu befolgen. Unter seiner Leitung, sagt M. de Chaugy (Mem. sur Sie Chantat) begann die Baronin von Chantal ein ganz neu es Leben. Ihre Frömmigkeit jedoch fiel niemand lästig. Sie unterrichtete und erheiterte ihre Kinder, war nie traurig, missmutig und unterbrach ohne Skrupel ihre Andachtsübungen oder verschob sie auf eine andere Zeit, sobald es die Nächstenliebe verlangte.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 4] 1 Beobachtung der Lebensordnung wird man auf diese Weise beständig fÜr Gott leben. " Qui regulce vivit, Deo vivit. "

§ III. Die geistlichen Lesungen und Vorträge. 1

573. Diese Lesungen oder Vorträge tragen dazu bei, die Leitung zu vervollständigen und dauernder zu gestalten. Ein geistliches Buch ist eigentlich eine niedergeschriebene Führung. Ein Vortrag ist eine an mehrere Seelen zugleich gerichtete, mündliche Führung. Wir wollen hier jetzt den Nutzen derselben darlegeil und von der inneren Veifassung sprechen, die man haben muss, um diesen Nutzen wirklich zu erzielen.

1. Nutzen der geistlichen Lesungen und Vorträge. 574. A) Die Heilige Schrift. Den ersten Platz nimmt selbstverständlich die Lesung der HI. BÜchet' und besonders des Neuen Testamentes ein.

a) Gottliebende Seelen lesen mit Vorliebe die M. Evangelien. Sie finden darin I) cJie Lehren und Beispiele J esu Christi, unseres Erlösers. Nichts bildet sie besser zu einer soliden Frömmigkeit heran, nichts reisst sie mehr zur Nachfolge des göttlichen Meisters hin.

Hätten wir jemals verstanden, was Demut, Sanftmut, Geduld, Ertragung von Unbilden, was Jungfräulichkeit und brüderliche Liebe heisst, die bis zur Hingabe unsererselbst geht, wenn wir nicht sowohl die Beispiele als auch die Lehren Christi bezüglich dieser Tugenden gelesen und betrachtet haben würden? Wohl hatten heidnische Philosophen, besonders die Stoiker, über einige dieser Tugenden schöne Seiten geschrieben. Aber welch' ein Unterschied zwischen ihren literarischen Versuchen und dem überzeu-

,S. BONAVENTURA, De 11Zodo studendi in S. Scriptu1'a. - MABTLLON, Des itudes monastiques, II Teil., Kap. II, III, XVI. - LE ('AUDlER,Op. cit. P. V, sect. I. - TRoNSON, Manuel, Il p .. Ent. I, XV, XVI. -- RlBET, Asettique, Kap. XLIV. - D. COLUMBA MARMfoN, Le Christ, Ideal du moine, S. 519-524.

412 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

gen den und hinreissenden Tone des göttlichen Meisters! Bei den ersteren merkt man die Kunst des Literaten und oft den Stolz des Moralisten heraus, der sich über das gewöhnliche Volk hinwegsetzt. " Oeli profamt1n vulgus et arceo." Bei Christus hingegen bemerkt man die höchste Einfachheit, mit der er sich in die geistige Verfassung der Volksmassen hineinversetzt.Ausserdem tut er, was er predigt und sucht nicht seine Ehre, sondern die Ehre dessen, der ihn gesandt hat.

2) Ja, noch mehr. Für gläubige Seelen enthält jedes Wort, jede Handlung des Meisters eine besondere Gnade, welche uns die Übung der Tugenden, von denen wir lesen, erl~.ichtert. Sie beten das Wort Gottes an, das sich unter dem Ausseren der Buchstaben verborgen hält. Sie bitten den Heiland flehentlich, sie zu erleuchten, um seine Lehre zu verstehen, zu verkosten und in die Tat umzusetzen. Eine solche Lesung ist für sie eine Betrachtung, ein frommes Gespräch mit J esus, und sie gehen aus dieser Unterredung entschlossener denn je hervor, demjenigen nachzufolgen, den sie bewundern und lieben.

J

b) Die Apostelgeschichte und die Episteln liefern ebenfalls

Nahrung fÜr die Frömmigkeit. Es sind die Lehren J esu, von seinen Jüngern erlebt, dargestellt, erläutert und den Bedürfnissen der Gläubigen durch jene angepasst, denen er die Sorge um die Fortführung seines Werkes anvertraute. Nichts ist rÜhrender und hinreissender als diese erste Erklärung des Evangeliums.

575. c) Das Alte Testament. Darin sind. r) Abschnitte enthalten, die sich in den Händen aller befinden müssten, wie z. B. die Psalmen. "Der Psalter," schreibt Lacordaire,' war das Gebetbuch unserer Väter. Man sah ihn auf dem " Tische des Armen, wie auf dem Betstuhle der Könige. Heute noch ist er in der Hand des Priesters, der Schatz, aus dem er die Erhebungen zu Gott entlehnt, die ihn an den Altar fÜhren, die Arche, die ihn in den Gefahren der Welt begleitet, wie auch in der WÜ'lte der Betrachtung." Er ist das beste Andachtsbuch, voll Leben und Wirklichkeit, in welchem die schönsten GefÜhle von Bewunderung, Anbetung, kindlicher Furcht, von Liebe und Dankbarkeit enthalten sind. Ferner die inbrÜnstigsten Gebete in elen verschiedensten und gefährlichsten Lebenslagen, die Rufe des unschuldig Verfolgten nach der göttlichen Gerechtigkeit, der Aufschrei der Reue im zerknirschten und gedemÜtigten SÜnder, die Hoffnung auf barmherzige Verzeihung und endlich das Versprechen eines besseren Lebens. Immer und immer wieder die Psalme

, Leltres a 1t1Z ieltne homme sur la vie ehrttienne. 2. Brief. S. IQ1.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 413

lesen, betrachten und seine eignen Gefühle damit in Einklang bringen, ist eine äusserst heilsame Beschäftigung. '

2) Die BÜcher der Weis/zeit können ebenfalls von frommen Seelen mit grossem Nutzen gelesen werden. Ausser dringenden Aufforderungen der unerschaffenen Weisheit zu einem besseren Leben, werden sie darin die Beschreibung der wichtigsten Tugenden finden, die man im Verkehr mit Gott, mit dem Nächsten und mit sich selbst zu üben hat.

3) Was die historisclten und prophetischen BÜcher anbelangt, so bedarf man, um Nutzen daraus zu ziehen, einer gewissen Anleitung. Man soll darin die Einwirkung der Göttlichen Vorsehung auf das auserwählte Volk erkennen, um es vor dem Götzendienst zu bewahren und es unaufhörlich, trotz seiner Verirrungen, zum Dienste des wahren Qottes zurückzuführen, zur Hoffnung auf den Erlöser, zur Übung der Gerechtigkeit, der Ehrlichkeit und Nächstenliebe, besonders den Armen und Bedrückten gegenÜber. Nach erfolgter Anleitung findet man herrliche Seiten in diesen BÜchern. "Verden die Schwächen der Diener Gottes darin erzählt, ebenso wie ihre guten Werke, so geschieht das nur, um uns an die menschliche Gebrechlichkeit zu erinnern und uns die Barmherzigkeit Gottes bewundern zu lassen, die den reumÜtigen Sündern Verzeihung gewährt. 2

576. B) Die Verfasser geistlicher Bücher.

Versteht man es, sich die besten unter diesen auszusuchen, besonders unter den Heiligen, so sind sie Lehrer und Er11lahner zugleich.

a) Lehrer. Da sie die Wissenschaft der Heiligen besitzen und sie an sich selbst praktisch durchgeführt haben, bewirken sie, dass wir die Grundsätze und die Regeln der christlichen Vollkommenheit verstehen und verkosten lernen. Sie bestärken uns in unserer Überzeugung, nach Heiligkeit streben zu mÜssen. Mittel geben sie uns zu diesem Zweck

, Zahlreiche Kommentare erleichtern hierbei das Verständnis. Besonders seien erwähnt diejenigen von C. FILLlON und von HUGUENY. O. P., bei denen auf Auslegung sowohl des Literalsinnes als auch des eigentlichen geistigen Sinnes Wert gelegt wird, zwecks andächtigeren Brevierbetens.

2 Die Übersetzung der Bibel VOll CRAMPON, von hervorragenden Professoren, die aus Bescheidenheit ihren Namen nicht nennen, wie auch die verkürzte Ausgabe dieser Bibel, werden den gebildeten Kreisen vorzügliche Dienste leisten.

414 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

an, die um so sicherer wirken, als sie selbst dieselben angewendet haben. Sie ermahnen uns, ermutigen und reissen uns mit sich.

Sie sind insofern nützlichere Lehrer, als sie uns. beständig zur VelJÜgung stehen. Auch weil wir mit Hilfe unseres Seelenführers diejenigen auswählen können, welche am besten für unseren Seelenzustand passen. Ferner, weil wir uns mit ihnen, so lange als wir wollen, unterhalten können. Es gibt in der Tat ausgezeichnete Autoren und zwar für alle möglichen Bedürfnisse. Die Hauptsache besteht darin, dass man sie gut auswähle und in der Absicht lese, Nutzen daraus zu ziehen.

577. b) Sie sind auch sehr wohlwollende Emzahner, die mit grosser Geschicklichkeit und Milde uns unsere Fehler sagen. Sie beschränken sich darauf, uns das Vorbild zu zeigen, das wir nachahmen sollen und fordern uns auf, uns selbst besser beobachten zu lernen und zwar mit Hilfe dieses geistliclzen Spiegels. Ehrlich sollen wir unsere Vorzüge und unsere Fehler feststellen, ferner, was wir bereits erreicht haben und was uns noch übrig bleibt, um uns der Vollkommenheit zu nähern. Auf diese Weise werden uns der Blick in unser Inneres und edelmütige Entschlüsse leichter gemacht.

Man darf sich deshalb nicht wundern, wenn die Lesung geistlicher Bücher, die Heiligenleben inbegriffen, Bekehrungen wie die eines hl. Augustinus und Ignatius hervorgerufen und gewisse Seelen zu den höchsten Stufen der Vollkommenheit geführt hat, Seelen, die sonst in der Mittelmässigkeit gelebt haben' würden.

578. C) Geistliche Vorträge. Diese haben vor der Lesung einen zweifachen Vorteil voraus. a) Sie passen sich besser den besonderen Nöten der Hörer an, da sie nur für sie gehalten sind. b) Sie enthalten l1uhr Leben und unter sonst gleichen Umständen ergreifen leichter als Bücher, auch sind sie geeig-

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 415

neter, die Seelen zu überzeugen : Der Blick, der Ton der Stimme, die Geste, kurz, die rednerische Handlung lassen besser den Wert des Gesagten hervortreten. Soll dieses erreicht werden, so muss selbstverständlich der, welcher spricht, aus den besten Quellen geschöpft haben, und von dem, was er sagt, tief überzeugt sein. Er muss Gott bitten, seine Worte zu segnen und ihnen Leben zu verleihen. Aber auch die Zuhörer mÜssen in der gewünschten Verfassung sein.

11. Veifassung, in der man sein muss, um aus der geistliclun Lesung und den geistlichen Vorträgen Nutzen zu ziehen. 1

579. Im Grunde genommen, bezweckt die geistliche Lesung, den Gebetsgeist zu pflegen. Sie ist eine Art und Weise, mit Gott zu reden, dessen Dolmetsch der Verfasser des betreffenden geistlichen Buches ist.

580. I. Ein lebendiger Glaube, durch den wir im Schreiber des Buches und im Vortragenden Gott selbst wahrnehmen" tanquam Deo exhortante per nos," 2 Dieses wird um so eher möglich sein, ist der, welcher spricht oder schreibt, selbst von der Lehre des Evangeliums durchdrungen und kann er mit Recht sagen, seine Lehre sei nicht die seinige, sondern J esu Christi. "M ea doctrina non est mea, sed ,!jus qui misit me. " 3

Jedenfalls sollen die Leser oder Zuhörer durch andächtiges Gebet den Heiland um die Gnade bitten, sein göttlicher Geist möge zu ihrem Herzen sprechen. Sie mögen sich vor der Neugierde hÜten, die mehr nach N euem als nach Erbauung verlangt, ebenso vor der Eitelkeit, die zwar geistliche Dinge

I J. GAUDERON, La lecture spirituelle d'apres les principes du B. J.

Budes, dans" Vie spirituelle" Juni 192I. S. 185-202. 2/1. Koril1therbriej, V, 20.

3 Joh., VlI, 16.

416 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

wissen will, aber nur, um darüber sprechen zu können und damit zu prahlen. Desgleichen vor dem Geiste der I~ritik, der an statt Nutzen aus dem, was gelehrt wird, zu ziehen, dasselbe nur dem Inhalte oder der literarischen Form nach bekrittelt. Nur den einen Zweck sollen sie verfolgen, Vorteile für sich zu gewinnen.

581. 2. Der aufrichtige Wunsch, sich zu heiligen. Nur dann nützen Lesung und Vortrag, hat man den Willen, sich zu heiligen. Man muss also:

a) Nach Vollkommenheit hungern und dÜrsten.

Mit jener gespannten Auf11lerksalll!;:eit zuhören und lesen, die sich nach dem Worte Gottes sehnt, die das, was man liest oder hört, auf sich selbst und nicht auf andere anwendet und alles reiflich erwägt, um es noch besser zu verstehen und ins Praktische umzusetzen. Dann findet man darin reichliche Nahrung, worüber auch immer gesprochen oder gelesen werden mag, da sich doch schliesslich alles auf das geistliche Leben bezieht. Was sich direkt auf die Anfänger bezieht, gilt sehr oft auch für die Vorgeschrittenen. Was man den letzteren sagt, können die ersteren sich auch zu Nutze machen. Was sich auf die Zukunft bezieht, gestattet, für die Gegenwart Entschlüsse zu fassen, denn dadurch bereitet man sich vor, diejenigen Pflichten, gut zu erfüllen, die erst später herantreten werden. So z. B. bereitet man sich auf d.en zukünftigen, erfolgreichen Kampf gegen die Versuchungen durch Wachsamkeit in der Gegenwart vor. So kann man stets aus allem, was gesagt wird, eine Nutzanwendung für die Gegenwart machen, besonders, wenn man auf den inneren Prediger hört, der am vertraulichsten zur Seele spricht, vorausgesetzt, dass man es versteht, seine Stimme zu vernehmen. "Audiam quid loquatur in me Dominus Deus. " 1

, Ps. LXXXIV, 9.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 417

582. b) Darum muss man langsam lesen. " Innehalten, " sagt der hl. ]. Eudes,1 "die Wahrheiten, die besonderen Eindruck auf uns machen, betrachten, überdenken, erwägen, verkosten, um sie uns tief einzuprägen und dadurch Akte und Anmutungen hervorzurufen. " Dann wird die Lesung oder der Vortrag zum Gebet. Nach und nach wird man von den Gedanken und Gefühlen erfasst, die man liest oder hört, wÜnscht sie in die Tat umzusetzen und erbittet sich die Gnade dazu.

583. 3. Ernstes Bemühen, um sogleich zu beginnen, das Gelesene oder Gehörte praktisch zu verwerten. Das legte der hl. Paulus 2 seinen Lesern ans Herz, als er ihnen schrieb, nicht die Hörer des Gesetzes seien gerecht vor Gott, sondern die Voll bringer des Gesetzes werden gerechtfertigt werden. "Non enim auditores legis justi sunt apud Deulll, sed factores legis justificabuntur." Hierdurch erklärt er nur das Wort des Meisters, der im Gleichnisse von der Saat sagt, diejenigen würden vom \Vorte Gottes Nutzen haben, die" nachdem sie es gehört haben, dasselbe in aufrichtigem und guten Herzen bewahren und Frucht bringen in Geduld. " 3

Machen wir es wie der hl. Ephrem. Was er gelesen hatte, setzte er in die Tat um: "Pingebat actz'bus paginam quam legerat. " 4 Nur für die Tat wird uns, Licht gespendet. Unsere erste Tat muss in dem Bestreben bestehen, unser Leben mit der erhaltenen Lehre in Einklang zu bringen. " Estote factores verbi et non audz'tores tantum. " 5

§ IV. Die Heiligung gesellschaftlicher Beziehungen.

584. Bisher war die Rede von den Beziehungen zwischen der Seele und Gott und zwar unter der

'Royaume de /tsus, P. II, § XV, S. 196. - 2 Röm., II, 13.

3., Qui in corde bono et optimo audientes verbum retinent et fructum afferunt in patientia. " (Lukas, VIII, 15).

4 ENNODlUS, in ejus vita. - 5 Jak., I, 22.

N° 683.-14

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Leitung des SeelenfÜhrers. Es ist jedoch einleuchtend, dass wir verpflichtet sind, zahlreiche Beziehungen mit vielen anderen Personen zu unterhalten, verwandschaftliche, freundschaftliche Beziehungen, die unser Beruf mit sich bringt und solche, die unsere apostolische Aufgabe voraussetzt. Alle können und müssen geheiligt werden und zur Festigung unseres innerlichen Lebens beitragen. Um diese Heiligung leichter zu gestalten, wird im N achfolgenden die Rede von allgemeinen Grundsätzen sein, nach denen diese Beziehungen zu regeln sind. Ferner von der praktischen Anwendung derselben auf die wichtigsten Beziehungen.

1. Allgemeine Grundsätze.

585. 1. Nach ursprÜnglichem Plane sollten die Geschöpfe uns zu Gott führen, da sie uns erinnern, er sei der Urheber und die vorbildliche Ursache (causa exemplaris) aller Dinge. Seit der Erbsünde jedoch üben sie einen solchen Einfluss auf uns aus, dass sie uns, wenn wir uns nicht in acht mehmen, von Gott abwendig machen oder wenigstens auf unserem Wege zu ihm ein Hindernis sind. Wir mÜssen darum diese Neigung bekämpfen und im Geiste des Glaubens und des Opfers uns nur insofern der Menschen und Dinge bedienen, als sie Mittel sind, um zu Gott zu gelangen.

586. 2. Nun gibt es aber unter den Beziehungen, die wir mit Personen haben, solche, die von Gott gewollt sind, wie z. B. die verwandtschaftlichen oder die unser Beruf mit sich bringt. Diese müssen aufrecht erhalten werden und einen ÜbernatÜrlichen Charakter annehmen. Das Streben nach der Vollkommenheit befreit uns nicht von unseren Pflichten. Im Gegenteil. Gerade deshalb sind wir verpflichtet, sie auf vollkommenere Weise, als andere es tun, zu erfüllen. Aber es muss ~us ÜbernatÜrlichen GrÜnden geschehen und zwar in FIinblick auf unser Endziel,

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 419 Gott. Das beste Mittel, es zu tun, besteht darin, die Personen, mit denen man verkehrt, als Kinder Gottes, Geschwister in Christo J esu zu betrachten, sie zu achten und zu lieben insofern sie gute Eigenschaften besitzen, welche der Abglanz göttlicher Vollkommenheiten sind, und weil sie bestimmt sind, am Leben Gottes und seiner Verherrlichung teilzunehmen. Auf diese Weise achten und lieben wir Gott in ihnen.

587. 3. Es gibt aber auch gefährliche und schlechte Beziehungen, die uns zur Sünde verleiten. Entweder rufen sie in uns den Geist der Welt wach oder sie fesseln uns durch Empfindungen, die der Sinnlichkeit schmeicheln, so oft wir uns im Verkehr mit diesen Personen befinden, und denen wir leicht zustimmen könnten. Diese Gelegenheiten müssen wir nach Möglichkeit meiden. Kann man das nicht, so ist man verpflichtet, sie insofern weniger gefährlich zu gestalten, als man durch grössere Anstrengung des Willens die ungeordnete Anhänglichkeit an jene Personen bekämpft. Anders handeln, hiesse seine Heiligung und sein Seelenheil in Gefahr bringen. "Denn, wer die Gefahr liebt, kommt darin um." Qui amat pel'iculum, z'n z'lio peribit. " 1 Je grösser das Verlangen nach Vollkommenheit ist, desto sorgfältiger muss man gefährliche Gelegenheiten meiden, wie wir später bei der Abhandlung über den Glauben, die Liebe und die anderen Tugenden darlegen werden.

588. 4. Schliesslich gibt es Beziehungen, die an und für sich weder gut noch schlecht, sondern lediglich z'ndifferent sind. Sie können, je nach den Umständen und den Absichten, nützlich oder schädlich sein. Wie z. B. Besuche, Unterhaltungen, Erholungen. Eine Seele, die ernstlich nach Vollkommenheit strebt, wird diese Beziehungen du~ch

, Eccles., III. 27.

420 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

rezne Absichten und durch Mässigung, die sie bei allen Dingen zu üben gewohnt ist, verdienstlich machen. Vor allem wird sie nur solche suchen, die tatsächlich zur Ehre Gottes, zum Wohle der Seelen oder aber zu jener notwendigen Erholung dienen, welche die Gesundheit des Körpers oder der Seele erfordert. Im Gebrauch dieser nützlichen Dinge wird sie mit jener Klugheit, Bescheidenheit und Mässigung handeln, durch die alles auf die von Gott gewollte Ordnung zurückgeführt wird. Also keine langen, müssigen Gespräche, die Zeitverlust bedeuten und eine Gelegenheit sind, die Demut und die Nächstenliebe zu verletzen. Keine langen masslosen Vergnügungen, die den Leib ermüden und der Seele schaden. I Mit einem Wort, man möge stets die vom Völkerapostel gegebene Regel vor Augen haben : " Omne quodcumque facitis in verbo aut in opere, omnia in nomine Domini Jesu Christi, gratias agentes Deo et P atri per ipsum. " 2

11. Die Heiligung der verwandtschaftlichen Beziehungen.

589. Die Gnade zerstört nicht die Natur, sondern vervollkommnet sie. Nun aber wurden die verwandtschaftlichen Beziehungen von Gott selbst gestiftet. Es war sein Wille, dass das Menschengeschlecht durch die rechtmässige, unauflösliche Verbindung des Mannes mit dem Weibe sich vermehre und dass diese Vereinigung noch inniger werde durch die Kinder, die aus ihr entspriessen. Daher die äusserst innigen und herzlichen Beziehungen zwischen Gatten und Gattin, zwischen Eltern und Kindern, welche die sakramentale Gnade der Ehe übernatürlich gestalten hilft.

, Über die Heiligung der Besuche, Unterhaltungen, Spiele und Reisen siehe TRONsON, Ex. partie., LXXVIII-XC.

2 Kolosser, III, I7.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 421

I. VON DEN 13EZIEHUNGENZWISCHEN CHRISTLICHEN EHELEUTEN '.

590. Der Heiland wohnte der Hochzeit zu Kanaan bei. Er erhob dadurch die christliche Ehe zur Würde eines Sakramentes. Damit bewies er den Eheleuten, ihre Vereinigung könne geheiligt werden. Zu diesem Zweck hat er ihnen die Gnade verdient.

A) Vor der Ehe vereinigt beide Herzen die christliche Liebe, zärtlich und glühend, und bereitet sie vor, tapfer die späteren Familiensorgen auf sich zu nehmen. Die Natur und der Teufel werden zwar versuchen, in jene Liebe sich Sinnlichkeit einschleichen zu lassen, die für die Tugend eine Gefahr sein könnte. Die christlichen Brautleute aber, die häufigen Gebrauch von den hl. Sakramenten machen und darin Kraft finden, werden dieser Sinnlichkeit Schranken setzen und ihrer Liebe etwas Übernatürliches verleihen. Sie vergessen nicht, dass Gott es ist, der alle edlen Gefühle einflösst und dass sie auf ihn zurückgeführt werden müssen.

591. B) Die Gnade des Sakramentes verbindet ihre Herzen durch ein unauflösliches Band, veredelt und reinigt ihre Liebe. Sie sollen sich stets an die Worte des hl. Paulus erinnern, dass nämlich ihre Vereinigung das Bild jener geheimnisvollen Vereinigung sei, welche zwischen Christus und seiner Kirche bestehe. 2 "Die Frauen seien ihren Männern untergeben wie dem Herrn. Denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie Christus das Haupt der Kirche ist. Er, der Erlöser seines Leibes. Nun aber wie die Kirche Christus untertan ist, so seien auch die Frauen ihren Männern in allem untertänig. Ihr Männer! liebet eure Frauen, so wie auch Christus

, HL. FRANZ VON SALES. Philothea, III. B. 38. u. 39. Kap. 2 Epheser, V, 22-33.

422 FÜNFTES KAPITEL.-, MITTEL

die Kirche geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat, sie zu heiligen, ipdem er sie reinigte durch das Bad des Wassers (die Taufe), vermittels des Wortes des Lebens, damit er sich selbst die Kirche darstellte, ohne Makel, ohne Runzel oder etwas dergleichen, vielmehr dass sie heilig und fleckenlos sei. So sind auch die Männer schuldig ihre Frauen zu lieben wie ihre eigenen Leiber. .. Jeder soll sein Weib lieben wie sich selbst. Das Weib aber fürchte ihren Mann." Die Pflichten der Eheleute sind also nach der Lehre des hl. Paulus gegenseitige Achtung und Liebe, die der Liebe Christi zu seiner Kirche möglichst ähnlich sei. Gehorsam der Gattin dem Gatten gegenüber und zwar in allem, was rechtmässig ist. Der Gatte soll sich für seine Lebensgefährtin aufopfern und ihr Schutz sein.

592. C) Schenkt Gott ihnen Kinder, so betrachten sie dieselben als einen Schatz, der ihnen von Gott anvertraut wurde. Sie lieben sie nicht nur wie einen Teil von ihnen selbst, sondern auch als Kinder Gottes, als Gli'eder Christi, als zukünftige Bewohner des Himmels. Sie sorgen für sie und opfern sich für sie auf, lassen ihnen eine christlz'clze Erziehung zu teil werden und bemühen sich, christliche Tugenden in ihr Herz zu pflanzen. In dieser Absicht machen sie Gebrauch von der Vollmacht, die ihnen Gott verlieh. Sie tun es mit Zartgefühl, aber auch mit Energie. Sie vergessen nie, dass sie als Stellvertreter Gottes jene Schwäche meiden müssen, durch welche die Kinder verzogen. werden, ebenso die Selbstsucht, die sie nur geniessen will, ohne sie zur Arbeit und zur Tugend heranzubilden. Mit Hilfe der göttlichen Gnade und durch Erzieher, die sie sorgfältig aussuchen müssen, bilden sie ihre Kinder zu tüchtigen Menschen und Christen heran und üben so im Schosse der Familie eine Art Priestertum aus. Dann können sie auch auf den Segen Gottes und auf Dankbarkeit ihrer Kinder rechnen.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 423

2. VON DEN PFLICHTEN DER KINDER IHREN ELTERN GEGENÜBER.

593. A) Die Gnade, welche die Beziehungen zwischen den Eheleuten heiligt, vervollkommnet und macht die Pflichten der Eh17urcht, der Liebe und des Gehorsams, welche die Kinder den Eltern schulden, übernatürlich.

a) Durch sie sehen wir in unseren Eltern die Stellvertreter Gottes und dessen Autorität. Nach Gott verdanken wir ihnen das Leben, die Erhaltung und die gute Führung desselben. Deshalb muss unsere EI117Urcltt bis zur Verehrung gehen. Wir bewundern an ihnen eine Teilnahme göttlicher Vaterschaft. "Ex quo omnis paternitas in ca:lis et in terra, " I Teilnahme an der Autorität und an den Vollkommenheiten Gottes, ja, Gott selbst verehren wir in ihnen.

b) Ihre Aufopferung, Güte und Sorge für uns sind ein Abbild der göttlichen Vorsehung und göttlichen Güte. Unsere Kindesliebe wird darum von Tag zu Tag grösser. Sie steigert sich bis zur vollkommenen Hingabe, so, dass wir bereit sind, uns fÜr sie zu opfern, ja selbst nötigenfalls das Leben hinzugeben, um das ihrige zu retten. Wir leisten ihnen nach Kräften geistliche und leibliche Hilfe in allem, dessen sie bedürfen.

c) Da wir in ihnen Gottes Stellvertreter sehen, zögern wir auch nicht, ihnen in allem zu gehorchen und zwar nach dem Beispiele des Heilandes, welcher dreissig Jahre hindurch Maria und] oseph untertan war. " Erat subditus illis. "2 Dieser Gehorsam kennt keine anderen Grenzen als die, welche Gott selbst gezogen hat. Wir müssen Gott mehr als den Menschen gehorchen und darum auch in dem, was das Heil der Seele anbetrifft. Besonders aber gilt

'Epheser, III, 15. - 2 Lukas, II, 51.

424 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

dieses in der Berufsfrage. In dieser Sache müssen wir dem Rate unseres Beichtvaters folgen, nachdem wir ihm unsere Familienverhältnisse klargelegt haben. Auf diese Weise ahmen wir ebenfalls den Heiland nach, der auf die Frage seiner Mutter, weshalb er sie verlassen hatte, antwortete: " Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist? Nesciebatis quia in llis qua: Patl'is mei SUllt, oportet me esse?" I Somit sind alle Rechte und die damit verbundenen Pflichten geschützt.

594. B) Durch unseren Eintritt in den geistlichen Stand verlassen wir die \Velt und gewissermassen auch die Familie, um uns eier grossen, kirchlichen Familie anzugliedern und um uns vor allem mit der Förderung der Ehre Gottes, dem Wohle der Kirche und dem Heile der Seelen zu befassen. Sicher ist, unsere Gefühle von Ehrfurcht und Liebe unseren Eltern gegenüber lassen dadurch keineswegs nach, sondern, irp Gegenteil, veredeln sich. Jedoch die äussere Offenbarung derselben wird sich von nun an nach unseren Standespflichten richten. Wir dürfen den Eltern zuliebe nichts tun, was die Ausübung unseres Amtes hindern könnte, Unsere allererste Pflicht ist, uns mit göttlichen Dingen zu beschäftigen. Stehen also die Ansichten, Ratschläge oder Ansprüche der Eltern im Widerspruch zu dem, was unser Amt anbelangt, so werden wir unseren Eltern in taktvoller, aber gleichzeitig auch entschlossener \Veise zu verstehen geben, bezÜglich unserer Standespflichten seien wir nur von Gott und den kirchlichen Oberen abhängig. 2 Wir werden aber nie deshalb aufhören, unsere Eltern zu ehren, zu lieben und ihnen Hilfe zu teil werden zu lassen, soweit sich dieses mit unseren Berufspflichten verein baren lässt.

, Lukas, II, 49.

2 A. CHEVRIER, Le Veritable disciple, 1922. S. IOI-II2.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 425 Dieselbe Regel gilt um so mehr für die, welche einer Kongregation oder einem Orden beitreten. I

I II. Heiligunz der freundschaftliche7Z Bezieltungen. 2

Die Freundschaft kann ein Mittel der Heiligung oder ein ernstes Hindernis sein, um zur Vollkommenheit zu gelangen, je nachdem sie ÜbernatÜrlich oder natürlich und sinnlich ist. Wir werden aus diesem Grunde zunächst Über wahre Freundschaft sprechen, dann Über die falsche. An dritter Stelle Über Freundschaften, die Italb ÜbernatÜrlich, halb sinnliclz sind.

1. WAHRE FREUNDSCHAFTEN.

Ihr Wesen und ihre Vorteile.

595. A) Ihr Wesen. a) Die Freundschaft besteht in einem gegenseitigen Austausch zwischen zwei Personen. Ihre Art richtet sich vor allem nach der Mannigfaltigkeit der Mitteilungen und der Verschiedenheit der GÜter, die man gegenseitig austauscht. Der M. Franz von Sales 3 erklärt dieses in vortrefflicher Weise. "Je erhabener die Tugenden sind, die Sie sich gegenseitig mitteilen, desto vollkommener wird Ihre Freundschaft sein. Sind die Mitteilungen wissenschaftlicher Art, so wird Ihre Freundschaft lobenswert sein. Mehr noch, wenn es sich um Tugenden wie Klugheit, Besonnenheit, Stärke und Gerechtigkeit handelt. Bezieht sich aber Ihre gegenseitige Mitteilung auf die Liebe, die Frömmigkeit und die christliche Vollkommenheit, dann wird Ihre Freundschaft kostbar sein. Da kann man sie vortrefflich nennen, denn sie kommt von Gott,

, RODRIGUEZ, Prallque. P. Il., Tr. V. Von der ungeordneten Anhänglichkeit an die Eltern .

• Der HL. FRANZ V. SALES, Philothea, III. B., 17.-22. K. - RIBET, Asdtique, C. XLIII, S. 437-44I. - AD. A. DENDERWINDEKE, Com.tJ. Theol. aseet. 1921, N. 437-439. - ROUZIC, De l'a1Jlitit.

3 Philothea, III. B., 19. Kap.

426 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

strebt zu Gott und Gott ist das Band. Vortrefflich auch deshalb, weil sie ewig in Gott dauern wird. 0, wie gut ist es, auf Erden zu lieben, wie man im Himmel liebt. In der Welt sich gegenseitig zu lieben, wie wir es im Himmel ewig tun werden!"

Die wahre Freundschaft im allgemeinen ist ein vertrauter Verkehr zwischen zwei Seelen, um sich gegenseitig Gutes zu erweisen. Sind die GÜter, die man sich mitteilt, rein natürlicher Ordnung, so nennt man sie schlechthin ehrbar, Die ÜbernatÜrliche Freundschaft jedoch ist viel höherer Ordnung, Sie besteht in vertrautem Verkehr zweier Seelen, die sich in Gott und für Gott lieben, um sich gegenseitig behilflich zu sein, das in ihnen vorhandene, göttliche Leben zu vervollkommnen. Die Ehre Gottes ist ihr letztes Ziel, der geistliche Fortschritt ihr unmittelbares, Jesus hält beide Freunde zusammen. Das war der Gedanke des Se!. Ethelred. " Ecce ego et tu et spero quod tertius inter nos Christus sit .. " Lacordaire kleidet denselben Gedanken in folgende Worte : " J eh kann niemand mehr 'lieben, ohne dass die Seele sich hinter das Herz schleicht und Christus zwischen uns ist. " I

596. b) Darum gehört auch zum Wesen dieser 'Freundschaft Ruhe, ZurÜckhaltung, volles, gegenseitiges Vertrauen. Sie ist also nicht wie die sinnliche Freundschaft, die leidenschaftlich ist und alles ausschliesslich für sich in Anspruch nimmt. Die wahre Freundschaft besteht in ruhiger und massvoller Liebe, eben weil sie auf der Liebe zu Gott beruht und an seiner Tugend teilnimmt. Dadurch ist diese Liebe auch beständig. Sie steigert sich 'allmählich, im Gegensatze zur leidenschaftlichen, die gewöhnlich mit der Zeit abflaut. Ihr gesellt sich kluge Zurückhaltung bei.·Anstatt nach Vertraulichkeiten und Liebkosungen zu verlangen, wie die

, P. CHOCARNE, Vie de Lacordaire, 2. Band, 15. Kap.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 427 sinnliche Liebe, ist sie voll Achtung und Zurückhaltung, weil sie nur geistlichen Austausch wÜnscht. Diese Zurückhaltung schliesst jedoch keineswegs das Vertrauen aus. Weil man sich gegenseitig achtet und in der geliebten Person ein Abbild göttlicher Vollkommenheiten sieht, hat man sehr grosses Vertrauen zu ihr. Dasselbe ist gegenseitig. Es fÜhrt zum Austausche tiefinnerer Gedanken, da man an den übernatürlichen Eigenschaften seines Freundes teilzunehmen' wünscht. Man offenbart gegenseitig seine Gedanken, Absichten und WÜnsche bezüglich der Vollkommenheit. Da man sich gegenseitig vervollkommnen will, fürchtet man sich auch nicht, sich gegenseitig auf seine Fehler ~ufmerksam zu machen und behilflich zu sein, diese auszumerzen. Das gegenseitige Vertrauen verhindert das U nruhige in dieser Freundschaft. Ferner, dass man alles für sich allein in Anspruch nimmt, andere aus" schliesst. Man missbilligt nicht, dass unser Freund andere Freunde hat. Ja, man freut sich darüber zu seinem und des Nächsten Besten.

597. B) Eine solche Freundschaft hat zweifellos grosse Vorteile. a) In der HI. Schrift wird sie oft gelobt. " Ein treµer Freund ist ein mächtiger- Schutz. Wer ihn findet, hat einen grossen Schatz gefunden. Ein treuer Freund ist ein Heilmittel für Leben und Unsterblichkeit. A 11Zicus jidelis protectio fortis. Qui aute1tZ invenit illum invenit thesaurum. A micus jidelis, mediCilt/Zentum vita: et illlnlortalitatis. " I Durch seine Freundschaft mit dem hl. ] ohannes gab uns der Heiland ein Beispiel, denn ] ohannes galt als " jener, den ] esus liebte, qUe1tl diligebat Jesus. " 2 Der hl. Paulus hatte Freunde,. an denen er sehr hing. Ihre Abwesenheit war ihm schmerzlich, sie wiederzufinden, sein grösster Trost. So war er z. B. untröstlich, weil er Titus nicht wiederfand. " Eo

,Ekkles., VI, 14-16. - ? Joh., XIII, 23·

428 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

quod non invenerim Titum fratre11Z meum." I Gross war seine Freude, als er ihm endlich begegnete. " Consolatus est nos Deus in ad'l/entu Titi ... magis gavisi sumus super gaudio Titi." 2 Man erkennt auch, wie sehr er Timotheus liebte und wie wohl ihm dessen Gegenwart tat und ihm half, anderen Gutes zu erweisen. Deshalb nennt er ihn seinelJ Mitarbeiter, seinen Sohn, seinen geliebten Sohn, seinen Bruder. "Timotheus adjutor meus ... filius 11Zeus ... Ti11Zotheus frater ... Timotheo dilecto filio. " 3

Die ältesten christlichen Zeiten liefern uns ebenfalls hervorragende Beispiele derselben Art. Eines der berühmtesten ist das des h1. Basilius und des hl. Gregor von N azianz. 4

598. b) Diese Beispiele weisen auf drei Gründe hin, die uns verstehen lernen, wie nÜtzlich die Freundschaft im christlichen Sinne sei, besonders fÜr den Seelsorger.

I) Ein Freund ist eine Schutzwache für die Tugend, Protectio fortis. Wir fühlen das Bedürfnis, einen vertrauten Freund zu haben, um ihm unser Herz auszuschÜtten. Manchmal kann man es dem Beichtvater gegenüber tun, aber nicht immer. Seine väterliche Freundschaft ist anderer Art als die brüderliche, die wir suchelJ. Wir brauchen unseresgleichen, mit dem wir ganz offen uns aussprechen können. Finden wir niemand, so sind wir der Gefahr ausgesetzt, bedauernswerte, vertrauliche Mitteilungen Personen gegenüber zu machen, die unseres Vertrauens unwürdig sind. Dazu kommt noch, dass diese vertraulichen Mitteilungen fÜr uns und für die anderen nicht immer ohne Gefahr sind.

2) Ein Freund ist auch ein vertrauter Berater. dem wir gern unsere Zweifel und unsere Schwierig-

, II Korinth., II, 13. - 2 lbidem, VII, 6, 13.

3 Röm., XVI, 21; 1 Korinth., IV, 17; 11 Kor., I, I; I Tim., I, 2. 4 Der HL. FRANZ V. SALES, I. cit" 19. Kap. zählt mehrere auf.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 429 keiten unterbreiten. Er hilft uns, dieselben zu beseitigen. Er ist ferner ein kluger und liebevoller Ermalzner, der Zeuge unseres Handelns ist und weiss, was man von uns erzählt und der uns die Wahrheit nicht vorenthalten wird. Er verhindert oft, dass wir Unklugheiten begehen.

3) Er ist schliesslich auch der, welcher uns trö'stet und teilnahmsvoll und ohne Heuchelei die Offenbarung unserer Leiden anhören und in seinem Herzen die richtigen Worte finden wird, diese Leiden zu lindern und uns wiederaufzurichten.

599. Man hat sich gefragt, ob diese Freundschaften in Klö'stern zu fördern seien. Man kann nämlich befÜrchten, sie möchten der Liebe, die alle Glieder vereinen soll, schaden und Eifersüchteleien hervorrufen. Sicher muss man dafÜr Sorge tragen, dass diese Freundschaften nicht der allgemeinen Nächstenliebe schaden und dass sie nicht nur Übernatürlich seien, sondern sich auch in den genauen Grenzen halten, die von den Oberen gezogen worden sind, Aber unter diesem Vorbehalte haben sie auch ihre Vorteile. Auch Ordenspersonen brauchen einen Berater, einen Tröster und Ermahner, der gleichzeitig ihr Freund sei. Indessen muss man in den Klöstern ebenso, ja, noch mehr, und zwar mit grosser Sorgfalt, alles vermeiden, was falschen Freundschaften ähnlich sein könnte.

2. FALSCHE FREUNDSCHAFTEN.

Ihr Wesen. Ihre Gefahren. Ihre Gegenmittel. 600. A) Ihr Wesen. a) Falsche Freundschaften beruhen auf sinnlichen oder eitlen Eigenschaften. Man will lediglich die Gegenwart und die Annehmlichkeiten der geliebten Person geniessen. Im Grunde genommen, ist es ein versteckter Egoismus, da man jemand wegen der Freude, die man in seiner Gesellschaft empfincJet, liebt. \-\lohl ist man

430 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

bereit, ihm Dienste zu leisten, aber nur wegen des Vergnügens, das man verspürt, denselben mehr an sich zu binden.

b) Der hL Franz von Sales unterscheidet drei Sorten: Fleischliche Freundschaften, die wollüstige Freuden suchen. Sinnliche, die sich hauptsächlich auf äussere und sinnliche Eigenschaften beziehen, wie z, B. " die Lust, Schönes zu sehen, eine liebliche Stimme zu hören oder etwas Angenehmes zu betasten und ähnliches." I Frivole oder leichtsinnige Freundschaften, die. auf gewissen eitlen Eigenschaften beruhen, welche schwache Köpfe Tugenden und Vollkommenheiten nennen, wie z, B. gut tanzen, schön spielen, schön singen, schön gekleidet sein, anmutig lächeln können oder ein schönes Antlitz besitzen.

601. c) Diese Art von Freundschaften beginnt gewöhnlich im Pubertätsalter. Sie entstehen aus dem Bedürfnisse, zu lieben und geliebt zu werden, wie man es zu jener Zeit empfindet. Oft ist es eine Art Verirrung geschlechtlicher Liebe. Ausserhalb der Klöster werden solche Freundschaften gewöhnlich zwischen jungen Männern und jungen Mädchen geschlossen. Geht man dabei zu weit, so nennt man sie Liebeleien. 2 In geschlossenen Gemeinschaften findet man sie unter Personen desselben Geschlechtes. Man nennt sie Partikular-Freundschaften. Bisweilen dauern sie bis in das hohe Alter. So z. B. empfin<len Männer sinnliche Liebe für J ünglinge .mit frischem und sympathischem Gesicht oder wegen ihres offnen Charakters und ihrer angenehmen Umgangsformen.

602. d) Besondere Zeichen, an denen man sinnliche Freundschaften erkennt, finden sich in ihrem Entstehen, in ihrer Entwicklung und in ihren Wirkungen.

I) In ihrem Entstehen. Sie beginnen plötzlich und leidenschaftlich, weil sie aus natürlicher, instinktiver Sympathie

, op. eil., 17. Kap. - 2 lbid., 18. KaJ>.

hervorgehen. Sie beruhen auf äusseren, hervorragenden oder wenigstens scheinbar aussergewähnlichen Eigenschaften. Oft machen sich dabei heftige, leidenschaftliche, innere Erregungen bemerkbar.

2) In ihrer Entwicklung. Sie nähren sich, so zu sagen, von Zwiegesprächen, die an und für sich bedeutungslos sind, aber viel sinnliche Liebe, zuweilen auch eine allzugrosse und gefährliche Vertraulichkeit verraten. Man erkennt sie am häufigen Austausch von Blicken, die in gewissen Kreisen, Privatgespräche ersetzen. Ferner an Liebkosungen, am

Händedruck u. a. m. .

3) In ihren Wirkungen. Sie sind unstet, nehmen alles für sich in Anspruch und dulden keine andere Freundschaft. Man bildet sich ein, sie seien ewig. Eine Trennung jedoch, nach welcher andere Freundschaften geschlossen werden, macht oft kurzen Schluss damit.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 431

603. B) Die Gefahren, die solche Freundschaften mit sich bringen, liegen klar auf der Hand:

a) Sie bilden eines der grössten Hindernisse für den Fortschritt im geistlichen Leben. Gott will kein geteiltes Herz. Anfangs macht er innerliche VorwÜrfe. Hört man nicht auf seine Stimme, so zieht er sich allmählich von der Seele zurück und entzieht ihr inneres Licht und inneren Trost. Werden die Anhänglichkeiten stärker, so verliert man die innere Sammlung, deI!. Seelenfrieden, den Geschmack an geistlichen Ubungen und an der Arbeit.

b) Es folgt bedeutende Zeitvergeudung. Man denkt zu oft an den abwesenden Freund, Geist und Herz werden unfähig, sich mit ernsten Dingen und mit der Frömmigkeit zu befassen.

c) Schliesslich fühlt man Widerwillen und gibt sich der Mutlosigkeit hin. Die Sinnlichkeit siegt über den Willen, der kraftlos und matt wird.

d) Dann beginnen die Gefahren fÜr die Reinheit.

Zwar will man sich in den Grenzen des Erlaubten halten, bildet sich aber ein, .die Freundschaft verleihe gewisse Rechte. Man erlaubt sich infolgedessen immer gefährlichere Li~bkosungen. Die

432 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

schiefe Ebene ist bekanntlich glatt. Wer sich der Gefahr freiwillig aussetzt, kommt darin um.

604. C) Das Gegenmittel besteht in der Bekämpfung dieser falschen Freundschaften und zwar schon gleich bei ihrem Entstehen. Es muss mit Energie und positiven Mitteln geschehen.

a) Bei ihrem Entstehen. Da ist es noch leicht, weil das Herz noch nicht so sehr daran hängt. Mit einiger, kräftiger Anstrengung erreicht man seinen Zweck, besonders, wenn man sich nicht scheut, seinem Seelenführer etwas davon zu sagen und sich der geringsten Fehltritte anzuklagen. Wartet man aber, wird die Losschälung viel schwerer. I

b) Um jedoch einen völligen Sieg zu erreichen, sind energische Mittel anzuwenden. "Schneide, trenne mitten durch, brich ab! Man darf sich nicht erst damit befassen, jene falschen Freundschaften allmählich aufzulösen, nein, man muss sie zerreissen. Man darf sie nicht erst abflauen lassen wollen, sondern muss ihnen gewaltsam ein Ende machen. 2 Man soll also nicht nur vermeiden, die Person, die man ungeordneter Weise liebt, aufzusuchen, sondern darf nicht einmal freiwillig an sie denken. Ist ein zeitweiliges Zusammentreffen mit ihr unvermeidlich, so behandle man sie zwar höflich und liebevoll, ohne jedoch ihr nahe zu treten oder ihr Zeichen besonderer Zuneigung zu geben.

c) Um dieses leichter zuwege zu bringen, wendet man positive Mittel an. Man beschäftigt sich möglichst viel mit seinen Standespflichten. Tritt dessenungeachtet das Bild desjenigen, den man liebt, vor den Geist, so benützt man diese Gelegenheit, um einen Akt der Liebe zu Gott zu erwecken.

, Ovid sagt bekanntlich: "Prilleipiis obsta, sero medicina paratur, Cum mala per tongas invaluere moras. " (De remediis amoris.)

, Philothea, 21. Kap.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 433

Dabei kann man z. B. so beten : "Dich allein, 0 Jesus, will ich lieben. " " Unus est dilectus meus, unus est sponsus meus z'n ceternum." Auf diese Weise benutzt man selbst die Versuchung, um den mehr zu lieben, der allein mit ungeteiltem Herzen geliebt zu werden verdient.

3. VON FREUNDSCHAFTEN, DIE GLEICHZEITIG ÜBERNATÜRLICH UND SINNLICH SIND.

605. Manchmal sind unsere Freundschaften halb llatürlz'ch, halb übernatürlz'ch. Man will tatsächlich das übernatürliche Gute seines Freundes, gleichzeitig aber auch den Genuss seiner Gegenwart und seiner Unterhaltung. Man leidet nur allzuviel durch seine Abwesenheit. Der hl. Franz v. Sales beschreibt dieses trefflich. I "Mit tugendhafter Liebe fängt man an. Ist man aber nicht sehr vorsichtig, so mischt sich gar bald eitle Liebe hinein. Ihr folgt die sinnliche und schliesslich die fleischliche. Ja, selbst der geistlichen Liebe droht diese Gefahr, wenn man nicht sehr aufpasst, obschon man bei dieser so leicht nicht getäuscht wird. Ihre Reinheit und Makellosigkeit lassen leichter den Schmutz wahrnehmen, den Satan in sie schleichen lassen will. Versucht der böse Geist es, so bedient er sich einer besonderen List und bemüht sich, diese Liebe, ohne dass man es anfangs merkt, zu verunreinigen. "

606. Also auch hier heisst es, sein Herz bewachen und energische Mz'ttel anwenden, um nicht auf die abschüssige Bahn zu gelangen.

a) Ist das übernatürliche Element vorherrschend, so kann man diese Freundschaft aufrecht erhalten, muss sie aber läutern. Zu diesem Zwecke muss man sich von allem enthalten, wodurch das zu sinnliche Element begünstigt wird. So z. B. von häufigen und zärtlichen Zwiegesprächen, von Vertraulichkeiten

, Philothea, 3. B., 20. Kap.

434 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

u. a. m. Hie und da muss man auf eine Begegnung verzichten, wäre sie auch noch so berechtigt. Eine Unterhaltung beenden, aus der man keinen Nutzen erzielt. So erreicht man eine gewisse Beherrschung seiner Sinnlichkeit und umgeht gefährliche Klippen.

b) Ist die Freundschaft jedoch mehr sinnlich als übernatürlich, so muss man auf jeden besonderen Verkehr mit seinem Freunde auf längere Zeit verzichten, mit Ausnahme der unvermeidlichen Begegnungen, bei denselben jedes zärtliche Wort vermeiden. Man lässt auf diese \iVeise die Sinnlichkeit erkalten und wartet geduldig, bis wieder Ruhe in der Seele herrscht. Dann erst nimmt man wieder die Beziehungen auf. Die neuen werden einen ganz anderen Charakter tragen. Sollte dies aber nicht der Fall sein, so muss man dieser Freundschaft unbedingt ein Ende machen.

c) In jedem Falle muss man jene Feststellungen benützen, um J esus desto inniger zu lieben und ihn zu versichern, man wolle nur in ihm und für ihn lieben. Auch muss man sich oft das 7. und 8. Kapitel des zweiten Buches der Nachfolge Christi durchlesen.

So werden die Versuchungen zu Gelegenheiten

des Triumphes.

'A. DEsuRMoNT, La sabliefe dans fes ..elations sociales. CEuvres,

t. XI, S. 272 und ff. Cliarilt! saeerdotale, t. II, § 205-213.

IV. Hezligung der berußz'chen Bezz·e/lungen. I

607. Je nach der Art und Weise, wie man seine Standespflichten auffasst und erfüllt, sind die beruflichen Beziehungen entweder ein Mittel der Heiligung oder ein Hindernis für den Fortschritt. Im Grunde genommen, entsprechen die Pflichten, die uns der Beruf auferlegt, dem Willen Gottes. Erfüllen wir sie in diesem Sinne, d. h. aus Gehorsam gegen Gott und in der Absicht, nach den Grund-

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 435 sätzen der Klugheit, Gerechtigkeit und Liebe zu handeln, so tragen sie zu unserer Heiligung bei. I Verfolgen wir aber, ganz im Gegenteil, keinen anderen Zweck in unseren beruflichen Beziehungen, als uns Ehren und Reichtum zu verschaffen, und zwar auf Kosten des Gewissens, so werden diese l?eziehungen für uns zur Ursache von SÜnde und

Argernis.

A) Unsere erste Pflicht ist es demnach, den Beruf, den die Göttliche Vorsehung uns gab, gleichsam als Ausdruck des göttlichen Willens bezüglich unserer Person anzunehmen und in ihm so lange zu verharren als wir keine triftigen Gründe haben, einen' anderen zu ergreifen. Gott hat gewollt, dass es verschiedene Künste und Handwerke oder Berufszweige gebe. Hat man nach einer Reihe von verschiedenen Begebenheiten einen Beruf ergriffen, so kann man Überzeugt sein, darin liege für uns der Wille Gottes. Gesetzt den Fall, wir wären gezwungen, unsern Beruf zu wechseln. Alles, was mit der gesunden Vernunft übereinstimmt, liegt auch im Plane Gottes. Ob man also Arbeitgeber oder. Arbeiter, Grossindustrieller oder Klein-Kaufmann, Landwirt oder Finanzmann sei, immer ist man verpflichtet, seinen Beruf auszuÜben, um sich dem Willen Gottes zu unterordnen. Diese Berufstätigkeit muss nach den Gesetzen der Gerechtigkeit, Billigkeit und christlichen Liebe vor sich gehen. Dann steht nichts im Wege, um jede Handlung dadurch zu heiligen, dass man sie auf das letzte Zzd richtet. Das wieder schliesst keineswegs den zweiten Zweck aus, nämlich, das zum eignen Unterhalte wie zu dem der Familie nötige Geld zu verdienen. Tatsache ist, dass es Heilige aus allen Ständen gegeben hat.

, Man kann diesbezgl. aus der 2. Predigt BOURDALOUE'S über das Allerheiligel1/est Nutzen ziehen, Er zeigt darin, wie die Heiligeu es verstanden, ihren Stand dun;h die Religion zu heiligen und ihn zu benützen, um ihren Glauben vollkommener zu gestalten.

436 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

608. B) Weil aber die mannigfachen Beschäftigungen und Beziehungen, ihrer Natur nach, uns sehr in Anspruch nehmen und daher unsere Gedanken von Gott ablenken, so muss man sich öfters bemühen, Werke,die ihrem Wesen nach reinweltlich sind, Gott aufzuopfern und ihnen dadurch einen übernatürlichen Charakter zu verleihen, wie wir bereits früher (N. 248) erwähnt haben.

609. C) Ja, noch mehr. Da wir in einer wenig ehrenhaften \i\Telt leben, in der man sich rücksichtslos um Ehrungen und Gewinn reisst, ohne sich dabei um die Gesetze der Gerechtigkeit zu kümmern, ist es von Bedeutung, nicht zu vergessen, dass wir in erster Linie das Reich Gottes und dessen Gerechtigkeit suchen müssen. Ferner, dass wir zu diesem Zweck uns nur erlaubter Mittel bedienen dürfen. Man erkennt am besten, was erlaubt ist und was mari nicht tun darf, wenn man beobachtet, wie sich ehrenwerte und christliche Männer desselben Berufes dazu verhalten. Es gibt nämlich sogenannte angenommene Gebräuclte, die man nicht ändern kann und denen man nicht aus dem Wege gehen kann, ohne sich und andere bedeutend zu schädigen. Werden diese Gebräuche von gewissenhaften Christen desselben Berufes allgemein beobachtet, so kann man sich ihnen anschliessen und zwar solange als man sie nicht durch allgemeinen Beschluss ohne Beeinträchtigung der berechtigten Interessen verbessert hat. I

Andererseits aber muss man sich hüten, die Handlungsweise und Ratschläge jener Kaufleute oder Gewerbetreibenden nachzuahmen, die sich auf Kosten z'hres Gewzssens um jeden Preis bereichern wollen. Ihre Erfolge rechtfertigen keineswegs die uner-

, So z. B. wird die Höhe der Löhne in demselben Berufe und an demselben Orte durch Gebräuche bestimmt, die ein Arbeitgeber nicht ohne Verluste ändern kann. Er würde nämlich dadurch gezwungen werden, bald seine Fabrik zu schliessen.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 437 laubten Mittel. Zuerst muss man also das Reich Gottes suchen und seine Gerechtigkeit. Alles andere wird hinzugegeben werden. " Qucerite ergo primurn regnum Dei et justitiam rjus " et hcec omnia adßcientur vobis" I. Würde ein Christ wie diese Art von Kaufleuten handeln, so gäbe er zu grossem Ärgernisse Anlass.

610. D) Versteht man so die Berufspflichten und erfüllt man sie in entsprechender Weise, so tragen sie viel zur Heiligung bei. Sie füllen in der Tat unsere Tage aus. ] esus hat uns durch sein eignes Beispiel bewiesen, dass selbst die unbedeutendsten Arbeiten sowohl zu unserer Heiligung, als auch zum Seelenheil des Nächsten beitragen können. Handelt also ein Arbeiter oder ein Geschäftsmann nach den Grundsätzen der Klugheit, Gerechtigkeit, Kraft, Mässigkeit, Billigkeit und christlicher Nächstenliebe, so bieten sich ihm t~glich reichliche Gelegenheiten zur praktischen Ubung aller christlichen Tugenden, um zahlreiche Verdienste für den Himmel zu gewinnen, und, wenn er will, zur Erbauung und Hilfeleistung seiner Mitmenschen. Das geschieht durch Rat und Tat zur Förderung ihres Seelenheils. So taten es einst, und so tun es noch heute Familienväter und Mütter, Arbeitgeber und Arbeiter, junge Leute und Reife, die nach ihrer Art und Weise, ihre Arbeit zu verrichten und Geschäfte zu erledigen, Achtung einflössen vor der Religion, nach der sie leben, und die ihren Einfluss zu Apostolatszwecken ausnützen.

V. Heilz'gung der Bezz'ehungen bezüglich des Apostolates.

611. Man versteht zwar sehr leicht, dass die Werke des Apostolates ein Mittel der Heiligung für uns sein können und müssen. Nichtsdestowe-

'Matth. VI, 33.

438 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL'

niger finden einige darin für sich, wenn auch nicht unmittelbar, eine Ursache der Zerstreuung, geistiger Erschlaffung, ja, selbst Gelegenheit zur Sünde und Ursache ihrer Verdammung. Man erinnere sich an das Wort eines Mannes, der, sozusagen, ganz in äusserer, apostolischer Tätigkeit aufging und zu Dom Chautard sagte : " Meine Aufopferung hat mich zugrunde gerichtet" I. Tatsächlich geben sich einige der äusseren Tätigkeit so hin, dass sie keine Zeit mehr für die allernotwendigsten, religiösen Übungen haben. Infolgedessen macht sich moralische Erschlaffung bemerkbar. Die Lezdenschajten leben wieder auf, und die sittliche Schwäche ist die Ursache trauriger Niederlagen. In die übernatürliche Liebe zu den Seelen mischt sich unbemerkbar etwas NatÜrliches und Sinnliches. Man beruhigt sich gegenseitig unter dem Vorwande, das Verlangen, sich einander Gutes zu erweisen, herrsche vor. Unklugheiten werden begangen. Man erlaubt sich Vertraulichkeiten, und das Ende vom Liede ist Entgleisung. Jedenfalls gewinnt man nur wenig Verdienste für sich, wenn man kein innerliches Leben führt. Die äussere Tätigkeit erzielt nur sehr schwache Erfolge, weil die göttliche Gnade keine seelsorgliche Tätigkeit befruchtet, in welcher das Gebet fast ganz vernachlässigt wird. Es ist also von Wichtigkeit, die äusseren Werke durch Gebetsgeist zu beleben. Um aber dieses sicher zu bewerkstelligen, seien hier folgende Mittel angegeben:

612. A) Vor allen muss man beacqten, dass es bezüglich der Mittel, den apostolischen Eifer zu beleben, eine regelrechte Rangordnung gibt und dass die wirksamsten Mittel Gebet und Opfer, sowie das gute Beispiel sind. Wort und Handlung kommen erst an letzter Stelle. Um sich davon zu überzeugen, erinnere man sich an die Bez'spie!e, die der Heiland

, L'Ame de tout apostoÜlt, 1915, S, 73·

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 439

uns gegeben. Sein ganzes Leben war Gebet und beständiges Opfer. Was er anderen später lehrte, tat er selbst zuvor. Dreissig Jahre führte er ein verborgenes Leben, ehe er sich dem drei jährigen Lehramte widmete, Man erinnere sich auch an die Apostel, die gewisse Werke christlicher Liebe den Diakonen überliessen, um sich desto mehr dem Gebete wie auch der Verkündigung des Wortes Gottes hingeben zu können. "Nos vero oratz'onz' et mz'nz'sterz'o verbi z'nstantes erimus" r. Immer wieder soll das Wort des hl. Paulus an unser Ohr dringen, der da sagte: Nicht der, welcher pflanzt, noch der, welcher begiesst, sondern Gott allein gibt das Gedeihen. " Neque qui plantat est alz'quz'd, neque quz' rzg-at, sed qui incrementum dat, Deus" 2.

Man muss demnach dem Gebete den ersten Platz einräumen (N. 470). Man darf auch nicht die wichtigstell Übungen preisgeben, wie Betrachtung, Danksagung, andächtiges Beten des Breviers, Gewissenserforschung und die besondere Aufopferung der .hauptsächlichsten Handlungen. Alles muss in der festen Uberzeugung geschehen, dass man dadurch den Seelen mehr nütze, als wenn man sein ganzes Leben der äusseren Tätigkeit widmen würde. Der Seelenhirt, sagt der hl. Bernhard, soll ein Behdlter, nicht nur ein eillfacha' Kallal sein. Dieser nämlich lässt alles, was er enthält, weitergehen, je nachdem er es aufnimmt. Der Behält~r hingegen füllt sich erst selbst und gibt dann von seinem Uberflusse, ohne jedoch selbst dadurch Schaden zu erleiden. " Si sqpis, coneltam te exlzibebis et 1I0n callalem " 3.

613. B) Ein zweites Mittel, um das innerliche Leben bei der Ausübung des Apostolates nicht zu vergessen, besteht in dem Bemühen, eine Schar Auserwählter heranzubilden, ohne jedoch die Masse zu vernachlässigen. Um darin den nötigen Erfolg zu erzielen, fühlt man deutlicher die Notwendigkeit, selbst ein innerlicher Mensch zu sein. Das Studium der Aszese, dem man 'sich dann hingibt, die Ratschläge, die man anderen erteilt, die Tugend-

'Apostelgeseh. VI, 4. - 2 I Korinther, UI, 7.

3 S. BERNARDUS, In Cantiea, sermo XVIII, 3,

440 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

übungen, die man ihnen ans Herz legt, führen uns notwendigerweise zu einem Leben des Gebetes und des Opfers. Das aber setzt voraus, dass man in der edlen Verfassung ist, selbst zu tun, wozu man dz'e anderen anhält. Dann ist Lauheit und Erschlaffung nicht zu fürchten. Mehrere Priester wurden tatsächlich durch diese Sorge, eine auserlesene Schar heranzubilden. zum innerlichen Leben zurückgeführt.

614. C) In den Unterweisungen, die man den Gläubigen erteilt, seien sie dogmatisch oder moralisch, 'verfolge man ein ganz bestimmtes Programm. Dasselbe soll es möglich machen, die Gesamtheit der Dogmen und der christlichen Tugenden zu erklären. Durch die Vorbereitung auf diesen U nterricht erzielt man für sich selbst grossen Nutzen, beabsichtigt man doch, selbst zu tun, was man den anderen rät.

615. D) Endlich soll man in der gewöhnlichen AusÜbung des pfarrlichen Seelsorgsdienstes gelegentlich der Taufen, Trauungen, Beerdigungen, ferner gelegentlich der Krankenbesuche oder Beileids- und Höflichkeitsbesuche sich stets erinnern, man sei Priester und Apostel, d. h. Diener der Seelen. Man darf sich also nicht fürchten, nach einigen wohlwollenden Worten die Seelen und Herzen zu Gott zu erheben. Das Gespräch mit einem Priester soll stets ein" sursum corda! ,. einflössen.

Mit diesen verschiedenen Mitteln bewahren und vermehren wir unser innerliches Leben. Unsere durch die Gnade Gottes befruchtete Seelsorge bringt dann tausendfältige Frucht hervor. " Quz' manet in me et ego in eo, hz'c .fert .fructum multum " I.

Somit können und müssen alle unsere Beziehungen zu unserem Nächsten einen übernatürlichen Charakter annehmen. Alle bieten uns Gelegenheit,

'loh. XV, 5.

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 441 in der Tugend Fortschritte zu machen und das göttliche Leben in uns zu vermehren, jenes Leben, an dem wir in reichlichem Masse teilnehmen dürfen.

ALLGEMEINE ZUSAMMENFASSUNG.

616. Unser erster Teil" Grundsätze des übernatürlichen Lebens" ist beendet. Alles, was wir gesagt haben, ergibt sich folgerichtig aus den Dogmen unseres Glaubens. Alles lässt sich auf die Einheit, d. h. auf Gott zurückführen. Auf Gott, unser Zzd und auf Jesus, unseren Vermittler. Das christliche Leben erscheint uns so : Gott schenkt szdz der Seele und dz'e Seele schenkt Siell Gott.

10 Gott sellenkt sicJz der Seele. Von Ewigkeit her hat uns die Heiligste Dreifaltigkeit geliebt und uns für das übernatürliche Leben bestimmt, welches in der Teilnahme am göttlichen Leben besteht. Diese anbetungswürdige Dreifaltigkeit, die in unserer Seele lebt, ist die bewirkende und vorbz'ldliche Ursache jenes Lebens. Der übernatürliche Organismus, der es uns möglich macht, gottähnliche Akte zu vollziehen, ist ihr Werk.

Das Fleisellgewordene Wort aber ist dessen verdz'enstlzche Ursache, wie auch das vollkommenste, unserer Schwäche angepasste Vorbz'ld. J esus, obschon selbst Gott, ist Mensch wie wir. Er ist unser Freund, unser Bruder, ja, noch viel. mehr, das Haupt eines mystischen Leibes, dessen Glieder wir sind. Und weil Maria, die dem Erlösungswerke beigesellt wurde, nicht von ihrem Sohne getrennt werden kann, so erscheint sie uns als erste Sprosse, um zu J esus zu gelangen, ebenso wie ] esus der notwendige Vermittler ist, um zum Vater zu gehen. Die Engel und die Heiligen, die auch zur grossen Gottes-Familie gehören, helfen uns durch ihr Gebet und ihr Beispiel.

617.20 Um den göttlichen Zuvorkommenheiten zu entsprechen, schenkt die Seele sich Gott. Mit

442 FÜNFTES KAPITEL. - MITTEL

grosser Sorgfalt pflegt sie das Leben, das ihr in so freigebiger Weise verliehen wurde. Wir pflegen es durch den Kampf gegen die böse Begierlichkeit, die uns anhaftet. Auch durch übernatürliche Handlungen, die, abgesehen davon, dass sie eine Vermehrung göttlichen Lebens verdienen, uns gute Gewohnheiten oder Tugenden erwerben. Ebenso durch den Empfang der hl. Sakramente, die eine heiligende, von Gott selbst herrührende Kraft unseren Verdiensten hinzufügen.

Das Wesen selbst der Vollkommenheit ist die Liebe zu Gott bis zur völligen Hingabe unsererse!bst. Unsere Aufgabe ist es, den alten Menschen zu bekämpfen und zu verringern, damit Christus in uns lebe. Streben wir nach ihr, d. h. gebrauchen wir die Mittel, die ZU?' Vollkommenhez't fÜhren, so streben wir unaufhörlich durch Jesus Christus zu Gott.

Im Grunde genommen, ist das Verlangen nach Vollkommenheit nichts anderes als der Aufschwung unserer Seele, die der zuvorkommenden Liebe Gottes zu entsprechen sucht. Es drängt uns, den kennen und Neben zu lernen, der ganz Liebe ist. " Deus carz'tas est". Ferner, uns selbst besser kennenzulernen, um deutlicher zu fÜhlen, wie notwendig wir Gott brauchen und um uns in seine barmherzigen Arme zu werfen. Diese Liebe offenbart sich in einer möglichst vollkommenen Gleichförmzgkeit mit dem giittNclzen Wz'!len. Dieser ist sowohl in den Geboten als auch in den Räten enthalten, ebenso in den glücklichen oder unglücklichen Ereignissen, die alle dazu dienen sollen, ihn noch mehr lieben zu lassen. Diese Liebe zeigt sich ferner im Gebete, welches, sobald es zu Gewohnheit geworden ist, unsere Seele beständig zu Gott erhebt. Die äusseren Mitte! selbst führen uns zu Gott. Leitung, Lebensordnung, geistliche Lesungen unterordnen uns seinem heiligen Willen. Unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen, in denen wir ein Abbild Gottes erblicken,

ZUR ERLANGUNG DER VOLLKOMMENHEIT. 443 lenken unsere Aufmerksamkeit ebenfalls auf den, welcher der Mittelpunkt von allem ist. Da wir durch den Gebrauch dieser Mittel unaufhörlich J esus, unser Vorbild, unsern Mitarbeiter und unser Leben, vor Augen haben, so verwandeln wir uns in ihn:

Clzrzstianus alter Chrz'stus.

So verwirklicht sich nach und nach das Ideal der Vollkommenheit, welches Olier für seine Jünger auf die Stirn seiner" Pietas Seminarii " schrieb : " Vivere summe Deo z'n Chrz'sto Jesu Domino nostro, ita ut z'nterz'ora Fz'lz'i iJits z'ntima cordis lZostrz' penetrent ". Für Gott allein leben, in höchstem Grade. Sich J esus Christus so einverleiben, dass seine inneren Gefühle bis in die Tiefe unserer Seele dringen und zu den unsrigen werden.

ENDE DES ERSTEN TEILES.

ZWEITER TEIL.

Die brti Wege.

VORBEMERKUNGEN x

618. Die in unserem ersten Teile besprochenen, allgemeinen Grundsätze gelten für alle Seelen. Sie bilden bereits ein einheitliches Ganzes von Beweggründen und Hilfsmitteln, die geeignet sind, uns zur höchsten Vollkommenheit zu führen. Aber, wie wir schon früher erklärten (N. 340-343), gibt es im geistlichen Leben verschiedene Stufen. Verschiedenartige Weg"Strecken sind zu durchlaufen. Es ist von Wichtigkeit, diese zu unterscheiden und die allgemeinen Grundsätze den besonderen Bedül:fnissen der Seelen anzupassen. Dabei sind nicht nur deren Charakter, Neigungen, und Beruf zu berücksichtigen, sondern auch ihr Grad von Vollkommenheit. Nur dann kann der Seelenführer jeder Seele die entsprechende Leitung zuteil werden lassen.

Zweck dieses zweiten Teils ist es, die Seele in ihrem allmählichen Aufstiege zu begleiten, und zwar vom ersten Augenblicke an, da sie aufrichtig den Fortschritt wÜnscht, bis zu den höchsten Gipfeln der Vollkommenheit; es ist das ein langer, oft mühsamer Weg, der aber auch süssesten Trost bietet.

'S. THOM., 11" !Ire, q. 24, a. 9; q. 183, a. 4; THOM. DE VALLGORNERA, Myst. theol., q. II, a. II; LE GAUDlER, De perf. vitaJ spiritualis, IJa Pars, sect. J, cap. I; SCARAMELLI, Direttorio aseetieo, Tr. II, Einleitung; SCHRAM, Instit. theol. mystieaJ, § XXVI; A. SAUDREAU, Les degres de la vie spirituelle, Vorwort; A. DESURMONT, Charitt sacer dotale, § 138-14°.

446 ZWEITER TEIL. - DIE DREI WEGE.

Ehe wir die drei Vfl'ege zu schildern beginnen, wollen wir darlegen : I. die Begründung dieser Unterscheidung; 2. die rechte Weise dieser U nterscheidung und 3. den besonderen Nutzen dieses zweiten Teiles.

I. BEGRÜNDUNG DER UNTERSCHEIDUNG DER DREI WEGE.

619. Sprechen wir von drei Wegen, so halten wir uns an den überlieferten Sprachgebrauch. Aber man beachte wohl, es handelt sich hier nicht. um drei parallellaufende oder drei auseinandergehende Wege, sondern vielmehr um verschiedene Strecken desselben Weges. Mit anderen vVorten, um drei Hauptstufen des geistlichen Lebens, die von jenen Seelen erreicht werden, die grossmütig mit der göttlichen Gnade mitwirken. Auf jedem dieser Wege gibt es mancherlei Strecken, deren wichtigste wir angeben werden. Es ist Sache der Seelenführer, sie wohl zu beachten. Formen und Verschiedenheiten hängen auch vom Charakter, vom Berufe, von der durch die Vorsehung jeder Seele bestimmten Aufgabe ab 1. Wie wir jedoch bereits mit dem hl. Thomas sagten, lassen sich die Stufen der Vollkommenheit auf drei zurückführen, je nachdem man anfängt, fortschreitet oder das Ziel des geistlichen Lebens auf Erden erreicht hat (N. 340-343). In diesem allgemeinen Sinne beruht die Einteilung derdreiWegeauf der Autoritätundaufder Vernunft·

620. I. .. Auf der Autorität der Heilz'gen Schrift und der Uberlieferung.

A) Gewiss liessen sich im Alten Testamente viele Aussprüche finden, die sich auf die Unterscheidung der drei Wege beziehen.

I So unterscheidet man bezüglich des Einigungsweges gewöhnlich zwei verschiedene Formen, den einfachen Einigullgsweg und den mit eingegossener Beschauung, wie wir später z~igen werden.

VORBEMERKUNGEN.

447

So stützt sich Alvarez de Paz bei seiner Unterscheidung auf folgende Stelle: Declina a malo et fae bonu11l, inquire pacelll et persequere eam ' : Declina a maio, meide die Sünde. Das ist die Reinigung der Seele oder der Reinigungsweg. Fae bOlZZon, tue das Gute oder übe die Tugend, das ist der Erleuchtungsweg. Persequere paeem, suche den Frieden, jenen nämlich, den man nur in der Vereinigung mit Gott findet, das ist der Einigungsweg. Es ist das zwar eine geistvolle Auslegung des Textes, aber als unwiderlegbarer Beweis kann sie kaum angesehen werden.

621. B) Im Neuen Testamente kann man: a) unter anderem, folgende Worte des Heilandes anführen. Sie fassen das geistliche Leben zusammen, so wie die Synoptiker es schildern: " Si quis vult post me ~Ienire, abneget semetipsum, et tollat crucem suam quotidie et sequatur me " 2. Selbstverleugnung oder Entsagung,,, abneget semetipsum ", ist die erste Stufe. pas Tragen des Kreuzes setzt bereits wirkliche Ubung der Tugend voraus, die zweite Stufe. Das " sequatur me" ist, im Grunde genommen, innige Vereinigung mit J esus, mit Gott, folglich der Einigungsweg. Auch hier ist die Unterscheidung begründet, nämlich zwischen den Mitteln, die zur Vollkommenheit führen. Ein zwingender Beweis ist es nicht.

622. b) Auch der hl. Paulus lehrt nicht ausdrücklich die Unterscheidung der drei Wege. Er beschreibt jedoch drei Seelenzustände, die später zu dieser Unterscheidung Anlass gaben.

I) Er erinnert an die MÜhen der Ringkämpfer zwecks Erlangung einer vergänglichen Krone. Vergleicht sich mit ihnen. Auch er Übe sich im Laufen und Kämpfen, aber statt Luftstreiche auszuftihren, züchtrge er seinen Leib und bringe ihn in Botmässigkeit, um die Sünde zu meiden und die Verwerfung, die deren Strafe ist. " Ego igitur sie eurro non quasi in ineertu1ll, sie pugno non quasi aerem verberans, sed eastigo corpus meum et in servitutem redigo, ne forte eum a,liis jJr{]!dieaverim, ipse rejJrobus ejjicz'ar" 3. Das sind gewiss Ubungen der Busse und Abtötung, die, von heilsamer Furcht

,Ps. XXXIII, 15. - 2 Luk. IX, "3. - 3 I Kor. IX, 26-27·

448 ZWEITER TEIL. - DIE DREI WEGE.

getragen, zur Unterjochung des Fleisches und Reinigung der Seele dienen. Und wie oft erinnert er die Christen daran, man müsse den alten Menschen ausziehen und das Fleisch mit allen seinen bösen Neigungen und Begierden kreuzigen! Das ist doch, was wir Reinigungsweg nennen.

2) In einen Schreiben an die Philipper erklärt er, er sei noch nicht zur Vollkommenheit gelangt, aber er folge seinem Meister, bemühe sich, ihn zu erreichen, schaue nicht zurück, sonder eile mit Eifer dem vorgesteckten Ziele zu. " Quce quidem retro sunt obliviseens, ad ea vel'O qU{l' sunt priora extendens meipsum ad destinatum prosequor, ad bravium supernce voeationis Dei in Christo Jesu" '. Und er fügt hinzu, alle jene, die nach Vollkommenheit streben, sollen das Gleiche tun. " Quieumque ergo peifeeti sumus, hoc sentialllus ... imitatores mei estote, fratres" 2. An einer anderen Stelle sagt er :

"Imita.tores mei estote sieut et el{o Christz 3. Das sind zweifellos dIe Merkmale des Erleuehtullgsweges, dessen Hauptpflicht die Nachfolge Christi bildet.

3) Was den Einigun/{s7veg !:Jetrifft, so schildert er ihn in seinen zwei Formen. Den einfachen, auf dem man sich bemüht, dass J esus beständig in der Seele lebe : " Vivo au/em jam non ego, vivit vel'o in me Christus" 4. Und den aussergewöhnliehen Einigungsweg, der von Entrückungen, Gesichten und Offenbarungen begleitet ist. "Scio homine1n in Christo ante amzos quatuordecim, sive in eorpore nescio sive extra corpus nescio, Deus seit, raptum hujusmodi usque ad tertium eceium" s.

In den Briefen des hl. Paulus findet sich also eine wirkliche Grun~.lage für die Unterscheidung der drei Wege. Die Uberlieferung wird diese Grundlage noch genauer bestimmen.

623. Die Überlieferung. Sie lässt diese Unterscheidung immer deutlicher hervortreten und stützt sich dabei bald auf den Unterschied zwischen den drei göttlichen Tugenden, bald auf die verschiedenartigen Stufen der Liebe.

a) Klemens von Alexandrien ist einer der ältesten Schriftsteller, der ersteres darlegt. Um ein Gnostiker oder vollkommener Mensch zu werden, muss man mehrere Wegstrecken zurücklegen, aus Furclzt das Böse meiden und die Leiden-

, Phil. III, 13-14. - 2 Phil. III, 15, 17. - 3 I Kor. IV, 16. 4 Gal. II, 20. _ 5 11 Kor. XlI, 2.

VORBEMERKUNGEN,

449

schaften abtöten. Dann unter Einwirkung der Hq/fnung- das Gute tun oder Tugenden üben, endlich aus Liebe zu Gott das Gute tun.' Von demselben Gesichtspunkt aus unterscheidet Kassian drei Stufen im Aufstieg der Seele zu Gott: Furcht, die den Sklaven eigen ist. Hq/fnung, die den um Lohn arbeitenden Mietlingen zukommt, Liebe, die das Merkmal der Kinder Gottes ist.·

b) Der hl. Augustinus fasst einen anderep Gesichtspunkt ins Auge. Da die Vollkommenhei.~ in der Ubung der Liebe besteht, unterscheidet er in der Ubung dieser Tugend vier Stufen: Die beginnende, die fortschreitende und die bereits Krosse Liebe, die Liebe der VoJlkommenen.3 Die letzten zwei Stufen beziehen sich auf den Einigungsweg. - Im Grunde unterscheidet sich seine Lehre nicht von der seiner Vorgänger. - Der hl. Bernhard unterscheidet auch drei Stufen in der Liebe zu Gott. Er zeigt, wie der Mensch damit beginnt, sich selbst zu lieben, im Bewusstsein seines Ungenügens aber anfängt,·Gott im Glauben zu suchen und Gott wegen seiner Wohltaten zu lieben. Dann infolge näheren Umganges mit Gott liebt er ihn, sowohl wegen seiner Wohltaten als auch um seiner selbst willen. Schliesslich liebt er ihn mit ganz selbstloser Liebe.4 Der hl. Thomas endlich vervollständigt die Lehre des hl. Augustinus und zeigt klar und deutlich, fÜr die Tugend der Liebe gebe es drei Stufen, die den drei Wegen oder Wegstrecken entsprechen. (N. 340-343).

624. 2. Die Vernunft zeigt das Rechtmässige dieser Unterscheidung. Die Vollkommenheit besteht wesentlich in der LÜbe zu Gott. Es wir.d demnach so viele Stufen von Vollkommenheit als Stufen von Liebe geben.

A) Ehe man die Vollkommenheit der Liebe erreicht, muss man zunächst die Seele von begangenen Fehlern reinigen und sie gegen zukünftige verwahren.

Reinheit des Herzens ist die erste Bedingung, um Gott zu schauen, im jenseitigen Leben in Klarheit, im diesseitigen verhüllt, und sich mit ihm zu vereinigen. "Beati mundo corde, quonidm ipsi Deum videbunt "5. Diese Reinheit des Herzens nun setzt

, Stromata, VI, 12. _. Con! XI, 6-8. 3 De nato et gratia, cap. LXX, n. 84.

4 Epist. XI, n. 8, P. L. CLXXXII, II3-II4. - 5 Malta. V., 3.

N° 683. -15

450 ZWEITER TEIL. - DIE DREI WEGE.

voraus: Sühne für die begangenen Fehler, d. h. aufrichtige und strenge Busse, festen und beharrlichen Kampf gegen die bösen, zur Sünde führenden Neigungen, <,:;ebet, Betrachtung und die notwendigen geistlichen Ubungen, um den \,villen gegen die Versuchungen zu stählen. Kurz, eine Gesamtheit von Hilfsmitteln, zwecks Reinigung der Seele und Festigung derselben in der Tugend. Diese Gesamtheit von Hilfsmitteln ist eben, was man Reinigungsweg nennt.

625. B)'. Ist auf diese Weise die Seele einmal gereinigt und zum Guten g-ewendet, so muss sie sielt mit den positiven, christlichen Tugenden schmücken, wod urch sie J esus Christus ähnlicher wird. Sie bemÜhe sich also, ihm Schritt für Schritt zu folgen, stetig fortschreitend seine Gesinnungen in sich zu erzeugen, sowohl die sÜtlichen als auch die gijttlichen Tugenden zu üben. Erstere werden sie kräftigen und gefügig machen, letztere schon die tatsächliche Vereinigung mit ~ott einleiten. Die einen wie die anderen sollen gleichzeitig geübt werden, je nach Bedürfnis des Augenblicks und nach dem Zuge der Gnade. Um das besser zu erreichen, vervollkommnet die Seele ihr inneres Gebet zu einem immer mehr affektiven Gebet und bemüht sich, J esus zu lieben und ihm nachzufolgen. So wandelt sie auf dem Erleuchtungswege. Denn J esus folgen, heisst dem Lichte folgen. Qui sequÜur me non ambulat in tenebris.

626. C) Ist dann die Seele von ihren Fehlern gereinigt, gefügig und stark geworden und hört sie treu auf die Einsprechungen des Hl. Geistes, so kommt die Stunde, da sie nur noch nach der innigen Vereinigung mit Gott sich sehnt. Sie sucht ihn überall, inmitten der sie ganz in Anspruch nehmenden Beschäftigungen. Sie schliesst sich an ihn an und erfreut sich seiner Gegenwart. Ihr inneres Gebet wird immer einfacher. Ein liebender, langer Blick auf Gott und die göttlichen Dinge. unter bald be-

.

VORBEMERKUNGEN.

451

wusster, bald unbewusster Einwirkung der Gaben des Hl. Geistes. Mit anderen Worten, sie befindet sich auf dem, Einigungsweg. 1

Freilich gibt es auf diesen drei grossen Wegstrecken mancherlei Abstufungen und Verschiedenheiten. "Multifo1'mis g?:atia Dez 2. Einige werden wir hier beschreiben. Uber die anderen kann uns das Leben der Heiligen Aufschluss geben.

II. RECHTE WEISE, DIESE UNTERSCHEIDUNG NUTZBAR ZU MACHEN.

627. Um aus dieser Unterscheidung Nutzen zu ziehen, bedarf es grossen Taktes und grosser Schmiegsamkeit. Gewiss muss man die Grundsätze, die wir angeben werden, zum Gegenstande eifrigen Studiums machen, aber mehr noch jede Seele im ein- , zeinen, mit ihren charakteristischen Zügen und unter Berücksichtigung des besonderen Wirkens des HI. Geistes in ihr. Einige Bemerkungen werden fÜr den Seelenführer nicht überflüssig sein.

628. A) Die Unterscheidung der drei Wege lässt sich weder bedingungslos noch mathematisch genau feststellen. a) Unmerklich geht man von einem zum andern über, ohne dass sich zwischen beiden ein Grenzpfahl aufrichten liesse. Wie kann man unterscheiden, ob eine Seele noch auf dem Reinigungswege ist oder schon den Erleuchtungsweg betreten hat? Zwischen beiden Wegen ist ein Gemeingebiet, dessen gen aue A:~grenzung unmöglich bestimmt werden kann. b) Ubrigens ist der Fortschritt nicht immer beständig. Es handelt sich hier um Lebensvorgänge mit mancherlei Wechselbewegungen, mit

I Der hl. Joh. v. Kreuz, und nach ihm eine gewisse Anzahl von Autoren, bedienen sich für die drei Wege einer besonderen Ausdrucksweise, die zu kennen wichtig ist. Er llennt Anfänger jene, die ganz nahe der finsteren Beschauung oder der Nacht der Sinne stehen. Fortgeschrittene solche, die schon zur passiven Beschauung übergingen. Vollkommene jene, die durch die Nacht der Sinne und die Nacht des Geistes gegangen sind. Cf. HOORNAERT, note sur la Nui! Obscu1'e, Bd. III der" CEnvres spirituelles ". - 2 I Petr., IV, 10.

452 ZWEITER TEIL. - DIE DREI WEGE.

Flut und Ebbe. Bald geht man voran, bald zurück. Zuweilen scheint man ohne merklichen Fortschritt immer auf derselben Stelle herumzutreten.

629. B) Auf jedem Wege gibt es auch verschiedene Stufen. a) Unter den beginnenden Seelen haben manche eine schwere Vergangenheit zu sühnen. Andere bewahrten ihre Unschuld. Es ist klar, dass unter sonst gleichen Umständen die ersteren sich länger Bussübungen hingeben müssen, als die letzteren. b) Ausserden gibt es Unterschiede der Naturanlagen, der Rührigkeit, Willenskraft und Beharrlichkeit. Die einen geben sich den Busswerken mit Eifer hin, die anderen nur ungern. Einige sind grossmütig und wollen Gott nichts verweigern, die anderen erwidern Gottes Entgegenkommen nur in geringem Masse. Es leuchtet ein, dass bald zwischen diesen Seelen, die alle noch auf dem Reinigungswege sind, grosse Unterschiede sich zeigen müssen. c) Weiter besteht eine beträchtliche Entfernung zwischen jenen, die erst seit einigen Monaten sich der Reinigung ihrer Seelen bemühen und jenen, die ihr schon mehrere Jalzre widmeten und ganz nahe dem Erleuchtungswege stehen. d) Vor allem auch muss man dem Wirken de'r Gnade Rechnung tragen. Einige Seelen scheinen eine solche Gnadenfülle zu erhalten, dass sich schneller Fortschritt zu den Höhen der Vollkommenheit voraussehen lässt. Andere erhalten viel weniger Gnade und schreiten langsamer voran. Der Seelenführer möge nicht vergessen, dass sein Wirken jenem des Hl. Geistes untergeordnet sein muss. N. 548.

Man bilde sich also nur ja nicht ein, alle Seelen liessen sich in starre Rahmett einfügen. Man bedenke vielmehr, jeder Seele haften ihre zu berücksichtigenden Eigenheiten an und die von den geistlichen Schriftstellern vorgezeichneten Rahmen müssen genügend schmiegsam sein, um sich allen Seelen anzupassen.

VORBEMERKUNGEN.

453

630. C) Bei der Leitung der Seelen ist eine zweifache Klippe zu vermeiden. Einige Seelen möchten gewisse Marschquartiere überspringen, d. h. schleunigst die unteren Stufen überlaufen, um schneller zur Liebe Gottes zu gelangen. Andere hingegen kommen niclzt von der Stelle und verweilen durch ihre Schuld zu lange auf den niederen Stufen und zwar aus Mangel an Grossmut oder wegen planlosen Verfahrens. Ersteren wiederhole der Seelenführer oft, es sei ausgezeichnet, Gott zu lieben, zur lautem und wirksamen Liebe jedoch gelange man nur durch Entsagung und Busse. (N. 32 I) Letztere ermutige er und ermahne sie, sei es, um ihren Eifer anzustacheln, sei es, um ihnen behilflich zu sein, ihre Methode, zu beten und sich zu erforschen, immer besser zu gestalten.

631. D) Lehren die geistlichen Autoren, diese oder jene Tugend passe besser für diesen oder jenen Weg, so ist das mit grossem Vorbehalt aufzunehmen. Im Grunde genommen,entsprechen alle Haupttugenden jedem der drei Wege, allerdings in verschiedenem Grade. So müssen die Anfänger gewiss besonders die Tugend des Bussgeistes üben. Das aber kann nur geschehen, wenn sie die göttlichen und die Kardinaltugenden üben. Immerhin auf andere \i'/eise, als die fortgeschrittenen Seelen, nämlich um ihre Seele durch Entsagung und demÜtigende Übungen zu reinigen. Auf dem Erleuchtlmgswegl! soll man dieselben Tugenden pflegen, aber in verschiedenem ~rade, auf mehr positive Weise, zwecks grösserer Ahnlichkeit mit dem göttlichen Vorbilde. Ebenso geschehe es auf gern Einigungswege in noch höherem Grade, als Ausserung der Liebe zu Gott und unter Einwirkung der Gaben des HI. Geistes.

Auch die Vollkommenen, obschon sie sich besonders der Liebe zu Gott befleissigen, hören nicht auf, ihre Seele durch Busse und Abtötung\ zu reinigen.

454 ZWEITER TEIL. - DIE DREI WEGE.

Da diese Übungen der Busse mit reinerer und stärkerer Liebe gewürzt sind, besitzen sie um so grössere Wirksamkeit.

632. E) Ähnliches gilt erst recht für die verschiedenen Arten des inneren Gebetes. So entspricht gewöhnlich den Anfängern das mit Urteilen und Folgerungen verbundene Betrachten, den fortschreitenden Seelen das affekti ve, innere Gebet, denen, die auf dem Einigungswege sind, das schlichte, innere Gebet und,die Beschauung. Aber die Erfahrung lehrt, die Stufe des Gebetes entspricht nicht immer der Stufe der Tugend. Manche Menschen verharren aus Natu~.anlage, Erziehung oder Gewohnheit lange bei der Ubung diskursiven oder affektiven Gebetes, obgleich sie innig und für gewöhnlich mit Gott vereinigt sind. Andere hingegen, deren Geist mehr auf Anschauung und deren Herz mehr auf Liebe eingestellt ist, gehen leicht zum schlichten, inneren Gebete über, ohne den Tugendgrad erreicht zu haben, den der Einigungsweg voraussetzt.

Es ist viel daran gelegen, diese Bemerkungen von vornherein sich vor Augen zu halten, damit man nicht zwischen den Tugenden dichte Scheidewände errichte, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind. Bei Besprechung der einzelnen Tugenden werden wir daher Sorge tragen, die Grade anzugeben, die den beginnenden, den fortschreitenden und den vollkommenen Seelen entsprechen.

II I. NUTZEN DER ERFORSCHUNG DER DREI WEGE.

Das Gesagte zeigt, wie nützlich und notwendig die ernste Erforschung der drei \iVege sei.

633. 1° Vor allem ist sie den Seelenführern notwendig. Es ist in der Tat klar, " Anfänger und Vollkommene müssen nach verschiedenem Massstabe geführt werden" 1, denn, fügt P. Grou 2 hinzu,

'A rt. d'lssy, n. XXXIV.-2 Manuet des dmes interieures, Paris, 190I,S. 7I.

VORBEMERKUNGEN.

455

" die Gnade der Anfänger ist nicht dieselbe wie die der fortgeschrittenen Seelen. Die der Fortgeschrittenen nicht die gleiche wie jene, die den ganz Vollkommenen zuteil wird ".

So wÜrde nämlich das den Anfängern notwendige diskursive Betrachten den Aufschwung der fortgeschrittenen Seelen lähmen. Ebenso betreffs der Tugenden entspricht die eine Weise, sie zu Üben, dem Reinigungsweg, die andere dem Erleuchtungsweg, eine dritte dem Einigungswege. Hat nun ein Seelenführer diese Fragen nicht tiefer ergründet, so fällt er leicht in den Fehler, fast alle Seelen auf die gleiche Weise leiten zu wollen und jeder anzuraten, was bei ihm selber glÜckt. Da das vereinfachte, affektive Gebet ihn fördert, ist er versucht, allen seinen Beichtkindern die gleiche Gebetsweise anzuraten. Er vergisst aber, dass man erst nach mancherlei W~gstrecken dazu gelangt. Wer in der gewohnheitsmässigen Ubung der Liebe zu Gott alles ihm zur Heiligung Notwendige findet, wird dazu neigen, allen den Weg der Liebe als den kÜrzesten und wirksamsten zu bezeichnen, dabei aber vergessen, dass ein Vöglein ohne Flügel unmöglich zu diesen Höhen sich erheben kann. Ein anderer, der niemals das innere Gebet des einfachen Schauens Übte, tadelt die Seelen, die sich darin versuchen, unter dem Vorwande, ein solches Vorgehen sei nur geistliche Trägheit. Jener Seelenfiihrer hingegen, der sorgfältig die zunehmenden Aufstiege eifriger Seelen beobachtete, wird seine Ratschläge und seine Leitung in das richtige Verhältnis zum wirklichen ·Seelenzustand seiner Beichtkinder bringen und das Heil ihrer Seelen fördern.

634. 20 Die Gläubigen selbst werden aus der Erforschung der verschiedenartigen Wegstrecken Nutzen ziehen. Zwar werden sie sich von ihrem geistlichen Führer leiten lassen, aber, haben sie durch gute Bücher wenigstens in grossen Umrissen die Unterschiede zwischen den drei Wegen erfasst, so werden sie die Ratschläge ihrer Seelenführer besser verstehen und grässeren Nutzen daraus ziehen.

Wir werden also nacheinander die drez' Wege des geistlichen Lebens untersuchen, ohne jedoch zu vergessen, dass es keine starren Rahmen gibt und dass jeder Weg viele Abarten und verschiedenartige

Formen aufweist. "

ERSTES BUCH

Die Reinigung der Seele oder der Reinigungsweg.

EINLEITUNG 1.

635. Das charakteristische Merkmal des Reinigungswegs, des Zustandes der Anfänger, ist die Reinigung der Seele zwecks z'nniger Vereinigung mit Gott.

Wir haben also zu erklären 1. was wir unter Anfängern verstehen, 2. das Zz'el, das sie anstreben sollen.

I. WAS VERSTEHT MAN UNTER ANFÄNGERN?

636. 1. Wesentliche Merkmale. Anfänger im geistlichen Leben sind jene, die gewöhnlich im Stande der Gnade leben und ein gewisses Verlangen nach Vollkommenheit haben. Sie bewahren jedoch Anhänglichkeit an die lässliche Sünde und sind der. Gefahr ausgesetzt, von Zeit zu Zeit in schwere Sünden zu fallen. Erläutern wir diese drei Zustände.

a) Sie leben gewiihnlz'dt im Stande der Gnade, folglich kämpfen sie im allgemeinen mit Erfolg gegen die schweren Versuchungen. Auf Grund dieser Behauptung schliessen wir jene aus, die oft eine Todsünde begehen und deren Gelegenheiten nicht meiden. Sie haben zwar Anwandlungen zu ihrer Bekehrung, aber nicht den festen und wirksamen Willen, sie auszuführen. Solche Menschen sind nicht auf dem Wege zur Vollkommenheit. Es sind Sünder, Weltmenschen, die zunächst von der

'A. SAUDREAU, Les degrts, Vie purgative, 1. I-II; SCHRYVERS, Lu principes, T. 1I, Kap. 2.

ERSTES BUCH. - DIE REINIGUNG DER SEELE. 457 Todsünde und den Gelegenheiten dazu losgelöst werden müssen 1.

b) Sie haben ein gewisses Verlangen nach Vollkommenheit oder Fortschritt, obgleich dieses Verlangen noch sehr schwach und unvollkommen sein kann. Dadurch schliessen wir die - leider! - allzu grosse Anzahl Weltmenschen aus, deren einziges Trachten auf Vermeidung der Todsünde gerichtet ist, die aber kein Verlangen nach Fortschritt hegen. Wie wir es nämlich bereits (N. 414) zeigten, ist dieses Verlangen der erste Schritt zur Vollkommenheit.

c) Sie bewahren jedoch einige Anhänglichkeit an die freiwillige lässliche Sünde und begehen sie deshalb häufig. Darin unterscheiden sie sich von den fortschreitenden Seelen, die jede Fessel der I~sslichen Sünden zu lösen suchen, wenn sie deren auch hie und da freiwillig begehen. Diese Anhänglichkeit an die lässliche Sünde bleibt bestehen, weil die Leidenschaften noch nicht beherrscht werden. Daher häufige, zugegebene Regungen der Sinnlichkeit, des Hochmutes, der Eitelkeit, des Zornes, Neides, der Eifersucht, Worte und Handlungen gegen die Liebe u. s. w. Wieviele sogenannte fromme Menschen bewahren solche Neigungen, begehen infolgedessen mit freiem Willen lässliche Sünden und setzen sich dadurch der Gefahr aus, von Zeit zu Zeit in schwere Sünden zu fallen!

637. 2. Verschiedene Kategorien. Es gibt also verschiedene Kategorien von Anfängern.

, Zwar gibt es einige Geistesmänner, die mit P. MARCHETTI, Rev. d'Ascet. et de Mystique, Jan. 1920, S. 36-47, meinen, der Reinigungsweg müsse sich sogar auf die Sünder erstrecken, um sie zu bekehren. Aber er gibt zu, sich bei dieser Annahme von der Allgemeinlehre zu entfernen. Die Bekehrung der Sünder und die ihnen vorzuschlagenden Mittel, um im Stande der Gnade zu Verharren, gehören mehr in's Gebiet der Ethik, als in das der Aszese. Wir können aber wohl hinzufügen, dass die Beweggründe, die wir zur Vermeidung der Todsünde angeben werden, jene bestätigen, welche die Moraltheologie lehrt.

458

ERSTES BUCH.

a) Unschuldige Seelen, die im innerlichen Leben fortzuschreiten wünschen. Kinder, Jünglinge und junge Mädchen, Weltleute, denen es nicht genügt, die Todsünde zu meiden, sondern die mehr fÜr Gott tun wollen und die sich nach Vollkommenheit sehnen. Es gäbe deren noch mehr, wären die Geistlichen bemüht, in ihnen den Wunsch nach Vollkommenheit zu wecken. So z. B. beim Religionsunterricht, in den Horten und in den verschiedenen Pfarrvereinen. Man lese darum, was wir früher (N. 409-430) sagten.

b) Bekehrte, die aufrichtig zu Gott zurückkehrten, nachdem sie schwer gesÜndigt hatten. Die auf dem Wege der Vollkommenheit voranschreiten wollen, um desto sicherer sich vom Abgrunde fernzuhalten. Auch hier können wir sagen, ihre Zahl wäre viel grösser, bemühten sich die Beichtväter, ihre Pönitenten daran zu erinnern, dass man beständig fortschreiten müsse, um Rückfälle zu vermeiden und dass das einzige Mittel, die Todsünde zu bekämpfen, das Streben nach Vollkommenheit sei (V gl. N.354-36I).

c) Laugewordene, die nach einer ersten Hingabe an Gott und nach einigem Fortschritt der Erschlaffung und Lauheit verfielen. Diesen tut es not, sollten sie selbst schon <:t.uf dem Erleuchtungswege sein, zu den strengen Ubungen des Reinigungsweges zurückzukehren und das Werk der Vollkommenheit neu umzuarbeitel1. Man unterstÜtze ihre Anstrengungen durch sorgsamen Hinweis auf die Gefahren der Erschlaffung und der Lauheit und durch den Kampf gegen deren Ursachen, im allgemeinen Unbesonnenheit und Leichtsinn, Unbekümmertheit und eine gewisse Feigheit.

638. 3, Zwei Klassen von Anfängern. Unter den Anfängern sind die einen sehr grossmiitt'g, die anderen weniger. Daher unterscheidet die hL· The-rese: zwei Klassen.

DIE REINIGUNG DER SEELE.

459

a) In der ersten Wohnung der Seelen burg beschreibt sie die Seelen, die zwar noch recht weltlich gesinnt sind, jedoch Gutes wünschen, einige Gebete verrichten, aber gewöhnlich tausend Dinge im Sinn haben, die ihre Gedanken in Anspruch nehmen. Sie haben noch viele ungeordnete Neigungen, aber bemühen sich hie und da, sich davon loszumachen. Dank diesen Anstrengungen dringen sie in die ersten untersten Räume der Burg ein. Mit ihnen kommen aber eine Menge bösartiger Tiere (ihre eignen Leidenschaften), die ihnen den .Genuss des Anblickes der schönen Burg verleiden und sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Ihre Wohnung ist zwar die wenigst prächtige, aber doch von grosser Schönheit. Schrekklich sind die Ränke und Listen des Teufels, um den Fortschritt dieser Seelen zu hintertreiben. Die Welt, in die sie noch versenkt sind, lockt sie ebenfalls mit ihren Ehren und Vergnügungen. Auch werden sie leicht besiegt. Dennoch wünschen sie, die SÜnde zu meiden und verrichten löbliche Werke.' - Mit anderen Worten, diese Art von Menschen suchen die Frömmigkeit mit dem Weltleben zu verbinden. Ihr Glaube ist nicht erleuchtet genug, ihr Wille nicht stark und grossmütig genug, um sie zu bewegen, nicht nur der SÜnde, sondern auch gewissen gefährlichen Gelegenheiten zu entsagen. Sie erkennen die Notwendigkeit häufigen Gebetes, strenger Abtötung oder Busse nicht recht. Trotzden wollen sie nicht nur ihr Heil wirken, sondern auch durch Darbringung einiger Opfer in der Liebe zu Gott fortschreiten;

639. b) Die zweite Klasse vQn Anfängern .schildert die hl. Therese in der zwdten TVohnung der Seelen burg. Es si~d jene, die bereits das innere Gebet pflegen und besser begreifen, Opfer bringen zu müssen, um -Fortschritte zu machen. Zuweilen aber kehren sie aus Mangel an Entschlossenheit -in die ersten Wohnungen zurück und setzen sich aufs neue der Gelegenheit zur Sünde aus. Sie finden noch Genuss an den Freuden und den Lockungen der Welt und verfehlen sich manchmal wieder schwer, aber sie erheben sich rasch, weil' sie der Stimme Gottes, welche sie zur Busse ruft, Gehör schenken. Trotz der Verlockungen der Welt und des Teufels stellen sie Betrachtungen Über die NIchtigkeit der irdischen Güter und über den Tod, der sie' bald davon trennen wird, an. Dann lieben sie immer mehr den; von dem sie so zahlreiche Beweise der Liebe erhalten. Sie gelangen zur Erkenntnis, ausser ihm sei weder Frieden noch Sicherheit zu finden und wollen die Verirrungen der Sii:nder vermeiden. Es ist somit ein Zustand des Kampfes. Sie leiden sehr unter den anstürmenden Versuchungen, aber Gott tröstet und stärkt

I Chdteau, Premieres dem eures, SS. 47-48, 57-58.

460

ERSTES BUCH.

auch sie. Suchen sie sich dem Willen Gottes zu unterwerfen, sich dieses wichtigen Hilfsmittels zur Vollkommenheit zu bedienen, so werden sie schliesslich aus diesen Wohnungen herauskommen, in denen noch giftige Tiere herumstreifen, und sie werden in jene Gegend gelangen, wo sie vor allen Bisswunden in Sicherheit sind. '

640. Wir werden diese beiden Klassen nicht getrennt behandeln, denn die vorzuschlagenden Mittel sind im ganzen dieselben. Der Seelenführer möge sie jedoch bei seinen besonderen Ratschlägen berücksichtigen. So lenke er vor allem die Aufmerksamkeit der Seelen der ersten Klasse auf die Bosheit und die Wirkungen der Sünde, auf die Notwendigkeit, deren Gelegenheit zu meiden, und wecke in ihnen den lebhaften Wunsch, zu beten, Busse zu tun und sich abzutöten. Den grossmütigen SeeleQ rate er ausserdem zu längerer Betrachtung -und zum Kampfe gegen die Hauptfehler, d.ll. gegen die tiefliegenden Neigungen, welche die Quelle aller

unserer Sünden sind. .

11. DAS ANZUSTREBENDE ZIEL.

641. Wir sagten (N. 309) die Vollkommenheit bestehe wesentlich in der Vereinigung- mit Gott durch die Liebe. Mit Gott aber, der die Heiligkeit selbst ist, können wir uns nur vereinigen, besitzen wir Herzensreinheit. Diese umfasst zweierlei: SÜhne für die Vergangenheit und Loslösung von der SÜnde Jj)JtI tl/Wh} CJ))J!",fl'J};»»fliJfl:IJ fihß d.1';J ZJlk.114J.

Reinigung der Seele ist demnach die erste Aufgabe, die dem Anfänger obliegt.

Man kann sogar hinzufügen, die Seele vereinige sich um so inniger mit Gott, je reiner und losgeschälter sie ist. Nun gibt es aber eine mehr oder weniger vollkommene Reinigung, je nach den Beweggründen, aus denen sie geschieht und nach den Wirkungen, die sie hervorbringt.

I Chdteau, Secondes dem eures, S. 64-75.

DIE REINIGUNG DER SEELE. 461

A) Die Reinigung bleibt unvollkommen, liegen ihr hauptsächlich Beweggründe der Furcht und der Hoffnung zugrunde, Furcht vor der Hölle und Hoffnung auf den Himmel und die himmlischen Güter. Das Ergebnis ist unvollständig. Man entsagt freilich der Todsünde, die uns des Himmels berauben würde, aber nicht den lässlichen, selbst freiwilligen Fehlern, weil diese das ewige Heil nicht verhindern.

B) Die Reinigung ist also volllwmmener, ist, ohne Ausschluss von Furcht und Hoffnung, ihr Hauptbeweggrund die Liebe zu Gott, der Wunsch, ihm zu gefallen und ebendeshalb alles zu meiden, was ihn auch nur leicht beleidigen könnte. Dann bewahrheitet sich das Wort des Erlösers an die SÜnderin:

"Vieles wird ihr vergeben, weil sie viel geliebt hat." 1

Diese zweite Reinigung sollen die guten Seelen anstreben. Der Seelenführer aber vergesse' nicht, dass viele Anfänger sich nicht zu Beginn so hoch aufschwingen können. Er spreche ihnen wohl von der Liebe zu Gott, aber versäume es nicht, die BeweggrÜnde der Furcht und der Hoffnung zu betonen, die stärkeren Eindruck auf ihre Seelen machen.

EINTEILUNG DES ERSTEN BUCHES.

642. Nun, da das Ziel bekannt ist, handelt es sich darum, die notwendigen Mittel zu bestimmen, um es zu erreichen. Eigentlich sind deren nur zwei:

Gebet zum Erlangen der Gnade und Abtötung zum Mitwirken mit der Gnade. Aber die Abtötung trägt verschiedene Namen, je nach dem Gesichtspunkte, unter dem man sie betrachtet. Sie heisst Busse, handelt es sich um Sühne für begangene Fehler. Abtötung im eigentlichen Sinne, wenn sie

I Lukas, VII, 47.

462 ERSTES BUCH. - DIE REINIGUNG DER SEELE. zur Verminderung gegenwärtiger und zukÜnftiger Fehler gegen die Vergnügungssucht gerichtet ist. Kampf gegen die Hauptsünden, insofern sie die eingewurzelten Neigungen bekämpft, die uns zur Sünde verleiten. Widersteht sie den Angriffen der Feinde des geistlichen Lebens, so nennt man sie den Kampf gegen die Versuchungen. Daraus ergeben sich fünf Kapitel:

1. Kapitel - Das Gebet der Anfänger.

11. Kapitel - Die Busse zur Sühne der Vergangenheit.

II1. Kapitel - Die Abtötung zur Sicherung der Zukunft.

IV. Kapitel - Der Kampf gegen die Hauptsünden.

V. Kapitel- Der Kampf gegen die Ver-

. suchungen.

Es versteht sich von selbst, dass alle diese Mittel die Übung der gijttlichen Tugenden, sowie der sittlt'chen im ersten Grade voraussetzen. Man kann nicht beten, Busse tun und sich abtöten, ohne fest an die geoffenbarten Wahrheiten zu glauben, die Güter des Himmels zu erhoffen, Gott zu lieben und ohne sich der Klugheit, Gerechtigkeit, des Starkmuts und der Mässigkeit zu befleissigen. Diese Tugenden werden wir aber erst bei der Abhandlung über den Erleuchtungsweg besprechen, da sie dann zu volle'r Entfaltung gelangen.

ERSTES KAPITEL.-DAS GEBET DER ANFÄNGER. 463

ERSTES KAPITEL.

Das Gebet der Anfänger 1.

643. Natur und U7irksamkeit des Gebetes haben wir schon dargelegt (N. 499- 52 I). Nachdem man diese Begriffe den Anfängern wieder ins Gedächtnis gerufen hat, muss man 1. ihnen die Notwendigkeit und die Bedingungen des Gebetes scharf einprägen, 2. sie allmählich für die ihrem Bedürfnisse entsprechenden geistlichen Übungen heran bilden. 3. sie lehren, Betrachtung halten.

1.

Abschnitt. - Das Gebet im {Notwendigkeit allgemeinen Bedingungen

H.

»

- D.!e hauptsächlichst~n, geistlichen Ubungen.

IlI.

»

Allgemeinbegriffe.

Vorzüge und Notwendigkeit.

- Die Betrachtung { Von der Be-

trachtung der

I Anfänger. Die hauptsächlichsten

. I Methoden.

I S. THOMAS, Ha !Ire, q. 83 und seine Kommentatoren; SUAREZ, De Religione, Tr. IV, !ib. I, De oratione; ALVAREZ OE PAZ, t. UI, lib. I; TH. OE V ALLGORNERA, qurest. II, disp .. V; Summa theo!. mystica!, Ia Pars, Tract. I, discursus !II; L. OE GRENAOE, TraiN de fOraison et de la MIditation; S. ALPH. OE LJGUORJ, Du grand moyen de lapriere; P. MONSABRE, La Priere; P. RAMJimE, L'A/Josto!atde la

priere. .;

464

ERSTES KAPITEL.

1. ABSCHNITT. NOTWENDIGKEIT UND BEDINGUNGEN DES GEBETES.

§ I. Notwendigkeit des Gebetes.

644. Was wir über das doppelte Ziel des Gebetes, Anbetung und Bitte, sagten (N. 503-509), beweist dessen Notwendigkeit. Es leuchtet ein, dass wir als Geschöpfe durch Anbetung, Danksagung und Liebe Gott verherrlichen müssen und als Sünder ihm unsere Sühnepflichten zu leisten haben (N. 506). Hier aber handelt es sich hauptsächlich um das Bittgebet und dessen absolute Notwendigkeit als Mittel zum Heile und zur Vollkommenheit.

645. Die Notwendigkeit des Gebetes gründet sich auf die Notwendigkeit der aktuellen Gnade. Es ist Glaubenswahrheit, dass es uns ohne diese Gnade ganz und gar unmöglich ist, unser Heil zu wirken, wie viel mehr zur Vollkommenheit zu gelangen! (N. 126). Welch' guten Gebrauch wir auch immer von unserer Freiheit machen mögen, so können wir doch, von uns aus, nichts Positives zu unserer Bekehrung beitragen, auch nicht längere Zeit im Guten verharren, namentlich nicht bis zum Tode. "Ohne mich könnt ihr nichts tun ", sagt Jesus zu seinen Jüngern, " nicht einmal einen guten Gedanken fassen ", fügt der hl. Paulus hinzu. Denn" Gott ist es, der in uns das Wollen und das Vollbringen bewirkt ". " Sine rlle nihil potestis facere ... non quod sufficientes simus cogitm'e aliquid a nobis quasi ex nobis ... operatur in vobis et velle et perficere " I.

Die erste Gnade wird uns freilich umsonst verliehen, ohne Gebet, da sie selbst die Grundlage de~ Gebetes ist. Aber abgesehen von dieser ersten Gnade, ist es unzweifelhafte Wahrheit, dass das Gebet das

) Joh. XV, 5; 11 Kor. IJI, 5; PMl. lI, 13.

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 465

normale, wirksame und allgemeine Mittel ist, durch welches wir nach Gottes Anordnung alle aktuellen Gnaden erhalten. Ebendarum schärft der Heiland uns so oft die Notwendigkeit des Gebetes ein, wenn wir Gnade erlangen wollen. " Bittet ", sagt er, " und ihr werdet empfangen. Suchet und ihr werdet finden. Klopfet an und es wird euch aufgetan werden. Denn wer bittet, erhält; wer sucht, der findet; man wird dem öffnen, welcher anklopft" I. Es ist, als ob er sagte, fügen die Ausleger hinzu: bittet ihr nicht, so werdet ihr nicht erhalten, suchet ihr nicht, werdet ihr nicht finden. An diese Notwendigkeit des Gebetes erinnert J esus besonders während der Zeit der Versuchungen. " Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet. Der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch ist schwach. " Vigilate et orate ut non intretis in tentationem. Spiritus quidem promptus est, caro autem injirma" 2. Daraus schliesst der h1. Thomas, jedes nicht auf Gebet begründete Vertrauen sei Vermessenheit. Gott nämlich, der uns seine Gnade von rechtswegen nicht schuldet, hat sich nur verpflichtet, sie uns in Abhängigkeit vom Gebete zu gewähren. Gewiss kennt er unsere geistlichen Bedürfnisse, ohne dass wir sie ihm darlegen, aber unser Gebet soll die Triebfeder für seine Bar'mherzigkeit sein, damit wir ihn als den Urheber der gewährten Güter anerkennen 3.

646. So erklärt es auch immer die Überlieferung.

Das Konzil von Trient bekennt sich zur Lehre des h1. Augustinus, wenn es sagt, Gott befehle uns nichts Unmögliches. Er befiehlt uns, das zu tun, was wir leisten können, und zu erbitten, was wir nicht tun können. Durch seine Gnade hilft er uns, es zu erbitten 4. Offenbar setzt er voraus, ohne Gebet gebe es unmögliche Dinge. Diesen Schluss zieht auch der römische Katechismus. "Das Gebet

) Matth. VII, 7-8. - 2 Matth. XXVI, 41.

_ ~ SUlII. theol. lJa IIa!, q. 83, a. I, ad 3. - 4 Sess. VI, c. XI.

466

ERSTES KAPITEL.

ist uns als notwendiges Mittel gegeben, um z erlangen, was wir wünschen. Es gibt in der Tc Dinge, die wir nur mit Hilfe des Gebetes erlange können" I.

647. Anweisungen für den Seelenführer. E ist wichtig, mit den Anfängern bei dieser Wahrhe länger zu verweilen, Viele, ohne es zu merken, sin von pelagianischen oder semi-pelagianischen Ar sichten durchdrungen und bilden sich ein, m: gutem, energischen Wollen könnten sie alles. Fm lich wird die Erfahrung sie bald belehren, das trotz ihrer Anstrengungen die besten Vorsätze 01 unausgeführt bleiben. Das benutze der Seelenführe:

Unermüdlich erinnere er sie daran, nur durch Gnad und Gebet würden sie imstande sein, die gemachtel Vorsätze auch wirklich zu halten. Diese anschau liehe Erfahrungslehre wird sie besser als irgen( etwas anderes von der Notwendigkeit des Gebete Überzeugen. Man erkläre ihnen auch die Bedin gungen fÜr die Wirksamkeit des Gebetes.

§ II. Wesentliche Bedingungen für das Gebet

648. Die Notwendigkeit der aktuellen Gnade fü alle zum Heile erforderlichen Handlungen wurdt schon früher (N. 126) erklärt. Daraus lässt sich fol, gern, diese Gnade sei zum Gebet notwendig. Dei hl. Paulus sagt es klar und deutlich" Ebenso steh1 aber auch der Geist unserer Schwachheit bei; dem um was wir beten sollen, wie es sich gebührt, wisser wir nicht, aber der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern. Similiter autem eI Spiritus atf/uvat infirm,itatem nostram : nam quia oremus sicut oportet, nescimus : sed ipse Spiritus postulat pro 1zobis gemitibus inenarrabilibus" 2. Wir fügen hinzu, diese Gnade wird allen, auch den Sündern, angeboten. Alle können also beten.

) Catech. Trident., P. IV, c. I, n. 3, _. 2 Römer, VIII, 26 ..

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 467

Der Stand der Gnade ist zwar zum Gebete nicht notwendig, erhöht aber in besonderer Weise den Wert unserer Gebete. Durch den Gnadenstand nämlich sind wir Freunde Gottes und lebendige Glieder Christi.

Untersuchen wir nun etwas näher die Bedingungen, die das Gebet erfordert, I. bezüglich des zu Erbetenden, 2. bezÜglich des Betenden.

I. Bezüglich des zu Erbetenden.

649. Seitens des Gegenstandes ist die wichtigste Bedingung, nur Güter zu erbitten, die zum ewigen Leben führen, vor allem ÜbernatÜrliche Gnaden und, erst an zweiter Stelle, zeitliche GÜter, je nachdem sie uns zum Seelenheil nützlich sind. So lautet die vom Heiland selbst gegebene Vorschrift: " Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit und alles andere wird euch obendrein zugegeben werden. QUa!rite primum regnum Dei et justitiam ejus, et heu omnia ac{jicientur vobis " I. Dasselbe haben wir schon früher (N. 307-308) gesagt, die Glückseligkeit wie die Vollkommenheit des Menschen bestehe im Besitze Gottes und daher der zu diesem Ende notwendigen Gnaden. Wir dürfen deshalb nur um Dinge bitten, die mit diesem Ende in Verbindung stehen.

I) Die zeitlichen GÜter, an und für sich, stehen viel zu tief unter uns, um die Sehnsucht unseres Herzens zu stillen und um uns zu beglücken, als dass sie der Hauptgegenstand unserer Gebete sein' könnten. Da wir aber dieser Güter in gewissem Masse zum Leben und zum Heile bedürfen, ist es uns gestattet, um das tägliche Brot zu bitten, um das des Leibes, wie um das der Seele, dieses in Überordnung über jenes. Manches uns wünschenswert erscheinende Gut, wie z. B. Reichtum, könnte

J Mal/h. VI, 33.

468

ERSTES KAPITEL.

eben zuweilen dem Seelenheile schaden. Wir dürfen aus diesem Grunde nur in Unterordnung unter die ewigen Güter darum bitten.

650. 2) Selbst, wenn es sich um diese oder jene besondere Gnade handelt, darf sie nicht anders als in Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen erbeten werden. Gott erkennt in seiner unendlichen \Veisheit besser als wir, was jeder Seele frommt, je nach dem Stande und Grade ihrer Vollkommenheit. Der h1. Franz v. Sales bemerkt sehr richtig, wir sollen unser Heil so, wie Gott es will, ,"vünschen und daher in bedingungsloser Entschlossenheit jene Gnaden ersehnen und annehmen, die er uns zuteilt. Denn unser Wille muss dem seinigen entsprechen I. Handelt es sich aber um besondere Gnaden, wie um diese oder jene Gebetsweise, Tröstungen oder Trockenkeiten u. s. w., so darf man die Bitten nicht absolut oder bedingungslos stellen, sondern muss sie stets dem Wohlgefallen Gottes unterordnen 2. Gott verteilt Gnaden des Trostes oder der Dürre, der Ruhe oder des Kampfes, je nach den Absichten seiner unendlichen Weisheit und den Bedürfnissen unserer Seele. Für die Wahl der Gnaden, die uns am nÜtzlichsten sind, können wir ihm alles anheimstellen. Wir dürfen wohl einen Wunsch äussern, aber nur in demütiger Unterwerfung unter den Willen des himmlischen Vaters. Bitten wir in richtiger Weise, wird er \Ins stets erhören, zuweilen. gewährt er mehr und Besseres, als was wir erbit-

I Amour de Dieu, 1. VIII, eh. 4.

2 Der Grund, weshalb wir nicht erhört werden, sagt BouRDALouE, (Careme sur la priere) liegt darin, dass wir uns des Gebetes bedienen, um wunderliche, überflÜssige Gnaden zu erlangen, Gnaden, die unserem Geschmack und unseren falschen Begriffen entsprechen. Wir beten und erbitten uns Gnaden der Busse, der Heiligung, aber für die Zukunft, nicht für die Gegenwart. Gnaden, die alle Schwierigkeiten lösen, aber nicht solche des, Beistandes in Mühen und bei Hindernissen. Wunder, gnaden, die uns mitreissen wie einen hL Paulus, nicbt aber solche. die uns allmählich in die richtige Verfassung versetzen und unserere Mit, wirkung erfordern. Gnaden, die alle Pläne der Vorsehung ändern und

die ganze Heilsordnung umstürzen. '

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 469

ten. Statt uns zu beklagen, preisen wir ihn lieber dafür I.

11. Bedingungen bezügliclt des Betenden.

Die wesentlichsten Bedingungen zur Erlangung der Wirksamkeit unseres Gebetes sind Demut, Vertrauen, Achtsamkeit oder wenigstens ernstliches Bemühen, achtsam zu sein.

651. 1. Demut geht aus dem Wesen des Gebetes hervor. Die Gnade ist ihrer Natur nach unverdient. Wir haben durchaus kein Anrecht darauf. Wir sind, wie der hl. Augustinus sagt, Bettler in bezug auf Gott und müssen von seiner Barmherzigkeit erflehen, was wir von rechtswegen nicht erlangen können. So betete Abraham, der sich in Gegenwart der göttlichen Majestät als Staub und Asche ansah. "Loquar ad Dominum Deum, cum sim pulvis et cinis. "2 So betete Daniel, als er um Befreiung des jüdischen Volkes bat, nicht auf Grund seiner Verdienste und Tugenden, sondern wegen der Fülle der göttlichen Barmherzigkeit. "Neque enhn in justijicationibus nostris prosternimus preces ante faciem tuam, sed in miserationibus tuis multis. "3 So betete der Zöllner, der erhört wurde. " Deus, propitius esto milzi peccatori! "4 während das Gebet des stolzen Pharisäers verworfen wurde. J esus selbst gibt den Grund dafür an. " Wer sich erhöht, wird erniedrigt werden und wer sich erniedrigt, wird erhöht werden. Quia onznis qui se exaltat humiliabitur et qui se humiliat exaltabitur. " Seine Jünger verstanden das wohl. Der hl. Jakobus sagt mit Nachdruck : " Gott widersteht den Hoffärtigen. Den Demütigen gibt er seine Gnade. Deus superbis resistit, humilibus autem dat gratiam. "5 Der Stolze

I

) Im .. Saint Abandon" von DOM V. LICHODEY, 3. T., finden sich sehr einsichtige Bemerkungen darüber.

2 Genesis, XVIII, 27. _3 Dan. IX, 18, 4 Lukas, XVIII, 13- - 5 Jak. IV, 6.

470

ERSTES KAPITEL.

schreibt sich selbst die Wirksamkeit seines Gebetes zu, während der Demütige sie Gott zuschreibt. Erwarten wir nun, dass Gott uns auf Kosten seiner eignen Ehre erhöre, um unserer Eitelkeit Vorschub zu leisten? Der Demütige gibt aufrichtig zu, alles komme von Gott. Erhört Gott ihn, so fördert er seine Ehre und gleichzeitig das Heil des Bittenden.

652. 2. Echte Demut erzeugt darum Vertrauen, jenes Vertrauen, das nicht auf eignes Verdienst, sondern auf die unendliche Güte Gottes und die Verdienste Jesu Christi sich gründet.

a) Der Glaube lehrt uns, Gott sei barmherzig und neige sich dieser Eigenschaft wegen mit um so grösserer Liebe zu uns herab, je besser wir unser Elend erkennen. Das Elend nämlich schreit nach Barmherzigkeit. Gott mit Vertrauen anrufen heisst eigentlich ihn ehren, ihn als Quelle aller Güter zu verkünden, die er sehnlichst uns zu gewähren wünscht. In der Hl. Schrift erklärt er darum immer wieder und wieder, er wolle jene erhören, die auf ihn hoffen. " Quoniam in me speravit, liberabo eum : clamabit ad me et ego exaudiam eU11l." I Christus' fordert uns auf, mit Vertram;n zu beten. Um uns diese Gesinnung tief einzuprägen, bedient er sich nicht nur der dringendsten Mahnungen, sondern, auch der rührendsten Gleichnisse. Er versichert, dass der, welcher bittet, erhalten wird. Dann fügt' er hinzu : " Oder ist wohl jemand unter euch, der seinem Sohne, wenn er um Brot bäte, einen Stein' reichen wird? ... Wenn ihr nun, obgleich ihr böse seid, euern Kindern gute Gaben zu geben wisset, wieviel mehr wird euer Vater, der im Himmel ist, denen Gutes geben, die ihn bitten?"2 Beim letzten Abendmahle kommt er darauf zurück: " Wahrlich,

I Ps. XC, 14'15. Wer das Brevier betet, weiss, dass die in den Psal" rnen vorberrschende Gesinnung die des Vertmuens auf Gott ist .

• Matth. VII, 7'11.

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 471

wahrlich sage ich euch, ... um was immer ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, das werde ich tun, damit der Vater in dem Sohne verherrlicht werde. Wenn ihr mich um etwas bitten werdet in meinem Namen, so werde ich es tun. I An jenem Tage werdet ihr in meinem Namen bitten, und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde, denn der Vater selbst liebt euch, weil ihr mich geliebt habt. "2 Es hiesse also Gott und seinem Versprechen misstrauen, J esu unendliche Verdienste und seine allmächtige Mittlerschaft unterschätzen, wenn das unbedingte Vertrauen beim Gebete fehlte.

653. b) Freilich scheint Gott unseren Gebeten gegenüber zuweilen taub zu sein, weil er will, unser. Vertrauen sei belzarrlich, damit wir die Tiefe unseres Elends und den 'Wert der Gnade um so mehr ermessen. Aber an dem Beispiel der Kananiterin 3 zeigt er uns, wie gerne er sich Gewalt antun lasse, scheint er uns zurückzustossen. Ein kananäisches Weib kommt zu Jesus und fleht ihn an, ihre vom Teufel gequält(': Tochter zu heilen. J esus antwortet ihr nicht. Sie wendet si<;:h darauf an die Jünger, belästigt sie mit ihrem Rufen, so dass sie den Herrn bitten, einzuschreiten. Er antwortet, seine Sendung erstrecke sich nur auf die Kinder Israels. Ohne sich zu entmutigen, wirft sich das arme Weib dem HeiJande zu Füsseµ und spricht: " Herr, hilf mir! " J esus erwidert mit schein barer Härte, es sei nicht _rec!1t, das Brot der: Kinder zu nehmen und es den Hündchen vorzuwerfen. " Ja, das ist wahr, Herr, sagt sie, aber aucl1 die Hündlein essen von den Brosamen, die von dem Tischejhrer Herren fallen. " Durch solch beharrliches und demütiges Vertrauen besiegt, gewährt Jesus endlich die erflehte Gunst und heilt ihre Tochter' in derselben Stunde. Konnte er uns besser zu verstehen geben, wir würden sicher

'loh. XIV, 13'14. - 2 Joh. XVI, 26',27. - 3 Mattlt. XVJ 24-",8-_

472

ERSTES KAPITEL.

erhört werden, wenn wir trotz unserer Misserfolge in demütigem Vertrauen ausharren?

654.3. Zu diesem beharrlichen Vertrauen jedoch muss die Achtsamkeit kommen oder wenigstens redliches Bemühen, an das zu denken, was wir Gott sagen. Unfreiwillige Zerstreuungen, die wir zurückzuweisen und zu vermindern suchen, sind kein Hindernis für das Gebet, denn durch die Anstrengungen, die wir machen,' bleibt unsere Seele auf Gott gerichtet. Freiwillige Zerstreuungen hingegen, die wir bewusst annehmen oder nur schwach zurÜckweisen, oder deren Veranlassung wir nicht beheben wollen, sind bei den vorgeschriebmen Gebeten lässliche Sünden, bei anderen Nachlässigkeit, Mangel an Ehrfurcht gegen Gott, der dadurch nicht zum Erhören geneigt gemacht wird. Das Gebet ist eine Audienz, die unser Schöpfer uns gewährt, ein Gespräch mit unserm Vater im Himmel. Wir flehen zu ihm, er möge auf unsere Worte hören und auf unsere Bitten achten. " Verba mea auribus percipe, Domine ... intende voci orationis mem." I Und in demselben Augenblick, da wir ihn bitten, uns anzuhören, und uns zu sprechen, sollten wir uns nicht redlich Mühe geben, den Sinn unserer eignen Worte zu verstehen und auf die göttlichen Einsprechungen aufzumerken! Wäre das nicht eine Inkonsequenz ,und gleichzeitig eine mangelhafte Gottesverehrung? Verdienten wir da nicht den Vorwurf des Heilandes, den er den Pharisäern machte : " Dieses Volk ehrt mich zwar mit den Lippen, ihr Herz aber ist fern von mir. " Populus hic labt'is me honorat, cor autem eorum longe est a me. "2

655. Man muss sich also redlich Mühe geben, um schnell und energisch die sich einstellenden Zerstreuungen zurückzuweisen, _ sich wegen derselben

'Ps. V, 2'3' - 2 Malth. XV, 8.

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 473

verdemütigen und sie benutzen, um aufs neue sich mit J esus zu vereinigen und mit ihm zu beten. Die Menge der Zerstreuungen muss vermindert werden und zwar durch energischen Kampf gegen deren Ursachen, als da sind gewohnheitsmässige Zerstreutheit des Geistes, Nachgeben bei Träumereien, Geist und Herz fess.~lnde Besorgnisse und Anhänglichkeiten. Durch Ubung der guten Meinung und durch Stossgebete muss man sich nach und nach daran gewöhnen, das Andenken an die Gegenwart Gottes oft zu erneuern. Bedienen wir uns recht oft dieser Mittel, so haben wir keinen Grund, uns wegen der unfreiwilligen Zerstreuungen zu beunruhigen, die durch den Kopf gehen oder die Phantasie gefangen halten. Das sind Prüfungen, nicht Fehltritte. Machen wir sie uns zunutze, so vermehren sie unsere Verdienste und den Wert unserer Gebete.

656. Wir können auf dreifache Weise unseren Gebeten Aufmerksamkeit zuwenden. 1. Bemühen wir uns, die Worte gut auszusprechen, so ist die Aufmerksamkeit verbal. Sie setzt bereits eine gewisse Anstrengung voraus, um auch immer an das zu denken, was man sagt. 2. Gibt man sich hauptsächlich Mühe, den Sinn der Worte zu verstehen, so ist das Textaufmerken oder intellektuelle Aufmerksamkeit. 3. Beachtet man wenig den Text und erhebt sich die Seele zu Gott, um ihn anzubeten, ihn zu preisen, sich mit ihm zu vereinigen oder um in den Geist des betreffenden Geheimnisses sich zu vertiefen oder um Gott zu bitten um alles, was die Kirche, was Jesus erbittet, so ist die Aufmerksamkeitgeistzg oder mystisch. Diese eignet sich nicht für Anfänger, sie ist mehr fÜr fortgeschrittene Seelen. Denen, die anfangen, Geschmack am Gebete zu finden, muss man also die eine oder andere der ersten zwei Arten von Aufmerksamkeit anempfehlen. Dem einzelnen je nach seinem Charakter, seinem Gnadenzug und den Verhältnissen, in denen er sich befindet.

474

ERSTES KAPITEL.

11. DIE GEBETSÜBUNGEN DER ANFÄNGER. 657. Da das Gebet eines der wichtigsten Heilsmittel ist, muss der Seelenführer die Anfänger nach und nach zur Übung jener Andachtswerke bringen, die gleichsam das Gewebe eines echt christlichen Lebens bilden. Er berücksichtige dabei deren Alter, Beruf, Standespflichten, Naturanlagen, den Gnadenzug und die bereits gemachten Fortschritte.

658. 1. Das anzustrebende Ziel ist, zu erreichen, dass die Seelen allmählich zur Gewohnheit oder gewohnheitsmässigen Übung des Gebetes gelangen, damit ihr Leben gewissennassen ein Gebetsleben werde (N. 522). Dabei ist einleuchtend, dass es längerer Zeit und andauernder Anstrengungen dedarf, um diesem Ideal näher zu kommen. Das aber liegt ausserhalb des Bereichs der Anfänger, der Seelenführer jedoch muss es kennen, um seine Beichtkinder bess.er leiten zu können.

659. 2. Die hauptsächlichsten Übungen, die unser Leben in gewohnheitsmässiges Gebet umzuwandeln vermögen, sind ausser Morgen- und Abendgebet, die von keinem guten Christen unterlassen werden:

A) Die Morgenbetrachtung, auf die wir bald zurückkommen werden, und die hl. JWesse mit der hl. Kommunion. Da erkennen wir das anzustrebende Ideal und erlangen Hilfe, es zu verwirklichen (N. 524). Nun gibt es aber Gläubige, die ihrer Standes pflichten wegen nicht jeden Tag der hl. Messe beiwohnen können. Als Ersatz dafür mögen sie geistigerweise kommunizieren, sei es am Ende ihrer Betrachtung oder während irgendwelcher Beschäftigung. Jedenfalls belehre man sie, grossen Nutzen aus Messe und Kommunion zu ziehen, wenn sie dar;lI1 teilnehmen können. Man passe ihrer Fähigkeit an, was wir (N. 271-289)

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 475

sagten, und vermittle ihnen das Verständnis des liturgischen Gottesdienstes an Sonn- und Feiertagen. Die richtig aufgefasste Liturgie ist eine der besten Schulen der Vollkommenheit.

660. B) Für die übrige Tageszeit rate man an, causser der häujig erneuerten Aufopferung der hauptsächlichsten Handlungen, einige Stossgebete und einige gute Lesungen mit bezug auf ihren Seelenzustand. So z. B. über die Grundwahrheiten, Ziel und Ende des Menschen, über die Sünde, die Abtötung, Beichte und Gewissenserforschung. Auch füge man einige Lebensbe~~hreibungen von Heiligen hinzu, die sich durch Ubung des Bussgeistes auszeichneten. Dadurch wird der Wille angespornt und die Betrachtung sehr erleichtert. - Durch das Beten einiger Gesetze des Rosenkranzes, unter dem Betrachten seiner Geheimnisse, wird die Andacht zur Gottesmutter gefördert, sowie die Gewohnheit gewonnen, sich mit dem Heiland zu vereinigen. Der Geist der Andacht wird neu belebt werden durch Besuche des Allerheiligsten. Bei diesen Besuchen, deren Dauer sich nach den Beschäftigungen richtet, kann man sich mit Nutzen der Nachfolge Christi, besonders des vierten Buches und der "Besuche vor dem Allerheiligsten" vom h1. Alphons v. Liguori bedienen.

661. C) Am Abend wird eine gute Gewissenserforschung samt Partikularexamen den Anfängern eine Hilfe sein, ihre Fehltritte festzustellen, die entsprechenden Gegenmittel ins Auge zu fassen, den Willen neuerdings im guten Vorsatz zu befestigen und sie so verhindern, in Schlaffheit oder Lauheit zu fallen. Hier auch erinnere man sich an das, was wir über die Gewissenserforschung sagten (N. 260-276). Ebenso über die Beichte (N. 262-269). Man denke daran, dass sich die Anfänger hauptsächlich über die freiwillig begangenen lässlichen

476

ERSTES KAPITEL.

Sünden erforschen sollen, denn diese Wachsamkeit ist das beste Mittel, um schwere, im Augenblick der Überraschung mögliche Verfehlungen zu vermeiden oder sofort zu sühnen.

662. 3. Ratschläge für den Seelenführer.

A) Der Seelenführer achte darauf, dass seine Pönitenten sich nicht mit zu vielen AndachtsÜbungen überladen. Das nämlich würde der Erfüllung ihrer Standespflichten schaden oder das wahre innere Leben beeinträchtigen. Es ist sicher besser, weniger Gebete zu verrichten, aber mit mehr Aufmerksamkeit und Frömmigkeit. Der Heiland selbst sagt uns das: " Betet ihr. so macht nicht viele Worte wie die Heiden, denn diese meinen, sie würden erhört, wenn sie viele Worte machen. Werdet also nicht ihnen gleich, denn euer Vater weiss schon vorher, wessen ihr bedürfet, noch ehe ihr ihn bittet" I. Und dann lehrt er sie das kurze, aber inhaltsreiche Vaterunser, das alles enthält, was wir verlangen können (N. 5 I 5- 516). Es fehlt nicht an Anfängern, die sich leicht einbilden, die Frömmigkeit bestehe in der Menge mündlicher Gebete. Man wird diesen eine grossen Dienst erweisen, erinnert man sie an das Wort des Heilandes und belehrt man sie, ein aufmerksames Gebet von zehn Minuten sei mehr wert als ein Gebet von zwanzig Minuten, das von mehr oder weniger freiwilligen Zerstreuungen angefüllt ist. Um leichter ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, mögen sie sich erinnern, wie sehr die \iVirksamkeit ihres Gebetes gestärkt werde, wenn sie sich beim Beginn desselben in Gottes Gegenwart versetzen und sich mit dem Heiland vereinigen. Dazu genügen wenige Sekunden.

663. B) Um den Schlendrian zu vermeiden, ist es gut, für oft wiederholte Gebete eine einfache, leichte Methode zu lehren und so die Aufmerksamkeit

) .'If attlt. VI, 7,8.

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 477

besser zu fesseln. So ist es z. B. beim Rosenkranzgebet. Es wird uns viel besser gelingen, machen wir daraus eine kleine Betrachtung, d. h. durch Nachdenken über die Geheimnisse, befleissigen wir uns dabei der doppelten Meinung, die allerseligste Jungfrau zu ehren und die dem Geheimnisse entsprechende, besondere Tugend zu erlangen. Dann wird es aber nicht überflüssig sein, aufmerksam zu machen, dass es im allgemeinen nicht möglich sei, gleichzeitig auf den Wortsinn des Ave Maria und auf den Inhalt des Geheimnisses zu achten und dass es genüge, das eine oder das andere zu tun.

111. ABSCHNITT. DIE BETRACHTUNG I.

Zur Darlegung gelangen: I. Allgemeinbegriffe von der Betrachtung. 2. Deren Vorzüge und Notwendigkeit. 3. Die unterscheidenden Merkmale der Betrachtung von Anfängern. 4. Die wichtigsten Methoden.

§ I. Allgemeinbegriffe.

664. I. Begriff und wesentliche Bestandteile.

Wie wir oben (N. 510) sagten, gibt es zwei Gebetsarten. Das mÜndliche Gebet, das durch Worte oder Bewegungen ausgedrückt wird, und das innere Gebet, welches im Innern der Seele vor sich geht. Dieses ist eine Erhebung und Hinwendung der

I ]OAN. MAU BURNUS, Rose/um exe1citiorum spiritualium et sacrarum meditationu",; GARCIA DE CISNEROS, Exercitatorio de la vida espiritual; S. IGNATIUS, Exercilia spiritualia mit seinen verschie, denen Kommentaren. Ebenso die .. Bibliothi!que des Exercices de S. Ignace", herausgegeben von P. WATRIGANT; RODRIGUEZ, Pratique de la perfection cI,rttielllle, Tr. V" De l'oraison; L. DE GRENADE, Traitt de l'oraison et de la meditation; A. MASSOULIE, Traiti! de la veritable oraison; S. PIERlm D'ALCANTARA, La oracidn y meditacidn; HJ. FR. V. SALES, PililollzNl, l. B., 1.'9. Kap.; BRANCATI DE LAUREA, De oratiOile clzrisliana; CRASSET, Inst1'uctiollsfamilil!res sur l'oraison mentale; SCARAMELLI, op. eil. traite I, art. 5: COURBON, Instr. fami, lieres sur l'oraison mentale; LIBERMANN, Ecrits spirit. S. 89'147; FABER, Progres de l'lime, Kap. XV; R. DE MAUMIGNY, Pratique de l'oraison mentale, I. T.; DOM VITAL LEHODEY, Les Voies de l'oraison 1IIentale, I. u. 2. Teil; G. LETOURNEAU, La Aft!thode d'oraison menlale de S, ,Sulpicc.

478

ERSTES KAPITEL.

Seele zu Gott, um ihm pfliclttge1lläss zu huldigen und dadurch zu seiner Ehre besser zu werden.

Es umfasst fünf Hauptbestandteile : 1. Religiöse Pflichten, die man gegen Gott, den Heiland oder die Heiligen erfüllt. 2. Erzvägungen über C!.ott und unsere Beziehungen zu ihm, um unsere Uberzeugung bezüglich der christlichen Tugenden zu nähren und zu stärken. 3. Rückblicke auf uns selbst, um festzustellen, wie wir es mit der Übung der Tugenden halten. 4. Eigentliche Gebete, um die notwendige Gnade zur Übung dieser oder jener Tugend zu erlangen. 5. Vorsätze der Besserung für die Zukunft. Diese' Akte brauchen nicht in der angegebenen Folge, noch alle in demselben Gebet stattzufinden, aber damit das Gebet Betrachtung genannt werden köune, muss es eine gewi~se Zeitlang dauern und sich so von den Stossgebeten unterscheiden.

Je mehr die Seelen in der Vollkommenheit fortschreiten und tiefwurzelnde Überzeugungen erwerben, die sie rasch erneuern können, desto mehr vereinfacht sich ihr inneres Gebet. Dieses besteht dann zuweilen nur in einfachem, liebenden Aufblick, wie wir später zeigen werden.

665.2. Ursprung. Man muss wohl unterscheiden zwischen innerem Gebet an sich und den Gebetswelsen.

A) Unter der einen oder andern Form gab es zu jeder Zeit Betrachtung : Die Bücher der Propheten, die Psalmen, die Weisheitsbücher sind alle voll von Betrachtungsstoff. Er nährte die Andacht der Israeliten, und sprach der Heiland nach drück, lieh vom Dienste Gottes im Geist und in der Wahrheit, brachte er ganze N ächte im Gebete zu, verrichtete er auf dem Ölberge und auf dem Kalvarienberge ein langes Gebet, was tat er da anderes als jenen inneren Seelen den Weg bereiten, die im Laufe der Jahrhunderte sich in die Einsamkeit ihres Herzens zurückziehen würden, um im geheimen zu Gott zu beten? Abgesehen von den Schriften der Väter, sprechen die Werke von Kassian und vom hl. J oh. Klimmachus ausführlich von Betrachtung oder innerem Gebete, sogar von den höchsten

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 479

Gebetsweisen, wie z. B. der Beschauung. Auch die Abhand, lung des hl. Bernhard, De Consideratione, kann eigentlich als eine Abhandlung über die Notwendigkeit des Nachden, kens und des betrachtenden Gebets angesehen werde)1. Die Schule von S. Viktor legt grosses Gewicht auf die Ubung der Betrachtung, um zur Beschauung zu gelangen '. Bekannt ist, wie sehr der hl. Thomas die Betrachtung empfiehlt als ein Mittel, in der Liebe Gottes zu wachsen und sich ihm hinzugeben 2.

666. B) Was das methodische Verfahren beim betrachten, den oder inneren Gebet betrifft, so rührt es aus dem 15· J ahrhundert her. Im Rose/um des Joh. Mauburnus 3 und bei den benediktinischen Verfassern derselben Zeit findet es sich dar, gelegt. In seinen E::r:erdtia spiritualia gibt der hl. Ignatius mehrere sehr genaue und verschiedenartige Betrachtungs, methoden an. Besser als irgend jemand schildert die hl. The, rese die verschiedenen inneren Gebetsweisen. 4 Der hl. Franz von Sales unterlässt es· nicht, seiner Philothea eine Gebets, methode vorzuzeichnen, und auch die Französische Schule des 17. Jahrhunderts entwickelt bald ihre eigne Methode, die von OJier und Tronson vervollkommnet wurde und heute als Methode von S. Sulpice bekannt ist.

667. Unterschied zwischen betrachtendem und innerem Gebet. Die Ausdrücke "Betrachtung" und" inneres Gebet" werden oft ohne Unterschied gebraucht. Will man sie unterscheiden, so nennt man vorzugsweise Betrachtung jene Art inneren Gebetes, bei welcher die Erwägung oder V erstandestätigkeit vorwiegt, daher diskursive Betrachtung heisst. Beim eigentlichen, inneren Gebet sind es fromme Anmutungen oder Akte des Willens, welche vorherrschen. Jedoch die diskursive Betrachtung selbst enthält schon Gemütstätigkeit, und andererseits gehen dem affektiven, inneren Gebet gewöhnlich einige Erwägungen voraus oder begleiten es,

'Vgl. HUGO V. ST. VIKTOR, De modo dicendi et 11leditandi; De meditando seu meditandi a1'tijicio, P. L. CLXXVI, 877,880; 993'998.

2 Sumo theol. IIa IIre, q. 82, a. 3.

3 H. WATRIGANT, La meditation 11ltthodique. Revue d'Ascet. et de

Myst, Januar 1923, S. 13'29·

4 V. P. JEAN DE JESUS MARIE, lnstruction des Novices. 3' P.

II Kap. § 2.

480

ERSTES KAPITEL.

ausser, wenn die Seele vom Lichte der Beschauung erfüllt ist.

668. Die Gebetsweis<,<, die gewöhnlich den Anfängern entspricht, ist die der diskursiven Betrachtung. $ie ist ihnen zur Erwerbung oder Festigung .ihrer Uberzeugungen notwendig. Es gibt indessen gemütvolle Seelen, die fast von Anfang an der Gemütstätigkeit grossen Anteil gewähren. Alle müssen aufmerksam gemacht werden, der grösste Teil des inneren Gebetes bestehe in Willensakten.

§ 11. Vorzüge und Notwendigkeit des inneren Gebetes.

I. Vorzüge.

669. Das betrachtende Gebet, so wie wir es beschrieben haben, trägt viel zum Heile und zur Vollkommenheit bei.

1. Es trennt uns von der SÜnde und deren Ursachen. In der Tat. So oft wir sündigen, geschieht es aus lW angel an Nachdenken und aus Willensscllwäche. Die Betrachtung aber bessert uns in dieser zweifachen Hinsicht.

a) Sie erleuchtet uns nämlich über die Bosheit der SÜnde und deren furchtbare Folgen, indem wir sie im Lichte Gottes, der Ewigkeit und der Sühneleistungen des Heilandes erkennen. " Die Betrachtung, sagt P. Crasset,I fÜhrt uns im Geiste in jene geweihten Einsamkeiten, in denen man Gott allein findet, im Frieden, in der Ruhe, im Schweigen und in der Sammlung. Sie ist es, die uns geistigerweise in die Hölle blicken und uns dort unsern Platz schauen lässt. Auf den Gottesacker, wo unsere Wohnung sein wird. In den Himmel, wo uns ein Thron errichtet ist. In das Tal J osaphat, um dort

, Inst,."ctions su,. I'Oraisoll, Methode d'oraison, I Kap. S. 253-254-

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 481

unseren Richter, nach Bethlehem, um dort unsern Erlöser, auf den Thabor, um dort unsere Liebe, zum Kalvarienberg, um dort unser Vorbild zu sehen. " - Sie trennt uns auch von der Welt und deren falschen Genüssen. Sie erinnert uns an die Vergänglichkeit der irdischen Güter, an die damit verbundenen Sorgen, an die Leere und den Widerwillen, den sie in der Seele hinterlassen. Sie verwahrt uns gegen die Hinterlist und Verdorbenheit der Welt und führt uns zur Erkenntnis, Gott allein könne unser GlÜck ausmachen. - Sie trennt uns hauptsächlich von uns selbst, von unserem Stolze, unserer Sinnlichkeit und stellt uns und unser Nichts Gott gegenÜber, der die FÜlle des Seins ist. Sie zeigt uns auch, wie die sinnlichen Genüsse den Menschen unter das Tier: erniedrigen, während die ÜbernatÜrlichen Freuden ihn adeln und zu Gott erheben.

b) Sie s{ijrkt unsern Willen, nicht nur, weil wir durch sie Uberzeugungen gewinnen, sondern weil sie allmählich unsere Trägheit, Feigheit und Unbeständigkeit beseitigt. Tatsächlich kann nur die Gnade mit unserer Mitarbeit diese Schwächen heilen. Das innere Gebet nun veranlasst uns, diese Gnade um so eifriger zu erflehen, je mehr wir durch Nachdenken uns unserer Ohnmacht bewusst werden. Auch sind die Akte des Bedauerns, der Reue, des festen Entschlusses, die während der Betrachtung erweckt werden, bereits tätiges Mitwirken mit der Gnade .

.. 670. 2. Die Betrachtung veranlasst uns auclt zur Ubung de1' erhabenen, c!tristlic!zen Tugenden. I) Sie erleuchtet den Glauben, denn sie fÜhrt uns immer wieder die ewigen Wahrheiten vor Augen. Sie stärkt die Hoffnung, weil sie uns Zutritt zu Gott und seiner Hilfe verschafft. Sie eifert zur Liebe an, da sie uns die Schönheit und GÜte Gottes offenbart.

N° 683. -16

482

ERSTES KAPITEL.

_ 2) Wir erlangen durch sie Klugheit, denn sie gewöhnt uns an das Nachdenken, ehe wir handeln. Gerechtigkeit durch Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen, Stärke durch Anteilnahme an der Macht Gottes, Mässigkeit durch Einschränkung unserer WÜnsche und Leidenschaften. Es gibt demnach keine christliche Tugend, die wir nicht durch die tägliche Betrachtung erlangen könnten. Durch sie bekennen wir uns zur Wahrheit, und die Wahrheit, die uns von unseren Mängeln befreit, wird uns zur Tugend fÜhren. " Cognoscetis ven'tatem, et ven"tas liberabit vos. " r

671. 3. So bereitet sie unsere Vereinigung und sogar unsere Verwandlung in Gott vor. Ist sie doch ein Gespräch mit Gott, das von Tag zu Tag inniger, zärtlicher und länger wird. Es wird nämlich auch bei der Arbeit während des Tages fortgesetzt. (N. 522.) Durch den häufigen Verkehr mit dem Urheber aller Vollkommenheit wird man dann selbst davon durchtränkt, durchdrungen, wie der Schwamm sich mit der Flüssigkeit anfÜllt, in die er getaucht wird. Wie das Eisen im Hochofen erglÜht, schmiegsam und dem Feuer ähnlich wird.

11. Notwendigkez't des z'nneren Gebetes.

672.1. Für die gewöhnlichen Christen. A) Das methodische Betrachten ist ein sehr wirksames Heiligungsmittel. Es ist jedoch nz'cht zum Heile der Christen z'n z'hrer Gesamtheit notwendz'g. Zur Erfüllung der Pflichten gegen Gott und zur Erlangung der Gnaden ist das Gebet notwendig. Das kann augenscheinlich nicht ohne eine gewisse Aufmerksamkeit des Geistes und ohne Verlangen des Herzens geschehen. Dazu mÜssen freilich Erwägungen der Wahrheiten und die wichtigsten Christenprlichten sich gesellen, nebst Rückblicken auf uns

'Jok. VIII, 32.

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 483

selbst. Alles jedoch kann ohne eigentliche Betrachtung geschehen, indem man den sonntäglichen Predigten beiwohnt, gute BÜcher liest und sein Gewissen erforscht.

673. B) Dennoch ist es sehr nÜtzlich und heilsam allen jenen, die fortschreiten und ihre Seele retten wollen, den Anfängern ebensogut wie denen, die bereits Fortschritte gemacht haben. Ja, man kann behaupten, es sei das zur Sz'cherstellung des Seelenlleils wz'rksamste Mz'ttel (N. 669). So lehrt der hl. Alphons. Er gibt dafÜr folgenden Grund an :

Bei anderen Andachtsübungen, wie z. B. Rosenkranz, Muttergottesoffizium, FasteT)., kann man leider in der TodsÜnde weiterleben. Bei Ubung des inneren Gebetes jedoch kann man nicht lange in schwerer Sünde verbleiben. Entweder gibt man die Betrachtung auf oder entsagt der SÜnde. I Wie könnte man denn jeden Tag vor Gott, den Urheber aller Heiligkeit, hintreten, mit dem klaren Bewusstsein, im Stande der Todsünde zu sein, ohne mit dem Beistande der Gnade den festen Vorsatz zu fassen, seine SÜnde zu verabscheuen und zu Füssen des Beichtvaters die Verzeihung zu erflehen, deren unbedingte Notwendigkeit man einsieht? Hat man, im Gegenteil, keine ganz bestimmte Zeit und keine bestimmte Methode festgesetzt, um über die gros sen Wahrheiten in Ruhe nachzudenken, so lässt man sich bald durch Zerstreuungen und die Beispiele der Welt mitreissen und, ohnees zu merken, gleitet man in die SÜnde.

674. 2. Moralische Notwendigkeit des inneren Gebetes für die Seelsorger. Wir sprechen hier

, " Cum reliquis pietatis operibus potest peccatum consistere, sed non possunt cohabitare oratio et peccatum : anima aut relinquet orationem aut peccatum .. , Aiebat enim quidam servus Dei quod multi recitent rosarium, officium B. M. Virginis, jejunent, et in peccatis vivere pergant, sed qui orationem non intermittit, impossibile est ut in Dei offensa vitam prosequatur ducere, .. " (Praxis Contessa,.;i, N. 122).

ERSTES KAPITEL.

nicht von den Ordenspriestern, die als solche das Brevier langsam und andächtig im Chor beten und in diesem gemeinschaftlichen Gebete, sowie in ihren Lesungen und ihren anderen Gebeten einen gleichwertigen Ersatz für das innere Gebet finden mögen. Jedoch dürfen wir nicht ausser acht lassen, dass selbst in den Orden, in denen das Offizium im Chor gesungen wird, die Regel wenigstens eine halbe Stunde Betrachtung vorschreibt, eben weil man überzeugt ist, das innere Gebet sei die Seele des mündlichen und unterstütze den Eifer beim Chorgebet. Wir bemerken ferner, die seit dem 16. J ahrhundert vorhandenen Orden legen noch mehr Nachdruck auf das innere Gebet, und das Kanonische Rechtsbuch schreibt den Ordensoberen vor, darauf zu achten, dass alle nicht rechtmässig verhinderten Ordensleute täglich eine gewisse Zeit dem inneren Gebete widmen. I

Die Seelsorger meinen wir also hier ganz besonders. Seelsorger, die von apostolischen Arbeiten ganz in Anspruch genoIpmen werden. Wir behaupten, die regelmässz'ge Ubung des inneren Gebetes, und zwar zu gen au festgesetzter Stunde, sez' eine moralz'sche Notwendz'gkeit für ihre Beharrlz'chkeit und Heilz'gung. Sie haben in der Tat zahlreiche und wichtige Pflichten unter schwerer Sünde zu erfüllen und sind andererseits zuweilen während der Ausübung ihres Amtes sehr lästigen Versuchungen ausgesetzt.

675. A) Um nun diesen Versuchungen zu widerstehen und treu und übernatÜrlich alle ihre Pflichten zu erfüllen, müssen sie von tiefinnerlicher Überzeugung beseelt sein und durch besondere Gnaden in ihrem schwankenden Willen unterstützt werden. Allgemein wird zugegeben, sowohl

, Can, 595. .. Curent superiores ut omnes religiosi ... legitime non impediti quotidie sacro intersint, oratiolli mentali vacelZt. "

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 485

das eine wie das andere werde durch die tägliche Betrachtung erworben.

Man sage nur nicht, auch diese Priester könnten in d<;r hl.

Messe und im Breviergebet etwas Gleichwertt'ges für das innere Gebet finden, Zweifellos sind Messe und andächtig gebetetes Brevier wirksame Mittel für Ausdauer und Fort~ schritt. Die Erfahrung beweist aber, ein durch seine Amtspflichten in Anspruch genommener Priester könne auch jenen zwei ernsten Verpflichtungen nur unter der Bedingung gut nachkommen, wenn er in der Betrachtung innere Sammlungund,~ebetsgeist sich angeeignet hat. Vernachlässigt er diese hl. Ubung, wie wird er inmitten all der Beschäftigungen und Belästigungen, die auf ihn einstürmen, die nötige Zeit finden, sich recht zu sammeln und übernatürliche Geisteserneuerung zu üben? Sammelt er sich aber nicht und erneuert er sich nicht innerlich, so werden ihn bald die vielen Zerstreuungen überWältigen" selbst mitten in den heiligsten Beschäftigungen. Seine Uberzeugungen werden schwächer, seine Kraft winl geringer, Nachlässigkeiten und Fehler häufen sich und Lauheit befällt ihn. Naht die Versuchung ernst, beharrlich und quälend, so sind die zur Abweisung des Feindes notwendigen, starken Einsichten nicht mehr seinem Geiste gegenwärtig. Er läuft Gefahr, zu erliegen '. " Pflege ich das innere Gebet ", sagt- Dom Chautard ., " so bin ich wie mit einem eisernen Panzer umgeben, für die feindlichen Pfeile unverwundbar. Ohne das innere Gebet werden sie mich sicher erreichen ... Inneres Gebet oder grosse Gefahr der Verdamnz's für den in der Welt lebenden Priester, erklärte ohne Zögern der fromme, gelehrte und kluge p, Desurmont, einer der erfahrendsten Leiter der Priesterexerzitien. Für den wahren Apostel gibt es keinen Mittelweg zwischen der Heiligkeit, die, wenn sie nicht bereits erworben ist, doch wenigstens gewünscht und erstrebt werden muss, und dem fortschreitenden Verderben ", sagt seinerseits Kardinal Lavigerie.

I Man denke über folgende Äusserung eines Priesters nach, welche Dom Chautard in " L'Ame de tout Apostolat" S. 73 erwähnt: "Aufopferung wurde mir zum Verhängnis! Durch meine natürliche Veranlagung fand ich, so oft ich mich aufopfern konnte, Freude. Ich war selig, anderen Dienste zu leisten. Der scheinbare Erfolg meiner Unternehmungen verfehlte nicht seine Wirkung. Der böse Feind setzte alles ins Werk, mich Jahre hindurch zu täuschen, in mir den Wunsch nach Tätigkeit zu wecken, mich aller inneren Arbeit abgeneigt zu machen und mich schliesslich in den Abgrund zu ziehen ". - Alles,. was der hervorragende Verfasser von der Notwendigkeit des inneren Lebens sagt, gilt von der Betrachtung, einem der wirksamsten Mittel, um das innere Leben zu pflegen,

, Ebendaselbst, Seite 178'179.

486 ERSTES KAPITEL.

676: B) Übrigens genÜgt es für den Priester nicht, die Sünde zu meiden. Um seine Pflichten als Gqttgew.ez'hter (relz'gieux de Dz'eu) und als Seeleni~etter zu erfüllen, muss er für gewöhnlich mit J esus, d~m Hohenpriester, vereinigt sein. Dieser allein v'erherrlicht Gott und rettet die Seelen. Wie aber wird er sich inmitten der Sorgen und MÜhen seines Amtes mit ihm vereinigen, wenn er keine bestimmte, genÜgend lange Zeit angesetzt hat, um sich in diese Vereinigung zu vertiefen, um lange und voll Liebe seines göttlichen Vorbildes zu gedenken und durch das Gebet seinen Geist, seine Gesinnungen und seine Gnade auf sich herabzuziehen? In dieser Vereinigung wird seine Kraft verhundertfacht, sein Vertrauen merklich gesteigert, die Fruchtbarkeit seines Amtes gesichert. Nicht er ist es, der spricht, Jesus spricht durch seinen Mund, tanquam Deo exhortante per nos. Nicht er ist es, der handelt, er ist nur ein Werkzeug in der Hand Gottes. Weil er sich bemüht, die Tugenden des Heilandes nachzuahmen, so wirkt sein Beispiel auf die Seelen mehr als seine. Worte. Hört er jedoch auf, das betrachtende Gebet zu üben, wird er die Gewohnheit der geistigen Sammlung und des Gebetes verlieren und nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle sein.

677. Darum hat auch Papst Pius X., seligen Andenkens. die Notwendigkeit des inneren Gebetes klar und deutlid verkündet '. Auch das Kirchliche Gesetzbuch schreibt der Bischöfen vor, darauf zu achten, dass die Priester jeden Tag einige Zeit dem inneren Gebete widmen, " ut iidem quotidi, orationi mentaliper aliquod tempus incumbant" (Can. 125,2 Ebenso sollen es die Alumnen pflegen ... "ut alu/Jl1Zi Seminari. singulis diebus ... per aliquod tempus mentali orationi vacent" (Can. 1367, I) Heisst das nicht, die moralische Notwendig keit der Betrachtung für \lie Geistlichkeit verkünden?

, Es verriete demnach wenig Seelenkenntnis, wollte mal den durch Seelsorgspflichten in Anspruch genommener

, Exkortatio ad cleru11l catkolicu11l, 4 Aug. 1908.

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 487

Geistlichen anraten, die Betrachtung zu unterlassen und dafÜr die Messe frommer zu lesen und das Brevier umso andäch7 tiger zu beten. Die Erfahrung lehrt, unterlässt man di" Betrachtung, wird das andächtige Beten des -Breviers fast unmöglich. Man entledigt sich dessen, wann und wie man kann, mit häufigen Unterbrechungen, während der Geist ganz mit dem beschäftigt ist, was man gehört hat _ oder was man sagen wird. In Wirklichkeit ist es die Betrachtung, die andächtiges Zelebrieren der hL Messe sichert und geistige Sammlung vor Beginn des Breviergebetes ermöglicht.

678. \tVas wir von den Priestern sagten, gilt das nicht auch in gewisser Hinsicht von jenen hochherzz'gen Laz'en, die einen Teil ihrer Zeit dem Apostolat widmen? Wünschen sie, ihr Apostolat trage Früchte, so sei es durch Innerlichkeit und Gebet beseelt. Man behaupte nicht, die Zeit, die man fÜr geistliche Übungen verwendet, gehe fÜr gute Werke verloren. Das hiesse den pelagianischen Irrtum streifen, die äussere Tätigkeit fÜr notwendig~r halten als Gnade und Gebet, während in Wirklichkeit das Apostolat um so fruchtbarer ist, je tiefer das innere Leben des Apostels ist, je mehr es durch inneres Gebet genährt wird.

§ III. Allgemeine Merkmale der Betrachtung bei Anfängern.

Oben erwähnten wir bereits, die Betrachtung der Anfänger sei vorwiegend dz·skursz'v. Die Verstandestätigkeit herrscht vor, obgleich den Willensaffekten Raum gelassen wird. Nun haben wir noch darzulegen: 1. über welche Gegenstände Anfänger meistens betrachten sollen, 2. welche Schwz'erz'gkeitm ihnen sich in den Weg stellen.

1. Über welche Gegenstände sollen Anfänger betrachten?

679. Allgemein gesagt, sollen sie über alle~ betrachten, was ihnen wachsenden Abscheu vor der Sünde einflössen kann. Über die Ursachen ihrer

488

ERSTES KAPITEL.

Fehler, die Abtötung als deren Heilmittel, über ihre wichtigsten Standespßfchten, den guten Gebrauch oder den Missbrauch der Gnade, über Jesus als Vorbz'ld der Büsser.

680. I. Um beständig zunehmenden Abscheu vor da Sünde zu erlangen, mögen sie betrachten: a) Ziel und Ende des Menschen und des Christen, folglich, Erschaffung und Erhebung des Menschen zum Stande der Ubernatur. Sündenfall und Erlösung (N. 59-87). Die Recltte Gottes, des Schöpfers, Heiligers und Erlösers. Gewisse Eigenschaften Gottes, die von der Sünde entfernen, wie z. B. seine Unermesslichkeit, wodurch er jedem Geschöpfe, besonders der Seele im Stande der Gnade, nahe ist. Seine Heiligkeit, weshalb er die Sünde verabscheuen muss. Seine Gerechtigkeit, welche die Sünde bestraft. Seine Barmherzigkeit, wodurch er zum Verzeihen neigt. Alle diese Wahrheiten veranlassen uns nämlich zur Flucht vor der Sünde, dem einzigen Hindernis unseres Seelenheils, dem Feinde Gottes, dem Zerstörer des übernatürlichen Lebens, das Gott uns als höchsten Beweis seiner Liebe zu uns verlieh und das der Erlöser um den Preis seines Blutes wiederherstell te.

b) Die Sünde als solche. Ihren Ursprung, ihre Bestrafung, Bosheit und ihre furchtbaren \Virkungen. N. 711-735. UrSaclle1t, die uns zur Sünde führen. Begierlichkeit, Welt und Teufel, N. 193-227,

c) Mittel, die Sünde zu süluzen und zu verhindern, Busse, N. 705, Abtötung unserer verschiedenen Fähigkeiten, unserer Neigungen zum Bösen. Besonders Betrachtung der sieben Hauptsünden mit der praktischen Folgerung, man könne nicht in Sicherheit sein, solange man nicht alle diese bösen Neigungen ausgerottet oder wenigstens bezwungen habe. Wir werden bald alle diese Fragen eingehender behandeln.

681. 2. Man soll auch der Reihe nach alle positive1t Pjlichten eines CI tristen zum Gegenstande der Betrachtung machen, I) Die allgemeinen Pjlichten gegen Gott, gegen den Nächsten, des berechtigten Misstrauens gegen sich selbst wegen unsererHilfl,9sigkeit und unseres Elends. A.:nfängern wird zunächst das Aussere dieser Tugenden ins Auge fallen. Das wird eine Vorbereitung auf die gründlicheren Tugenden sein, die sie auf dem Erleuchtungswege üben werden. - 2) Besondere Pjlicltten bezüglich des Alters, der Stellung, des Geschlechtes und der Lebensverhältnisse. Die Ausübung dieser Pflichten. ist in der Tat die beste Bussübung. ;

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 489

682. 3. Da der Gnade eine so hervorragende Bedeutung im christlichen Leben zukommt, ist es wohl notwendig, Anfänger nach und nach in das Grundlegende des christlichen Lebens einzuftihren, auf sie zu übertragen, was wir vom Innewohnen des BI. Geistes in unserer Seele, von unserer Einverleibung in Christus, von der habituellen Gnade, den Tugenden und Gaben sagten. Allerdings werden sie zunächst nur die ersten Kenntnisse dieser grossen Wahrheiten erwerben, Das Wenige jedoch, das sie erfassen, wird ihre Heranbildung und ihren geistlichen Fortschritt in aussergewöhnlicher Weise beeinflussen. Gerade beim Betrachten der Dinge, die Gott für uns tat und zu tun nicht aufhört, wird man zu grösserer Aufopferung in seinem Dienste angeregt werden, Vergessen wir nicht, der hl. Paulus und der hl. ]ohannes predigten diese Wahrheiten vor den bekehrten Heiden, die auch nur Anfänger im geistlichen Leben waren.

683. 4. Dann wird es leichter sein, ihnen Jesus als Vorbild der wahren Büsser vor Augen zu halten. Wie der Heiland um des Beispiels willen sich zu Armut, Gehorsam, harter Arbeit verurteilt, wie er fÜr uns in der \I\TÜste, im Ölgarten, bei seinem bitteren Leiden Busse tut; wie er fÜr uns am Kreuze stirbt. Diese Reihenfolge von Betrachtungen, die uns die Kirche alljährlich in der Liturgie vorlegt, hat den Vorzug, dass die Busse in Vereinigung mit Jesus Christus grossmütiger und mit mehr Liebe und darum auch mit grösserer Wirksamkeit geÜbt wird.

11. Schwierz'gkeiten, 1Ilz't denen Anfänger zu rechnen /taben.

Besondere Schwierigkeiten, welche Anfänger bei der Betrachtung haben, beruhen auf ihrer Une1:fallrenheit, ihrem Mangel an Grossmut und besonders auf den vielen Zerstreuungen, denen sie unterworfen sind.

684. A) Wegen ihrer Unerfahrenheit sind sie geneigt, aus ihrer Betrachtung eine Art philosophische oder theologische Dissertation zu machen oder, eine Art Predt'gt, die sie sich selbst halten.

490

ERSTES KAPITEL.

Freilich geht dadurch die Zeit nicht verloren, denn trotz allem denken sie bei diesem Betrachten an die grossen Wahrheiten und festigen ihre Überzeugungen. Dennoch würden sie mehr Nutzen ziehen, g.ingen sie praktisclzer und in mehr übernatürlicher Weise dabei zu Werke.

Darüber muss ein tüchtiger Seelenführer sie unterrichten.

Er soll ihnen beibringen, a) dass diese Erwägungen, um praktisch zu sein, mehr persönlich gehalten, auf sich selbst bezogen sein müssen, dass ferner ihnen eine Gewissensprüfung folgen muss, um zu erkennen, inwiefern man diese Wahrheiten praktisch betätigt und was man tun könnte, um im Laufe des Tages sein Leben danach einzurichten. b) Dass das Wichtigste beim inneren Gebet die Vlillensakte sind, Akte der Anbetung, der Dankbarkeit und der Liebe in bezug auf Gott. Akte der Verdemütigung, der Reue, des guten Vorsatzes betreffs der Sünden. Akte des Verlangens und der Bitte, um die Gnade der Besserung zu erlangen, feste Vorsätze, die man oft erneuert, den ganzen Tag über besser als bisher zu handeln.

685. B) Wegen ihres Mangels an Gross11lut laufen sie Gefahr, sich zu entmutz'gen, sobald sie nicht mehr durch fühlbaren Trost gestÜtzt werden, den ihnen Gott anfangs in seiner GÜte zuteil werden liess, um sie an sich zu ziehen. Sie stossen sich dann an Schwierigkeiten, an den ersten inneren Trostlosigkeiten, und, in der Meinung, von Gott verlassen zu sein, verfallen sie der Erschlaffung. Man muss ihnen also nachweisen, Gott verlange von uns die Anstrengung, nz'cht den Eifolg. Das Verharren im Gebet sei um so verdienstlicher, je mehr Schwierigkeiten hinzukämen, und es sei ein Zeichen von Feigheit, etwas Mühe zu scheuen, während Gott sich so freigebig gegen uns zeige. Was man sagt, muss d,urch die sanfte Weise gemildert werden, mit der man an diese Wahrheiten erinnert und durch recht väterlichen, ermutigenden Zuspruch.

".686. C) Das grösste Hindernis bilden jedoch die Zerstreuungen : Da im Anfang des geistlichen Lebens Phantasie,'GefÜbJ und irdisdle Anhänglich-

I1ll lie u:11, er

DAS GEBET DER ANFÄNGER. .491

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keit noch weit davon erntfernt sind, gezügelt zu sein, so ~ird die Seele zur Zeit der Betrachtung von weltllehen und zuweilen gefährlichen Vorstellungen, von unnÜtzen Gedanken und den verschiedensten Regungen des Herzens geradezu bestürmt. Hier ist wieder die Aufgabe des SeelenfÜhrers von

ßofler~

a) Zunächst erinnere er an die Unterscheidung zwischen frez'willz'gen Zerstreuungen I und jenen die nicht freiwillig sind. Er fordere sein Beichtkind auf, nur auf erstere zu achten, um deren Menge zu ver~ mindern. Damit dieses erreicht werde, muss man I) die Zerstreuungen schnell, energisch und beharrlz'ch zurÜckweisen, sobald man sich ihrer bewusst wird. Wären sie selbst zahlreich und gefährlich, so werden sie doch erst schuldbar, hält man sich freiwillig dabei auf. Die Anstrengung, mit der man sie abweist, ist eine sehr verdienstliche Tat. Wenn sie zwanzigmal anstürmen und ebensovielmal abge'wiesen werden, wird das ein vorzÜgliches Gebet sein, viel verdienstlicher als eine Betrachtung, bei der wir, Dank der Gnade Gottes, nur wenige Zer-

streuungen hatten. .

687.2) Zur besseren Abweisung der Zerstreuungen ist es wichtig, seine Ohnmacht' demütig einzugestehen, sich positiv mit dem Heiland zu vereinigen und seine Anbetung und Bitten Gott darzubringen. Im Notfalle benütze man ein Buch, um die Aufmerksamkeit zu fesseln.

b) Will man die Menge der Zerstreuungen ver,., mindern, so genÜgt es nicht, sie abzuweisen, sondern man muss vor allem derm Ursache ins Auge

, Die Zerstreuungen sind freiwillig an siek, hält man sie vorsätzlich fest oder bemerkt man die Zügellosigkeit der Phantasie und tut nichts dagegen. Sie sind freiwillig der Ursache nach, wenn man 'Voraussieht, diese oder jene aufreizende Beschäftigung, dieses oder jenes Buch, dessen Lektüre überflüssig ist, könne eine Quelle von Zerstreuungen werden und man unterlässt sie dennoch nicht. "

492

ERSTES KAPITEL.

fassen. Viele Ze'rstreuungen kommeri nämlich von mangelhafter Vorbereitung oder von gewohnheitsmässiger Zerfahrenheit her. r) Man fordere deshalb den, welcher sich mit dem inneren Gebet befassen will, auf, die Betrachtung am Vorabend besser vorzubereiten, sich nicht zu begnügen, den Stoff einfach durchzulesen, sondern etwas Persönliches hin,zuzufügen, sich zu fragen, inwiefern der Gegenstand der Betrachtung fÜr ihn persönlich praktisch zu verwerten sei, vor dem Einschlafen sich noch einmal mit ihm zu befassen, an statt an allerlei zu denken oder sich in ungesunden Träumereien gehen zu lassen. 2) Man weise den Anfänger besonders auf die Mittel hin, die zur ZÜgelung der Phantasie 'und des Gedächtnisses dienen und von denen wir bald sp'~'echen werden. Je mehr nämlich die Seele in der Ubung der Sammlung und der gewohnheitsmässigen Losschälung fortschreitet, um so mehr nehmen die Zerstreuungen ab. Das wird übrigens die Lehre über die Gebetsmethoden noch besser veranschaulichen.

§ lV. Die hauptsächlichsten Gebetsmethoden.

688. Das innere Gebet ist eine schwierige Kunst.

Aus diesem Grunde gaben die Heiligen stets gern verschiedene Ratschläge fÜr ein besseres Gelingen. Es finden sich deren ausgezeichnete bei Kassian, dem hl. J oh. Klimachus und den bedeutendsteq Autoren. Jedoch erst gegen das r 5· Jahrhundert wurden eigentliche Methoden ausgearbeitet, die seither die Seelen auf den' Wegen des Gebetslebens

anleiteten. ' ,

Da diese Methoden auf den ersten Blick etwas umständlich erscheinen, tut man gut daran, die :Anfäng~r.; ,d,urch, sogenanntes betJachtf1,1des L~s~n darauLvorzubereiten. Man, rate ilmen, irgend, ein Andachtsbud;, tU' les~n" \vie z. B. das erste BUch; der NaChfolge Thi:isii;' ,den Geitslicken, Kampj,'o'de'i

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 493

ein Buch mit kurzen, inhaltsreichen Betrachtungen. Darauf schlage man ihnen vor, sich nach der Lesung folgende drei Fragen vorzulegen : I. Bin ich ganz Überzeugt, dass das, was ich gelesen habe, nützlich, ja, meinem Seelen~<:ile notwendig ist, und wie kann ich mich in dieser Uberzeugung bestärken? 2. Habe ich bis jetzt diesen so wichtigen Punkt beachtet? 3. \Vas werde ich tun, um ihn heute besser durchzufÜhren? Fügt man dann noch ein inniges Gebet hinzu, um den gefassten Vorsatz auch richtig ausführen zu können, so hat man die wesentlichen Bestandteile eines echten, betrachtenden Gebetes.

I. Punkte, die allen lVlethoden gemeinsam sind. Eine gewisse Anzahl gemeinsamer Züge finden sich bei den verschiedenen Methoden. Sie müssen zunächst hervorgehoben werden, denn sie sind offenbar die wichtigsten.

689. r. Immer findet sich die entfernle, die ?Zä-

here und die nächste Vorbereitung. .

a) Die entfernte Vorbereitung i~t nichts anderes als die Bemühung, das gewohnte Leben mit deiBetrachtung in Einklang zu bringen. Sie umfasst drei Dinge: I) Abtötung der. Sinne und Leidenschaften; 2) gewohnheitsmässige Sammlung. 3) Demut. Das sind in der Tat ausgezeichnete Verfassungen für gutes Gebet. Anfangs sind sie nur unvollkommen vorhanden, doch in genügendem Masse, um wenigstens mit einiger Frucht zu betrachten. Bei zunehmendem Fortschritt im Gebet werdel1 auch sie sich vervollkommnen.

"

b) Die nähere Vorbereitung setzt drei hauptsächc liche Akte voraus. I) Den Betrachtungsstoffam V orabend lesen oder anhören. 2) Beim Erwachen dariil1 denken und im ·Herzen entsprechende.Ges-'innung wachrufen. 3.)- Sich an die Betrachtung geben

494

ERSTES KAPITEL.

mit Eifer, Vertrauen und Demut, sowie mit dem Verlangen, Gott zu verherrlichen und besser zu werden. So ist die Seele dann in der rechten Verfassung, um mit Gott zu sprechen.

c) Die nächste Vorbereitung, eigentlich schon Beginn der Betrachtung, besteht darin, dass man sich in Gottes Gegenwart versetzt, der Überall, besonders in unserem Herzen gegenwärtig ist. Man erkenne sich als unwürdig lJ.nd unfähig zu betrachten und bitte den Hl. Geist um seinen Beistand als Ersatz für unser Ungenügen.

690. 2. Auch im Hauptteil der Betrachtung enthalten die verschiedenen Methoden mehr oder weniger ausdrücklich dieselben grundlegenden Akte:

a) Solche, wodurch der göttlichen Majestät die ihr gebÜhrende relz'gz'öse Huldz'gung dargebracht wird.

b) Erwägungen, um sich von der Notwendigkeit und dem ausserordentlichen Nutzen der zu erwerbenden Tugend zu überzeugen, damit man um so eifriger bete, um sie durch die Gnade zu erlangen und den Willen zu den nötigen Anstrengungen unter Mitwirkung der Gnade zu bestimmen.

c) Eiforschungen oder Rückblicke auf sich, um Schwächen in dieser Hinsicht festzustellen, sowie den noch zu durchlaufenden Weg.

d) Gebete oder Bitten, um die Gnade zu erlangen, in dieser Tugend Fortschritte zu machen und die dazu nötigen Schritte zu tun.

e) Vorsätze, durch die man sich entschliesst, die Tugend, welche der Gegenstand der Betrachtung war, von demselben Tage an zu üben.

691. 3. Die Betrachtung wird beendet durch den Abschluss. Dieser umfasst : I). Danksagung für

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 495

die empfangenen Wohltaten. 2) Einen Rückblick über das Vorgehen bei der Bettachtung zwecks Vervollkommnung am folgenden Tage. 3) Ein letztes Gebet, um den Segen des himmlischen Vaters zu erhalten. Wahl eines Gedankens oder eines inhaltsreichen Ausspruchs, der uns im Laufe des Tages den Leitgedanken der Betrachtung ins Gedächtnis zurückruft, des sogenannten geistlz'chm S träussleins.

Die verschiedenen Methoden lassen sich auf zwei Haupttypen zurÜckfÜhren : Die Methode des hl. 19natz'us und die von S.-Sulpice.

11. Die Methode des hl. Ignatius.1

692. In seinen Geistlz'chen Übung-en legt der h1. Ignatius nacheinander mehrere Gebetsweisen vor, je nach dem Gegenstand der Betrachtüng oder den zu erzielenden Ergebnissen. Die Methode, die im allgemeinen den Anfängern am besten zusagt, ist jene, die man mit dem Namen der drei Fähz'gIi:ez'ten bezeichnet, weil dabei die drei Hauptfähigkei ten des Menschen, Gedächtnis, Verstand und Wille, geübt werden. Sie ist in den Übungen der ersten Woche ausgeführt, gelegentlich der Betrachtung über die SÜnde.

693. 1. Beginn der Betrachtung. Sie fängt mit einem Vorberez'tungsgebet an, in welchem man Gott bittet, alle Absichten und Handlungen mögen einzig und allein auf den Dienst und die Verherr- 1ichung der göttlichen Majestät gerichtet sein: Eine ausgezeichnete Zielbestimmung.

Dann folgen zwei Vorübungen. a) Die erste, die Vorstellung des Ortes, bezweckt Phantasie und Geist an den Betrachtungsstoff zu fesseln, um die Zerstreuungen leichter auszuschalten, r) Ist der Gegenstand sinnlich wahrnehmbar,

, Exercices spiritue!s, I. Sem" I. exercice, V gl. P. ROOTHAAN, De la maniere de mtditer, nach den Exercia"

496

ERSTES KAPITEL.

wie z. B. eines Geheimnisses aus dem Leben J esu, so soll man sich ihn so lebhaft wie möglich vorstellen, nicht als eine Sache, die sich vor langer Zeit zutrug, sondern so, als wäre man selbst Zeuge des Vorganges, als sei man persönlich daran beteiligt, was zweifellos mehr Ergriffenheit auslöst. 2) Ist der Gegenstand unsichtbar, wie z. B. die SÜnde, so besteht die Ortsbestimmung darin, dass man mit den Augen der Phantasie schaut und erwägt, " wie meine Seele in diesem sterblichen Leib eingeschlossen ist und ich selbst, also Leib und Seele, in diesem Jammertal gleichsam verbannt im Reiche der vernunftlosen Tiere. " Mit anderen Worten, man betrachtet die SÜnde in einigen ihrer Wirkungen, um bereits mit Abscheu vor ihr erfÜllt zu werden.

b) Die zwez'te Vorübung besteht darin, dass ich Gott um das bitte, was ich will und wÜnsche, z. B. Beschämung und Missfallen meinerselbst beim Anblick meiner SÜnden. - Man sieht das praktische Ziel, der Entschluss wird von Anfang an scharf ins Auge gefasst. " In omnibus resjJice jinem. "

694.2. Der Hauptteil der Betrachtung besteht in Anwendung der drei Seelenkräfte (Gedächtnis, Verstand, Willen) auf jeden der Betrachtungspunkte. Dies geschieht nacheinander mit jeder der Fähigkeiten auf jeden der Punkte, ausser, wenn einer allein genügenden Stoff für die Betrachtung bietet. Man braucht aber nicht bei jeder Betrachtung alle angegebenen Akte zu verrichten. Es ist gut, bei den durch den Betrachtungsstoff gebotenen Affekten und Gesinnungen etwas länger zu verweilen.

a) Die Übung des Gedächtnisses geschieht dadurch, dass man sich an den er"ten Punkt der Betrachtung erinnert, nicht bezÜglich der Einzelheiten, sondern des Ganzen. So sagt z. B. der hl. Ignatius : " Diese GedächtnisÜbung bei der Sünde der Engel besteht darin, dass man sich erinnert, wie die Engel im Stande der Unschuld erschaffen wurden, wie sie sich weigerten, sich ihrer Freiheit zu bedienen, um ihrem Schöpfer und Herrn den schuldigen Gehorsam und die pflichtgemässe Huldigung zu leisten, Wie der Stolz sich ihres Geistes bemächtigte, wie sie vom Stande der Gnade in den der Bosheit verfielen und vom Himmel in die Hölle gestÜrzt wurden. "

b).Die Verstandesübung besteht darin, dass man mehr im einzelnen Über denselben Gegenstand nachdenkt. Der

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 497

hl. Ignatius gibt darüber nichts Näheres an, aber P. Roothaan tut dies und erklärt, der Verstand habe über die Wahrheiten, die das Gedächtnis vorführt, nachzudenken. Er habe sie auf die Seele und deren Bedürfnisse anzuwenden, praktische Folgerungen daraus zu ziehen, die BeweggrÜnde zu unseren Vorsätzen zu prüfen, zu erwägen, wie bis jetzt unsere Lebensweise den betrachteten Wahrheiten entsprach und wie das in Zukunft geschehen soll.

c) Der Wille hat zwei Aufgaben zu erfÜllen. Sich zu frommen Affekten anzuregen und gute Vorsätze zu fassen. I) Die frommen Affekte sollen sich zwar auf die ganze Betrachtung erstrecken, wenigstens häufig sein, da sie eigentlich aus der Betrachtung ein wahres Gebet machen. Besonders aber gegen Ende der Betrachtung sollen sie vervielfältigt werden. Dabei sorge man sich nicht um deren Ausdruck. Die einfachste Weise ist immer die beste. Überkommt uns eine gute Regung, nähren wir sie so lange wie nur möglich, bis die Andacht gestillt ist. 2) Die Vorsätze müssen praktisch sein, sich zur Vervollkommnung unseres Lebens eignen. Daher im besonderen anwendbar, unserem gegenwärtIgen Zustande angepasst, am Tage selbst ausfÜhrbar, tiifgründzg, demiitzg, folglich von Gebeten begleitet zur Erlangung der zur Ausführung notwendigen Gnade.

695. 3. Dann endlich kommt der Abschluss. welcher sich aus drei Dingen zusammensetzt, der Wiederholung der bereits gefassten Vorsätze, dem Gespräche mit Gott Vater, dem Heilande, der allerseligsten Jungfrau oder einem anderen Heiligen, und schliesslich dem Rückblz'cke auf die Betrachtung oder der Prüfung der Art und Weise, wie man betrachtet hat, um die dabei begangenen Fehler festzustellen und sie in Zukunft zu vermeiden.

498

ERSTES KAPITEL.

Zum leichteren Verständnisse der Methode geben wir eine zusammenfassende Ubersicht von VorÜbungen, vom Hauptteile der Betraclttung und dem Abschluss.

{1. Kurze Erinnerung an die zu betrachtende Wahrheit.

I V "b 2. Vorstellung des Ortes durch die Phan-

. oru ungen. tasie.

3, Bitte um eine besondere dem Gegenstande entsprechende Gnade,

.:.: ! 1. Geddclt!nis .ro

~

CD I: <l)

i;:;

"

fln grossen Zügen stellt man sich den

l Betrachtungsstoff samt den wichtigsten Umständen vor Augen .

1. Was habe ich hier in Erwägung zu ziehen?

2. Welche praktischen Folgerungen ergeben sich daraus für mich?

3. Aus welchen Beweggründen?

4. Wie habe ich diesen Punkt beobachtet?

5. Was muss ich tun, um ihn besser zu beobachten?

6, Welche Hindernisse muss ich entfernen?

7. Welche Mittel sind anzuwenden?

1. Durch fromme Regungen im ganzen Verlaufe der Betrachtung, besonders gegen Ende,

2. Durch Vorsdtze, die am E!lde jeden Punktes gefasst werden. Sie müssen ausführbar, persönlich, gründlich, demütig und voll Vertrauen sein.

~ I 2, Verstand,

Ich untersuche:

OB 0-

~ 13, Willen, :r:

r 1. Gespräche mit Gott, J esus Christus, der allerseligsten

I Jungfrau, den Heiligen.

~ r 1. Wie habe ich die Betrachtung gemacht?

.g 1 ! 2. Worin und wodurch war sie gut oder

U J schlecht?

ß 1 3. Welche praktische Folgerungen habe

~ 12, Rückblick ich daraus gezogen, welche Bitten

I I gestellt? Welche Vorsätze gefasst?

- Welche Erleuchtung erhalten?

4. Einen Gedanken als geistlichen Blumenstrauss bewahren.

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 499

696. Nutzen dieser Methode. Wie man sieht, ist diese Methode sehr psychologisch durchdacht und sehr praktz'sch : a) Sie erfasst alle Fähigkeiten, samt der Phantasie, wendet sie nacheinander auf den Gegenstand der Betrachtung an und bietet dadurch Abwechselung. So können wir dieselbe Wahrheit unter verschiedenen Gesichtspunkten erwägen, sie im Geiste dre~~n und wenden, uns ganz davon durchdringen, Uberzeugllngen gewinnen, aber besonders praktische Folgerungen für denselben Tag ziehen.

b) Obgleich der wichtz'g-e Anteil der Wz'llenstätzgkeit betont wird, die voll bewusst zum Entschlusse schreitet, nachdem sie lange die BeweggrÜnde dazu untersucht hat, so wird dennoch der Anteil des Gnadeneinflusses nicht unterschätzt. Von Anfang an wird dieser erfleht und in den Gesprächen kommt man darauf zurÜck.

c) Diese Methode ist ganz besonders für Anfänger geeignet, denn sie gibt bis in die kleinsten Einzelheiten genau an, was man zu tun hat, von der Vorbereitung an bis zum Schluss. Sie dient als Leitfaden, der unsere Fähigkeiten vor Verirrungen hütet. Ausserdem setzt sie keine tiefe Kenntnis der Dogmen voraus, sondern nur die des Katechismus. Sie passt sich also auch den einfachen Gläubigen an.

d) Dennoch eignet sie sich auch fÜr vorgeschrittene Seelen. Wenn sie vereinfacht wird, d. h. wenn man es sich genügen lässt, den vom hl. Ignatius gezogenen grossen Linien zu folgen, ohne die von P. Roothaan hinzugefÜgten Einzelheiten zu beachten, kann man sie leicht in ein affektives, inneres Gebet verwandeln, wobei den Einsprechungen der Gnade viel Spielraum bleibt. Alles liegt daran, dass man sich ,ihrer unter der klugen Leitung eines Seelen führers in verständiger Weise bediene.

500

ERSTES KAPITEL.

e) Man hat zuweilen den Vorwurf erhoben, sie liesse den Heiland nicht genügend hervortreten. In der Betrachtung mit Anwendung der drei Fähigkeiten ist allerdings nur vorübergehend die Rede von ihm. In anderen vom hl. Ignatius angewandten Betrachtungen jedoch, besonders bei Betrachtung der Geheimnisse und Anwendung der Sinne, wird der Heiland Hauptgegenstand der Betrachtung.1

Übrigens hindert nichts die Anfänger, die eine und andere Methode zu verwerten. Der Einwand ist ~!so unbegründet, verfolgt man die Ignatianischen Ubungen bis zum Ende.

111. Die Methode von 5.-Sulpice.2

697. A) Ursprung. Diese Methode kam erst nach mehreren anderen auf und wurde von ihnen in den Einzelheiten beeinflusst. Der Grundgedanke jedoch und die grossen Linien stammen vom Kardinal de Berulle, von P. de Condren und Olier. Die ergänzenden Ausführungen von Transon.

a) Grundidee ist die Vereinigung, das Verschmelzen mit dem menschgewordenen Sohne Gottes, um Gott die ihm gebührenden, religiösen Dienste darzubringen und in sich die Tugenden J esu Christi zu erneuern.

b) Die drei wesentlichen Akte sind: I) Anbetung, d. i. Erwägung einer Eigenschaft oder Vollkommenheit Gottes oder einer Tugend J esu Christi als Vorbild der von uns auszuübenden Tugend, worauf die Darbringung unserer religiösen Huldigung erfolgt (Anbetung, Bewunderung,Lobpreisung, Danksagung, Liebe, Freude oder Mitleid) Gott oder dem Heiland gegenüber. Durch diese Huldigung an den Urheber der Gnade machen wir ihn geneigt, uns gnädig anzuhören. ~ 2) Vereinigung, wodurch wir mittels des Gebetes die von uns in Gott oder dem Heiland angebetete und bewunderte Voll.

I Bei der Abhandlung über den Erleuchtungsweg werden wir darauf zu sprechen kommen.

2 G. LETOURNEAU, La methode d'oraison mentale du Sem. de S .. -Sulpice, Paris 19"3. Siehe bes. im Anhang, S. 321-332.

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 501

kommenheit oder Tugend auf uns herabziehen. - 3) Mitwirkung. Unter dem Einflusse der Gnade entschliessen wir uns, diese Tugend zu üben, indem wir wenigstens einen Vorsatz fassen, den wir im Laufe des Tages auszuftihrel).

uns bemühen. .

Das ist es, was sich in grossen Zügen bei Berulle, Condren und Olier findet.

698. B) Die Ergänzungen von Tronson. Diese grossen Linien genügen wohl den vorgeschrittenen Seelen, aber für Anfänger wären sie durchaus unzureichend gewesen. Dessen wurde man sich im Seminar von S.-Sulpice bald bewusst. Tronson behielt den Geist und die wesentlichen Bestandteile der ursprünglichen Methode bei, fügte jedoch dem zweiten Punkte (Kommunion) Erwägungen und Rückblicke auf sich selbst hinzu, die Anfängern unbedingt notwendig sind. Ist man von der Wichtigkeit und der Notwendigkeit einer Tugend überzeugt und erkennt man klar, sie fehle uns, so wird man mit mehr Eifer, Demut und Ausdauer darum bitten. Es erübrigt sich also, bei dieser Methode, auch bei Anfangern, auf das Gebet als wesentlichen Bestandteil besonderen Nachdruck zulegen. - Ebendeshalb heisst der dritte Punkt Mitwirkung, um uns nämlich daran zu erinnern, dass, wenn auch unsere Vorsätze mehr durch die Gnade als durch unsem Willen zustandekommen, dennoch die Gnade nichts ohne unsere Mitwirkung vollbringt und dass wir den ganzen Tag hindurch mit Jesus Christus mitarbeiten und uns anstrengen sollen, um die erstrebte Tugend zu erlangen.

699. C) Zusammenfassung der Methode. Der folgende, übersichtliche Plan kann genügen, um einen Begriff von der Methode zu geben. Wir sprechen nicht von der eniferntm Vorbereitung. Sie ist dieselbe, die N. 688 erwähnt wurde.

I. Am Vorabend, Wahl des Betrachtungsgegenstandes und genaues Bestimmen, was vom Heiland betrachtet werden soll - die vorzunehmenden Erwägungen und Bitten, - die \<in-

zustrebenden Vorsätze. I

2. Sich dann sehr gesammelt halten ~lIld beim Einschlafen über den Betrachtungsgegenstand nachdenke!L

3. Nach dem Aufstehen den efsten,freien Augenblick .. wählen, um sich dieser heHigen- Ub.ung hinzugeb\!n.

Nähere.

502

ERSTES KAPITEL.

.t] ~I

Nächste.

I.Sich in die Gegenwart Gottes versetzen, der überall ist, besonders in unserm Herzen.

2. Sich vor Gott verdemütigen bei dem Gedanken an die begangenen Sünden. Das Confiteor beten.

3. Sich unfähig erkennen, gut zu beten.

Anrufung des HI. Geistes. Das " Veni Sancte Spiritus" beten.

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I=Q

... - I

~ 1 2.

~ 2. Punkt.

~ Vereinigung. \ ~ I J esus ins Herz

~ gezogen.

i.Punkt:

Anbetung:

Jesus vor Augen.

I.Den Gegenstand l

der Betrach- die Gefühle seitung erwägen nes Herzens,

in Gott, im Hei- seine Worte,

lan.d oder in) seine Hand-

irgend einem lungen.

Heiligen.

2. Ihm unsere Huldigung darbringen:

Anbetung, Bewunderung, Lobpreisung, ,Danksagung, Liebe, Freude oder Mitleid.

J. Sich von der Notwendigkeit oder der Nützlichkeit der betrachteten Tugend überzeugen durch Motive des Glaubens, durch Vernunft schluss

oder einfach durch Untersuchung.

Über sich selbst nachdenken in Gesinnungen der Reue bezgl. der Vergangenheit, der Scham bezgl. der Gegenwart und des Verlangens bezgl. der Zukunft.

3. Gott um die betreffende Tugend bitten (dadurch besonders nehmen wir Anteil an den Tugenden des Heilandes.) - Bitten wir auch um Hilfe in unseren anderen Nöten, in denen der Kirche und derjenigen, für die wir zu beten verpflichtet sind.

3. Punkt.

Jesus an der Hand.

{I.

2.

Einen besonderen, der Gegenwart angemessenen, wirksamen und demütigen Vorsatz fassen.

Den Vorsatz des Partikularexamens erneuern.

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 503

I 1. Gott danken, weil er uns soviele Gnaden während der Betrachtung schenkte.

2. Wege!1 unserer Fehler und Nachlassigkeiten in der

ui hl. Ubung ihn um Verzeihung bitten.

2 3· Ihn um seinen S.egen flehen fur unsere Vorsatze, fur

"5 den gegenwartlgen Tag, unser Leben und unseren

.2 Tod.

<C /4, Einen geistlichen Blumenstrauss pflücken, d. h. einen

...; Gedanken aus unserer Betrachtung festhalten, der

uns besonders gefiel. Tagsüber ihn ins Gedächtnis zurÜckrufen, ebenso wie die Vorsätze.

5· Das Ganze der Allerseligsten Jungfrau anvertrauen. " Sub tuum prresidium."

700. D) Charakteristische Merkmale dieser Methode. a) Sie stützt sich auf die Lehre unserer Einverleibung- in Christus (N. I42-149), und auf die sich daraus ergebende Verpflichtung, seine Gesinnungen und seine Tugenden in uns hervorzubringen. Um das zu erreichen, sollen wir, wie Olier sagt, Jesus vor Aug-en haben, um ihn als Vorbild zu bewundern und ihm unsere Huldigung (Anbetung) darzubringen; J esus im Herzen tragen, während wir durch das Gebet (Vereinigung) seine Gesinnungen und seine Tugenden gleichsam auf uns herabziehen. Jesus an der Hand führen, indern wir mitarbeiten bei der Nachahmung seiner Tugenden (Mitwirkung). Die innige Vereinigung mit Jesus ist also die Seele dieser Methode .

. b) Sie stellt die Pflicht der Gottesverelll'Ung(Ehrfurcht und Liebe zu Gott) höher als die Bitte. Dienst Gottes vor allem! Und der Gott, der uns durch sie gezeigt wird, ist nicht der abstrakte Gott der Philosophen. Es ist der wirkliche (konkrete), lebendige Gott des Evangeliums, es ist die in uns lebende Heiligste Dreifaltigkeit.

c) Verkündet sie die Notwendigkeit der Gnade und des menschlichen Willens zu unserer Heiligung, so betont sie doch besonders die der Gnade und: folglich des Gebetes. Sie verlangt aber auch .ener-

504

ERSTES KAPITEL.

gische und beharrliche Willenstätigkeit, besondere, vorhandene, oft erneuerte Vorsätze, über die man sich abends erforscht.

701. d) Es ist eine affektive, auf Erwägungm gestützte Methode. Sie beginnt mit Affekten der Gottesverehrung (1. Punkt). Die Erwägungen (2. Punkt) bezwecken, aus den erwogenen \i\Tahrheiten Akte des Glaubens im Herzen entstehen zu lassen, Akte der Hoffnung auf die göttliche Barmherzigkeit, Akte der Liebe seiner unendlichen Güte. Der Rückblic!i: auf sich selbst soll von Reue über die Vergangenheit, von Scham über die Gegenwart und von festem Entschlusse für die Zukunft begleitet sein. Diese Akte zielen darauf ab, eine demütige, vertrauende und beharrliche Bitte vorzubereiten. Zur Verlängerung dieser Bitte liefert die Methode verschiedene Beweggründe, die ausführlich erörtert werden, und schlägt ausserdem vor, für die ganze Kirche und gewisse Seelen zu beten. - Die Vorsätze selbst sollen von Misstrauen gegen sich, von Vertrauen auf Jesus Christus und von Gebeten begleitet sein. - Der Schluss endlich ist nur eine Folge von Akten der Dankbarkeit, der Demut und erneuter Gebete.

Auf diese Weise vermeidet man, elen Vernunftsschlüssen oder Erwägungen eine allzu philosophische Wendung zu geben und bereitet den Weg fÜr das gewöhnliche, affektive, innere Gebet und später für das vereinfachte, innere Gebet vor. "Vir werden nämlich darauf aufmerksam gemacht, es sei nicht nötig, immer und in dieser Ordnung allen unseren Verpflichtungen nachzukommen, sondern man tue gut, " sich den von Gott verliehenen Regungen (Affekten) hinzugeben und jene oft zu wiederholen, in denen man den Gnadenzug des HI. Geistes verspürt". Freilich werden Anfänger im allgemeinen den Vernunftsschlüssen mehr Zeit wid~ menals den anderen Akten, aber die Methode

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ERSTES KAPITEL.

gische und beharrliche Willenstätigkeit, besondere, vorhandene, oft erneuerte Vorsätze, über die man sich abends erforscht.

701. d) Es ist eine affektive, auf Erwägungen gestützte Methode. Sie beginnt mit Affekten der Gottesverehrung (I. Punkt). Die Erwägungen (2. Punkt) bezwecken, aus den erwogenen Wahrheiten Akte des Glaubens im Herzen entstehen zu lassen, Akte der Hoffnung auf die göttliche Barmherzigkeit, Akte der Liebe seiner unendlichen Güte. Der Rückblick auf sich selbst soll von Reue über die Vergangenheit, von Scham über die Gegenwart und von festem Entschlusse für die Zukunft begleitet sein. Diese Akte zielen darauf ab, eine demütige, vertrauende und beharrliche Bitte vorzubereiten. Zur Verlängerung dieser Bitte liefert die Methode verschiedene Beweggründe, die ausführlich erörtert werden, und schlägt ausserdem vor, fÜr die ganze Kirche und gewisse Seelen zu beten. - Die Vorsätze selbst sollen von Misstrauen gegen sich, von Vertrauen auf J esus Christus und von Gebeten begleitet sein. - Der Schluss endlich ist nur eine Folge von Akten der Dankbarkeit, der Demut und erneuter Gebete.

Auf diese Weise vermeidet man, den Vernunftsschlüssen oder Erwägungen eine allzu philosophische Wendung zu geben und bereitet den Weg fÜr das gewöhnliche, affektive, innere Gebet und später für das vereinfachte, innere Gebet vor. \lViI werden nämlich darauf aufmerksam gemacht, es se nicht nötig, immer und in dieser Ordnung aller unseren Verpflichtungen nachzukommen, sonderr man tue gut, " sich den von Gott verliehener Regungen (Affekten) hinzugeben und jene oft Zl wiederholen, in denen man den Gnadenzug des HI Geistes verspürt ". Freilich werden Anfänger im all· gemeinen den Vernunftsschlüssen mehr Zeit wid menals den anderen Akten, aber die Method~

DAS GEBET DER ANFÄNGER. 505

erinnert sie immer wieder daran, die affektiven Regungen seien vorzuziehen. So wird es ihnen allmählich gelingen, eine grössere Zahl derselben in sich hervorzurufen.

e) Die Methode passt sielt ganz besonders Alumnen und Priestern an. Unaufhörlich erinnert sie sie daran, der Priester sei seinem Amte und seiner vVürde nach ein anderer Christus, er müsse es somit auch seiner Gesinnung und seinen Tugenden nach sein. Seine ganze Vollkommenheit bestehe darin, dass J esus in ihm lebe und wachse" ita ut interiora ,!jus intima cordÜ nostripenetrent".

702. Diese bei den Methoden sind ausgezeichnet.

Jede in ihrer Art und jede nach dem besonderen Ziel, welches sie verfolgt. Dasselbe kann man von allen anderen sagen, die mehr oder weniger diesem zweifachen Typus sich nähern I. Es ist sehr günstig, dass es mehrere Methoden gibt, um jeder Seele zu ermöglichen, nach dem Rate ihres FÜhrers und nach dem ihr zuteil gewordenen Gnadenzuge auszuwählen, welche am besten sich für sie eigne.

Mit P. Poulain 2 fügen wir noch hinzu, es verhalte sich mit den Methoden wie mit den zahlreichen Regeln der Rhetorik und Logik. Anfänger sich darin üben zu lassen, ist gut. Ist man aber erst einmal soweit, dass man sich deren Geist und wesentliche Bestandteile vollkommen angeeignet hat, dann folgt man der Methode nur noch in ihren grossen Zügen. Die Seele aber wird auf die Anregungen des HI. Geistes aufmerksamer, ohne indessen ihre eigne Tätigkeit einzustellen.

t Wir heben besonders hervor die Methode des hl. Franz v. Sales.

Pltilothea, 2. Buch, 2-7. Kap. Ferner die der unbeschuhten Karmeliter, /llstruction des novices du V. P. J. de Jesus-Marie, 3. Teil, 2. Kap. Ebenso auch die der reformierten Zisterzienser, Directoire spirituel von Dom Lehodey, 1910. Sect. V. Auch diejenige der Dominikaner. /nstruction des novices von P. Cormier.

2 Etudes, 20. März 1898, S. 782, Anmerkung II.

506 ERSTES KAP. - DAS GEBET DER ANFÄNGER.

SCHLUSS : WIRKSAMKEIT DES GEBETES BEZÜGLICH DER REINIGUNG DER SEELE.

703. Aus dem Gesagten lässt sich leicht folgern, wie nützlich, ja, wie notwendig zur Reinigung der Seele das Gebet sei. a) Durch das Anbetungsgebet erfüllt man gegen Gott die schuldigen Pflichten. Man bewundert, lobt und preist seine unendlichen Vollkommenheiten, seine Heiligkeit, Gerechtigkeit, Güte, Barmherzigkeit. Dann neigt sich Gott in Liebe zu uns nieder, um uns zu verzeihen, uns einen tiefen Abscheu vor der ihn beleidigenden Sünde einzuflössen und uns so vor neuen Fehltritten zu bewahren. b) Durch das Betrachtungsgebet erwerben wir unter Einfluss göttlicht:!1 Lichtes und unseres eigenen Nachdenkens tiefe Uberzeugungen von der Bosheit der Sünde, von deren furchtbaren Wirkungen in diesem und im anderen Leben, von den Mitteln, sie zu sühnen und zu meiden. Unsere Seele wird dann von Gefühlen der Scham, der Verdemütigung, des Abscheus vor der Sünde erfüllt. Sie fasst den guten Vorsatz, sie zu meiden und entflammt von Liebe zu Gott. Ebendadurch sühnen wir die begangenen Sünden mehr und mehr durch Tränen der Busse und im Blute Jesu. Unser Wille erstarkt gegen die kleinstel~. N achgiebigkeiten und unterzieht sich grossmütig Ubungen der Busse und Entsagung. c) Das Bittgebet stützt sich auf die Verdienste J esu Christi und erlangt uns reichliche Gnaden der Demut, der Busse, des Vertrauens und der Liebe. Dadurch wird die Reinigung der Seele vollendet, diese gegen zukünftige Angriffe gesichert und in der Tugend gefestigt, besonders in der Busse und Abtötung, die ihrerseits die glücklichen Wirkungen des Gebetes ergänzen.

704. Winke für die Seelenführer. Man kann also die Betrachtung allen jenen nicht genug empfehlen, die im innerlichen Leben Fortschritte

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 507

machen wollen. Der Seelenführer unterweise sie darin sobald als möglich, lasse sich über die vorgefundenen Schwierigkeiten Rechenschaft geben, helfe sie überwinden, zeige, wie die Methode besser anzuwenden sei, besonders wi~. sie zur Beseitigung der Fehler dienen könne, zur Ubung der entgegengesetzten Tugenden und nach und nach zur Erwerbung des Gebetsgeistes, der, in Verbindung mit der Busse, die Seele umwandeln werde.

ZWEITES KAPITEL.

Von der Busse.

Wir beabsichtigen, kurz Notwendigkeit und Begriff der Busse anzugeben, dann darzulegen : 1. Die Gründe, weshalb wir die Sünde hassen und /neiden sollen. 2. Die Beweggründe und MÜtel, sie zu sühnen.

Notwendigkeit und Begriff.

{der Todsünde

1. Abschnitt - Hass der Sünde und der läss-

lichen Sünde.

Ab h 'tt S" h d S" d {Beweggründe.

2. sc 111 - U ne er un eMittel.

NOTWENDIGKEIT UND BEGRIFF DER BUSSE I.

705. Nach dem Gebete ist Busse das wirksamste Mittel, die Seele von den früher begangenen Sünden zu reinigen und sie vor zukünftigen Sünden zu bewahren.

1. Daher lässt der göttliche. Meister vor Beginn seines öffentlichen Auftretens von seinem Vorläufer

I S. THOMAS, UI, q. 85. - SUAREZ, De peenitentia, disp. I u. VII. BILLUART, De peenit. disp. H. - AD. TANQUEREY, Synopsis Tlzeo!. mol'. t. I, 11. 3-14. - BOSSUET, Sermon sur la uecessitt de la pcnitence, ed. Lebarcq, 1897, t. IV, 596, t. V. 419. - BOURDALOUE, Careme, pour le Lundi de la 2. Semai1le. - NEWMAN, Disc. to mixed congregations, Neglect of divine calls. - FABER, Progres, ch. 19·

5(18 ZWEITES KAPITEL. ~ VON DER BUSSE.

die Notwendigkeit der Busse verkünden: " Tuet Busse, denn das Himmelreich ist nahe ". - "Pamitentiam agite, appropinquavit enz'm regnum ca:lorum" '. Er erklärt, er selbst sei gekommen, die Sünder zur Busse zu rufen : " Non veni vocare Justos, sed peccatores ad ptEnitentiam " 2. - So notwendig ist diese Tugend, dass wir zugrunde gingen, täten wir nicht Busse. " Si ptEnitentiam non egeritis, omnes similiter peribitis" 3. Die Apostel haben

. diese Lehre im richtigen Sinne verstanden. Von ihrer ersten Predigt an betonen sie die N otwendigkeit der Busse als Vorbedingung für die Taufe. " PtEnitentiam agite et baptizetur unusquisque vestrum" 4.

Die Busse ist wirklich für den Sünder ein Akt der Gerechtigkeit. Er hat Gott beleidigt und seine Rechte verletzt, ist also verpflichtet, diesen Schimpf zu sühnen. Das aber geschieht durch die Busse.

706. 2. Unter Busse versteht man eine mit der Gerechtigkeit zusammenhängende, übernatürlicJte Tugend, die den Sünder zum Hasse seiner Sünde geneigt macht, weil diese eine Gott zugefügte Beleidigung ist, und z'hm den festen Entschluss einflösst, in Zukunft die Sünde zu meiden und zu sühnen.

Sie enthält demnach vier Hauptakte, deren Entstehung und Zusammenhang leicht zu erkennen sind. I) Im Lichte des Glaubens und der Vernunft erkennt man die Sünde als ein Übel, als das grösste aller Übel, als das wirklich einzige Übel und zwar, weil sie Gott bele!digt und uns der kostbarsten Güter beraubt. Und dieses Ubel hassen wir aus ganzer Seele, " z'niquitatem. odio habui". 2) Nun stellen wir ausserdem fest, dieses Ubel ist in uns, weil wir gesündigt haben, und es bleiben selbst nach der Verzeihung einige Spuren davon in der Seele zurück. Wir empfinden deshalb lebhaften Schmerz darüber, einen Schmerz, der die Seele quält und zermalmt, aufrichtige Reue und ti!!fe Verdemütigung. 3) Um in Zukunft dieses hassenswerte Ubel zu meiden, fassen wir den festen Entschluss oder den kräftigen Vorsatz, es zu

I Matth. III, 2. - 2 Lukas, V, 32.

3 Lukas, XIII, 5. - 4 Apostelgesch. II, 38.

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 509

meiden und zwar durch die Flucht der nächsten Gelegenheit, durch S~ärkung des Willens gegen die Reize gefährlicher Genüsse. 4) Endlich sehen wir ein, die Sünde sei eine Ungerechtigkeit. Wir entschliessen uns darum, sie wiedergutzumachen, sie durch Gesinnung und Werke zu sühnen.

1. ABSCHNITT. GRÜNDE, DIE SÜNDE ZU HASSEN UND ZU FLIEHEN I.

Ehe wir diese Gründe 2 darlegen, erklären wir, was man unter Todsünde und unter lässlicher Sünde versteht.

707. Beg.~iff und Arten. Die Sünde ist eine freiwillige Ubertretung des gö'ttlichen Gesetzes. Sie ist also Ungehorsam gegen Gott und deshalb eine Beleidigung Gottes. Wir ziehen unsern Willen dem seinigen vor und verletzen so seine unverjährbaren Rechte auf unsere Unterwerfung.

708. a) Todsünde. Übertreten wir ernstlich ein wichtiges, zur Erreichung unseres Zieles notwendiges Gesetz und zwar mit vollem Bewusstsein und mit voller Zustimmung, so ist das Todsünde, denn sie raubt der Seele die innewohnende Gnade, die das übernatürliche Leben ausmacht (N. 105). Deshalb definiert der hl. Thomas diese Sünde auf folgende Weise: Ein Akt, durch den wir uns von Gott, unserem letzten Ziele, abwenden, indem wir uns freiwillig in ungeordneter Weise irgend einem geschaf-

fenen Gute zuwenden. Durch den Verlust der uns mit

1 S. THOM., Ia 1I"', q. 71-73, q. 85-89. - SUAREZ, De peccatis, disp.

I-IlI, und disp. VII-VIII. - PHILIP. A S. TRINITATE, Sumo tluol. mysticlE, Ia P., tr. II, discursus I. .- ANTON. A SPIRITU S., Directorium mysticum, disp. I, sect. III. - TH. DE VALLGORNERA, Mystica theol. q. II, disp. I, art. III-IV. - ALVAREZ DE PAZ, T. II, P. I. De abjectione peccatorum. - BOURDALOUE, Careme, mercredi de la 5. sem., sur J'etat de peche et J'etat de grace. - TRONSON, Ex. particuliers, CLXX-CLXXX. - MANNING, Sin and its consequences. MGR D'HuLsT, Careme 1892; Retraite. - P. J ANVIER, Careme I907,

I. Conf.; Careme I908, ganz.

2 Wir erörtern die Beweggründe etwas ausführlicher, um den Lesern Gelegenheit zu geben, darüber Betrachtungen anzustellen. Hat man einmal tiefen Abscheu vor der Sünde, so ist der Fortschritt gesichert.

510 ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. Gott verbindenden, innewohnenden Gnade wenden wir uns nämlich von ihm ab.

709. b) Lässliche Sünde. Ist das Gesetz, das wir übertreten, zur Erreichung unseres Zieles nicht notwendig oder übertreten wir es nicht in wichtigen Dingen oder fehlt uns bei bedeutender Sache die volle Erkenntnis oder die volle Einwilligung, so ist die Sünde nur lässlich und beraubt uns nicht des Gnadenzustandes. J m Grunde der Seele bleiben wir mit Gott vereint, da wir ja seinen Willen in allem tun, was zur Erhaltung seiner Freundschaft und zur Erreichung unseres Zieles notwendig ist. Dennoch ist sie eine Übertretung des Gesetzes Gottes, eine seiner Majestät zugefügte Beleidigung, wie wir später zeigen werden.

§ 1. Die Todsünde '.

710. Um die schwere Sünde richtig zu beurteilen, erwäge man I. was Gott davon denkt,' 2. was sie in sich ist; 3. ihre verhängnisvollen Folgen. Vverden diese Erwägungen durch Betrachtung vertieft, so wird man unbesiegbaren Hass gegen die Sünde tragen.

I. Was Gott von der Todsünde hält.

Will man sich einen Begriff davon machen, so beachte man, wie er sie nach den Berichten der Hl. Schrift bestraft und verurteilt.

711. I. Wie er sie straft. A) Bei den auf1'Ührerischen Engeln. Sie begehen nur eine einzige Sünde, eine SÜnde des Stolzes, und Gott, ihr Schöpfer und Vater, der sie nicht nur als Werk seiner Hände, sondern auch als seine angenommenen Söhne liebt, sieht sich gezwungen, zur Strafe ihres Aufruhrs sie in

, S. ICNATlL's, Geist!. Übungen, 1. Woche, I. Übung. Siehe auch die zahlreichen Kommentare dazu.

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 511

die Hölle zu stürzen. Dort sind sie für ewig von ihm getrennt, somit jeden GlÜckes beraubt. Und dennoch ist Gott gerecht, er bestraft die Schuldigen nie über Verdienst. Gott ist barmherzig, auch beim Strafen und mildert die Strenge durch Güte. Die SÜnde muss also etwas Abscheuliches sein, bestraft

er sie so hart.

712. B) Bei unsern Stammeltern. Sie waren mit allerhand natürlichen, aussernatÜrlichen und übernatÜrlichen Gütern Überhäuft worden (N. 52-66). Aber auch sie begehen eine SÜnde des Ungehor,ams und des Stolzes. Sofort verlieren sie mit dem Leben der Gnade die unverdienten Gaben, mit denen sie so freigebig ausgestattet worden waren. Sie werden aus dem irdischen Paradiese vertrieben und Übertragen auf ihre Nachkommenschaft diese Ursünde, an deren traurigen Folgen wir auch leiden (N. 69-75). Nun liebte aber Gott unsere Stammeltern wie seine Kinder, gewährte ihnen vertraute Freundschaft. Musste demnach der Gott der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sie so streng bestrafen, selbst bis in ihre Nachkommenschaft hinein, so muss die SÜnde ein entsetzliches, nie genug zu hassendes Übel sein.

713. C) In der Person seines Sohnes. Gott will den Menschen nicht ewig zugrunde gehen lassen, gleichzeitig aber auch die Forderungen von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wahren. Er sendet deshalb seinen Sohn zur Erde nieder. Bestellt ihn zum Haupt des Menschengeschlechtes und beauftragt ihn, an unserer Stelle die Sünde zu sühnen und wiedergutzumachen. Und was verlangt diese Erlösung? 33 Jahre von Leiden und Verdemütigungen und, als deren A~schluss, physische und seelische Todesangst im Olgarten, im Ratshause, im Prätorium und auf dem Kalvarienberge. Will man erfassen, was Sünde sei, so folge man dem göttlichen Erlöser Schritt fÜr Schritt, von der Krippe bis zum Kreuze, in seinem verborgenen Leben voller Demut, Gehorsam, Armut, Arbeit. In seinem apostolischen Leben inmitten seiner Mühen, Misserfolge, Belästigungen, Verfolgungen, denen er zum Opfer fällt. Man folge ihm Schritt fÜr

512 ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE.

Schritt in seinem Leidensleben, als er so furchtbare physische und seelische Qualen ertrug, die Freunde und Feinde ihm verursachten, so dass er wahrhaftig der Mann der Schmerzen genannt wurde. Dann gestehe man in aller Aufrichtigkeit : " Das alles haben meine Sünden verdient l " -" Vulneratus est propter iniquitates nostras, attritus est propter scelenl nostra". Es wird dann nicht schwer fallen, die Sünde als das grösste aller Übel anzuerkennen.

714. 2. Wie Gott die Sünde verurteilt. Die HI. Schrift stellt die Sünde als das verabscheuungswürdigste und das strafbarste aller Dinge hin.

a) Sie ist Ungehorsam gegen Gott, Übertretung seiner Befehle, strenger und gerechter Strafe wÜrdig, wie an unseren Stammeltern zu erkennen ist '. Beim Volke Israel, das Gott besonders angehörte, wurde dieser Ungehorsam als Aufruhr, als Empijrung angesehen 2. b) Sie ist Undank gegen den grössten Wohltäter. Ruchlosigkeit gegen den liebevollsten Vater. "Filios enutrivi et exaltavi. IjJsi autem spreverunt 1ne "3. c) Sie ist Treulosigkeit, eine Art Ehebruch, denn Gott ist der Bräutigam unserer Seelen und verlangt mit Recht unverbrüchliche Treue: " Tu autem fornicata es cum amatoribus multis" '. d) Sie ist UngerechÜ;r;keit, denn wir verletzen offenkundig die Rechte Gottes über uns: " Omnis qui peccatum facit, et iniquitatem facit et jJeccatum est iniqttitas" s.

11. Was die Todsünde an sich ist.

Die TodsÜnde ist das Übel, in Wahrheit das emzige wirkliche Übel, denn alle anderen sind nur deren Folge oder Strafe.

715. I. Auf Gott bezogen ist sieeineMajestätsiJeleidigung. Sie greift in der Tat Gott in allen' seinen Rechtstiteln an, besonders aber als unsern ersten Ursprung, unser letztes Ziel, unsern Vater und Wohltäter.

A) Da Gott unser erster Ursprung, unser Schöpfer ist, von dem alles kommt, was wir sind und

, Gen. Il, 17; III, II-19. - 2lere11lias, II, 4-8.

3 lsaias. I. 2. - 4leremias, UI, 1. - 5 I loh. II!, 4.

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 513

besitzen, ist er aus demselben Grunde unser höchster Herr, dem wir unbedingten Gehorsam schulden. Durch die Todsünde aber weigern wir uns, zu gehorchen, schmählicherweise ziehen wir unsern Willen dem seinigen, ein Geschöpf dem Schöpfer, vor. Ja, noch mehr. \-Vir empören uns gegen ihn, denn durch die Erschaffung sind wir seine Untertanen, viel mehr als die Menschen einem Fürsten untertan sind. a) Und diese Empörung ist um so schuld barer, als dieser Herr unendlich weise und gut ist, uns nur das befiehlt, was sowohl zu unserm Glück als zu seinem Ruhme gereicht, während unser Wille bekanntlich schwach, gebrechlich und dem I rrtum unterworfen ist. Nichtsdestoweniger ziehen wir unser Wollen dem Wollen Gottes vor. b) Diese Empörung ist um so weniger zu entschuldigen, als wir von Kindheit an durch christliche Eltern unterrichtet, eine klarere, genauere Kenntnis der Rechte Gottes über uns und der Bosheit der Sünde besitzen und wir mit voller Einsicht in unser Tun handeln. c) Und warum verraten wir unsern Herrn? Um eines niedrigen Genusses willen, der uns entwürdigt und dem Tiere gleichmacht, um albernen Stolzes willen, durch den wir uns Ehre aneignen, die nur Gott gebührt. Eines Vorteils, eines vergänglichen Gewinnes wegen, dem wir ein ewiges Gut opfern.

716. B) Gott ist auch unser letztes Ziel. Er hat uns erschaffen und konnte uns nur für sich erschaffen, denn da es kein höheres Gut als ihn gibt, so können wir ausser ihm weder Glück noch Vollkommenheit finden. Übrigens ist es gerecht und notwendig, dass wir, die wir von Gott ausgingen, auch zu ihm zurückkehren. Als sein Werk und sein Eigentum schulden wir ihm Ehrfurcht, Lob, Dienst und Verherrlichung I. Als Gegenstand seiner Liebe

, Diesen Gedanken entwickelt der HL. IGNATIUS im Fundament. zu Beginn der Exerc. spirit., in dem er folgende Worte erklärt: Creatus

N° 683. -17

müssen wir ihn aus ganzer Seele wiederlieben. In der ihm dargebrachten Anbetung und Liebe finden wir unser Glück und unsere Vollkommenheit. Er hat also ein strenges Recltt darauf, dass unser ganzes Leben mit allen Gedanken, allen Wünschen, allen Handlungen auf ihn gerichtet sei und ihn verherrliche.

Durch die Todsünde nun wenden wir uns absichtlich von ihm ab, um uns in einem geschaffenem Gute zu gefallen, in beleidigender Weise ziehen wir ihm eines seiner Geschöpfe vor oder vielmehr unsere selbstsüchtige Befriedigung. Im Grunde genommen, hängen wir nämlich weniger an diesem Geschöpfe, als an dem in ihm gefundenen Vergnügen. Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit, wodurch man Gott seiner unveräusserlichen Rechte beraubt, der äusseren Ehre, die wir vermehren sollen. Es ist eine Art Abgötterei, da im Tempel des Herzens neben dem wahren Gott ein Abgott aufgestellt ist. Das heisst die Quelle lebendigen \l\Tassers versclzmälzen, die allein den Durst der Seele stillen kann, und ihr das trübe Wasser vorziehen, das sich in der Tiefe geborstener Brunnen vorfindet, wie es nach der kräftigen Ausdrucksweise des Propheten J eremias heisst I. " Duo enim mala fecit populus meus : me dereliquerunt fontem aquce vivce et foderunt sibi cisternas, cisternas dissipatas, quce continere non valent aquas".

717. C) Gott ist für uns auch ein Vater, der uns als Kinder angenommen hat und uns mit väterlicher Sorge umgibt (N. 94), uns mit den kostbarsten \l\Tohltaten Überhäuft, uns ein übernatürliches Leben geschenkt, damit unser Leben dem seinen gleich sei. Der uns ferner reichliche wirksame Gnaden verleiht, damit seine Gaben sich in uns ent-

est llomo ad Il1tllC .finem ut Dom.inu1n DeUl1t Slt1i1ll laudet ae 1'evereatuy, eique serviells tandf1Jt salvus )iat.

l/eremias, 11, 13.

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 515

wickeln und das übernatürliche Leben vermehren. Nun, durch die Todsünde verachten wir alle diese Gaben. Wir missbrauchen sie sogar und wenden sie gegen unsern Wohltäter und Vater an. Wir entweihen seine Gnaden und beleidigen ihn somit in demselben Augenblicke, in welchem er uns mit seinen Gütern überhäuft. Ist das nicht himmelschreiender Undank, der um so strafbarer ist, je mehr wir empfingen?

718.2. Auf Jesus Christus, unsern Erlöser, bezogen, ist die Sünde eine Art Gottes11Zord. a) Tatsächlich ist es die Sünde, welche die Leiden und den Tod des göttlichen Erlösers verursachte. " Christus passus est pro nobis I ••• Lavit nos a peccatis nostris in sanguine suo" 2. Soll dieser Gedanke Eindruck auf die Seele machen, so brauchen wir nur an den persönlichen Anteil zu denken, den wir an dem bitteren Leiden des Erlösers hatten. Ich bin es, der meinen Herrn mit einem Kusse und manchmal um weniger als dreissig Silberlinge verriet. J eh befand mich unter der Volksmenge, als sie rief : "Non hunc, sed Barabbam! ... Crucijige eum! " 3 Ich war unter den Soldaten, die ihn geisselten, durch meinen Mangel an Abtötung; die ihn mit Dornen krönten, durch meine GedankensÜnden der Sinnlichkeit, des Stolzes. Die das schwere Kreuz auf seine Schultern legten und ihn dann kreuzigten. Olier 4 sagt treffend : " Unser Geiz nagelt seine Liebe ans Kreuz. Unser Zorn seine Sanftmut, unsere Ungeduld seine Geduld, unser Stolz seine Demut. Und so wird der in uns lebende Jesus mit Zangen festgehalten, geknebelt und in Stücke gerissen ". Wie sehr müssen wir die Sünde verabscheuen, die unsern Erlöser so grausam ans Kreuz geheftet hat!

b) Wir können ihm zwar gegenwärtig keine neuen Qualen zufügen, weil er nicht mehr leiden

, I Petr., II, 21. - 2 Apok. I. 5.

3 loh. XVIII, 40; XIX, 6. - 4 Catt!ch. ehrt/im. 1. Teil, Lektion II.

516 ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. kann. Unsere jetzigen Fehler jedoch beleidigen ihr weiter. Begehen wir sie nämlich freiwillig, so miss achten wir seine Liebe und seine \Vohltaten. Wi entwerten, so weit es an uns liegt, sein so freigebil vergossenes Blut, berauben ihn jener Liebe, Dank barkeit und jenes Gehorsams, auf die er ein Rech hat. Heisst das nicht, seine Liebe mit schwärzester Undank vergelten und schon dadurch die schwel sten Strafen auf unser Haupt herabziehen?

!II. Die Wirkungen der Todsünde.

Gott hat gewollt, dass das Gesetz dadurch seir Bestätigung finde, dass die Tugend schliesslich durc das Glück belohnt, die Sünde aber durch Leid< bestraft werde. Lenken wir unsere Aufmerksamh auf die Wirkungen der Sünde, so vermögen wir t zu einem gewissen Masse ihre Schuldbarkeit beurteilen. Das aber kann geschehen bezüglich d Wirkungen im diesseitigen und im jenseitig

Leben.

719. I. Um uns eine richtige Vorstellung v den Wirkungen der Todsünde in diesem Leben machen, denken wir an eine Seele im Stande ( Gnade. In ihr wohnt die Heiligste Dreifaltigk, Diese hat Wohlgefallen an ihr und schmückt mit ihren Gaben, ihren Tugenden und Gnad Durch die aktuelle Gnade werden die guten Ha lungen dieser Seele fürs ewige Leben verdienstl Sie ist im Besitze der heiligen Freiheit der Kin Gottes, hat Anteil an der Kraft und der Wirks, keit Gottes und erfreut sich, besonders in gewio Augenblicken, eines Glückes, das gleichsam Vorgeschmack der himmlischen Glückseligkeit Was bewirkt nun die Todsünde?

a) Sie vertreibt Gott aus der Seele. Da der B< Gottes schon Vorausnahme des himmlischen G kes ist, so gleicht sein Verlust dem Vorspiel

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 517

ewigen Verdammnis. Gott verlieren, heisst das nicht, aller Güter verlustig gehen, deren Quelle er ist?

b) Mit ihm verlieren wir die heiligmachende Gnade. Durch sie führte unsere Seele ein gottähnliches Leben. Wir begehen also eine Art geistigen Selbstmord. Mit ihr verlieren wir das glorreiche Gefolge von Tugenden und Gaben, das sie begleitete. Liess uns Gott in seiner unendlichen Barmherzigkeit noch Glauben und Hoffnung, so werden doch diese Tugenden nicht mehr von der Liebe umkleidet. Sie sind uns nur belassen, um uns heilsame Furcht und sehnliches Verlangen nach Sühne und Busse einzuflössen. Unterdessen zeigen sie uns den traurigen Zustand unserer Seele und verursachen nagende Gewissensbisse.

720. c) Wir verlieren auch unsere früheren, durch sehr viele Mühen angehäuften Verdienste. Nur durch anstrengende Busse können wir sie wiedergewinnen. Solange wir in der Todsünde verharren, können wir nichts für den Himmel verdienen. Welche Vergeudung übernatürlicher Güter!

d) Dazu kommt noch die tyrannische Sklaverei, welcher der Sünder von nun an verfällt: Statt der Freiheit sich weiter zu erfreuen, ist er nun Sklave der Sünde, der bösen Leidenschaften geworden, die infolge des Gnadenverlustes entfesselt sind. Sklave der schlechten Gewohnheiten, die sich nur zu bald durch die so schwer zu vermeidenden RÜckfälle bilden. Wer nämlich die Sünde begeht, ist Sklave der Sünde. "Omnis qui .facit peccatum servus peccati est" '. Dann lässt die sittliche Kraft immer mehr nach. Die wirklichen Gnaden werden vermindert, Mutlosigkeit und zuweilen Verzweiflung stellen sich ein. Die arme ~eele ist gänzlich verloren, es sei denn, dass Gott sie im Ubermasse seiner Barmherzigkeit durch seine Gnade den Tiefen des Abgrundes entreisst.

721. 2. Verharrt der Sünder unglücklicherweise in seinem Widerstande gegen die Gnade, folgt die

I Joh. VIII, 34; Vgl. 11 Petr. II, 19.

518 ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE.

Hölle mit allen ihren Schrecken. A) Zunächst die Strafe der Verdammung, eine wohlverdiente Strafe. Unaufhörlich hatte die Gnade den Schuldigen verfolgt. Er aber starb freiwillig in seiner Sünde, d. h. freiwillig von Gott getrennt. Da seine Gesinnung jetzt nicht mehr anders werden kann, so bleibt er von Gott für ewig getrennt. Solange er auf Erden lebte, liessen ihm seine Geschäfte und Vergnügungen nicht Zeit, sich aus ihrer Verstrickung zu befreien und an die Schrecken seiner Lage zu denken. Jetzt aber, da es für ihn weder Geschäfte noch Genüsse gibt, sieht er sich fortwährend der furchtbaren vVirklichkeit gegenÜber. Aus seiner innersten Natur heraus, mit allen Strebungen seines Geistes und seines Herzens, mit seinem ganzen \iVesen fühlt er sich unwiderstehlich zu dem hingezogen, der sein erster Ursprung und sein letztes Ziel, die einzige Quelle seiner Vollkommenheit ist. Zu jenem so liebenswerten und liebenden Vater, der ihn als Kind angenommen hatte, zum Erlöser, der ihn bis zum Tode am Kreuze geliebt. Dann wieder fühlt er sich von einer unüberwindlichen Kraft unerbittlich zurückgestossen. Und diese Kraft ist nichts anderes, als seine eigene Sünde. Durch den Tod ist er erstarrt, in seiner Verfassung durch ihn, den Tod, unveränderlich geworden und, da er im Augenblicke des Todes Gott verwarf, bleibt er ewig von Gott getrennt. Es gibt kein Glück, keine Vervollkommnung mehr. Er bleibt an seine Sünde gekettet und dadurch an alles Niedrige und Entwürdigende. " Discedz'te a me, lIlaledicti! "

722. B) Zu dieser bei weitem schrecklichsten Strafe der Verdammung kommt die Strafe der Sinne. Der Leib war Mitschuldiger der Seele. Er wird auch teilhaben an ihrer martervollen Strafe. Schon die ewige Verzweiflung, die sich der Seele des Verworfenen bemächtigt, verursacht seinem Leibe ein verzehrendes Fieber und einen durch

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 519

nichts zu löschenden, brennenden Durst. Ausserdem ist aber das wirkliche Feuer, so verschieden es auch von dem durch körperliche Brennstoffe genährten, irdischen Feuer sein mag, das Werkzeug der göttlichen Gerechtigkeit zur Züchtigung des Leibes und der Sinne. Nur allzu gerecht ist es, dass man in dem gestraft werde, wodurch man gesÜndigt hat. " Per qure quis peccat, per hrec et torquetur" I. Da der Verworfene in ungeordneter Weise die Geschöpfe geniessen wollte, wird er in ihnen ein Marterwerkzeug finden. Dieses Feuer, das eine verständige Hand entfachte und nährt, wird seine Opfer um so mehr quälen, je mehr sie sich den bösen Lüsten hingegeben haben.

723. C) Weder die eine noch die andere Strafe wird je end~n. Das steigert die Qual der Verworfenen zum Ubermass. Können selbst geringe Leiden durch lange Dauer unerträglich werden, wie ist es dal111 mit jenen Schmerzen, die an und für sich schon so heftig sind und nach Millionen von Jahrhunderten immer erst wieder von neuem anfangen?

Indessen Gott ist gerecht. Gott ist gütig auch in den Strafen, die er den Verdammten auferlegen muss. Die Todsünde muss demnach ein abscheuliches Übel sein, muss sie auf diese Weise bestraft werden, das einzig wirkliche und einzige Übel. Deshalb lieber sterben, als sich mit einer einzigen TodsÜnde beflecken. "Potius mori quam frxdari"! - Damit es uns besser gelinge, sie zu vermeiden, scheuen wir auch die lässliche Sünde.

§ II. Die freiwillige lässliche Sünde.

Vom Gesichtspunkte der Vollkommenheit aus ist ein sehr grosser pnterschied zwischen leichteren Fehlern, die aus Uberraschung und solchen, die

, Weish., XI, 17.

520 ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE.

vorsätzliclt, aus freiern \iVillen und mit voller Zustimmung begangen werden.

724. Fehler aus Überraschung. Selbst Heilige begehen zuweilen solche. Sie lassen sich einen Augenblick hinreissen, denken nicht genug nach oder sind schwachen Willens und bege~.en dann Nachlässigkeiten bei ihren geistlichen Ubungen, U nvorsichtigkeiten, lassen sich zu Urteilen oder Worten gegen die Nächstenliebe oder zu kleinen Entschuldigungslügen hinreissen. Gewiss sind diese Fehler zu bedauern, und eifrige Seelen bereuen sie bitter. Sie bilden jedoch kein Hindernis für die V ollkommenheit. Gott, dem unsere Schwäche bekannt ist, entschuldigt .. sie leicht. "lpse cognovit ftgmentum nos trum. " Ubrigens werden sie fast sofort gesühnt und zwar durch Akte der Reue, der Demut und Liebe, deren Dauer und Freiwilligkeit die Fehler aus menschlicher Schwäche weit übertreffen.

\iVas diese Fehler anbelangt, so suchen wir wenigstens deren Zahl zu vermindern und die Entmutigung zu vermeiden. Das ist alles, was wir tun können. a) Vermindert können sie werden durch W'acltsaml;;eit. Man steige womöglich zu deren Ursache auf und entferne diese, jedoch ohne Hast und ohne übertriebene Sorge, und stütze sich dabei mehr auf die göttliche Gnade als auf eigene Anstrengung. Man bemühe sich besonders, jegliche Neigung zur lässlichen Sünde auszurotten, denn, sagt der hl. Franz von Sales r, "neigt das Herz zur Sünde, so geht die Süssigkeit der Andacht, ja die Andacht selbst bald verloren. "

725. b) Mit aller Sorgfalt vermeide man aber die Entmutigung, die Erbitterung jener, welche in Zorn geraten, weil sie zornig waren und sich ärgern, weil sie sich geärgert haben 2. Solche Regungen kommen

, PMlolhea, I. B, 22. Kap. - 2 Philothea, 3. B. 9. Kap.

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 521

eigentlich aus der Eigenliebe. Man betrübt sich und gerät in Unruhe, weil man feststellt, man sei noch so unvollkommen. Um diesen Fehler zu vermeiden, müssen wir unsere Fehler mit Milde betrachten, wie wir die Fehler anderer ansehen. Die Fehler und Schwächen müssen wir allerdings verabscheuen, jedoch mit ruhigem Hass und dem lebhaften Bewusstsein unserer Schwäche und unseres Elends, mit dem festen und ruhigen Willen, diese Fehler mögen zur Ehre Gottes beitragen, indern wir die gegenwärtige Pflicht mit um so grösserer Treue und Liebe erfÜllen.

Die vorsätzlich begangenen lässlichen SÜnden bedeuten ein grosses Hindernis für den geistlichen Fortschritt. Sie müssen energisch bekämpft werden. Um uns davon zu Überzeugen, werfen wir einen Blick auf ihre Bosheit und ihre Wirkungen.

1. Bosheit der freiwilligen lässlichen SÜnde.

726. Diese SÜnde ist ein sittliches Übel, eigentlich das grösste nach der Todsünde. Sie wendet uns zwar nicht von unserm Ziele ab, aber sie verzögert unser Fortschreiten. Sie bewirkt Verlust kostbarer Zeit und ist vor allem eine Beleidigung Gottes. Darin liegt hauptsächlich ihre Bosheit.

727. Sie ist tatsächlich Qngehorsam gegen Gott, zwar ein leichter, aber mit Uberlegung begangener. Im Lichte des Glaubens ist sie etwas Hassenswertes, da sie die unendliche Majestät Gottes angreift.

A) Sie ist eine Beleidigung, eine Beschimpfung Gottes. Wir wägen gegeneinander ab, einerseits, den Willen Gottes und seine Ehre, andererseits, unsere Laune, unser Vergnügen, unsere kleinliche Ruhmsucht und wir wagen es, uns Gott vorzuziehen! Welch' eine Schmach! Ein unendlich weiser und gerechter Wille wird dem unsrigen geopfert,

522 ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE.

der so leicht irrt und so launisch ist! "Das ist," schreibt die hl. Therese I, "als sagte man; " Herr, missfällt dir auch diese Handlung, ich tue sie doch. Ich bin mir völlig bewusst, du siehst sie. Ich weiss sehr wohl, du willst sie nicht. Ich folge aber lieber meiner Lust und Laune als deinem Willen. Und eine solche Handlungsweise soll etwas Geringes sein? Was mich betrifft, mag der Fehler auch noch so gering an sich sein, ich halte es fÜr etwas Schweres, sehr Schweres."

7 2 8. B) Durch unsere Schuld wird daher die äussere Eitre Gottes vermindert. Wir wurden erschaffen, um durch vollkommnen, der Liebe entspringenden Gehorsam gegen seine Gebote seine Ehre zu fördern. Verweigern wir ihm nun, selbst in geringfügigen Dingen den Gehorsam, so berauben wir ihn irgendwie dieser Ehre. Anstatt mit Maria zu verkünden, ihn in allen Werken verherrlichen zu wollen "Magnijicat anima mea Dominum ", weigern wir uns positiv, ihn in dieser oder jener Sache zu verherrlichen.

C) Ebendeshalb ist sie auch Undank. Gott hat uns als seine Freunde mit reichlicheren vVohltaten Überhäuft und wir wissen, er verlangt von uns Liebe und Dankbarkeit. Wir aber verweigern ihm irgend ein bestimmtes Opfer. Anstatt sein Wohlgefallen anzustreben, scheuen wir sein Missfallen nicht. Es ist klar, dass dadurch Erkaltung der Freundschaft Gottes uns gegenÜber eintritt. Gott liebt uns ohne Vorbehalt und verlangt dafÜr, dass wir ihn aus ganzer Seele lieben. "Diliges Dominu17l Deum tuum ex toto corde tuo et in tota anima tua et in tota mente tua. " 2

Wir geben uns nur teilweise hin. Etwas behalten wir uns vor. Obgleich wir uns seine Freundschaft

, ehemin de la perfection, Kap. XLI, S. 296-297. 2 Matth. XXII, 37.

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 523

wahren wollen, feilschen wir mit ihm um die unsrige, geben ihm nur ein geteiltes Herz. Es ist klar, dass es Mangel an ZartgefÜhl, Begeisterung, an Grossmut ist, wodurch das innige Verhältnis zu Gott getrÜbt werden muss.

Ir. vVirkungen der freiwilligen lässlichen SÜnde. 729. I. In diesem Leben beraubt die häufige und vorsätzlich ):>egangene lässliche Sünde unsere Seele 11ieler Gnaden. Sie vermindert nach und nach den Eifer und fÜhrt zur TodsÜnde.

A) Die lässliche SÜnde beraubt die Seele zwar nicht der heiligmachenden Gnade, auch nicht der göttlichen Liebe. Sie beraubt uns aber der neuen Gnade, die uns für den Widerstand gegen die Versuchungen zugedacht war und daher des Gloriengrades, den wir durch Treue uns hätten fÜr den Himmel erwerben können. Ist das nicht ein ungeheurer Verlust, der Verlust eines Schatzes, der die ganze Welt an Wert übertrifft?

730. B) Sie bedeutet Abnahme an Eifer, d. h. an jener Grossmut, die sich Gott hingibt. Diese Gesinnung der vollständigen Hingabe setzt nämlich ein erhabenes Ideal und beharrtiche Anstrengungen im Erstreben desselben voraus. Die Gewohnheit der lässlichen Sünde ist aber damit unvereinbar.

a) Nichts schwächt das uns vorschwebende Ideal so sehr wie die Neigung zur Sünde. Anstatt bereit zu sein, alles für Gott zu tun und hohe Ziele zu verfolgen, halten wir uns absichtlich auf dem Wege auf, ja, am Abhange, um uns in irgend einem kleinen, verbotenen Genuss zu ergehen. So verlieren wir kostbare Zeit. Wir hören auf, nach oben zu schauen, vergnügen uns damit, einige bald verblühende Blumen zu pflücken. Dann fühlen wir Ermüdung. Die Höhen der Vollkommenheit, selbst jene, zu denen wir persönlich berufen waren, erscheinen uns zu fern und ZlI steil. Wir sind der Ansicht, das Ziel brauche nicht so hoch gesteckt zu werden, das Seelenheil könne auch auf leichtere Weise gewirkt werden. Das ehemals erblickte Ideal erscheint uns nicht mehr erstrebenswert. Schliesslich sagt man sich, diese Regungen der

524 ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE.

Selbstgefälligkeit, diese oder jene kleine Sinnlichkeit, diese sinnlichen Freundschaften, dieses Üble Nachreden seien einfach unvermeidlich. Damit müsse man sich abfinden. b) Dann erlahmt die Schwungkraft nach oben. Ehedem wandelten wir leichten Schrittes. Wir waren von der Hoffnung durchdrungen, das Ziel zu erreichen. ] etzt beginnt die Last des Tages und der Ermüdung uns niederzudrücken. Wollen wir den Aufstieg wieder aufnehmen, so hindert uns die Fessel der lässlichen Sünden am Fortschreiten. Der an den Boden gefesselte Vogel versucht umsonst, sich aufzuschwingen. Verwundet fällt er zur Erde zurück. So ist es mit den Seelen, die von freiwillig getragenen Fesseln gehindert sind. Bald fallen sie wieder zurück, mehr oder weniger verwundet, so oft sie den vergeblichen Versuch machen, sich aufzuschwingen. Manchmal kommt es uns zwar so ,vor, als besässen wir neue Schwungkraft. Andere Fesseln jedoch halten uns leider zurück. Es fehlt an der nötigen Beharrlichkeit, alle nacheinander zu sprengen. So erkaltet die Liebe in besorgniserregender Weise.

731. C) Dann droht uns die grosse Gefahr, nach und nach in die TodsÜnde hinabzugleiten. Die Neigung zur verbotenen Lust wird stärker, und andererseits werden die göttlichen Gnaden geringer. So naht der Augenblick, in welchem das Schlimmste zu befürchten ist.

- a) Die .Nezg·ungett zur bb'sen Lust werden stärker. Je mehr man dieser hinterlistigen Feindin nachgibt, desto mehr verlangt sie in ihrer Unersättlichkeit.

Heute wird aus Trägheit die Betrachtung um fünf Minuten verkürzt. Morgen um zehn. Heute fordert die Sinnlichkeit nur einige kleine U nvorsichtigkeiten; morgen tritt sie frecher rauf und verlangt mehr. Wo innehalten auf diesem abschüssigen Wege? Zur Beruhigung sagt man sich, es seien ja nur lässliche Sünden. Leider aber nähern sie sich allmählich den schweren. Neue Unvorsichtigkeiten verwirren immer mehr die Einbildungskraft und die Sinne. Das ist ein Feuer, das unter der Asche glüht. Eine am Busen erwärmte Schlange, die durch ihren Biss ihr Opfer vergiften wird. - Gefahr droht um so mehr, als man gewohnt ist, sich ihr auszusetzen und sie weniger fürchtet. Man wird mit ihr vertraut, lässt eine nach der anderen die Schranken fallen, welche der Festung des Herzens Schutz boten. Bald ist der Augenblick da, der dem Feinde bei Sturm" angriff Einlass gewährt.

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 525

732. b) Das ist um so mehr zu befÜrchten, da Gottes Gnaden gewöhnlich im Verhältnisse zu unserer Untreue abnehmen. I) In der Tat ist es ein Gesetz der Vorsehung, dass die Gnaden uns je nach unserer Mitwirkung verliehen werden. " Secundum cujusque dispositionem et cooperationem." In diesem Sinne sagt die HI. Schrift;" .. Wer hat, dem wird gegeben werden und er wird Uberfluss haben. Wer aber nicht hat, dem wird auch das, was er hat, genommen werden." "Quz' enz'1JZ habe! dabitur ei et abundabz't. Qui auteJI'Z non habet, et quod habet auferetur ab eo." I Durch Anhänglichkeit an die lässliche Sünde nun widerstehen wir der Gnade, setzen ihrem Wirken ein Hindernis in unserer Seele, erlangen also immer weniger Gnade. Konnten wir mit reichlichen Gnaden den bösen Neigungen der Natur nicht widerstehen, werden wir es mit geringeren Gnaden und Kräften imstande sein? 2) Lässt es Übrigens eine Seele an Sammlung und Grossmut fehlen, so wird sie wohl kaum jemals sich des inneren Antriebes der Gnade bewusst werden. Solche Regungen werden bald durch den Lärm der erwachenden Leidenschaften erstickt. 3) Ausserdem kann uns die Gnade nur um den Preis von Opfern heiligen. Diese werden bedeutend schwerer gebracht, hat man sich durch Anhänglichkeit an lässliche Sünden an gewisse GenÜsse gewöhnt.

733. Mit P. L. Lallemant 2 kann man demnach folgern ; "Das Verderben der Seelen kommt von der Anhäufung der lässlichen Sünden. Diese verursachen Abnahme des Lichtes und der göttlichen Einsprechungen, der Gnaden und inneren Tröstungen, des Eifers und Mutes beim Widerstand gegen die Angriffe des Feindes. Daraus ergibt sich Verblendung, Schwäche, häufige Niederlagen, böse Gewohnheit, Gefühllosigkeit. Hat erst einmal die Neigung fest in uns Wurzel gefasst, sündigt man ohne das Sündhafte seiner Handlung zu empfinden.

'Milfth. XIII, 12.

2 La docÜ-ine spirituelle, III. Prillcipe, 2. Kap. A. I, § 3.

526 ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE.

734. 2. Die Wirkungen der lässlichen SÜnde im Jenseits I zeigen uns, wie sehr wir sie fÜrchten müssen. Um sie zu sühnen, mÜssen viele Seelen lange Jahre im Fegfeuer zubringen. V"as leiden sie an diesem Ort der Sühne?

A) Sie leiden das unerträglichste aller Übel, die Trennung von Gott. Diese Strafe ist zwar nicht ewig und darin unterscheidet sie sich von den Höllenstrafen. Jedoch, während längerer oder kÜrzerer Zeit, je nach der Zahl und Schwere der Sünden, bleiben diese gottliebenden Seelen von Gottes Anschauung und Besitz getrennt. Von allen Freuden und Zerstreuungen der Erde sind sie fern. Fortwährend denken sie an Gott. Verlangen inbrÜnstig danach, sein Antlitz zu sehen. Dabei leiden sie unaussprechliche Qualen. Jetzt sehen sie ein, ausser ihm können sie nicht glücklich sein, und gleichzeitig erhebt sich vor ihnen als unÜbersteigbares Hindernis die Menge der nicht genügend gesÜhnten, lässlichen SÜnden. Sie sind dabei so sehr von der Notwendigkeit der zur Anschauung Gottes erforderten Reinheit durchdrungen, dass sie sich schämen wÜrden, ohne diese Reinheit vor ihm zu erscheinen und dass sie nie das Himmelreich betreten möchten, solange noch eine Spur der lässlichen Sünde an ihnen sei.2 Sie befinden sich also in gewaltsamer Lage, die sie zwar verdient zu

, Wir erwähnen nicht die zeitlichen Strafen, womit Gott die Sünde bestraft. Die Hl. Schrift kommt oft darauf zurück, besonders das Alte Testament. Handelt es sich aber darum, zu bestimmen, ob diese oder jene Strafe als Züchtigung der lässlichen Sünde aufzufassen sei, so kann man nur Mutmassungen Raum geben. Es ist also besser, bei diesem Punkte nicht zu verweilen, wie gewisse geistliche Schriftsteller es tun und leichten Fehlern furchtbare Strafen zusprechen. So sei Lots Weib um eines Fehlers der Neugierde wegen in eine Salzsäule verwandelt und Oza vom Tode getroffen worden, weil er die Arche berührt hatte.

2 Könnte die im Fegfeuer leidende Seele ein anderes schrecklicheres Feuer finden als das, in welchem sie ist, sie würde sich schnell hineinstürzen, so heftig ist die Liebe, die zwischen Gott und ihr besteht. So sehr wünscht sie, sich möglichst bald von allem zu befreien, was sie vom höchsten Gute trennt.

(Worte der hl. KATH4RINA VON GENUA. Siehe Purgatorio. IX. Kap.)

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 527

haben einsehen, ihnen aber grosse Qualen verursacht.

735. B) Nach der Lehre des hl. Thomas durchdringt sie ausserdem ein schnell zehrendes Feuer, das ihre Tätigkeit beeinträchtigt, ihnen physischen Schmerz erzeugt und so die strafbaren LÜste sÜhnt, denen sie gefrönt hatten. Allerdings nehmen sie diese Prüfungen von Herzen gern an, denn sie begreifen, dass sie ihnen zur Vereinigung mit Gott notwendig seien.

" Weil sie erkennen ", sagt die hl. Katharina von Genua', "das Fegfeuer bezwecke, sie von ihren Flecken ZU reinigen, werfen sie sich hinein und sind der Meinung, es sei ein Beweis von Barmherzigkeit, sie einen Ort finden zu lassen, an welchem sie sich von ihren so klar erkannten Hindernissen befreien können." Aber diese bereitwillige Annahme hindert nicht die vielen Leiden dieser Seelen. " Die Zufriedenheit der Seelen im Fegfeuer vermindert ihre Leiden nicht im geringsten. Weit davon entfernt. Gerade der aufgeschobene Genuss der Liebe, verursacht ihr Leiden und dieses nimmt zu im Verhältnis zur Vollkommenheit der Liebe, ZU der Gott sie befähigt hatte. " 2

Dennoch ist Gott nicht nur gerecht, sondern auch barmherzig! Er liebt diese Seelen mit aufrichtiger, zärtlicher, väterlicher Liebe. Er wünscht sehnlichst, sich ihnen für ewig hinzugeben. Tut er es nicht, so geschieht das eben wegen der absoluten Unvereinbarkeit seiner Heiligkeit mit dem geringsten Makel, der geringsten lässlichen SÜnde. Wir werden also nie zu weit gehen können in unserem Hasse gegen sie, nie zu weit in unserem BemÜhen, sie zu meiden, in unserer SÜhne durch Busse.

11. ABSCHNITT. BEWEGGRÜNDE UND MITTEL, DIE SÜNDE ZU SÜHNEN.

r. BeweggrÜnde zur Busse.

Drei HauptgrÜnde verpflichten uns zur Busse für unsere Sünden. Pflicht der Gerechtigkeit in be-

, ap. ci!., C. XII. - Man lese die ganze Abhandlung über das Fegfeuer. - 2 op. cit., C. VIII.

528 ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE.

zug auf Gott. - Pflicht, die sich aus unseref'Einverleibung in J esus Christus ergibt. Pflicht des eigenen Nutzens und der Lz·ebe.

1. PFLICHT DER GERECHTIGKEIT IN BEZUG AUF GOTT.

736. Die Sünde ist eine wahre Ungerechtigkeit, denn sie beraubt Gott eines Teiles der äusseren Ehre, auf die er Anspruch hat. Sie muss also von rechtswegen gesÜhnt werden. Diese Sühne besteht darin, dass wir nach dem Masse unseres Vermögens ihm die Ehre und den Ruhm, deren wir ihn durch eigene Schuld beraubten, zurückerstatten. Da nun die Beleidigung unendlich ist, wenigstens objektiv genommen, kann sie nie vollständig gesÜhnt werden. Wir mÜssen deshalb unser Leben lang SÜhne leisten. Diese Verpflichtung ist um so dringender, je mehr wir mit Wohltaten überhäuft wurden und je grössere und je mehr SÜnden wir begingen.

Bossuet 1 bemerkt : "Haben wir nicht wirklichen Grund zu fürchten, Gottes Güte, die so unwürdigerweise missbraucht wurde, werde sich in unerbittlichen Zorn gegen uns verwandeln? Wendet sich seine gerechte Rache so sehr gegen die Heiden ... wird dann sein Zorn sich nicht um so furchtbarer gegen uns äussern, da es einem Vater viel näher geht, treulose Kinder als schlechte Diener zu haben?" Daher sollen wir, fügt Bossuet hinzu, gegen uns selbst für Gott Partei. ergreifen. "N ehmen wir so gegen uns für die göttliche Gerechtigkeit Stellung, so nötigen wir seine Barmherzigkeit, gegen seine Gerechtigkeit für uns Partei zu ergreifen. Je mehr wir das Elend, in das wir gefallen sind, beweinen, desto mehr nähern wir uns dem von uns verlorenen Gute. Gott wird das Opfer des zerknirschten Herzens barmherzig 'annehmen, bringen wir es ihm als Sühne für unsere Missetaten dar. Und ohne darauf zu achten, dass die Strafen, die wir uns auferlegen, kein entsprechendes Sühnegeld sind, wird dieser gütige Vater nur darauf sehen, dass sie freiwillig übernommen wurden." Unsere Busse wird übrigens wirksamer, vereinigen wir sie mit den Verdiensten Jesu Christi.

1 Premier pantfgyrique de S. Fr. de Paule, ed. Lebarcq, t. IT,

S. 24-25.

ZWEITES KAPITEL. _. VON DER BUSSE. 529

2. PFLICHT, DIE SICH AUS UNSERER EINVERLEIBUNG IN CHRISTUS ERGIBT.

737. Durch die hl. Taufe sind wir Christus einverleibt worden (N. 143), und mÜssen durch die Teilnahme an seinem Leben auch seine Gesinnungen teilen. Nun hat J esus, obwohl er unfähig war, zu sündigen, als Haupt eines mystischen Leibes die Last und, sozusagen, die Verantwortung fÜr unsere SÜnden auf sich genommen. "Posuit Dominus in eo itziquitatem omnium nos trum. "I Das ist der Grund, weshalb er vorn ersten Augenblick seiner Empfängnis an bis zum Kalvarienberge ein Bussleben führte. Er wusste, die Opfergaben des Alten Bundes vermochten seinen Vater nicht zu versöhnen. Darum bot er sich selbst als Opfer an Stelle aller Opfergaben an. Alle seine Handlungen sollten durch das Schwert des Gehorsams hingeopfert werden. Nach einern langen Leben fortgesetzten Martyriums stirbt er dann als Schlachtopfer seines Gehorsams und seiner Liebe am Kreuze." Factus obediens usque ad mortem, mortem autem crucz's." Es ist sein Wunsch, dass seine Glieder zur Reinigung von ihren SÜnden sich mit seinem Opfer vereinigen und SÜhnopfer, wie er, werden. "Um der Erlöser des Menschengeschlechtes zu werden, wollte er dessen Schlachtopfer sein. Der Einheit seines mystischen Leibes wegen müssen auch alle seine Glieder wie das geopferte Haupt lebendige Schlachtopfer werden. 2 Es ist unzweifelhaft, hat J esus trotz seiner Unschuld unsere SÜnden durch eine so strenge Busse gesÜhnt, so mÜssen wir, die Schuldigen, uns seinem Opfer mit um so grösserer Bereitwilligkeit beigesellen, je mehr wir gesÜndigt haben.

738. Um uns diese Pflicht zu erleichtern, nimmt

, Jsaias, LlII, 5.

2 BOSSUET, I. Sermon jour la Purijicatio1l, ed. Lebarcq, t. IV,

S. 52.

530 . ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE.

Jesus durch seinen göttlichen Geist Wohnung in uns und teilt uns seine Opfergesinnung mit.

"Beim Lesen der Psalmen, " sagt Olier, , "muss man also in David elen Bussgeist ehren und mit grosser Sammlung in religiöser Ehrfurcht die Gesinnungen betrachten, die der innere Geist J esu Christi, die QueUe aller Busse, in diesem Heiligen vorbereitet hat. Man bitte, daran Anteil nehmen zu dürfen und zwar soll diese Bitte in aller Demut des Herzens, inständig, mit Ausdauer und Eifer, besonders aber im demütigen Vertrauen geschehen, dieser Geist werde auch uns mitgeteilt." Wir werden zwar das Wirken dieses göttlichen Geistes nicht immer fÜhlen, denn er wirkt oft in unmerklicher Weise, aber bitten wir demütig um ihn, so werden wir ihn erhalten und er bewirkt in uns die Gleichförmigkeit mit dem büssenden J esus, so dass wir mit ihm unsere Sünden hassen und büssen. Dadurch wird unsere Busse viel wirksamer, denn sie nimmt Anteil an der Kraft des Erlösers. Wir sühnen dann nicht allein. Er ist es, der in uns und mit uns sühnt. "Jede äussere Busse," sagt Olier, 2 "die nicht aus dem Geiste J esu Christi hervorgeht, ist keine wahre und echte Busse. Man kann sich in Strengheiten üben, ja selbst in grossen Busswerken, kommen sie aber nicht von dem in uns büssenden Heilande, so können es keine christlichen Bussübungen sein. Nur durch ihn allein tut man Busse. Er hat damit hier auf dieser Erde an seiner eigenen Person begonnen und setzt sie in uns fort ... er belebt unsere Seele mit den inneren Gesinnungen der Vernichtung, der Scham, des Schmerzes, der Reue, des Eifers gegen uns selbst und der Kraft, um in uns die Busse und das Mass der Sühne zu bewirken, das Gottvater von J esus Christus in unserem Fleische empfangen will." Diese Vereinigung mit dem büssenden J esus enthebt uns demnach weder der Bussgesinnung, noch der Busswerke, gibt ihnen aber grösseren Wert.

3· EINE PFLICHT DER LIEBE.

Busse ist Liebespßicltt, sowohl in bezug auf uns selbst, als auch in bezug auf den Nächsten.

739. A) In bezug auf uns selbst. Die Sünde lässt in der Seele schlimme Folgen zurück, denen wir durchaus entgegenwirken müssen. a) Ist auch schon die Scltuld oder der Fehler vergeben, so

, Introduction, VII. Kap.

20p. cit., VII. Kap., 11. Abschnitt.

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 531

haben wir im allgemeinen eine mehr oder weniger lange Strafe zu ertragen, je nach der Schwere und Zahl der Sünden, wie auch je nach der Innigkeit unserer Reue im Augenblicke unserer RÜckkehr zu Gott. Diese Strafe muss in diesem oder jenem Leben abgebÜsst werden. Nun ist es aber viel nÜtzlicher, sie hienieden zu sühnen. Je schneller und vollkommener wir diese Schuld abtragen, um so mehr wird. unsere Seele zur Vereinigung mit Gott befähigt. Ubrigens ist die Sühneleistung in diesem Leben auch leichter, da das gegenwärtige Leben eine Zeit der Barmherzigkeit ist. Sie ist fruchtbarer, weil die Sühnakte gleichzeitig verdienstliche Handlungen sind. (N. 209.) Wir beweisen also Liebe zu unserer Seele, wenn wir bereitwillig und grossmütig Busse tun.

b) Ausserdem lässt die SÜnde eine beklagenswerte Leichtigkeit zurück, neue Fehler zu begehen, und zwar ebendeshalb, weil sich die ungeordnete Liebe zur Lust steigert. Nun steuert nichts besser dieser Unordnung, als die Tugend der Busse. Durch sie ertragen wir die Mühseligkeiten, welche die Vorsehung uns schickt, tapfer; sie regt uns zu Entbehrungen und Strengheiten, die ohne Schaden fÜr unsere Gesundheit durchführbar sind, an und vermindert auf diese Weise allmählich die Liebe zur Lust. Sie flösst uns Scheu vor der SÜnde ein, die solche Sühne fordert. Sie veranlasst uns auch, die unseren bösen Gewohnheiten entgegengesetzten Tugendakte zu vollziehen, trägt somit zu unserer Besserung bei und verleiht yns dadurch mehr Sicherheit für die Zukunft. I Ubung der Busse ist infolgedessen eine Liebestat gegen uns selbst.

I Das lehrt das Konzil von Trient. (Sess. XIV, cap. 8.) : "Procul dubio enim magnopere a peccato revocant, et quasi freno quodam coercent lue satisfactorite ptEnte, cautioresque et vigilantiores in futurum pami/entes ejficiunt : medentur quoque peccatorum reliquiis, et vitiosos habitus, male vivendo camparatos, contrariis virtutum action ibus tolluni. "

532 ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE.

740. B) Busse ist auch eine Liebestat in bezug auf den Nächsten. a) Durch unsere Einverleibung in Christus sind wir alle Geschwister. Alle solidarisch verantwortlich, die einen fÜr die anderen. (N. 148.) Da nun unsere SÜhneleistungen andern nützlich sein können, wird die Liebe uns nicht antreiben, nicht nur fÜr uns selbst, sondern auch für unsere BrÜder Busse zu tun? Ist das nicht das beste Mittel, ihre Bekehrung zu erreichen oder, falls sie deren nicht mehr bedÜrfen, ihre Beharrlichkeit? Ist das nicht der beste Dienst, den wir ihnen leisten können, viel nÜtzlicher als alle zeitlichen GÜter, die wir ihnen schenken könnten? Heisst das nicht, dem göttlichen Willen entsprechen, der uns alle zu Kindern angenommen hat und uns befiehlt, den Nächsten wie uns selbst zu lieben, seine Fehler wie die unsrigen zu sÜhnen?

741. b) Diese Sühnepflicht fällt besonders den Priestern zu. Für sie ist es Standespflicht, Opfer zu bringen, nicht nur für sich, sondern auch für die ihnen anvertrauten Seelen. " Prius pro suis delictis, deinde pro pO/JUli" '. Aber auch ausserhalb der Priesterschaft gibt es im Kloster oder in der Welt grossmütige Seelen, die sich hingezogen fühlen, sich zur Sühne für die SÜnden der anderen als Opfer anzubieten. Es ist das ein sehr edler Beruf, wodurch man dem Erlösungswerke Christi beigesellt wird. Man möge ihm mutig folgen, jedoch nicht ohne bei einem klugen Seelenführer sich Rat geholt zu haben. Mit ihm bespreche man sich über die Werke der Sühne, denen man sich hinzugeben wünscht. 2

742. Zum Schluss bleibt noch zu bemerken, der Bussgeist sei nicht nur eine den Anfängern und fÜr kurze Zeit auferlegte Pflicht. Hat man erst begriffen, was die Sünde ist, welch' unendliche Beleidigung sie der göttlichen Majestät zufügt, so hält man sich fÜr verpflichtet, das ganze Leben hindurch Busse zu tun, denn das Leben selbst ist zu kurz,

, Hebr. VII, 27 .

• P. PLUS, L'ldle reparatrice, 3. Buch. - L. CAPELLE, Les A1lles genereuses.

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 533

um eine unendliche Beleidigung zu sühnen. Man darf also nie ablassen, Busse zu tun.

Dieser Punkt ist äusserst wichtig. Nachdem P. Faber lange darüber nachgedacht hatte, weshalb so viele Seelen so wenig Fortschritt machen, kam er endlich zu dem Schluss, der Grund liege in dem "Mangel eines durch das Denken a,n die Sünden hervorgerufenen dauernden Schmerzes.' Ubrigens wird das durch das Beispiel der Heiligen bestätigt, die nie aufhörten, die ihnen ehemals entschlüpften, zuweilen sehr leichten Fehler zu sühnen. Das beweist auch die Führung Gottes bei jenen Seelen, die er zur Beschauung erheben will. Nachdem sie durch eifrige Betätigung der Busse lange Zeit an ihrer Reinigung gearbeitet haben, sendet er ihnen zur vollständigen Läuterung jene passiven PrÜfungen, die wir beim Einigungswege schildern werden. Es sind in Wahrheit einzig die vollkommen reinen oder geläuterten Herzen, die der Siissigkeiten der göttlichen Vereinigung teilhaft werden können." Beati mundo corde quoniam ipsi Deum videbunt. "

I r. Die Übung der Busse.

Zur vollkommeneren Übung muss man sich selbstverständlich mit dem bÜssenden J esus vereinigen und ihn bitten, in uns mit seinem Opfergeist zu wohnen. (N. 738) Dann sich seinen Gesinnungen und seinen Busswerken beigesellen.

743. Diese Gesinnungen finden treffenden Ausdruck in den Psalmen, besonders im Miserere.

a) Zunächst das gewohnte, schmerzliche ZurÜckdenken an die SÜnden. " P eccatum meum contra mt: est sem per. "2 Es ist zwar nicht gut, sie einzeln ins Gedächtnis zurückzurufen - das könnte Verwirrung hervorrufen und neue Versuchungen verur-

, Das beweist er ausführlich in "Progres de I'Ame", 19. Kap., und fügt bei: " Ebenso wie jeder Kultus zerfallt, dessen Grundlage nicht die Gesinnungen des Geschöpfes für seinen Schöpfer sind ... , ebenso wie die Bussübungen zu nichts führen, wenn man sie nicht in Vereinigung mit] esus Christus verrichtet..., ebenso hat die Heiligkeit das Prinzip ihres Wachstums verloren, wird sie vom steten Bedauern, gesündigt zu haben, getrennt. Die Grundlage des Fortschrittes ist tatsächlich nicht die Liebe allein, sondern die aus der Verzeihung hervorgehende Liebe. -: 2 Ps. L, 5.

534 ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE.

sachen - aber man soll sich derselben im grossen und ganzen erinnern und dadurch besonders Reue und Beschämung im Herzen wachrufen.

Wir beleidigten Gott in seiner Gegenwart "et malum coram te feci" , Gott, der die Heiligkeit selbst ist und das Böse hasst. Gott der ganz Liebe ist und den wir durch Entweihung seiner Güter beleidigten. Nun können wir nur noch seine Barmherzigkeit anflehen, uns zu verzeihen. Wir müssen das oft tun. "Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam" 2. Wir hoffell zwar, Gott habe uns bereits verziehen, jedoch im Verlangen nach noch grösserer Reinheit bitten wir Gott demütig, uns noch mehr im Blute seines Sohnes zu reinigen. "AmjJlius lava me ab iniquitate mea et a jJeccato meo munda 11le. "3. Um uns noch inniger mit ihm zu vereinigen, wollen wir alles Sündhafte in uns zerstören. Keine Spur mehr soll davon Übrig bleiben. Wir wünschen sehnliehst Erneuerung des Geistes und des Herzens und Wiederkehr des Glückes eines guten Gewissens. 4

744. b) Zu dieser schmerzlichen Erinnerung gesellt sich das GefÜhl immerwährender Scham. " Operuit con.fusio faciem meam." 5 Diese Beschämung empfinden wir vor Gott, gleichwie Jesus Christus vor seinem Vater die Schande unserer Beleidigungen ertrug, besonders im Ölgarten und auf dem Kalvarienberge. Wir empfinden sie vor den Menschen, weil wir, mit Verbrechen beladen, uns in der Versammlung der Heiligen sehen. Wir schämen uns vor uns selbst, verspÜren Widerwillen gegen uns selbst und sprechen aufrichtig mit dem verlorenen Sohne ; " Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und gegen dich!" 6 Und mit dem Zöllner; ,,0 Gott erbarme dich meiner, der ich ein SÜnder bin! " 7

745. c) Dadurch entsteht heilsame Furclzt vor der SÜnde, ein tiefer Abscheu gegen alle dazu führenden Gelegenheiten. Denn trotz unseres guten Willens bleiben wir Versuchungen und RÜckfällen ausgesetzt.

, Ps. L, 6. - 2 Ps. L, 3. - 3 Ps. L, 4. - 4 Ps. L, 10-14.

5 Ps. LXVIII, 8. - 6 Lukas, XV, 18. - 1 Lukas, XVIII, 18.

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 535

Wir verharren somit in ausserordentlichem Misstrauen gegen uns selbst und wiederholen vom Grunde des Herzens das Gebet des hl. Philipp N eri : " Mein Gott, hüte dich vor Philipp. Er könnte dich sonst verraten!" Und wirfügen hinzu: " Lass uns nicht in Versuchung fallen! " Et ne nos inducas in tentationem. " Dieses Misstrauens wegen sehen wir die gefährlichen Gelegenheiten voraus, in denen wir unterliegen könnten, wir erkennen die positiven Mittel zur Sicherung der Beharrlichkeit und wir werden wachsam, um die kleinsten Unvorsichtigkeiten zu vermeiden. Dabei hüten wir uns sorgfältig vor Entmutigung. Je mehr wir unserer Hilflosigkeit uns bewusst werden, desto mehr vertrauen wir auf Gott. Wir tragen die feste Überzeugung in uns, dass wir durch die Wirksamkeit seiner Gnade siegen werclen, namentlich, wenn wir zu diesen Gesinnungen Werke der Busse hinzufügen.

Irr. Die Werke der Busse.

746. So beschwerlich diese We1'ke auch sein mögen, so werden sie uns leicht vorkommen, wenn wir stets Folgendes denken ; "Ich bin ein der Hölle oder dem Fegfeuer entkommener Sträfling. Ohne die Barmherzigkeit Gottes wäre ich schon dort, um die Strafe zu erleiden, die ich nur allzu sehr verdient habe. Es gibt demnach nichts, das zu ,-erdemÜtigend, zu beschwerlich fÜr mich wäre. "

Die hauptsächlichsten, zu verrichtenden Busswerke sind

747. 1° Die anfangs ergebene, später herzliche und freudige Annahme aller Kreuze, welche die Vorsehung uns senden mag. Das Konzil von Trient lehrt, es sei ein hervorragender Beweis der Liebe Gottes zu uns, dass er die Geduld, mit der wir die von ihm Über uns verhängten, zeitlichen Übel annehmen, als SÜhne fÜr unsere SÜnden gütig anerkennen will. I Haben wir also physische oder seelische Prüfungen zu erdulden, wie z. B. Rauheiten des \iVetters, Krankheiten, Schicksalsschläge,

X ,. Sed etiam, (quod maXilllUllZ amorz's a1;fumentum est) temporalibus jta.g-ellis a Deo inflictis apud Dez"" Palrem per ehristum jesltTn sa,isjaare valeamus ". Sess. XIV, cap. 9. DENZING., 906.

536 ZWEITES KAPITEL.- VON DER BUSSE.

Misserfolge, Verdemütigungen, so nehmen wir alle diese Leiden in sanfter Ergebung an, statt uns darüber bitter zu beklagen, wie die Natur es eingibt. Seien wir Überzeugt, unserer Sünden wegen verdienen wir sie, und Geduld inmitten der Heimsuchungen ist eines der besten Mittel, um Sühne zu leisten. Anfangs wird das nur einfach Ergebung sein. Wir werden erkennen, dass die Leiden dadurch erträglicher und fruchtbarer werden. Allmählich werden wir deshalb dazu kommen, sie tapfer, ja, sogar freudig zu ertragen und glücklich sein, auf diese Weise unser Fegfeuer abzukÜrzen, dem göttlichen Erlöser am Kreuze ähnlicher zu werden und Gott, den wir beleidigten, zu verherrlichen. Dann wird die Geduld reife FrÜchte tragen und unsere Seele vollständig rein gestalten, gerade deshalb, weil sie ein Werk der Liebe sein wird. "Remittuntur ei peccata multa, quoniam dilexit multum. " I

748. 2° FÜgen wir zu dieser Geduld treue ErfÜllung der Standespßichten im Geiste der Busse und SÜhne. Der Gehorsam ist das Opfer, welches Gott am wohlgefälligsten ist. " Melior est obedientia quam victimre." 2 Nun ist die Standes pflicht fÜr uns der offenbare Ausdruck des göttlichen Willens. Ihr so vollkommen wie möglich nachkommen, heisst also, Gott das vollkommenste Opfer, ein fortwährendes SÜhnopfer darbringen, da wir von Morgen bis Abend von dieser Pflicht in Anspruch genommen werden. Das ist sicher wahr bezÜglich der in Gemeinschaft lebenden Personen. Durch treuen Gehorsam ihren allgemeinen oder besonderen Regeln gegenÜber, durch mutige Befolgung alles dessen, was ihnen von ihren Vorgesetzten befohlen oder geraten wird, vermehren sie die Akte von Gehorsam, Opfer und Liebe und können mit dem hl. J ohannes Berchmans sagen, das Gemeinschaftsleben sei für

• Matth., IX, 2. -' 1. B. d. Könige, XV, 22.

ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE. 53,

sie das vorzÜglichste aller Busswerke. " Mea maxima pmnitentia vita communz·s. " Das gilt jedoch auch fÜr die, welche draussen in der Welt christlich leben. \i\Tieviele Gelegenheiten zu zahlreichen und schweren Opfern finden nicht Familienväter und MÜtter in Erfüllung ihrer Gatten- und Erzieherpflichten ! Sie sollen ganz besonders zur Reinigung ihrer Seelen beitragen. Diese Pflichten christlich, mutig, aus Liebe zu Gott und im Geiste der SÜhne und Busse zu verrichten, das ist die Hauptsache.

749. 3° Auch andere Busswerke werden von der Hl. Schrift noch besonders anempfohlen, so 'Fasten und Almosengeben.

A) Im Alten Bunde war das Fasten eines der grossen Mittel zur SÜhne. Man nanI)te es " seine Seele betrüben." r Um jedoch diese Wirkung zu erreichen, mussten sich Gesinnungen der Zerknirschung und der Barmherzigkeit daz~ gesellen. 2 Im N euen Bunde ist Fasten eine Ubung der Trauer und der Busse. Darum auch fasten die Apostel nicht, solange der Bräutigam unter ihnen weilt, aber nach seinem Hingange tun sie es. 3 J esus, der unsere SÜnden sÜhnen wollte, fastete vierzig Tage und vierzig Nächte lang. Er lehrt seinen Aposteln, manche böse Geister könnten nur durch Fasten und Gebet vertrieben werden. 4 Diesen Lehren treu, hat die Kirche Fasten verordnet und zwar fÜr die Fastenzeit, die Vigil- und Quatembertage, um den Gläubigen Gelegenheit zu geben, ihre Fehler wiedergutzumachen. Viele unserer SÜnden rÜhren tatsächlich unmittelbar oder mittelbar von der Sinnlichkeit, dem Übermass in Speise und Trank her. Nichts ist daher zu deren Sühne wirksamer als Entziehung der Nahrung. Durch die A btötung der Liebe zur sinnlichen Lust fasst man

, Lw., XVI, 29, 3I; XXIII, 27, 32. - 2 Isa., LVIII, 3-7. 3 Matt"., IX, I4, I5. -. Mattlz., XVII, 20.

538 ZWEITES KAPITEL. - VON DER BUSSE.

nämlich das Übel an seiner Wurzel. Aus diesem Grunde fasteten die Heiligen so häufig ausserhalb der von der Kirche festgesetzten Zeiten. GrossmÜtige Christen ahmen sie nach oder tun wenigstens etwas dem eigentlichen Fasten Annäherndes, indern sie zur Schwächung der Sinnlichkeit sich bei jeder Mahlzeit einiger Speisen enthalten.

750. B) Was das Almosen angeht, so ist es ein Werk der Liebe und eine Entziehung. In zweifacher Hinsicht besitzt es demnach einen grossen Wert zum Loskauf unserer SÜnden. " Peccata eleemosynis redz·me. " I Beraubt man sich eines Gutes, um es in der Person des Armen J esus zu geben, so lässt sich Gott an Grossmut nicht übertreffen und erlässt uns gern einen Teil der für unsere SÜnden schuldigen Strafe. Je freigebiger jeder, seinen Mitteln entsprechend, ist, und je vollkommener die mit dem Almosen verbundene Absicht, desto vollständiger werden uns die geistlichen Schulden erlassen. Was wir vorn leiblichen Almosen sagten, gilt noch viel mehr vorn geistlichen Almosen, wodurch man das Heil der Seelen und mithin die Verherrlichung Gottes anstrebt. Daher ist es eines der vorn Psalmisten versprochenen Busswerke, wenn er zum Herrn sagt, er wolle zur SÜhne seiner Sünden die Sünder Über die Wege der Reue belehren. "Docebo im'quos vias tuas et i7'flPÜ ad te convertentur. " 2

4° Schliesslich gibt es noch freiwillige Entbehrungen und Abtötungen, die wir uns zur SÜhne un,'jerer Fehler auferlegen, besonders jene, die zur Quelle des Ubels aufsteigen, durch Züchtigung und Regelung der Fähigkeiten, die zum Falle beitrugen. Darauf werden wir bei der Abhandlung über die Abtötung zu sprechen kommen.

1 Danz'el, IV, 24. - Z Ps. L, 15.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 539

DRITTES KAPITEL.

Die Abtötung. I

751. Wie die Busse, trägt auch die Abtötung dazu bei, uns von frÜheren Fehlern zu reinigen. Ihr Hauptzweck ist jedoch, uns durch Verminderung der Neigung zur Lust, der Quelle aller unserer Sünden, vor gegenwärtigen und zukÜnftigen Fehlern zu wCl.hren. Wir werden also Wesen, Notwendzgkeit und Ubung derselben erklären.

W { Ihre verschiedenen Bezeichnungen.

esen Ihre Definition (Begriffsbestimmung).

N t d' k 't {zum Seelenheil.

o wen Ig el zur Vollkommenheit.

fAllgemeine Grundsätze.

.. A btötung der äusseren Sinne.

Ubung » »inneren Sinne.

l » »Leidenschaften.

),\ »höheren Fähigkeiten.

I. ABSCHNITT. WESEN DER ABTÖTUNG.

Erst sprechen wir von den biblischen und modernen N amen, mit denen die Abtötung bezeichnet wird. Wir erklären sie. Dann folgt die Definition oder Begriffsbestimmung.

752. r. Biblische Ausdrücke zur Bezeichnung der Abtötung. In den heiligen BÜchern finden

, S. THOMAS, dessen wichtigste TextsteIlen von TH. DE V ALLGORNERA angeführt werden, ap. cit., q. II, disp. II-IV. - PHILIP. A S. TRINITATE, op. cit., Ia P .• Tr. II, disco I-IV. - ALVAREZ DE PAZ, t. lI, lib. Ir. De 1Iloriijicatione. - SCARAMELLI, Guide asdtique. Tr. II, a. ,·6. - RODRIGUEZ, Prat. de la pe1fection chrtft., IIa P., Tr. I u. II, De la mortijicatio1l. - TRONSON, Exam. pa,.t., CXXXIX-CLXIX. - MGR GAY, Tr. VII, De la mortijicatio1l. - MEYNARD, T,.. de la vie i71tlrieu1'e, I. I, Kap. II-IV. - A. CHEVRIER, Le vlrilable disciple, Il. Teil, S. II9·323.

540 DRITTES KAPITEL. --, DIE ABTÖTUNG.

wir hauptsächlich sieben Ausdrücke, um die Abtötung unter verschiedenen Gesichtspunkten zu bezeichnen.

I. Das Wort Entsagung. "Qui non renuntiat omnibus qUa! possidet, non potest meus esse discipulus. " I Dieser Ausdruck stellt die Abtötung als einen Akt der Loslösung von äusseren Gütern dar, um Christus nachzufolgen, wie es die Apostel taten. " Relictis omnibus, secuti sunt eum. " 2

2. Sie ist auch Verneinung oder Verleugnung des eigenen Ich." Si quis vult post me venire, abneget semetipsu11l. " 3 Der furchtbarste Feind ist tatsächlich die ungeordnete Eigenliebe. Man muss sich deshalb von ihr freimachen.

3· Abtötung hat eine positive Seite. Sie ist ein Akt, wodurch die bösen Neigungen empfindlich getroffen und zum Absterben gebracht werden. " Mortificate ergo membra vestra 4 ... Si autem Spiritu .facta carnis mortificaveritz's, 'l'ivetzs. " 5

4· Ja, noch mehr. Sie ist Kreuzigung des Fleisches und seiner Begierden, wodurch wir, sozusagen, unsere Fähigkeiten an das Gesetz des Evangeliums festnageln, indem wir sie zum Gebet und zur Arbeit verwenden. " Quz' ... sunt Chrzsti, carnem suam crucifixerunt CU1lZ vitiis et concupzscentiis. " 6

5· Dauert diese Kreuzigung an, so erzeugt sie eine Art Tod oder Beg'rabmsein, wodurch wir uns vollständig abzusterben und mit J esus Christus zu begraben scheinen, um mit ihm ein neues Leben zu leben. "Mortui enim estzs vos et vita vestra est abscondita cum Christo in Deo.7 Consepulti mim sumus cum illo jJer bajJtislIlu1Jl in mortem. "8

6. Um diesen geistigen Tod zu bezeichnen, bedient sich der hI. Paulus eines anderen Ausdrucks.

, Lukas. XIV, 33. - 2 Lukas, V, 7. - 3 Lukas, IX, 23. 4 Kol., IlI, 5. - 5 Römer, VIII, 13. - _6 Ga!., V, 24-

7 Kol., III, 3. - 8 Römer, VIII, 4-

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 541

Da nach der hI. Taufe in uns zwei Menschen sind, der verbleibende, alte oder die dreifache Begierlichkeit, und der neue oder wiedergeborene Mensch, so sollen wir, sagt er, uns des alten Menschen entäussern und den neuen anziehen. "Exspoliantes vos veterem hominem et induentes novum. " I

7. Da aber dies nicht geschieht, ohne zu kämpfen, so erklärt er, das Leben sei ein Kampf. " Bonum certamen certavi." 2 Die Christen seien Kämpfer oder Ringkämpfer, die ihren Leib zÜchtigen und in Dienstbarkeit bringen.

Aus allen diesen und anderen ähnlichen Ausdrücken geht hervor, die Abtötung bestehe aus zwei Dingen. Aus etwas Negatt'vem, Losschälung, Entsagung, Entäusserung, und etwas Positivem, Kampf gegen die bösen Neigungen, Anstrengung, sie abzutöten oder ihnen Nahrung zu entziehen, Kreuzigung, Tod, Kreuzigung des Fleisches, des alten Menschen und seiner Begierden, um aus Christi Leben zu leben.

753. I I. Moderne Ausdrücke. Heutzutage gebraucht man gern gemilderte Ausdrücke. Sie bezeichnen mehr das Ziel, als die erforderliche Anstrengung. Man spricht von Veränderung der Lebensweise, von S elbs tbeherrschung, Willensbildung, Richtung der Seele au.f Gott. Diese Ausdrücke sind richtig, vorausgesetzt, man zeigt, möglich sei Veränderung der Lebensweise und die Selbstbeherrschung nur durch Bekämpfung und Abtötung der in uns vorhandenen bösen Neigungen. WiIIenserziehung nur durch Unterjochung und Regelung der niederen Fähigheiten. Richtung auf Gott nur durch Loslösung von den Geschöpfen und Befreiung von Lastern. Mit anderen Worten, man muss wie die HI. Schrift es verstehen, die bei den Gesichtspunkte der Abtötung zu vereinigen, das Ziel zum Troste sich

, Kol., III, 9. - 2 lf Tim., IV, 7.

542 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

vor Augen halten, aber auch die notwendige Anstrengung, es zu erreichen, nicht verhehlen.

754 111. Definition. Abtötung lässt sich also definieren: Ka111P.f gegen die böse7Z Neigungen, um sie dem Willen und diesen Gott zu unterweifen. Sie ist weniger eine einzelne Tugend, als eine Gesamtheit von Tugenden, die erste Stufe aller Tugenden, welche zwecks Wiederherstellung des Gleichgewichtes und rechtmässiger Rangordnung der Fähigkeiten in der Überwindung der Hindernisse besteht. So erkennt man besser, die Abtötung ist nicht Ziel, sondern nur Mittel. Man tötet sich ab, nur um eines höheren Lebens teilhaftig zu werden. Man entledigt sich der äusseren Güter, nur um die geistlichen Güter besser zu geniessen. Man verzichtet auf sich selbst, nur um Gott zu besitzen. Nur um Frieden zu geniessen, kämpft man. Stirbt sich ab, nur um das Leben Christi, das Leben Gottes zu leben. Vereinigung mit Gott ist somit das Ziel der Abtötung. Unq so versteht man besser deren Notwendigkeit.

2. ABSCHN. NOTWENDIGKEIT DER ABTÖTUNG.

Diese Notwendigkeit kann man von einem doppelten Gesichtspunkte herleiten, aus dem des Seelenheils und dem der Vollkommenheit.

I. Notwendigkeit der Abtötung fÜr das Seelenheil.

Es gibt Abtötungen, die.fÜr das Seelenheil notwendig sind, weil man sich bei deren Unterlassung der Gefahr aussetzt, in die Todsünde zu fallen.

755. I. Der Heiland spricht gelegentlich der Erwähnung der Sünden gegen die Keuschheit klar und deutlich davon. " Wer immer ein Weib mit Begierde ansieht, ad concupiscendam eam, hat schon den Ehebruch mit ihr im Herzen begangen." I Es

, Mallh., \', 28.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 543

gibt also schwer sündhafte Blicke, wie sie von bösen \iVünschen veranlasst werden. Die Bezähmung solcher Blicke ist unter Todsünde geboten. Das will der Heiland mit folgenden Worten ausdrücklich sagen: "Gereicht dir dein rechtes Auge zum Falle,' so reisse es aus und wirf es weit von dir, denn es ist besser für dich, eines deiner Glieder gehe verloren, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen werde. " I Es handelt sich hier nicht darum, sich die Augen auszureissen, sondern die Blicke von qegenständen abzuwenden, welche ein Anlass zum Argernis sind. - Der hl. Paulus begrÜndet diese ernsten Vorschriften. Er sagt: "Lebt ihr dem Fleische nach, werdet ihr sterben. Ertötet ihr' aber die Werke des Fleisches durch den Geist, werdet ihr leberl." - "Si enim secundum carnem vixeritis, morie11lini, si autem spiritu facta carnis mortificaveritis, vivetis." 2

Wie bereits gesagt (N. 193-227), die in uns bleibende und durch Welt und Teufel aufgestachelte Begierlichkeit führt uns oft zum Bösen und gefährdet das Heil unserer Seele, wenn wir nicht Sorge tragen, sie abzutöten. Daraus ergibt sich die unbedingte Notwendigkeit, unaufhörlich die in uns vorhandenen, bösen Neigungen zu bekämpfen, die nächsten Gelegen.lzeiten zur SÜnde zu fliehen, d. h. jene Dinge und Menschen, die für uns erfahrungsgemäss eine ernste und wahrscheinliche Gefahr zur Sünde sind. Folglich vielen Vergnügungen zu entsagen, zu denen die Natur uns hinzieht. 3 Es gibt also Abtötungen, die zur Vermeidung der TodsÜnde notwendig sind.

756. 2. Es gibt andere, welche die Kirche vorschreibt, um die im Evangelium so oft ausgesprochene, allgemeine Verpflichtung zur Abtötung genauer

I Matt/I., V, 29. - 2 Römer, VIII, 13.

3 Von diesen Gelegenheiten zur SÜnde sprachen wir ausführlich in nl1serer Synopsis Theol. mor., De P::enitentiil., 11. 524-536.

544 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

anzugeben. Dazu gehören das Abstinenzgebot von Fleisch speisen am Freitag, die vorösterlichen, Quatember- und Vigilfasten. Diese Gebote verpflichten unter schwerer SÜnde alle jene, die keine rechtmässige Entschuldigung haben. Wir halten es hier nicht für Überflüssig, folgende Bemerkung hinzuzufügen : Aus triftigen GrÜnden mögen manche von der Beobachtung dieser Gebote ausgenommen sein. Deshalb sind sie es aber nicht von dem allgemeinen Gebot der Abtötung. Sie müssen diese daher in anderer Weise üben, andernfalls werden sie bald die Empörung des Fleisches empfinden.

757. 3. Ausser diesen vom Gebote Gottes und der Kirche vorgeschriebenen Abtötungen gibt es deren, die jeder sich nach dem Urteil seines Beichtvaters unter gewissen besonderen Umständen auferlegen soll, so oft er von besonders heftigen Versuchungen heimgesucht wird. Man wähle sie unter denen, die wir angeben werden, (N. 767 u. ff.) aus.

11. Notwendigkeit der Abtölung zur Vollkommenheit.

758. Diese Notwendigkeit geht aus dem, was Über das Wesen der Vollkommenheit gesagt worden ist, hervor. Sie besteht in der bis zum Op.fer und zur gänzlichen Hingabe seiner selbst gesteigerten Liebe zu Gott (N. 321-327.). Wie die Nachfolge Christi sagt, hängt das Mass unseres geistlichen Fortschrittes von dem Masse ab, in welchem wir uns Gewalt antun. " Tantum profieies quantum Übi ipsi vim intuleris." I Es wird darum genügen, kurz einige Beweggründe anzl.!,führen, die dazu beitragen können, den Willen zur Ubung dieser Pflicht anzuregen. Sie finden sich auf seiten Gottes, des Heilands und unserer persö'nlichen HeiHgung.2

, De Imitatione CJ,risti, I. I, c. 25.

2 Die N. 736 ff. dargelegten Beweggründe zur Busse sind den hier angeführten ähnlich, denn die Busse ist im Grunde Abtätunl( insofern sie frühere Fehler sühnt.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 545

I. AUF SEITEN GOTTES.

759. - A) Zweck der Abtötung ist, wie gesagt, uns mit Gott zu vereinigen. Das aber können wir nicht, ohne uns von der ungeordneten Liebe zu den GeschojJfen loszumachen.

Der hJ. Johannes vom Kreuz sagte mit Recht: "Die derr Geschöpfe anhängende Seele wird diesem gleic!1. Je mehr die Neigung zunimnt, desto grösser wird die Ahnlichkeit. Die Liebe nämlich strebt nach Gleichförmigkeit zwischen dem Liebenden und dem Geliebten. Wer also ein Geschöpf liebt, steigt zu dessen Niedrigkeit hinab, ja, sogar noch tiefer, weil die Liebe sich nicht mit dem Gleichförmigwerden begnügt, sondern Sklaverei herbeiführt. Hat sich darum eine Seele zur Sklavin eines Dinges ausser Gott gemacht, so wird sie der reinen Vereinigung und Verwandlung in Gott unfähig, denn zwischen der Niedrigkeit des Geschöpfes und der Oberherrschaft des Schöpfers ist ein grösserer Abstand als zwischen Licht und Finsternis. " Eine Seele aber, die sich nicht abtötet, hängt sich schnell in ungeordneter vVeise an die Geschöpfe. Sie fühlt sich, seit dem Sündenfalle, zu ihnen hingezogen, wird durch ihre Reize gefesselt und, anstatt sich ihrer als Stufen zu bedienen, die zum Schöpfer führen, gefällt sie sich in ihnen und betrachtet sie als Ziel. Um diesen Zauber zu bannen, dieser Fessel zu entrinnen, ist es unbedingt notwendig, sich von allem zu lijsel1, was nicht Gott ist oder was wenigstens nicht als Mittel gelten kann, zu ihm zu gelangen. Darum sagt Olier I, indem er die Lage der Christen mit der des unschuldigen Adam vergleicht, es bestehe ein grosser Unterschied zwischen beiden. "Adam suchte Gott, diente ihm und betete ihn in seinen Geschöpfen an. Die Christen, im Gegenteil, müssen Gott durch den Glauben suchen, ihm dienen und ihn, von allem Geschöpflichen losgelöst, in sich und seine Heiligkeit wiederzurückgezogen, anbeten." Darin eben besteht die Taufgnade.

760. - B) Bei der hI. Taufe wurde zwischen Gott und uns ein wirklicher Vertrag geschlossen. a) Gott, seinerseits, reinigte uns von der ErbsÜnde, nahm uns als seine Kinder an, gestattete un~ Teilnahme an seinem Leben und verpflichtete sich, uns die nötigen Gnaden zu dessen Erhaltung und

I Ca!, dm!t. I. P., 7. Lektion. ,

N° 683. -18

546 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

\iVachstum zu geben. Wir wissen, wie freigebig er im Halten seiner Versprechen war. - b) Wir, unsererseits, verpflichteten uns, als echte Kinder Gottes zu leben, uns durch Pflege des übernatÜrlichen Lebens der Vollkommenheit unseres himmlischen Vaters zu nähern. Das aber können wir nur insofern tun, als wir Abtötung üben. Denn einerseits macht uns der in der hl. Taufe verliehene Hl. Geist geneigt, Verachtung, Armut und Leiden zu ertragen, andererseits begehrt das Fleisch Ehre, Lust und Reichtum. Es ist also in uns ein Widerspruch, ein fortwährender Kampf. Wir können Gott nur treu sein, entsagen wir der ungeordneten Liebe zu Ehre, Lust und Reichtum. Aus diesem Grunde bezeichnete uns der Priester bei der hl. Taufe mit zwei Kreuzen, einem auf dem Herzen, um uns die Liebe zum Kreuze einzuprägen, einem auf die Schultern, um uns Kraft zu verleihen, es zu tragen. Wir wÜrden uns also gegen unser Taufversprechen verfehlen, wollten wir uns weigern, unser Kreuz zu tragen, durch Demut die Ehrsucht, durch Abtötung die Vergnügungssucht und durch Liebe zur Armut das Verlangen nach ReichtÜmern zu bekämpfen.

2. AUF SEITEN UNSERES HEILANDES JESUS CHRISTUS.

761. - A) Durch die hl. Taufe wurden wir ihm einverleibt. Als solche mÜssen wir von ihm Leben und Eingebungen erhalten, folglich ihm gleichförmig werden. Nun sagt uns aber die Nachfolge Christi, sein ganzes Leben sei ein langes Martyrium gewesen. " Tota vz'ta Christi crux fuÜ et martyrium. " I Also darf das unsrige nicht ein Leben in Lust und Ehren, sondern muss abgetötet sein. Übrigens sagt uns dies der göttliche Heiland klar und deutlich. "Si quis vult post me venire, abneget

I De illlitatione Christi,!. Il, c. XII.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 547

semetipsu11l et tollat crucem SUaJ1l quotidie et sequatur me. " I Soll jemand ein Nachfolger J esu sein, dann ist es doch gewiss derjenige, der nach Vollkommenheit strebt. Nun hat J esus von seinem Eintritt in die Welt an das Kreuz umfasst, sein ganzes Leben sich nach Leiden und VerdemÜtigungen gesehnt, in der Krippe sich mit der Armut vermählt und sie bis auf den Kalvarienberg zur Begleiterin gehabt. Wie könnte man somit Jesus nachfolgen, wollte man Lust, Ehren und Reichtum lieben, sein tägliches Kreuz nicht tragen, das Gott selbst für uns bestimmte. Der hl. Bernhard ruft uns zu : " Welche Schande, unter einem mit Dornen gekrönten Haupte so weichliche Glieder zu sein, die sich vor den geringsten Leiden fürchten. " Pudeat sub spinato capite membrum fieri delicatum." 2 Um uns J esus anzugleichen, uns seiner Vollkommenheit zu nähern, mÜssen wir demnach wie er unser Kreuz tragen.

762. - B) Wollen wir apostolzsch wirken, so finden wir einen neuen Beweggrund zur Kreuzigung des Fleisches. Durch das Kreuz hat J esus die Welt erlöst. Durch das Kreuz werden wir mit ihm am Seelenheile unserer Mitmenschen mitwirken. Je mehr wir an den Leiden des Erlösers teilhaben, desto mehr Frucht wird unser Eifer tragen. Das war der Gedanke, der den hl. Paulus beseelte, als er, um Gnaden fÜr die Kirche zu erlangen, an seinem Fleische ergänzte, was an den Leiden Christi noch mangelte. 3 Das bewog in der Vergangenheit und erhält noch jetzt in ihrem Entschlusse so viele Seelen, die gewillt sind, sich als Opfer hinzugeben, um Gott zu verherrlichen und Seelen zu retten. Leiden ist zwar bitter, betrachtet man jedoch J esus, der

, Luk. IX, 23. Man lese den schönen Kommentar zu diesem Text in " Lettre circulaire al/X amis de la Croix" vom seI. L. GRIGNIOK DE MONTFORT.

, Ser11lo V. in (esto omnium Sanctorlt11l n. 9. - 3 Kot., I, 24.

548 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

für unser und unserer BrÜder Heil mit dem Kreuze beladen, vor uns herwandelt, denkt man an seine Todesangst, seine Verurteilung, Geisselung, an seine Dornenkrönung, seine Kreuzigung, hört man im Geiste die Verhöhnungen, Schmähungen, Verleumdungen, die er schweigend annahm, wie könnte man es wagen, sich zu beklagen? Was uns betrifft, wir haben noch nicht bis zum Blutvergiessen widerstanden. " Nondum usque ad sang·uinem restitistis. " Schätzen wir unsere Seele und die unserer Brüder nach ihrem wahren Werte ein, lohnt es sich da nicht, einige vorübergehende Leiden um einer unendlichen Glorie willen zu ertragen und um mit dem Heiland am Heile dieser Seelen mitzuwirken, für die er sein Blut bis zum letzten Tropfen vergossen hat?

So erhaben diese Beweggründe auch sein mögen, von einigen grossmütigen Seelen werden sie schon gleich zu Anfang ihrer Bekehrung erfasst. Sie ihnen vorlegen, heisst das Werk ihrer Reinigung und Heiligung fördern.

3. AUF SEITEN UNSERER HEILIGUNG.

763. - A) \Nir mÜssen unsere BeharrNchkeit sicherstellen. Nun ist aber die A btötung eines der besten Mittel, sich vor der SÜnde zu bewahren. Liebe zur Lust oder Scheu vor der Mühe, vor dem Kampfe, horror diificultatis, labor certamz'nis, sind die Ursache unserer Niederlagen. Die A btötung bekämpft beide, die eigentlich eine und dieselbe Neigung sind. Sie entzieht uns einige berechtigte Freuden und wappnet dadurch den Willen gegen verbotene. Sie erleichtert den Sieg über die Sinnlichkeit und die Eigenliebe - "agendo contra sensualitatem et amorem proprium" -, wie der hI. Ignatius sehr richtig sagt. Gibt man aber der Lust nach, gestattet man sich alle erlaubten Freuden, wie wird man dann in dem Augenblicke widerstehen können, in

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 549

welchem die Sinnlichkeit in der Begierde nach neuen, gefährlichen oder sogar verbotenen Genüssen gleichsam gewohnheitsgemäss geneigt ist, alle ihre Forderungen zu befriedigen? Der Abhang ist so abschÜssig, dass es besonders in Dingen der Sinnlichkeit leicht ist, wie im Taumel in die Tiefe zu stürzen. Und selbst in bezug auf den Stolz gleitet man schneller als man es für möglich hält, hinab. Um sich zu entschuldigen, lÜgt man in einer geringfÜgigen Sache. Man will dadurch einer VerdemÜtigung entgehen. Geht man zur Beichte, ist man der Gefahr ausgesetzt, unaufrichtig zu sein, weil man ein verdemütigendes Geständnis scheut. Unsere eigene Sicherheit fordert also Kampf gegen die Eigenliebe, ebenso wie gegen die Sinnlichkeit und die Habsucht.

764. B) Die SÜnde zu meiden, genügt nicht.

Man muss in der Vollkommenheit Fortschritte tllachen. Und welches ist auch hier das grosse Hindernis, wenn nicht die Liebe zur Lust und die Scheu vor dem Leiden? Wieviele wünschten, besser zu sein, der Heiligkeit zuzustreben, scheuten sie nicht die zum Fortschritt notwendigen Anstrengungen und die PrÜfungen, die Gott seinen besten Freunden sendet! Man sollte sie an die Worte erinnern, die der hl. Paulus häufig an die ersten Christen richtete, das Leben sei ein Kampf, wir sollten uns schämen, weniger tapfer zu kämpfen als jene, die es um irdischen Lohn tun und die als Vorbereitung auf den Sieg sich vieler ~rlaubter Genüsse enthalten, ja, sich auch schweren Ubungen hingeben, alles nur, einer vergänglichen Krone wegen, während die uns versprochene Krone unvergänglich ist. "Et illi quidem ut corruptibilem coronam accipiant, nos auteln incorruptam." I Wir scheuen das Leiden, denken wir aber auch an die

, I Kor., IX, 25.

550 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

schrecklichen Qualen des Fegfeuers, (N. 734), die uns fÜr lange Jahre auferlegt werden, sollten wir die Abtötung verschmähen und uns alle schmeichelnde Lüste gewähren? Da sind doch die Weltleute viel klüger! Harte Arbeiten und zuweilen verdemütigende Gänge nehmen sie auf sich, um etwas Geld zu verdienen und sich später einmal sorglos zurÜckziehen zu können. Und wir sollten uns keine Abtötungen auferlegen wollen, um uns in der Himmelstadt einen ewigen Ruheposten zu sichern? Ist das vernünftig?

Man sei Überzeugt, ohne Abtötung ist weder Vollkommenheit noch Überhaupt Tugend möglich. Wie könnte man keusch sein, ohne die uns so stark zu gefährlichen oder bösen LÜsten treibende Sinnlichkeit abzutöten? Wäre Mässigkeit ohne ZÜgelung der Esslust möglich? Und bekämpft man nicht die Habsucht, wie kann man Armut oder auch nur Gerechtigkeit Üben? Kann man denn demütig, sanftmÜtig und liebevoll sein, ohne die Leidenschaften des Zornes, Neides, der Eifersucht zu beherrschen, die in den Tiefen jeder menschlichen Seele schlummern? Im Zustande unserer gefallenen Natur gibt es keine einzige Tugend, die wir lange ohne Mühe, ohne Kampf, also ohne Abtötung Üben können. Man kann also mit Tronson I sagen :

"Ebenso wie Mangel an Abtötu0.g die Quelle der Laster und Ursache aller unserer Ubel ist, so ist die Abtötung Grundlage der Tugenden und Quelle aller Güter.

765. C) Man kann sogar hinzufügen, die Abtötung selbst sei hienieden, trotz der Entbehrungen und Leiden, die sie uns auferlegt, die Quelle der grössten GÜter. Abgetötete Christen sind nämlich im allgemeinen glÜcklicher als die sich allen Lüsten ausliefernden Weltmenschen. Das lehrt der Heiland

I EXa/V-. Partimliers, I. Ex" de Ja Mortification.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 551

selbst, denn er sagt, jene, die alles verlassen, um ihm zu folgen, erhalten das Hundertfache schon in diesem Leben dafür zurÜck. " Qui reliquerit d01/lZt1ll vel .fratres... centuplulIl accipiet et vt'tam a!terttam possidebit." I Der hl. Paulus kennt keine andere Sprache. Nachdem er von der Bescheidenheit gesprochen, d. h. von der Mässigung in allen Dingen, fügt er hinzu, der sie Übe, geniesse jenen Frieden, der alle Tröstungen Übertreffe. "Pax Dei qUell exsuperat OlJlttem sensulIl c1tstodz'at corda vestra et intelligentzas vestras. " Gibt er selbst nicht davon ein lebendes Beispiel? Er hatte doch gewiss viel zu leiden. Bis in's einzelne schildert er die furchtbaren PrÜfungen, die er bei VerkÜndigung des Evangeliums, wie im Kampfe mit sich selbst zu ertragen hatte. Dann aber fügt er hinzu, inmitten seiner Trübsale sei er mit Trost erfÜllt, Überreich an Freude. " Superabundo g-audio in 07ll1lZ' tribulatiolle 1tostra." 2

Allen Heiligen geht es so. Auch sie hatten lange und sehr schmerzliche TrÜbsale zu erdulden, aber inmitten ihrer Qualen sagten die Martyrer, noch nie seien sie bei solchem Festmahle gewesen. "Nunquam ta711 jucunde ejJUlati SIt1Jlus." Im Leben der Heiligen fallen uns zwei Dinge auf. Einerseits die furchtbaren PrÜfungen, die sie ertrugen und die Abtötungen, die sie sich freiwillig auferlegten. Andererseits ihre Geduld ihre Freude, ja ihre Heiterkeit inmitten dieser Leiden. Sie gelangen zur Liebe des Kreuzes. fÜrchten es nicht mehr, sehnen sich sogar danach, halten die Tage fÜr verloren, an denen sie nichts zu leiden haben. Das ist ein den Weltlichgesinnten unbegreifliches, psychologisches Phänomen. Tröstlich aber nir die Seelen, die guten Willens sind. Von Anfängern kann man freilich diese Liebe zum Kreuze nicht verlangen. Durch AnfÜhren der Beispiele der Heiligen aber kann man ihnen begreiflich machen, die Liebe tu Gott und den Seelen lindere Leiden und Abtötung um ein Bedeutendes. Entschliessen sie sich dann grossmÜtig zu den kleinen Opfern, die sie zu bringen vermögen, so werden sie selbst eines Tages dazu kommen, das Kreuz zu lieben, zu ersehnen und wahren Trost darin zu finden.

I ,Watt/I" XIX, 29, Mark, X, 29-30, wo es heisst : .. Centies fant"m nune in tempore hoc, " - 2 I/Kor:, V JI, 4.

552 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

766. Das bemerkt auch der Verfasser der Nachfolge Christi an einer Stelle, welche die Vorzüge der Abtötung vortrefflich zusammenfasst' : "In eruee salus, in cruee vita, in eruee jJrofeetio ab hostibus, in eruee illjusio sltjJerna: suavitatis, in eruee robur mentis, in eruee gaudium sjJiritus, in eruee wirtufis summa, in erztee perfeetio sanetitatis." Die Liebe zum Kreuz ist in der Tat die bis zur Selbsthinopferung gesteigerte Liebe zu Gott. Wie schon gesagt, ist diese Liebe in vorzüglicher Weise der Inbegriff aller Tugenden, das eigentliche Wesen der Vollkommenheit, daher der mächtigste Schild gegen unsere Geistesfeinde, eine Quelle der Kraft und des Trostes, das beste Mittel zur Vermehrung inneren Lebens und zur Sicherstellung unseres Seelenheils.

3. ABSCHNITT. ÜBUNG DER ABTÖTUNG.

767. Grundsätze. I. Die Abtötung muss den ganzen Menschen, Leib und Seele, umfassen, denn bei mangelnder Zucht ist der ganze Mensch Anlass zur SÜnde. Freilich ist es in Wirklichkeit nur der Wille, welcher sündigt. Er findet aber Mitschuldige und Werkzeuge am Leibe und an seinen äusseren Sinnen, wie auch an der Seele mit allen ihren Fähigkeiten. Der ganze Mensch muss somit in Zucht gehalten oder abgetötet werden.

768. 2. Die Abtötu.l)g wehrt der Lust. Zwar ist die Lust an sich kein Ubel. Sie ist sogar ein Gut, bleibt sie dem von Gott für sie bestimmten Ziel untergeordnet. Gott hat mit der ErfÜllung der Pflicht eine gewisse Lust verbunden, um uns dadurch die Pflichterfüllung zu erleichtern. So z. B. finden wir beim Essen und Trinken, bei der Arbeit und anrleren derartigen Pflichten ein gewisses Vergnüge,n. Nach göttlichem Willen ist infolgedessen dt'e Lust nie/tt Ziel, sondern Mittel. Zur bessern Erfüllung der Pflicht ist es daher nicht verboten, Lust zu verspüren. Das ist die von Gott gesetzte Ordnung. Aber die Lust, an und für sich, als Ziel zu suchen, ohne irgendwelche Beziehung

, De Im't., 1. TI, C. 12.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 553

zur Pflicht, ist mindestems g-e.fährlich, denn leicht gleitet man von erlaubten Freuden zu unerlaubten. Die Lust mit Ausschluss der Pflicht geniessen ist eine mehr oder weniger grosse SÜnde, denn es ist Verletzung der von Gott gewollten Ordnung. Die Abtötung muss also in der Entziehung von schlechten Freuden bestehen, jener, die der göttlichen Weltordnung, dem Gebote Gottes oder der Kirche entgegen sind. Ferner in der Entsagung von gifährlichen Freuden, um sich nicht der Gefahr zur Sünde auszusetzen. Ja, selbst in der Enthaltung einiger erlaubter Freuden, um die Herrschaft des Willens über das Gefühl zu sichern. Zu demselben Zweck soll man sich nicht nur einiger Freuden berauben, sondern sich auch einige positive Abtötungen auferlegen. Die Erfahrung nämlich le.~rt, nichts zähmt wirksamer den Lustreiz als die Ubernahme einer Arbeit oder eines ÜbergebÜhrlichen Leidens.

769.3. Die Abtötungmuss jedoch auf kluge und dzskrete Art geschehen. Sie muss den phystschen und moralischen Kräften eines jeden, sowie der Erfüllung der Standespflichten angepasst sein. I) Man soll mit den leiblichen Kräften haushalten, denn nach dem hl. Franz v. Sales I "sind wir in zweierlei Lagen grossen Versuchungen ausgesetzt, nämlich, wenn der Leib zu gut genährt wird und wenn er zu geschwächt ist." In letzterem Falle leidet man leicht an Neurasthenie, wodurch dann gefahrbergende Schonung notwendig wird. 2) Man soll auch mit den Getsteskrä.ften behutsam umgehen, d. h. anfangs siCh nicht Ü bermässige Entbehrungen auferlegen, die man dann nicht fortsetzen kann und welche ill dem Augenblicke des Aufgebens Erschlaffung herbeifÜhren können. 3) Vor allem ist es wichtig, dass die Abtötungen im Einklange mit den Standespflichten stehen, denn diese sind vorgeschrieben,

J Philothea, 3. Buch, 23. Kap.

554 DRITTES KAPlTEL. - DIE ABTÖTUNG.

kommen also in erster Linie in Betracht. Es wäre demnach sehr unrecht, wollte eine Familienmutter sich Strengheiten hingeben, die sie an der ErfÜllung ihrer Pflichten gegen Mann und Kinder hinderten.

770. 4. Bei den AbtöÜmgen ist eine Rangordnungzu beachten. Die inneren sind begreiflicherweise wertvoller als die äusserm, weil sie tiefer die Wurzel des Übels fassen. Man vergesse jedoch nicht, dass die äusseren Abtötungen die inneren erleichtern. Wer ohne Abtötung eier Augen die Phantasie zÜgeln will, dem wird es schwerlich gelingen, weil die Augen die sinnfälligen Bilder der Phantasie Übermitteln, von denen letztere sich nährt. Es war einer der Irrtümer der Modernisten, die Strengheiten der christlichen Jahrhunderte zu verhöhnen. In \iVirklichkeit haben die Heiligen aller Zeiten - die in jÜngster Zeit seliggesprochenen so gut wie die anderen - ihren Leib und ihre äusseren ~.inne hart in Zucht gehalten. Sie trugen die feste Uberzeugung in sich, im Zustande der gefallenen Natur IT\Üsse der ganze Mensch abgetötet werden, l\m gänzlich Gott anzugehören.

Wir werden nacheinander und in logischer Reihenfolge di~ verschiedenen Arten von Abtötungen in Erwägung ziehen. Zunächst die äusseren, darauf die inneren. In der eigentlichen Anwendung oder Praxis muss man aber die einen mit den andern verbinden und sie genau bestimmen.

§ 1. Abtötung des Leibes und der äusseren Sinne.

771. I. Warum diese Aptötung? a) Jesus riet seinen Jüngern massvolle Ubung des Fastens und ~er Enthaltung von Speisen. Auch Abtötung der Augen und des Tastsinnes. Der hl. Paulus war von der Notwendigkeit, den Leib zu unterjochen, so fest überzeugt, dass er ihn in strenger Zucht hielt, um der Sünde und der Verdammnis zu entgehen.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 555

" Castigo corpus meum et in servitutem redigo, ne forte, cum aliis prcedz'caverim, ipse reprobus eJ1iciar." Auch die Kirche selbst tat Schritte, um den Gläubigen gewisse Fast- und Abstinenztage vorzuschreiben.

b) Aus welchem Grunde? Ist der Leib wohl gezÜgelt, so ist er, ohne Zweifel, ein nÜtzlicher, ja, notwendiger Knecht, dessen Kräfte geschont werden müssen, um sie in den Dienst der Seele zu stellen. Jedoch im Zustande der gefallenen Natur sucht der Leib sinnliche Genüsse, ohne sich dabei um Erlaubtes oder Verbotenes zu kÜmmern. Er neigt sogar in besonderer Weise zu den unerlaubten Lüsten und empört sich zuweilen gegen die höheren Fähigkeiten, die ihm solche versagen wollen. Er ist ein um so gefährlicherer Feind, weil er uns Überallhin begleitet, zu Tisch, ins Bett, auf allen unseren vVegen. Auch um so gefährlicher, weil er oft Mitverschworene findet, die bereit sind, seiner Sinnlichkeit und Wollust Vorschub zu leisten. Seine Sinne sind ebensoviel offene Türen, durch die das feine Gift der verbotenen Lust schnell eindringt und sich einschmeichelt. Es ist demnach unbedingt notwendig, ihn zu überwachen, zu meistern, in Dienstbarkeit zu bringen. Bleibt das aus, so wird er zum Verräter an uns.

772. 2. Sittsamkeit des Leibes. Um unsern Leib in Zucht zu halten, beginnen wir mit der Beobachtung der Regeln der Sittsamkeit und guten Haltung. Zur Abtötung bietet sich dabei reichlich Anlass. Der Grundsatz, der uns diesbezÜglich leiten soll, ist der des hI. Paulus : "Wisset ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind? Wisset ihr nicht, dass eure Glieder ein Tempel des hI. Geistes sind, der in euch ist? "Nescitis quortiam corpora vestra membra sunt Christi? Membra vestra te11lplum sunt Spiritus Sancti." [

I I. Kor" VI, 15, 19.

556 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

A) Man soll darum den Leib als heiligen Tempel, als Glied Christi achten. Hinweg also mit den mehr oder weniger ungeziemenden Kleidern, die nur zur Erregung der Neugier und der Sinnenlust dienen. Jeder kleide sich standesgemäss, einfach und bescheiden, stets reinlich und anständig.

, Welche kluge 'WeisU1Jgen gab in dieser Hinsicht der hI. Franz v. Sales : I "Seien Sie reinlich, Philothea, es sei an Ihnen nichts Nachlässiges oder schlecht Sitzendes ... Hüten Sie sich jedoch vor Eitelkeit und Gesuchtheit, vor Sonderlichkeiten und Torheiten. Bleiben Sie soviel wie möglich auf seiten der Einfachheit und Bescheidenheit, die gewiss der grösste Schmuck der Schönheit und das beste Mittel ist, Hässlichkeit auszugleichen ... Eitle Frauen geben leicht Anlass, an ihrer Sittsamkeit zu zweifeln. vVenigstens tritt sie bestimmt nicht in so vielem Plunder und Flitter hervor" ... Der hl. Ludwig sagt kurz: " Man kleide sich standesgemäss, so dass gesetzte und ehrbare Leute nicht sagen können : " Du tust zuviel ", noch die jungen: "Du tust zu wenig. ".

Orclensleute aber, wie auch die Priester, haben in bezug auf Form und Stoff ihrer Kleidung gewisse Vorschriften, an die sie sich halten sollen. Es erübrigt sich wohl zu bemerken, dass Weltlichkeit und Gefallsucht bei ihnen durchaus unpassend wären und dass sie dadurch den WeItleuten selbst rlUr Ärgernis geben wÜrden.

773. B) Gute Haltung. Auch sie ist eine ausgezeichnete Abtötung, die alle Üben können. Man "errneide sorgfältig schlaffe und weibische Haltung. Halte sich gerade, zwanglos und nicht gesucht, weder gebeugt, noch auf die eine oder andere Seite geneigt. Man wechsle nicht zu oft die Stellung. Kreuze weder die Füsse noch die Beine. StÜtze sich nicht lässig auf Sessel oder Betstuhl. Man vermeide schroffes Benehmen und ungeordnete Bewegungen. Das sind, ausser hundert anderen, der Gesundheit ungefährliche Möglichkeiten zur Abtötung. Sie lenken nicht die Aufmerksamkeit ,anderer auf sich

I Philothea, 3. Buch, 25, Kap.

DRITTES KAPITEL. - DIE AßTÖTUNG. 557

und verleihen uns grosse Herrschaft über unsern Leib.

774. C) Es gibt noch andere pOSltlve Abtötungen, die grossmÜtige BÜsser sich gern zwecks U nterjochung des Körpers auferlegen. Sie mildern dadurch die Gluten der Leidenschaften und regen das Verlangen nach Frömmigkeit an. Die gewöhnlichsten sind kleine, eiserne Ringe, die man am Arme trägt, Ketten, die um die Lenden ,geschlungen werden, härene GÜrtel' und Skapuliere oder auch einige kräftige GeisseIstreiche, ohne dass man jedoch dabei Aufsehen erregen darf.' Bei allem muss man sorgfältig der Ansicht des Beichtvaters folgen, alles Sonderbare oder der Eitelkeit Schmeichelnde vermeiden, ebenso selbstverständlich alles, was gegen Gesundheits- oder Reinlichkeitspflege wäre. Der Seelenführer wird diese Dinge nur mit Vorsicht für eine bestimmte Zeit versuchsweise gewähren und sie untersagen, sobald cr irgend einen Nachteil wahrnehmen sollte.

77 5. 3. Sittsamkeit der Augen. A) Es gibt schwer sÜndhafte Blicke, die nicht nur die Scham, sondern die Keuschheit selbst2 verletzen. Es versteht sich von selbst, dass man sich solcher Blicke enthalten muss. Andere wieder sind gefährlich, heftet man z. B. den Blick auf Personen oder Gegenstände, welche Versuchungen hervorrufen können. So warnt die Hl. Schrift da vor, unsem Blick auf jungen Mädchen ruhen zµ lassen, damit deren Schönheit uns nicht zum Argernis werde: " Vz'rg-i1Zem ne conspicias, ne .forte scandalizeris in decore illius. " 3 Und gegenwärtig, wo die Zügellosigkeit in den Auslagen, der Mangel an Anstand in der Kleidung, die ungesunden Darbietungen auf der BÜhne lind in manchen Sälen wirkliche Gefahren bieten,

I Rückkehr zu den Übungen leiblicher Abtötung ist eines der wirk-' samsten Mittel, um Freudigkeit und somit auch Eifer wiederzugewinnen : .. Kehren wir zur leiblichen Abtötung zurück, züchtigen wir das Fleisch, lassen wir einige Tropfen unseres Blutes fliessen und wir werden glücklich sein wie ehemals. Der Geist der Heiligen ist immer Freude, Mönche und Nonnen sind von echter, der Welt unerklärlicher Heiterkeit beseelt. Woher kommt das? Einzig und allein daher, weil sie, wie der hL Paulus, ihren Leib züchtigen und mit unbeugsamer Strenge in Dienstbarkeit halten. " (FABER, Blessed Sacrament, t. I, S. 228-229,)

2 Matth. V, 28. - 3 Ekkl. IX, 5.

558 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTU NG.

muss man da nicht ganz besonders auf der Hut sein, um nicht Anlass zu Sünden zu nehmen?

776. B) Daher wird der aufrichtige Christ, der um jeden Preis seine Seele retten will, weiter gehen und zur Sicherung vor Niederlagen im Kampfe geg-en die Sinnlichkeit die Neugier der Augen abtöten; z. B. wird er vermeiden, vom Fenster aus die Vorübergehenden zu beobachten. Auf Geschäftsgängen und auf dem Spazierwege wird er ohne gekÜnsteltes Wesen die Augen bescheiden gesenkt halten. Hingegen lässt er sie gern auf einem Gegenstand ruhen, der wie z. B. ein frommes Bild, einen Kirchturm, ein Kreuz, eine Statue, ihm Liebe zu Gott und den Heiligen einflössen kann.

777. 4. Abtötung im Hören und Sprechen.

A) Sie verlangt, dass man nichts sage oder höre, was gegen Nächstenliebe, Reinheit, Demut und die anderen christlichen Tugenden verstösst. " Denn ", sagt der hI. Paulus, "schlechte Reden verderben gute Sitten." Corrumpunt mores bonos colloquia prava "I Wieviele Seelen sind verdorben worden, weil sie ungeziemende oder lieblose Reden anhörten! Geile Worte erregen krankhafte Neugierde, wecken die Leidenschaften, entzÜnden Begierden und reizen zur Sünde. Lieblose Worte stiften Zwist, sogar unter Verwandten, ferner, J\iIisstrauen, Feindschaft und Groll. Um solchen Argernissen aus dem Wege zu gehen, wache man Über die geringsten Worte und verschliesse das Ohr allem, was Reinheit, Liebe und Frieden beeinträchtigen könnte.

778. B) Damit dieses jedoch besser gelinge, töte man die Wzssbegier zuweilen ab. Man erkundige sich nicht nach dem, was ihr schmeichelt, man unterdrücke die Schwatzhaftigkeit, die uns zu nicht

, [ Kvr. XV, 33.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 559

nur unnützen, sondern auch gefährlichen Klatschereien hinreissen kann. "ftl multiloquio non deerz't peccatum. " I

C) Und, da negative Mittel nicht genügen, so leite man das Gespräch nicht nur auf harmlose, sondern gute, ehrsame und zuweilen erbauliche Gegenstände. Das aber geschehe, ohne durch zu ernste Bemerkungen, zu denen kein Anlass vorliegt, anderen lästig zu fallen.

779. 5. Abtötungen der anderen Sinne. Was wir vom Sehen, Hören und Sprechen sagten, bezieht sich auch auf die anderen Sinne. Auf den Geschmacksinn werden wir noch zurückkommen, wenn wir von der Unmässigkeit sprechen werden. Auf das Fühlen, bei der Abhandlung Über die Keuschheit. Bezüglich des GerucJIsimzes genügt es zu bemerken, der unmässige Gebrauch von WohlgerÜchen sei oft nur ein Vorwand für die Sinnlichkeit oder manchmal fÜr Erregung der Wollust. Ein wahrer Christ gebraucht dieselben nur in geringem Masse und aus NÜtzlichkeitsgrÜnden. Ordensleute und Geistliche sollen es sich zur Regel machen, sie nie zu gebrauchen.

§ 11. Abtötung der inneren Sinne.

Phantasie und Gedächtnis sind die zwei inneren Sinne, die abgetötet werden mÜssen. Beide handeln gewöhnlich im Einverständnisse. Die Gedächtnistätigkeit wird von sinnfälligen Vorstellungen begleitet.

780. I. Grundsatz. Phantasie und Gedächtnis sind zwei wertvolle Fähigkeiten. Sie liefern dem Verstande nicht nur den Stoff, den er zu seiner Arbeit braucht, sondern ermög'lichen ihm auch, die Wahrheit mit Bildern und Tatsachen zu veranschaulichen und sie so leichter erfass bar, lebendiger und darum auch interessanter zu gestalten. Für die meisten Menschen hätte eine kalte, farblose Darstellung nur wenig Anziehendes. Es handelt sich also nicht etwa darum, diese Fähigkeiten verkümmern

I SpricllW" X, 19.

560 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTOTUNG.

zu lassen, sondern sie zu zügeln und ihre Tätigkeit der Oberherrschaft der V ern unft und des Willens unterzuordnen. Sich selbst überlassen, wÜrden sie sonst die Seele mit einer Menge zerstreuender Erinnerungen und Bilder ÜberschÜtten und ihre. Kräfte vergeuden, ferner der Seele kostbare Zeit rauben, sowohl beim Gebet, als auch bei der Arbeit, und sehr viele Versuchungen gegen Reinheit, Nächstenliebe, Demut und gegen andere Tugenden wachrufen. Notwendigerweise mÜssen sie also gezÜgelt und in den Dienst der höheren Fähigkeiten gestellt werden.

781. 2. Richtlinien. A) Um die AuswÜchse von Gedächtnis und Phantasie zu unterdrücken, bemÜhe man sich zunächst von Anfang an, d. h. beim ersten Bewusstwerden, unerbittlich alle gifäl.rlichen Vorstellungen oder Erinnerungen zu verscheuchen. Sie könnten eine Quelle von Versuchungen werden, würde man durch sie in eine missliche Vergangenheit oder in eine Umwelt gegenwärtiger oder zukÜnftiger Reize versetzt. Jedoch, weil man oft durch eine Art psychologischen Determinismus aus eitlen Träumereien auf gefährliches Gebiet kommt, so soll man sich gegen solches Ineinandergreifen der Gedanken wappnen und die unnützen Gedanken abtöten. Durch sie verlieren wir zunächst viel kostbare Zeit. Anderen gefährlicheren Gedanken bereiten sie den Weg. "Abtblung der unnÜtzen Gedanken ist der Tod der sÜndhaften Gedanken ", sagen die Heiligen.

7 8 2. B) Um das sicherer zu erreichen, ist das beste positive Mittel, uns mit ganzer Seele der gegenwärtigen Pflicht, unseren Arbeiten, Studien, kurz, u~?eren gewöhnlichen Beschäftigungen hinzugeben. Ubrigens ist das auch das beste Mittel, alles, was wir, zu tun haben, gut zu tun. Auf die gegenwärtige Handlung konzentrieren wir dabei unsere ganze Tätigkeit. "Age quod agis! " - Junge Leute

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTU NG. 561

mögen sich erinnern, zum Fortschritte in den Studien wie in ihren anderen Standes pflichten, mÜsse der Verstandesarbeit und dem Nachdenken mehr Raum gewährt werden, als den Sinnesfähigkeiten. Auf diese Weise arbeitet man ernstlich fÜr die Zukunft und meidet gleichzeitig gefährliche Träumereien.

783. C) Es ist endlich sehr nützlich, sich der Phantasie und des Gedächtnisses zu bedienen, um die Andacht zu nähren. Man suche in den hl. Büchern, den liturgischen Gebeten, den geistlichen Schriftstellern, die schönsten TextsteIlen, Vergleiche und Bilder auf. Mittels der Phantasie versetze man sich in Gottes Gegenwart. Stelle sich im einzelnen die Geheimnisse des Herrn und der allerseligsten Jungfrau vor. Anstatt also der Phantasie alle Nahrung zu entziehen, bereichere man sie mit religiösen Bildern und verdränge dadurch die gefahrbergenden. So werden wir dann die Begebenheiten des Evangeliums besser begreifen und unseren Zuhörern besser verständlich machen.

§ III. Abtötung der Leidenschaften. I

784. Im pllilosophischen Sinne des Wortes sind die Leidenschaften nicht notwendigerweise und un bedingt schlecht. Es sind lebende Kräfte, die oft sehr ungestüm sind und deren man sich zum Guten, wie zum Bösen bedienen kann. Nur muss man es verstehen, sie zu zÜgeln und auf ein edles Ziel zu richten. Aber in der landläufigen Sprache und bei gewissen geistlichen Schriftstellern wird das Wort im schlechten Sinne zur Bezeichnung der

I S, THOMAS, Ia IIre, g. 22-48. - SUAREZ, disp, III. - SENAULT, De l'usage des passi01/S. - DESCURET, La 1lu!decine des passions. BELOUINO, Des passiolls, - TH. RIBOT, La psychologie des sentiments. La logique des sentiments. - PAYOT, L'tfducatio1l de la volonti. - p, J AKVIER, Carhne I905, - H. D. Nl'BLE, L'lducation des passiolls. Siehe auch die bereits erwähnten Autoren über Abtötung.

562 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

bösen Leidenschaften gebraucht. Wir beabsichtigen: 1. an die psychologischen Hauptbegriffe betreffs der Leidenschaften zu erinnern, 2. deren gute und böse Wirkungen hervorzuheben, 3. Rz'chtlinien fÜr einen

guten Gebrauch der Leidenschaften zu entwerfen.

I. Die Psychologie der Leidenschaften.

Wie erinnern hier nur kurz an das, was ausführlich in der Psychologie behandelt wird.

785. 1. Begriff. Die Leidenschaften sind heftige Regungen des sz'nnlichen Begehrungsvermög-etlS nach einem sinnlichen Gut mÜ mehr oder wemger starker Riickwz'rlfung auf den Organismus.

a) Der Leidenschaft liegt also eine gewisse, wenigstens fühlbare Wahrnehmung eines erhofften oder erworbenen Gutes oder eines diesem Gute entgegengesetzten Ubels zugrunde. Aus dieser Wahrnehmung entspringen die Regungen des sinnlichen Begehrungsvermögens.

b) Diese Regungen sind Itejti/( und unterscheiden sich dadurch von den lust- oder unlustbetonten affektiven Zuständen, da diese ruhig, friedlich sind, also ohne die Glut, die Heftigkeit, die den Leidenschaften eigen ist.

c) Eben weil sie ungestÜm sind und stark auf das sinnliche Begehrungsvermögen wirken, finden sie wegen der engen Verbindung von Leib und Seele Widerhall bis in den jJlzysiscJten Organismus. So treibt der Zorn das Blut zum Gehirn und spannt die Nerven. So bewirkt Furcht das Erblassen, so erweitert die Liebe das Herz, während es der Schrecken zusammenzieht. Diese physiologischen Wirkungen stellen sich jedoch nicht bei allen in gleichem Masse ein. Sie hiingen von der Gemütsart eines jeden und von der Wucht der Leidenschaft ab, wie auch von der Beherrschung, die man' über sich gewinnt.

786. Die Leidenschaften unterscheiden sich somit von den GefÜhlen, welche Regungen des Willens sind. Diese setzen infolgedessen eine Kenntnis des Verstandes voraus und sind, seien sie auch stark, doch nicht so heftig wie die Leidenschaften. Dementsprechend gibt es Liebesleidenschaft und Liebesgefühl, leidenschaftliche Furcht wie intellektuelle. Allsserdem vermischen sich beim Menschen, dem vernünftigen Lebewesen, fast immer und in sehr verschiedenartigen Mengen oft Leidenschaften und Gefühle. Durch den von der

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 563

Gnade unterstÜtzten Willen gelingt es uns, die heftigsten Leidenschaften in edle GefÜhle zu verwandeln, indem wir jene diesen unterwerfen.

787. 2. Ihre Zahl. Gewöhnlich zählt man deren elf. Alle gehen aus der Liebe hervor, wie Bossuet I das vortrefflich beweist. '" Unsere anderen Leidenschaften bezieh~n sich auf die Liebe, einzig und allein, die sie alle enthält oder erregt. "

r) Liebe ist eine Leidenschaft, die nach Vereinigung mit der gefallenerregenclen Person oder Sache strebt. Man will sie besitzen.

2) Hass ist eine Leidenschaft, die nach Entfernung von dem missfallenden Dinge strebt. Er entsteht aus der Liebe d. h. wir hassen, was sich dem von uns geliebten Gegenstande entgegensetzt. Ich hasse die Krankheit nur, weil ich die Gesundheit liebe. Ich empfinde Hass gegen einen Menschen, weil er mich hindert, das von mir geliebte Gut zu besitzen.

3) Verlangen ist das Streben nach einem abwesendm Gut und entspringt der Liebe zu diesem Gute.

4) Abnez:f{ung.,(oder Flucht) ist Entfernung von dem sich uns niihernden Ubel.

5) Freude ist Genuss eines gegmwiirtigen Gutes.

6) Traur,igkeit hingegen ist BetrÜbnis Über ein ge/{e1Zwiirtiges Ubelund entfernt sich davon.

7) KÜhnheit (Verwegenheit oder Mut) bemÜht sich um die Vereinigung mit dem geliebten Gegenstand, dessen Erwerbung schwierig ist.

8) Fur.cht treibt uns an, uns von einem schwer zu vermeidenden Ubel zu entfernen.

9) HoJtiumg strebt eifrig nach dem geliebten Gegenstand, dessen Erreichung möglich, wenn auch schwierig ist.

10) Verzweijlung entsteht in der Seele, scheint die Erreichung des angestrebten Gutes unmjjglich.

r I) Zorn stösst heftig zurÜck, was uns als Übel erscheint und erregt den Wunsch nach Rache.

Die ersten sechs Leidenschaften, deren Ursprung im BegeilrUnf{sVermögen liegt, werden von den neueren Autoren gewöhnlich als Leidenschaften des Genusses bezeichnet. Die anderen fünf, die sich auf das iraszible Strebevermögen beziehen, als kiimpfmde Leidenschaften.

, De la Comzaissallce de Dieu et de soi-1llbne, I Kap., Num. VI.

564 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

I I. T17z'rkungen der Leidenschaften.

788. Die Stoiker behaupteten, die Leidenschaften seien von Grund aus schlecht und müssten unterdrÜckt werden. Die Epikuräer vergöttlichten die Leidenschaften und verkÜndeten laut, man mÜsse ihnen folgen. Unsere mod~rnen Epikuräer nennen es "sein Leben ausleben". Das Christentum hält die Mitte zwischen bei den Übertreibungen. Von dem, was Gott in die menschliche Natur legte, ist nichts schlecht. J esus selbst hatte wohlgeordnete Leidenschaften. Er liebte, nicht nur dem Wollen nach, sondern auch dem Herzen nach und weinte über Lazarus und die Untreue J erusalems. Er gab sich heiligem Zorn hin, ertrug Furcht, Traurigkeit, Widerwillen, aber er verstand es, diese Leidenschaften unter der Herrschaft des \NiIIens zu halten und sie Gott zu unterwerfen. Sind jedoch die Leidenschaften ungeordnet, dann bringen sie die schlimmsten \Virkungen hervor. Man muss sie also abtöten und zÜgeln.

789. Wirkungen der ungeordneten Leidenschaften. Ungeordnet nennt man die Leidenschaften, die nach einem verbotenen sinnlichen Gut streben, oder auch nach einem erlaubten, aber mit zuviel Hast und ohne es auf Gott zu beziehen. Diese ungeordneten Leidenschaften

a) Verblenden die Seele. Sie streben nämlich ungestüm nach ihrem Ziele, befragen nicht die Vernunft und lassen sich vom Reize oder der Lust leiten. Darin aber liegt der Keim der Verwirrung. Das Urteil wird unrichtig und der gesunde Verstand verdunkelt. Das sinnliche Begehrungsvermögen ist von Natur aus blind. Lässt sich die Seele von ihm führen, wird auch sie blind. Anstatt sich von der Pflicht leiten zu lassen, ist es die augenblickliche Lust, von der sie sich blind hinreissen lässt. Wie durch eine Wolke ist sie dadurch gehindert, die

DRITTES KAPITEL. ----:- DIE ABTÖTUNG. 565

VJahrheit zu erkennen. Die Seele wird durch die Leidenschaften wie durch aufgewirbelten Staub in ihrer Sehkraft gestört. Sie erkennt den Willen Gottes nicht mehr deutlich, noch ihre Pflicht. Sie ist nicht mehr fähig, ein gesundes Urteil zu fällen.

790. b) Sie belästigen die Seele und verursachen ihr Leiden.

I) "Die Leidenschaften ", sagt der hl. J ohannes \'. Kreuz, I "sind wie ungeduldige kleine Kinder. Man kann sie nie zufrieden stellen. Sie verlangen bald dies, bald das von ihrer Mutter. Ganz zufrieden sind sie nie. Ein Geizhals ermüdet im vergeblichen Graben nach einem Schatze. Ebenso erschöpft sich die Seele im Streben nach dem, was die Leidenschaften verlangen. Ist die eine befriedigt, so erstehen andere und erzeugen Müdigkeit, weil nichts sie befriedigen kann ... Die GelÜste ermüden und betrÜben die Seele. Sie wird von ihnen gleichsam zerrissen, aufgewÜhlt, trÜbe wie die Wogen vom Winde."

2) Daraus entstehen um so heftigere Leiden, je stärker die Leidenschaften sind. Sie martern unsere arme Seele, bis sie befriedigt sind ,und, da "der Appetit beim Essen kommt ", verlangen sie immer mehr. Sträubt sich das Gewissen, werden sie ungeduldig, regen sich auf, bestÜrmen den Willen, ihren stets erneuten WÜnschen nachzugeben, kurz, es ist eine unsagbare Qual.

7 91. c) Sie schwächen den Willen. Von den aufrÜhrerischen Leidenschaften hin und hergezogen, muss der Vville seine Kräfte verteilen, daher sie schwächen. Insoweit er den Leidenschaften nachgibt, vergrössern diese ihre Ansprüche und

I La Montce du Car11lel, I. B., 6. Kap. Man lese Kap. VI-XII dieses Buches, wo der Heilige ganz, vortrefflich" die schädlichen Wirkungen der Gelüste d. i. der Leidenschaften" erklärt. 'vVir fassen hier seine Gedanken nur kurz zusammen.

566, DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

vermindern so seine Kräfte. Unnützen und nahrungsentziehenden Schösslingen an einem Baumstamme gleich, entwickeln sich die unbeherrschten GelÜste immer mehr und rauben der Seele ihre Kraft, wie die Schmarotzerpflanzen dem Baum. Es kommt der Zeitpunkt, in welchem die geschwächte Seele in Erschlaffung und Lauheit fällt und zu jeder Nachgiebigkeit bereit ist.

792. d) Sie beflecken die Seele. Gibt die Seele den Leidenschaften nach, vereinigt sie sich mit den Geschöpfen, so steigt sie zu ihnen hinab und zieht sich deren Bosheit und Unreinheit zu. Anstatt das treue Abbild Gottes zu sein, macht sie sich zum Ebenbilde der Dinge, an die sie sich hängt. Staub und Schmutz verdunkeln bald ihre Schönheit und verhindern ihre vollkommene Vereinigung mit Gott.

" Ich wage zu behaupten ", sagt der hl. Johannes v. Kreuz, "dass ein einziges ungeordnetes Gelüst, sollte es auch von schwerer Sünde frei bleiben, genügt, um die Seele in einen solchen Zustand von Verdunkelung, Hässlichkeit und Unreinheit zu versetzen, dass sie jeglicher innigen Vereinigung mit Gott unfähig wird, bis sie sich davon gereinigt hat. vVas soll man da erst sagen von der, die in der Hässlichkeit aller ihrer natürlichen Leidenschaften dasteht, allen ihren Gelüsten sich hingibt? In welch' unendlicher Entfernung wird sie von der göttlichen Reinheit sein? Weder Worte, noch Vernunftsschlüsse vermögen die vielgestaltige Befleckung zu veranschaulichen, die durch soviele verschiedene Gelüste in ell1er Seele hervorgebracht wird ... Jedes Gelüst legt auf seine \Veise seinen Teil von Unrat und Hässlichkeit in die Seele nieder. "

793. Schlussfolgerung. Will man zur Vereinigung mit Gott kommen, muss man infolgedessen alle, auch die kleinsten Leidenschaften abtöten, soweit sie gewollt und ungeordnet sind. Zur vollkommenen Vereinigung ist nämlich Voraussetzung, dass in uns nichts dem Willen Gottes zuwider, kein gewolltes Anhaften an ein Geschöpf oder an uns selbst sei. Sobald wir uns von einer Leidenschaft irrefÜhren lassen, schwindet die vollkommene Vereinigung zwischen unserem und dem göttlichen Willen. Das

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 567

gilt besonders von den Gewohnheitsleidenschaften oder Gewohnheitsanhänglichkeiten. Seien sie auch nur gering, so lähmen sie doch den Willen. So bemerkt der hl. J ohannes v. Kreuz I : "Ob der Vogel am Fusse mit einem dÜnnen oder dicken Faden gefesselt ist, tut nichts zur Sache. Er kann erst fliegen, wenn er den Faden zerrissen hat. "

794. Vorzüge der wohlgeordneten Leidenschaften. Sind hingegen die Leidenschaften wohlgeordnet, d. h. auf das Gute gerichtet, gemässigt und dem Willen unterworfen, so besitzen sie grosse Vorzüge. Es sind nämlich lebendige, glutvolle Kräfte, welche die Tätigkeit des Verstandes und des Willens anzuregen vermögen und ihnen dadurch mächtige Hilfe leisten.

a) Sie wirken auf den Verstand, denn sie regen den Eifer zur Arbeit, die Begierde, die Wahrheit zu erkennen, an. Nimmt ein Gegenstand uns leidenschaftlich - im guten Sinne des Wortes ein, so sind wir ganz Auge, ganz Ohr, um ihn gut zu erkennen. Unser Verstand erfasst dann leichter die \i\Tahrheit und wir behalten sie auch leichter im Gedächtnis. Da ist z. B. ein von glühender Vaterlandsliebe beseelter Erfinder. Zweifellos wird er im Hinblick auf die seinem Vaterlande zu leistenden Dienste mit grösserem Eifer, grösserer Zähigkeit und grösserem Scharfsinne arbeiten. Ebenso wird ein Student, den der edle Ehrgeiz trägt, sein Wissen in den Dienst seiner Landsleute zu stellen, sich mehr mÜhen und grössere Erfolge erzielen. Besonders aber wird jener, der J esus Christus leidenschaftlich liebt, das Evangelium mit grösserem Eifer durchforschen, es besser verstehen und mehr geniessen. Die \i\Torte des Heilandes sind fÜr ihn OrakelsprÜche, die seine Seele mit strahlendem Lichte erfÜllen.

1 La 1/Zo71tt!e du Ca1'1ltel, 1. B" XI. Kap.

568 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

795. b) Sie wirken auch auf den Willen. Sie reissen ihn mit. Verzehnfachen seine Kraft. Was man mit Liebe tut, wird besser getan. Man verwendet mehr Fleiss darauf, zeigt slch beharrlicher und erzielt mehr Erfolg. Was versucht nicht alles eine liebende Mutter, um ihr Kind zu retten? Wieviele Heldentaten flösst nicht Vaterlandsliebe ein? Wird ein Heiliger von Liebe zu Gott und den Seelen leidenschaftlich erfasst, so schrickt er vor keiner MÜhe, keinem Opfer, keiner Schmach zurÜck, um seine BrÜder zu retten. Zwar ist es der Wille, der solche vVerke des Seeleneifers gebietet, jedoch der von heiliger Leidenschaft angeregte, eingegebene und getragene Wille. Wenn also die beiden Strebevermögen, das sensitive und das intellektuelle, mit andern Worten, wenn Herz und \i\Tille in gleicher Richtung arbeiten und ihre Kräfte vereinen, so wird das Ergebnis doch augenscheinI1ch viel bedeutender und dauernder sein. Es ist demnach von Wichtigkeit, zu wissen, wie man die Leidenschaften nÜtzlich verwenden kann.

I I I. Vom guten Gebrauch der Leidenscha.ften.

Zunächst werden wir an die psychologischen Grundsätze erinnern. Sie können uns die Aufgabe erleichtern. Dann werden wir zeigen, wie man den bösen Leidenschaften widersteht, - wie man die Leidenschaften auf das Gute richtet und wie man sie mässigt.

1. NÜTZLICHE, PSYCHOLOGISCHE GRUNDSÄTZE.

796. Um die Leidenschaften zu beherrschen, bedarf man vor allem der Gnade Gottes, folglich des Gebetes und der hI. Sakramente. Man muss jedoch auch mit einer auf Psychologie begrÜndeten klugen Taktik vorgehen.

a) Jeder Gedanke strebt nach Ausdruck in entsprechender Tat, beso,!.ders, wenn er von heftigen GefÜhlen und starker Uberzeugung getragen wird.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 569

So ruft das Denken an die durch die Phantasie lebhaft vorgestellte, sinnliche Lust sinnliche Begierde und oft Tat hervor, Hingegen erregt das Denken an edle Handlungen, deren hervorgebraclÜe .. glückliche Wirkungen man sich vorstellt, das Verlangen, Ahnliches zu tun. Das gilt besonders von Gedanken, die nicht abstrakt, kalt, farblos, sondern von sinnfälligen Vorstellungen begleitet sind und konkret, lebendig und eben dadurch packend werden. In diesem Sinne kann man sagen, der Gedanke sei eine Kraft, ein Antrieb, ein Tatansatz. Will man also die schlechten Leidenschaften beherrschen, so beseitige man sorgfältig jeden Gedanken, jede Phantasievorstellung, welche die böse Lust als begehrungswert erscheinen lässt. Will man hingegen die guten Leidenschaften und Gefühle pflegen, so unterhalte man in sich Gedanken und Vorstellungen, die die schöne Seite der Pflicht oder der Tugend zeigen, und mache diese Betrachtungen so konkret und lebendig wie möglich.

797. b) Die Einwirkung eines Gedankens dauert solange dieser nicht durch einen stärkeren Gedanken, der an seine Stelle tritt, verdrängt wird. So macht sich eine sinnliche Begierde solange fÜhlbar, bis sie von einem die Seele ergreifenden, edleren Gedanken verscheucht wird. Will man sich also ihrer entledigen, so gebe man sich durch LektÜre oder interessantes Studium einer ganz anderen oder entgegengesetzten Gedankenfolge hin. Hat man die Absicht, einen guten Wunsch lebhafter zu machen, so verweile man dabei durch Erwägung alles dessen, was ihn nährt.

c) Die Einwirkung eines Gedankens steigert sich, gesellt man ihm andere ihn bereichernde, verwandte Gedanken bei, wodurch man ihn erweitert. So werden Gedanke und Verlangen, seine Seele zu retten, stärker und wirksamer, so oft man damit den Gedanken verbindet, am Seelenheil des Nächsten zu arbeiten, wie es z. B. beim hl. Franz Xaverius der Fall war.

798. d) Der Gedanke erreicht schliesslich den Höhepunkt seiner Macht, wird er zur Gewohnheit, nimmt er den ganzen Menschen in Besitz, entwikkelt er sich zu einer Art Grundgedanken, der alle

570 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

anderen Gedanken und alle Handlungen beeinflusst. Auf natü.rlichem Gebiete. ist das bei ~en Men-

Oswald (Diskussion)>~-mu.Oswald (Diskussion) z. B. diese oder jene Entdeckung zu machen. Auf ÜbernatÜrlichem Gebiete bei jenen, die so von einem Grundsatz des Evangeliums durchdrungen sind, dass dieser die Richtschnur ihres Lebens wird, z. B. "Verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen" oder" Was nÜtzt es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen, wenn er an seiner Seele Schaden leidet?" oder auch "Christus ist mein Leben! "

Man muss also darauf hinzielen, seiner Seele einige packende, sie ganz in Anspruch nehmende Leitgedanken tief einzuprägen, sie dann in die Einheit eines Wahlspruches zusammenzufassen, eines Grundsatzes, der sich fasslich darstellt und stets dem Geiste vorschwebt, z. B. " Deus meus et omnia!" " A d majorem Dei gloriam !" " Gott allein genügt! " "Hat man Jesus, hat man alles!" "Esse cum Jesu dulcis paradisus!" Mit einem solchen Wahlspruche wird man die bösen Leidenschaften leichter besiegen und die guten nutzbar machen.

2. WIE MAN DIE UNGEORDNETEN LEIDENSCHAFTEN BEKÄMPFEN SOLL.

799. Sobald man sich bewusst wird, in der Seele mache sich eine ungeordnete Regung bemerkbar, muss man alle natürlichen und ÜbernatÜrlichen Mittel anwenden, um ihr zu widerstehen und sie zu beherrschen.

a) Von Anfang an bediene man sich, mittels der Gnade, der untersagenden Gewalt des Willens, um die Regung abzuschwächen.

Man vermeide dussere Handlungen oder Bewegungen, welche die Leidenschaft anstacheln oder verstärken können. Fühlt man sich vom Zorn hingeri~sen, so vermeide man ungeordnete Bewegungen, laute Ausserungen, und man schweige, bis die Ruhe wiedergekehrt ist. Handelt es sich

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. ~71

um eine zu lebhafte Zuneigung, so vermeide man es, der geliebten Person zu begegnen, mit ihr zu sprechen, besonders aber, sie diese Neigung erraten zu lassen. Auf diese Weise wird die Neigung nach und nach abgeschwächt.

800. b) Handelt es sich um eine Leidenschaft des Genusses, muss man sich noch viel mehr MÜhe geben, den Gegenstand dieser Leidenschaft zu vergessen.

Damit es gelinge, wende man erstens Phantasie und Geist irgend einer ehrsamen Beschäftigung zu, die von dem geliebten Gegenstande ablenken kann. Man suche sich ins Studium zu vertiefen, in die Lösung einer Aufgabe, ins Spiel, in einen Spaziergang mit andern, ins Gespräch u. s. w. Beginnt Ruhe einzutreten, so stelle man, zweitens, Envägungen sittlicher Natur an, die den Willen gegen den Reiz der L,ust wappnen können. Natürliche Erwägungen, wie die Ubelstände, die sich für Gegenwart und Zukunft aus einer gefährlichen Bekanntschaft, einer zu sinnlichen Freundschaft ergeben. (N. 603). Besonders übernatürliche Erwägungen, wie z. B. die Unmöglichkeit, in der Vollkommenheit Fortschritte zu machen, solange man diese Anhängsel unterhält, diese selbstgeschmiegeten Fesseln trägt, die Unsicherheit des Seelenheils, das Argernis, das man gibt, u. s. w.

Handelt es sich um Leidenschaften, die zum Kampfe reizen, wie Zorn oder Hass, so kann man oft nach zeitweiliger Flucht, die zur Schwächung der Leidenschaft dient, zum Angriff übergehen, sich der Schwierigkeit entgegenstellen, sich durch Vernunft und besonders durch den Glauben überzeugen, wie unwürdig des Menschen und des Christen es sei, sich dem Zorne oder dem Hasse hinzugeben. Wieviel edler, ehrenvoller und dem Evangelium entsprechender es sei, ruhig und voll Selbstbeherrschung zu bleiben.

801. c) Endlich versuche man, der Leidenschaft entgegengesetzte, positive Al?te zu vollziehen.

Fühlt man Abneigung gegen jemand, so handle man, als ob man seme Sympathie gewinnen wolle. Man bemühe sich, ihm Dienste zu leisten, liebenswürdig gegen ihn zu sein und besonders für ihn zu beten. Nichts besänftigt ein Herz mehr, als aufrichtiges Gebet für einen Feind. Fühlt man dagegen übermässige Zuneigung zu einem Menschen, so meide man seine Gesellschaft, oder, ist das unmöglich, so beschränke man sich auf die allernotwendigste Höflichkeit, wie man sie allgemein im Verkehr zu gebrauchen pflegt. Diese der Leidenschaft entgegengesetzten Akte schwächen schliesslich

572 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

jene und bewirken, dass sie aufhört, besonders, wenn man es versteht, die guten Leidenschaften zu pflegen.

3. WIE DIE LEIDENSCHAFTEN AUF DAS GUTE ZU RICHTEN SIND.

802. Die Leidenschaften an sich seien nicht schlecht, sagten wir. Sie können mithin, und zwar oltne Ausnahme, auf das Gute gerichtet werden.

a) Liebe und Freude können auf die reinen, rechtmässigen Neigungen innerhalb der Familie, auf gute, übernatürliche Freundschaften gerichtet werden. Besonders auf den Heiland, der der zärtlichste, freigebigste und aufopferndste aller Freunde ist. Nach dieser Richtung also muss das Herz sich wenden. Zu diesem Zwecke lese, betrachte man die zwei schönen Kapitel aus der Nachfolge Christi, die schon so viele Seelen entzückten. De amore Jesu super o1Jlnia. De amicitia familiari Jesu. Man bemühe sich, sie praktisch zu üben.

b) Hass und Abneigung mögen sich auf Sünde, Lasterhaftigkeit und alles dazu Führende richten, es zu verabscheuen und zu fliehen. " Iniquitatem odio habui. " ,

c) Verlangen verwandle sich in rechtmässigen Ehrgeiz, auf natÜrlichem Gebiete, seiner Familie und seinem Vaterlande Ehre zu machen. Auf übernatürlichem Gebiete, ein Heiliger, ein Apostel zu werden.

d) Traurigkeit, an statt in Melancholie auszuarten, werde bei Prüfungen sanfte Ergebung, die dem Christen Saat der Glorie werden. Oder inniges Mitleid mit dem leidenden oder beleidigten Heiland oder mit betrübten Seelen.

e) Hojfnzmg wird christliches Hoffen, unerschütterliches Vertrauen auf Gott. Es verzehnfacht unsere Kräfte für das Gute.

f) Verzweiflung verwandelt sich in berechtigtes Misstrauen gegen uns selbst. Es hat in unserer Ohnmacht und in unseren Sünden seinen Grund. Durch Gottvertrauen wird es gemässigt.

g) Furcht, an statt ein die Seele schwächendes, niederdrükkendes Gefühl zu sein, ist für den Christen eine Quelle der Kraft. Er fürchtet sich vor der Sünde und der Hölle, wappnet sich aber in dieser berechtigten Furcht mit Mut gegen das Böse. Vor allem fürchtet er Gott, scheut sich, ihn zu beleidigen und verschmäht jegliche Menschenfurcht.

, Ps. CXVIII, 163.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 573

h) Zorn, anstatt uns die Herrschaft über uns selbst zu rauben, ist nur gerechte und heilige Entriistun,i[, die uns gegen das Böse stärkt.

i) Kiilmheit wird Unerschrockenheit angesichts der Schwierigkeiten und Gefahren. Je schwieriger eine Sache, desto mehr erscheint sie unserer Anstrengung wÜrdig.

803. Um dieses glÜckliche Ergebnis zu verwirklichen, ist nichts so wertvoll wie die von frommen Regungen und grossmütigen Vorsätzen begleitete Betrachtung. Durchsie schafft man sich ein Ideal und tiefinnerliche Uberzeugung-en, um sich demselben von Tag zu Tag zu nähern. Es handelt sich nämlich darum, in der Seele Gedanken und GifÜJtle zu wecken und zu unterhalten, die den zu Übenden Tugenden entsprechen, dann aber auch Vorstellungen und EindrÜcke zu entfernen, die jene Fehler mit sich bringen, welche man vermeiden will. Will man das erreichen, so gibt es kein besseres Mittel, als täglich in der von uns angegebenen Weise (N. 697 u. ff.) zu betrachten. Bei dieser innigen Aussprache mit Gott allein, der unendlichen Wahrheit und GÜte, erscheint die Tugend von Tag zu Tag liebenswÜrdiger, das Laster hassenswerter. Der durch diese Überzeugung gestärkte Wille reisst die Leidenschaften zum Guten hin, anstatt sich von ihnen zum Bösen Überreden zu lassen.

4. "VIE DIE LEIDENSCHAFTEN zu l\lÄSSIGEN SIND.

804. a) Sind auch die Leidenschaften auf das Gute gerichtet, so muss man sie doch zu mässig-en verstehen, d. h. sie der Leitung von Vernunft und Willen unterstellen. Diese wiederum mÜssen vom Glauben. und der Gnade geführt sein. Andernfalls wären sie zuweilen Übertrieben, denn ihrer Natur nach sind sie ungestÜm.

So könnte z. ß. der Wunsch, fleissig zu beten, Überanstrengung des Geistes werden, die Liebe zu J eSlls sich in Leib und Seele angreifenden Gefühlsanstrengllngen äussern. Unzeitiger Eifer wird Uberarbeitung, Entrüstung artet in

G74 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

Zorn aus und Freude in Ausgelassenheit. Mehr als je sind wir, in einem Jahrhundert, in welchem die fieberhafte Tätig-keit unserer Zeitgenossen ansteckend wirkt, solchen Ubertreibungen ausgesetzt. Aber diese heftigen Regungen, seien sie auch auf das Gute gerichtet, ermüden Geist und Körper und brauchen den Menschen auf. Sie können auch jedenfalls nicht lange dauern. " Violenta non durant/" vVas aber am meisten Gutes hervorbringt, iot die Beharrlichkeit bei der Anstrengung.

805. b) Man muss also seine Tätigkeit von einem klugen SeelenfÜhrer begutachten lassen und dessen weisen Ratschlägen folgen.

I) Gewolmheiisgemiiss muss man bei Wünschen und Leidenschaften eine gewisse Mässigung-, eine Art besänftigter Ruhe walten lassen und es vermeiden, stets in Spannung zu sein. Man muss das Reitpferd schonen, will man das Rennziel erreichen. Folglich ist die kraftaufreibende, Übertriebene Hast zu vermeiden. Unsere arrnselig-e, menschliche Maschine kann nicht andauernd unter Hochdruck arbeiten, wenn wir nicht haben wollen, dass sie explodiere.

2) Vor einer besonders grossen Anstrengung oder nach beträchtlichem Kräfteverbrauch verlangt die Klugheit, dass man den berechtigtsten Strebung-en, dem glühendsten und reinsten Eifer eine gewisse Ruhe und Stille gebiete. Ein diesbezügliches Beispiel hinterliess uns auch der Heiland. Von Zeit zu Zeit lud er seine Jünger zur H.uhe ein. " Venite seorsum in desertum locum et requiescite pusillum . " ,

Werden die Leidenschaften so geleitet und gemässigt, sind sie nicht nur weit entfernt davon, ein Hindernis fÜr die Vollkommenheit zu sein, sondern wirksame Hilfsmittel, uns ihr täglich zu nähern. Der Über die Leidenschaften errungene Sieg wird zur besseren Regelung unserer höheren Fähigkeiten beitragen.

§ IV. Abtötung der höheren Fähigkeiten. Diese höheren Fähigkeiten, die das VJesen des Menschen ausmachen, sind Verstand und Wille. Auch sie bedÜrfen der ZÜgelung, da sie ebenfalls von der ErbsÜnde belastet wurden. (N. 75)·

, Mark"s, VI, 31.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 573

I. Abtötung oder Zügelung des Verstandes.

806. Unser Verstand wurde uns zur Erkenntnis der Wahrheit, besonders aber Gottes und göttlicher Dinge gegeben. Gott ist die wahre Sonne der Geister. Er erleuchtet uns durch ein zweifaches Licht, das der Vernunft und das des Glaubens. In unserem jetzigen Zustande können wir ohne Beihilfe dieser zwei Leuchten nicht zur vollen Wahrheit gelangen. Die eine oder die andere verschmähen, heisst, sich selbst des Lichtes berauben. Es ist um so wichtiger, den Verstand zu zÜgeln, da er es ist, der den Willen erleuchtet und ihm die Richtlinien zum Guten anweist. Er ist als Gewissen die Norm unseres sittlichen und ÜbernatÜrlichen Lebens. Zu diesem Zweck mÜssen wir die fehlerhaften Strebungen des Verstandes abtöten. Die hauptsächlichsten derselben sind: Unwissenheit, Wissbegier, ÜberstÜrzung, Stolz und Hartnäckigkeit.

807. 1. Unwissenheit wird durch methodischen und beharrlichen Fleiss beim Studium bekämpft, beim Studium besonders von Dingen, die sich auf Gott, unser letztes Ziel und auf die Mittel, es zu erreichen, beziehen. Es wäre wahrlich unvernÜnftig, sich mit allen Wissenschaften zu beschäftigen, die des Seelenheils aber zu vernachlässigen.

Gewiss soll ein jeder aus den menschlichen \\Tissenschaften alles lernen, was sich auf seine Standespflichten bezieht. Da jedoch die allererste Pflicht ist, Gott zu erkennen, um ihn zu lieben, wäre die Vernachlässigung dieses Studiums unverzeihlich. Und dennoch! vVieviele Christen gibt es, die zwar in diesem oder jenem Zweige der Wissenschaft sehr bewandert sind, von den christlichen Wahrheiten, den Dogmen, der Moral und der Aszese aber nur eine sehr elementare Kenntnis besitzen. Einiger Fortschritt ist heutzutage bei einer ausgesuchten Schar zu bemerken. Es gibt Studienzirkel, in denen alle religiösen Fragen, auch die das geistliche Leben betreffen, mit lebhaftem Interesse erörtert werden.'

'Besonders erwähnenswert sind die Zirkel von Hochschülern, in denen man sich mit Theologie beschäftigt, ferner die Bewegung der

576 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

Gott sei Dank! Möge dieses Unternehmen immer grösseren Beifal finden.

808< 2. Die Wissbegier ist eine Krankheit unseres Geistes, wodurch die religiöse Unwissenheit nur erhöht wird. Sie drängt uns, mit Übermässigem Eifer mehr nach Kenntnissen zu streben, die uns gefallen, als nach solchen, die uns nÜtzlich sind, und wir verlieren durch sie viel kostbare Zeit. Oft befinden sich Hast und Ü berstürzung in ihrem Geleite, so dass wir uns auf Kosten wichtigerer Studien durch die, welche der Neugier schmeicheln, in Anspruch nehmen lassen.

Um sie zu besiegen, muss man: r) zunächst lernen, nicht, WitS gefällt, sondern was nützlich ist. Besonders, was notwendig ist. "Id prius quod est magis necessariulll ", sagt der hl. Bernhard. Mit dem übrigen soll man sich nur erholungsweise befassen. Man lese daher mit Mass, was die Phantasie mehr als den Geist nährt, also die meisten Romane oder was sich auf Neuigkeiten und Weltverkehr bezieht, wie z. B. Zeitungen und gewisse Zeitschriften. 2) Bei dieser Lektüre "ermeide man übertriebene Hast, als wollte man das Buch verschlin,feJI. Selbst, wenn es sich um gute Lektüre handelt, ist es wlchtig, sie langsam zu halten, um das Gelesene besser zu verstehen und zu geniessen (N. 582). 3) Das wird alles erleichtert, lernt man nicht aus Wissbegier, nicht um sich selbst in der Wissenschaft zu gefallen, sondern aus einem übernatürlichen Grunde, um sich und andere zu erbauen. " Ut Cl!dificent, et caritas est ... ut Cl!dijicentur, et prude1Ztia est.'" Denn die Wissenschaft, sagt der hl. Augustin, muss in den Dienst der Liebe gestellt werden.' " Sic adhibeatur scientia tanquam mac/zina qUCl!dam per quam structura caritatis assurgat. " Das gilt selbst für die Forschungen auf dem Gebiete des innerlichen Lebens. Es fehlt nämlich nicht an solchen Menschen, die in diesen Studien mehr die Befriedigung ihrer Wissbegier und ihres Stolzes suchen, als die Reinigung des Herzens und die Ubung der Abtötung. 3

809. 3. Der Stolz muss daher gemi~den werden, jener Hochmut des Geistes, der gefährlicher und

.. Revue des Jeunes" sowie die von der Zeitschrift .. L'Evallgile dans la vie" gegründeten und für Vertiefung des inneren Lebens bestimmten Studien zirkel.

, S. BERNARDUS, III Cant., serm. XXXVI, n. 3. 'Epist. LV, C. 22, n. 39. P. L., XXXIII, 223.

3 SCUPOLI, Combat sp;'-it., 9. Kap., N. 8.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 577

schwerer heilbar als der Hochmut des Willens ist, wie Scupoli sagt. 1

Dieser Stolz erschwert den Glauben und den Gehorsam den Oberen gegenüber. Man möchte sich selbst genügen, so sehr vertraut man auf seine eigene Vernunft. Nur mit Mühe nimmt man die Lehren des Glaubens an oder will sie wenigstens der Kritik und vernunftgemässer Auslegung unterziehen. Auch in sein Urteil setzt man solches Vertrauen, dass man nicht gern andere, namentlich die Oberen, um Rat fragt. Daher bedauerliche Unvorsichtigkeiten. Daher auch Hartnäckigkeit in der eigenen Ansicht, so dass man die der eigenen abweichenden Meinungen mit schneidender Schärfe verurteilt. Das ist eine der häufigsten Ursachen von Streitigkeiten, die zwischen Christen manchmal sogar zwischen katholischen Schriftstellern vorkommen. Der hl. Augustinus ' hob schon zu seiner Zeit die unglückseligen Spaltungen hervor, die Frieden, Eintracht und Liebe zerstören. "Sunt unifatis divisores, z'nimici pacis, carz'tatis expertes, 1Janitate tumentes,placentes-sibi et llIaf{1Zi in oculz's suis."

810. Um diesen Hochmut des Geistes zu heilen, gilt es : I) sich mit kindlicher FÜgsamkeit den -Lehren der Kirche zu unterwerfen. Zwar ist es erlaubt, jenes Verständnis unserer Dogmen zu suchen, das durch mÜhsame und geduldige Forschungen erreicht wird und dabei bediene man sich der Arbeiten der Kirchenlehrer, besonders des hl. Augustinus und des hl. Thomas. Das aber muss in Frömmigkeit und Masshaltung geschehen, sagt uns das Vatikanische Konzil. 3 Man lasse sich dabei vom Grundsatze des hl. Anselm leiten : "Fz'des qucerens intellectu11Z." Dann umgeht man diesen Ityperkritisclle7Z Geist, der unter dem Vorwande, die Dogmen zu erklären, sie schwächt und vermindert. Dann unterwirft man nicht nUr den Glaubenswahrheiten, sondern auch den päpstlichen Verordnungen sein Urteil. Dann lässt man auch in unentschiedenen Fragen anderen die Freiheit, die man fÜr die eigenen Meinungen beansprucht und behandelt die den eigenen Meinungen entgegengesetzten An-

, Sermo III Paschre, n. 4. - 2 L. eil., N. 10. - 3 DENZINGER, n. 1796.

N° 683. -19

578 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

sichten nicht mit Überlegener Geringschätzung. So wird Frieden unter den Geistern sein.

2) Bei Diskussionen mit anderen suche man nicht die Befriedigung des Stolzes und den Triumph seiner Gedanken, sondern die Wahrheit. Selten wird sich bei gegnerischen Meinungen nicht wenigstens ein Teil Wahrheit finden, den wir vielleicht bisher nicht beachtet hatten. Hören wir die Gründe der Gegner mit Aufmerksamkeit und Unparteilichkeit an. Gestehen wir ihnen zu, was sich Richtiges in ihren Ausführungen findet. Das ist das Mittel, um der Wahrheit nahe zu kommen und die Gesetze der Demut und Liebe zu wahren.

Kurz, um den Verstand zu zÜgeln, muss man lernen, was am notwendigsten ist, und zwar methodisch, beharrlich und im ÜbernatÜrlichen Geiste, d. h. mit dem Wunsche, die Wahrheit zu erkennen, zu lieben und zu Üben.

11. Abtötung oder Erziehung des Willens.

811. I. Notwendigkeit. Der Wille ist im Menschen die Hauptfähigkeit, der König aller anderen, denn er beherrscht alle. Er ist es, der als frei Bestimmender nicht nur seinen eigenen Akten, sondern auch den von ihm befohlenen Akten der anderen Fähigkeiten ihre Freiheit, ihr Verdienst oder ihre Verschuldung gibt. Den Willen zÜgeln heisst daher, den ganzen Menschen zÜgeln. Der Wille ist wohlgeordnet, ist er stark genug, um die niederen Fähigkeiten zu beherrschen, und fügsam genug, um Gott untertan zu sein. Darin besteht seine doppelte Aufgabe.

Das eine wie das andere ist schwierig. Oft nämlich empören sich die niederen Fähigkeiten gegen den Willen und unterwerfen sich seiner Herrschaft nur, wenn man klug und energisch vorzugehen versteht. Der Wille hat keine unbedingte Macht über die sinnlichen Fähigk!,iten, sondern eine Art moralische Macht, eine Macht der Uberredung, um sie zur Unterwerfung zu bringen (N. 56).

Daher gelingt es nur schwer und durch immer erneute Anstrengungen, die sinnlichen Fähigkeiten und die Leidenschaften dem Willen gefÜgig zu machen. - Es kostet auch MÜhe, den eignen

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. hr ~

Willen vollkommen dem Willen Gottes zu unterwerfen. Wir streben alle nach einer gewissen Unabhängigkeit. Da der göttliche Wille uns nicht heiligen kann, ohne Opfer von uns zu verlangen, schrecken wir oft vor der MÜhe zurÜck und ziehen unsere Neigungen und Launen dem heiligen ~lillen Gottes vor. Folglich muss auch hier die Abtötung einsetzen.

,

812. 2. Praktische Mittel. Um den Willen gut zu erziehen, muss man ihn genÜgend fÜgsam machen,' damit er in allen Dingen Gott gehorche, und stark genug, um dem Leibe und dem GefÜhlsleben befehlen zu können. Dieses Ziel wird erreicht, beseitigt man die Hindernisse und gebraucht man positive Mittel.

A) Die Haupthindernisse : a) im .lnnern sind: I) ManlJel an Nachdenken. Man überlegt nicht, ehe man handelt. Man folgt dem Antrieb des Augenblicks, der· Leidenschaft, der Gewohnheit, der Laune. Also erst Überlegen und dann handeln. Man soll sich fragen, was Gott von uns verlangt. _ 2) Fieberhafte Hast. Sie verursacht zu grosse und schlecht geleitete Spannung, reibt Leib und Seele umsonst auf und führt oft zum Bösen. Darum Ruhe bewahren, Mass halten, auch im Guten, das Feuer gleichmässig unterhalten, nicht Strohfeuer aufflackern lassen. - 3) Sichgehenlassen, unentschieden sein, träge, keine moralische Kraft mehr in sich fLihlen, wodurch d.er Wille erlahmt und verkümmert. Gegenmittel : Seine Uberzeugung und seine Energie verstärken, wie wir weiter unten darlegen werden. - 4) AnlJst vor Misserfolg' oder Mangel an Vertrauen, was die Kräfte ausserordentlich vermindert. Man muss sich ganz im Gegenteil erinnern, dass man mit Gottes Hilfe sicher zu guten Ergebnissen kommen wird.

813. b) Zu diesen Hindernissen gesellen sich andere von aussen " I) Menschen/unht, wodurch wir zu Sklaven der anderen werden, ihre Urteile und ihren Spott fürchten. Man bekämpft sie, indem man sich immer wieder sagt, nur das allzeit weise Urteil Gottes, nicht aber das der gebrechlichen Menschen sei massgebend. - 2) Schlechte Beispiele, die uns um so eher mitreissen, als sie einem Hang unserer eigenen Natur entsprechen. Hier erinnere man sich, das einzig nachzuahmende Beispiel sei J esus, unser Meister und unser Haupt. (N. I36 u. ff.); ausserdem müsse ein Christ das Gegenteil von dem tun, was die Welt tut. (N. 2[4)

580 DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG.

814. B) Was die positiven Mittel betrifft, so bestehen sie in der harmonischen Verbindung der Tätigkeit des Verstandes, des Willens und der Gnade.

a) Es ist Sache des Verstandes, tiefwurzelnde Grundsätze aufzustellen, die für den Willen gleichzeitig Leitung und Antrieb sind.

Diese Überzeugungen müssen so beschaffen sein, dass sie den Willen beeinflussen, das zu wählen, was mit dem Willen Gottes Übereinstimmt. Man kann sie kurz so zusammenfassen: Gott ist mein Ziel. J esus ist der Weg, dem ich folgen muss, um zu Gott zu gelangen. Ich muss daher alles in Vereinigung mit J esus Christus fÜr Gott tun. - Ein einziges Hindernis stellt sich der Erreichung meines Zieles entgegen, die SÜnde. - Ich muss sie folglich fliehen. Hatte ich das Unglück, sie zu begehen, muss ich sie sogleich sÜhnen. Ein einziges Mittel ist zur Vermeidung der SÜnde notwendig und genÜgt: Beständig Gottes Willen tun. Darum muss ich unaufhörlich danach streben, ihn zu erkennen und meine Lebensweise danach einzurichten. Damit das gelinge, werde ich mir oft das Wort des hl. Paulus bei seiner Bekehrung vorsprechen : " Herr, was willst du, dass ich tun soll?" "Dollline, quid me vis facen?" I Abends, bei der Gewissenserforschung, werde ich mir die geringsten Fehltritte vorwerfen.

815. b) Diese Grundsätze oder Überzeugungen werden grossen Einfluss auf den Willen haben. Dieser muss, seinerseits, entschieden, fest und beltarrZielt handeln. I) Entschieden. Ist die Tat, je nach ihrer Wichtigkeit, reiflich Überlegt und im Gebet mit Gott besprochen worden, muss man sich trotz der etwaigen, noch andauernden Zweifel sofort entscheiden. Das Leben ist zu kurz, um die kost-

, Aposlelg·esch., TX, 6.

DRITTES KAPITEL. - DIE ABTÖTUNG. 581

bare Zeit mit langem Hin- und HerÜberlegen zu verlieren. Man entscheidet sich fÜr das, was dem \Villen Gottes mehr zu entsprechen scheint. Gott, der unsern aufrichtigen Willen kennt, wird unser Tun segnen. 2) Fest. Es genÜgt nicht, zu sagen:

"Ich miichte gern, ich wÜnschte ... " Das sind nur Anwandlungen oder Willensansätze. Man muss sagen : "Ich will und ich will um jeden Preis!" Das heisst, sich sogleich ans Werk geben, ohne erst auf morgen oder auf gÜnstigste Gelegenheiten zu warten. Festigkeit im Kleinen sichert die Treue in grossen Dingen. 3) Dennoch ist diese Festigkeit nicht gewaltsam. Sie ist ruhig, weil sie andauern will. Um sie beständig zu machen, erneuere man oft seine Anstrengungen, ohne sich jemals von Misserfolgen entmutigen zu lassen. Besiegt wird man nur, gibt man den Kampf auf. Ungeachtet einiger Fehltritte, ja, sogar \Vunden, kann man sich als Sieger betrachten, denn, auf Gott gestÜtzt, ist man in Wirklichkeit unbesiegbar. Unterlag man unglÜcklicherweise einen Augenblick, so erhebt man sich sofort. Beim göttlichen Seelenarzt gibt es keine unheilbaren Wunden oder Krankheiten.

816. c) Wenn wir es uns recht Überlegen, müssen wir daher auf die Gnade Gottes zu rechnen verstehen. Bitten wir demÜtig und vertrauensvoll um sie, so wird sie uns nie verweigert werden. Mit ihr sind ~,-:ir unbesiegbar. Wir mÜssen daher oft unsere Uberzeugungen von der unbedingten N otwendigkeit der Gnade erneuern, besonders vor Beginn jeder wichtigen Handlung. In Vereinigung mit J esus Christus inständig um sie bitten, um auf diese Weise sicherer zu sein, sie zu erlangen. Wir mÜssen ferner uns erinnern, J esus sei nicht nur unser Vorbild, sondern auch unser Vermittler. Vertrauensvoll sollen wir uns auf ihn stÜtzen. Seien wir Überzeugt, dass wir in ihm alles unternehmen, alles verwirklichen können, was zum Heile gereicht.

582

VIERTES KAPITEL.

" Omnia possum z'n eo quz' me conJortat. " I Dann wird unser Wille stark sein, weil er an der Kraft Gottes selbst teilnehmen wird. "Do17Zz'nus Jortz'tudo 'mea." Er wird frei sein, denn die wahre Freiheit besteht nicht darin, sich den tyrannischen Leidenschaften auszuliefern, sondern der Vernunft und dem Willen den Sieg Über Trieb und Sinnlichkeit zu sichern.

817. Schlussfolgerung. So wird das Ziel erreicht, das wir der Abtötung gesetzt hatten. Die Sinne und niederen Fähigkeiten werden dem Willen und dieser Gott untertan.

Dadurch werden wir die sieben Hauptlaster oder Hauptsünden leichter bekämpfen und ausrotten.

VIERTES KAPITEL.

Der Kampf gegen die Hauptsünden 2.

818. Dieser Kampf ist, im Grunde genommen, nur eine Art Abtötung.

Um die Reinigung der Seele zu vollenden und letztere vor dem RÜckfall in die SÜnde zu bewahren, muss man die Quelle des Übels in uns, nämlich die dreifache Begierlichkeit angreifen. In ihren allgemeinen ZÜgen haben wir sie bereits geschildert,

J Pltil .• IV, 13.

2 KASSIAN. De emnobioruminstitutis, 1. V., c. 1. P. L. XLIX, 202 seq. _ Col!ationes, coll. V, c, X, ibid. 621 seq. - S. JOH, KLlMACHUS, "L'Eehel!e du Paradis ", grad. XXII. P. G. LXXXVIII, 948 seq, HL. GREGOR DER GROSSE. Moral, 1. XXXI, c. XLV, P. L. LXXVI, 620 seq. - S. THoMAs, I' IIre, q. 84, a. 3-4; De Malo, q. 8, a. 1. S. BONAVENTURA, /n 11 Sentent., dis!. XLII, dub. IU. - MELCHIOR CANO. La victoire sur soi-meme, übers. von Legendre, Paris, 1923. NOEL ALEXANOER. De peeeatis (Theol. cursus Migne, XI, 707-II68). - ALVAREZ OE PAZ, t. II, Lib. J, P. 2', De extinctione vitiorum. PHIL. OE LA STE TRINlTE, Ia P., Tl'. II, disco II und TU, De vitiorum eradicatione et passionum mol'tificatione. - KARO, BONA, li1anuduetio ad ecelum, cap. III·IX. - ALlBERT, Physiolo,,<Tie des Passions. 1827. DESCURET, La Mtdeeine des Passions. Paris, 1860. - PAULHAN. Les Caracteres, Paris, 1902. - J. LAUMONIER, La Thtrapeutique des picht< capitaux, Paris, Alcan, 1922.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 583

N. 193-2°9. Da sie jedoch die Wurzel der sieben Hauptsünden ist, liegt viel daran, jene bösen Neigungen zu erkennen und zu bekämpfen, Tatsächlich sind es eher Neigungen, als Sünden. Dennoch nennt man sie Sünden, weil sie zur Sünde fÜhren, und Hauptsünden, weil sie die Quelle oder das Haupt einer Menge anderer SÜnden sind.

Mit der dreifachen Begierlichkeit hängen diese Neigungen auf folgende Weise zusammen : Aus Hochmut entspringen Hoffart, Neid und Zorn. Die Begierlichkeit des Fleisches erzeugt Unmässigkeit, Unkeuscltheit und Trägheit. Begierlichkeit der Augen ist dem Geize, der ungeordneten Liebe zum Reichtume gleich.

819. Der Kampf gegen die sieben Hauptsünden nahm in der christlichen Auffassung vom geistlichen Leben immer einen wichtigen Platz ein. Kassian behandelt ihn des längeren in seinen Kon.ferenzen und Institutionen. ' Er unterscheidet deren acht statt sieben, denn er trennt Hoffart von eitler Ruhmsucht. Der hl. Gregor der Grosse 2 unterscheidet deutlich sieben Hauptsünden, die er alle aus der Hoffart hervorgehen lässt. Der hl. Thomas schliesst sie ebenfalls an die Hoffart an und zeigt, wie man sie unter Berücksichtigung der besonderen Ziele, die der Mensch anstrebt, philosophisch klassifizieren kann. Der Wille kann sich in zweifacher Weise auf einen Gegenstand richten. Durch Streben nach einem scheinb.aren Gute und durch Entfernung von einem scheinbaren Ubel. Das von dem Willen erstrebte, scheinbare Gute kann wieder sein, I) Lob oder Ehre, geistige Güter, die auf ungeordnete Weise gesucht werden. Das ist das besondere Ziel des Eitlen. 2) Leibliche GÜter, die die Erhaltung des Einzelwesens oder der Art bezwecken und auf übertriebene Weise erstrebt werden. Das sind die "entsprechenden Ziele des Schlemmo's und U'olliistigen. 3) Aussere Güter, die auf ungeordnete Weise g~liebt werden, sind das Ziel des Geizigen. - Das scheinbare Ubel, das man tlieht, kann sein, I) notwendige Anstrengung in Erwerbung des Guten, die der Träge flieht; 2) Verminderung der persönlichen Auszeichnung, die der Eijersiic/zt(t;e und der Zornige scheut und flieht, wenn auch auf verschiedene Weise. So wird die Unterscheidung

'De camobiorum institutis, 1. V., c. I. - Collat., col. V., c. X . • Moral. l. XXXI, c. 45. P. L. LXXVI, 620.622.

584

VIERTES KAPITEL.

der sieben Hauptsünden von den sieben Zielen, die der Sünder verfolgt, abgeleitet.

I n der AusfÜhrung wollen wir der Einteilung folgen, nach welcher die HauptsÜnden von der dreifachen Begierlichkeit hergeleitet werden, da das am einfachsten ist.

1. ABSCHNITT. HOFFART UND DIE SICH IIIR ANSCHLIESSENDEN LASTER I.

§ 1. Die Hoffart selbst.

820. Die Hoffart ist eine Abweichung von dem berechtigten GefÜhl, das uns antreibt, das in uns vorhandene Gute zu schätzen und die Achtung der anderen in dem Masse anzustreben, als diese fÜr die guten Beziehungen, die wir mit ihnen haben sollen, notwendig ist. Gewiss darf und soll man schätzen, was Gott Gutes in uns gelegt hat und ihn dabei als ersten Anfang und letztes Ziel anerkennen. Eine solche Gesinnung ehrt Gott und flösst uns Ehrfurcht gegen Gott ein. Man darf auch wÜnschen, andere mögen dieses Gute sehen, es schätzen und Gott dafÜr preisen, wie auch wir die guten Eigenschaften des Nächsten anerkennen und hochschätzen sollen. Diese gegenseitige Achtung kann nur günstig auf die unter den Menschen bestehenden Beziehungen wirken.

Bei beiden ~trebungen jedoch kann es Abweichung oder Ubertreibung geben. Man vergisst manchmal, dass Gott der Urheber dieser Gaben ist und l/lalZ schreibt sich dieselben selbst zu. Das ist nicht in der Ordnung, denn dadurch leugnet man, wenigstens stillschweigend, dass Gott unser erster

, S. THOM. IIa Ha!, q. 162 U. 132; De Malo. q. 8'9. - BOSSUET, Tr. de la COllcupiscellce, C. 10-23; Sermon sm' I'Ambition. - BOURDALOUE. Carbne, Sermon pour le mercredi de la 2e semaine. - ALlBlCRT. op. cit. t. I1, S. 23-57. - DESCURET. op. cit., t. II. S. 191-24°. - PAULHAN. Les Caracteres, S. 167. BEAUDlCNOM, Formation de I'Humilitl, Paris. 1902, S. 33-55. - THOMAS. L'Education des sentiments, Paris. Alcan, 1904. S. tI3-124, 133-J48. - LAUMONIER, op. cit., 7. Kap.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 585 .'\ nfang ist. Auch wird man versucht,jZtr sich zu handeln oder, um die Hochachtung anderer zu gewinnen, anstatt für Gott alles zu tun und zu seiner grösseren Ehre. Das darf nicht sein, denn das hiesse, wenigstens stillschweigend leugnen, dass Gott unser letztes Ziel ist. Das ist die zweifache Unordnung, die diesem Laster anhaftet. Man kann daher die Hoffart auf folgende Weise begrifflich bestimmen: Ez'ne ungeordnete Selbstliebe, durdt die man sich ausdrücklich oder stillschweigend lzodtschätzt, als wäre man selbst sein erster Anfang oder sein letztes Ziel. Es ist eine Art Götzendienst, denn man sieht sich selbst als seinen Gott an, wie Bossuet hervorhebt. N. 204. - Um die Hoffart besser zu bekämpfen, wollen wir I. ihre Hauptarten, 2. die von ihr erzeugten Fehler, 3. ihre Bosheit und 4. die Heilmittel vor Augen fÜhren.

1. Die Hauptarten der ,Hoffart.

821. I. Bei der ersten Erscheinungsform betrachtet man sich ausdrÜcklich oder stillschweigend als ersten Ausgangspunkt.

A) Es gibt wenige Menschen, die sich ausdriicklidl in so ungeordneter Weise lieben, dass sie sich als ersten Ausgangspunkt betrachten.

a) Das ist die Sünde der Gottesleugner, die absichtlich Gott yenverfen, weil sie keinen Herrn Über sich haben lI'ollen. " Weder Gott 1l0cll Herrn!" Von ihnen sagt der Psalmist: " Der Tor sprach in seinem Herzen: " Es gibt keinen Gott." Dixit insipie1Zs in corde sztO " non est Deus.'" b) Das war gleicll1fJertig die SÜnde Luzijers, der in seiner Herrschsucht sich weigerte, sich Gott zu unterwerfen. Das war auch die SÜnde unserer Stammeltern, die Göttern gleich sein und aus sich selbst Gut und Bös erkennen wollten. Ferner die Sünde der Irrlehrer, die wie Luther sich weigerten, die Autorität der von Gott gestifteten Kirche anzuerkennen. Es ist die Sünde der Rationalisten, die aus Stolz auf ihre Vernunft, diese dem Glauben nicht unterwerfen wollen. Es ist auch

1 Ps. XlII, r.

586

VIERTES KAPITEL.

die Sünde gewisser Geistesstolzen, die in ihrem Hochmut die überlieferte Auslegung der Dogmen nicht annehmen wollen; sie abschwächen und umbilden, um sie mit ihren Forderungen in Einklang zu bringen.

822. B) Grösser ist die Zahl der Menschen, die diesem Fehler stillscllweigend verfallen, indem sie handeln, als ob die ihnen von Gott verliehenen natürlichen und ÜbernatÜrlichen Gaben von ihnen selbst herrührten. In der Theorie freilich erkennen sie Gott als ihren ersten Ursprung an, in der Praxis jedoch Überschätzen sie sich dermassen, als wären sie selbst die Urheber ihrer guten Eigenschaften.

a) Es gibt Menschen, die sich in ihren guten Eigenschaf. ten und Verdiensten gefallen, als wären sie deren einzige Urheber. "Die sich schön findende Seele", sagt Bossuet', "hat sich am Genusse ihrer selbst erfreut und ist über der Beschauung ihrer Vorzüglichkeit entschlummert. Sie hat einen Augenblick aufgehört, sich Gott zuzuwenden. Sie vergass ihre Abhängigkeit. Zuerst hat sie sich mit sich befasst und dann sich selbst sich ausgeliefert. Als aber der Mensch so frei zu werden suchte, dass er sich Gottes und der Gesetze der Gerechtigkeit entledigte, wurde er Sklave seiner Sünde."

82;,!. b) Schlimmer ist der Hochmut jener, die sich selbst die Ubung der Tugend zuschreiben, wie die Stoiker, oder sich einbilden, Gottes freie Gaben seien die Frucht unserer Verdienste, unsere guten Werke gehörten mehr uns als Gott, während er doch in Wirklichkeit deren Hauptursache ist. Die ihren Gefallen daran finden, als wären sie einzig und allein unsere. 2

824. C) Nach demselben Grundsatze Übertreibt man seine persiinlichen Vorzüge.

a) Für die Fehler verschliesst man die Augen. Durch Vergrösserungsgläser betrachtet man die guten Eigenschaften. Man kommt schliesslich so weit, sich Vorzüge zuzuschreiben, die man gar nicht besitzt, oder die wenigstens nur den Schein der Tugend haben. So z. B. gibt man Almosen aus Prahlerei und glaubt dabei, voller Nächstenliebe zu sein, während man voller Hoffart ist. Man bildet sich ein, ein Heiliger zu sein,

, Tr. de la Concupiscence, Ir. Kap.

2 Ibidem, 23. Kap. J.-J. OLlER, lntrod., 7. Kap.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 587

weil man fühlbare Tröstungen hat oder weil man schöne Gedanken und gute Vorsätze niederschrieb. In Wirklichkeit aber befindet man sich noch auf der untersten Stufe der Vollkommenheit. Andere wieder glauben, gTosszügig zu sein, weil sie die kleinen Vorschriften leicht nehmen, da sie durch grosse Mittel sich heiligen wollen. b) Von da ist nur noch ein Schritt und man zielzt sich anderen ungerechterwez'se vor. Man untersucht die Fehler der andern mit der Lupe, wird sich aber kaum der eigenen bewusst. Den Splitter im Auge des Nachbaren sieht man, den Balken aber im eignen Auge bemerkt man nicht. Zuweilen verachtet man wie der Pharisäer' seine Mitmenschen. Andere Male wieder geht man zwar nicht so weit, erniedrigt jedoch ungerechterweise die anderen in seinem Urteile und hält sich ftir besser als sie. In Wirklichkeit ist man weniger wert als sie. Nach diesem Grundsatze sucht man, seine Mitmenschen zu beherrschen, sie zur Anerkennung der Überlegenheit über sie zu bringen.

e) In bezug auf die Oberen zeigt sich dieser Hochmut durch tadelsüchtigen, nörgelnden Geist, der die kleinsten Verfügungen und Handlungen auskundschaftet, um etwas an ihnen auszusetzen. Alles will man beurteilen, alles kontrollieren. Dadurch erschwert man sich sehr den Gehorsam. Es kostet Mühe, sich ihrer Autorität, ihren Entscheidungen zu unterwerfen, sie um Erlaubnis für etwas zu bitten. Man strebt nach Unabhängigkeit, d. h. man will sich selbst sein erster Grund sein.

825. 2. Die zweite Art Hochmut besteht darin, sich selbst ausdrÜcklich oder stillschweigend als letztes Zz'el zu betrachten. Man verrichtet seine Handlungen ohne jegliche Beziehung auf Gott und will dafÜr gelobt werden, als gehörten sie gänzlich uns. Dieser Fehler ist die Folge des ersten. Wer sich nämlich als seinen Urgrund ansieht, will auch sein letztes Ziel sein. Hier kämen daher dieselben U nterscheidungen in Anwendung, wie wir sie bereits gemacht haben.

A) Sehr wenige betrachten sich ausdrÜckliell als eigenes letztes Ziel, ausgenommen Gottesleugner und Ungläubige.

B) Aber viele handeln in der Praxis, als beteiligten sie sich an diesem Irrtum. a) Sie wollen ihrer guten Werke wegen gelobt, beglückwünscht werden, als ob sie deren Hauptur-

, Lukas, XVIII, 9-14.

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VIERTES KAPITEL.

heber wären und das Recht hätten, auf eigene Rechnung zur Befriedigung ihrer Eitelkeit zu wirken. Anstatt alles auf Gott zu beziehen, erwarten sie, dass man ihnen Schmeichelhaftes über ihre angeblichen Erfolge sage, als könnten sie den Ruhm dafür beanspruchen. b) Sie handeln aus Egoismus, für ihre eignen Zwecke und kümmern sich wenig um dieEhre Gottes und noch weniger um die des Nächsten. Ihre Ubertreibung geht so weit, dass sie sich tatsächlich einbilden, die anderen hätten ihr Leben nach ihrem Wunsche und Willen einzurichten. Sie machen sich so zum Mittelpunkte der andern und, sozusagen, zu deren Ziel. Heisst das nicht, unbewusst sich Gottes Rechte anmassen?

c) Ohne gerade so weit zu gehen, suchen auch fromme Personen in ihrer Frömmigkeit sich selbst, beklagen sich über Gott, überhäuft er sie nicht mit Tröstungen. In Trokkenheit sind sie niedergeschlagen und leben daher in der falschen Meinung, Tröstungen seien das Ziel der Andacht, während in Wirklichkeit die Ehre Gottes unser höchstes Ziel bei allen Handlunge!l sein soll, besonders aber beim Gebet und den geistlichen Ubungen.

826. Es muss daher zugegeben werden, der Hochmut in der einen oder anderen Form ist ein allgemein sehr verbreiteter Fehler, selbst bei jenen, die nach Vollkommenheit streben. Er ist ein Fehler, der uns auf allen Stufen des Lebens begleitet und erst mit uns stirbt. Anfänger sind sich kaum dessen bewusst, weil sie sich nicht tief genug erforschen. Man muss daher ihre Aufmerksamkeit auf diesen Punkt lenken und ihnen die gewöhnlichsten Formen dieses Fehlers bezeichnen, um ihn zum Gegenstande der besonderen Gewissenserforschung machen zu können.

II. Feltler, die der Hoffart entspringen.

Die hauptsächlichsten sind Art11zassung-, Ehrgeiz, eitle Ruhmsucht.

827. I. A mnassung besteht im Wunsche und dem ungeordneten Hoffen, Dinge zu tun, welche die eigenen Kräfte übersteigen. Sie entspringt der zu guten Meinung von sich, seinen natÜrlichen Fähigkeiten, Kenntnissen, Kräften und Tugenden.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 589

a) In g-eis/iger Hinsicht glaubt man, sich mit den schwierigsten Problemen beschäftigen und sie lösen zu können, den schwierigsten Fragen gewachsen zu sein oder wenigstens sich Studien widmen zu können, die in keinem Verhältnis zur Befähigung stehen. - Man redet sich leicht ein, ein gutes Urteil und viel Verstand zu besitzen. Anstatt im Zweifel Zurückhaltung zu wahren, entscheidet man autoritätsvoll über die verwickelsten Fragen. b) In sittlicher Hinsicht meint man, für eigene Führung Licht genug zu haben, so dass es kaum nützlich sei, einen Seelenführer um Rat anzugehen. Man ist überzeugt, trotz früherer Fehltritte, keine Rückfälle mehr zu befürchten zu haben und stürzt sich ohne Bedenken in die Gefahr zur Sünde, der man unterliegt. Die Folge davon: Entmutigung und Erbitterung, beide oft Ursache neuer Rückfälle.

c) In geistlzdler Hinsicht findet man wenig Geschmack an verborgenen, kreuzigenden Tugenden. Nach aussen hervortretende zieht man vor. Anstatt auf den sichern Grund der Demut zu bauen, träumt man von Seelengrösse, Charakterstärke, Hochherzigkeit, apostolischem Eifer und eingebildeten Erfolgen in der Zukunft, die man schon vorausgeniesst. Bei den ersten schweren Versuchungen jedoch merkt man bald, wie schwach und scJ1\vankend der Wille noch ist. Manchmal auch verachtet man die gewöhnlichen Gebete und gewisse Andachtsübungen. Man strebt nach aussergewöhnlichen Gnaden und dabei befindet man sich doch erst in den Anfängen des geistlichen Lebens.

828. 2. Diese mit Hochmut verbundene Anmassung erzeugt Ehrg·eiz, d. h. die ungeordnete Liebe zu Ehren, WÜrden, zur Autorität über die andern. Man Überschätzt seine Kräfte, glaubt sich den andern Überlegen und will sie deshalb beherrschen, leiten und ihnen die eigenen Ansichten aufzwingen.

Das Ungeordnete des Ehrgeizes kann sich auf dreierlei Weise offenbaren, sagt der hl. Thomas I :

I) Man strebt nach Ehren, die man nicht verdient und die die Fähigkeiten Übersteigen. 2) Man hat bei diesem Streben sich selbst im Auge, seinen eignen Ruhm und nicht die Ehre Gottes. 3) Man verweilt beim Genuss der Ehren um ihrer selbst willen, ohne sie zum vVohle der andern nutzbar zu machen,

, SU1II. theol .• IIa Ure. q. I3I. a. r.

590

VIERTES KAPITEL.

entgegen der von Gott gesetzten Ordnung, wonac die Vorgesetzten zum Wohle der Untergebene arbeiten sollen.

Solcher Ehrgeiz ist auf allen Gebieten zu finden. I) A dem der Politik, bei der man eine ftihrende Stellung erstre' und zwar zuweilen um den Preis vieler niedriger Handlunge vieler blossstellender Ausgleiche, vieler Feigheiten, die m, zur Erlangung von Wahlstimmen begeht. 2) Auf geistige Gebiete, indem man seine Gedanken hartnäckig den andel aufzwingen will, selbst in frei umstrittenen Fragen. 3) I biirg-erlichen Leben, wR man begierig nach den erst, Stellen" nach hohen Amtern und den Huldigungen d, Menge hascht. 4) Selbst im geistliclzen Stande. Denn, w Bossuet 2 sagt, "wievieler Vorsichtsmassregeln bedurfte e um bei den \Vahlen, auch bei denen zu kirchlichen ur Ordensämtern, zu verhindern, dass Ehrgeiz, Ränke, Un triebe, geheimes Drängen, Versprechen, verbrecherisd Absichten, Simonieverträge und andere, nur zu häufi~ Ausschreitungen in diesen Dingen nicht die Oberhar gewännen, ohne dass man sich rühmen kann, vielleicl nichts anderes getan zu haben, als diese Laster zu verdech oder zu mildern, nicht aber sie auszurotten." Wie d, h1. Gregor3 bemerkt, gibt es auch Geistliche, die als Leucht, der Wiss{Onschaft dastehen wollen und gierig nach d, höchsten Amtern und nach Ehrenbezeugungen streben.

Es ist also ein Laster, das mehr verbreitet ist, als ma zunächst wohl glauben mächte und das mit der Eitelke zusammenhängt.

829. 3. Eitelkeit ist ungeordnete Liebe zur HoC! schätzung von seiten anderer. Sie unterscheidet sic von dem Hochmut, weil dieser sich in seim eigenen Vorzüglichkeit gef~llt. Meistens jedoc geht sie aus ihm hervor. Uberschätzt man sic nämlich selbst, so wünscht man natürlich auch, vo anderen geschätzt zu werden.

, Nicht nur bei Gelehrten und Reichen findet sich dieses Laste Bossuet (Tr. de la Concupiscence) spricht von Bauern, die in d, Kirchen lebhaft um die Ehrenplätze streiten und sogar drohen, nicl mehr den Fuss in die Kirche zu setzen, falls man sie nicht zufrieden stell

2 BossUET, ebendaselbst.

3 .. Videri doctores appetunt, transcendere ceteros concupiscunt atqt attestante veritate primas salutationes in foro, primos in ccenis recub tus, primas in conventibus cathedras quaerunt. " (Pastoral., P. I., c. I P. L., LXXVII, 14.)

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 591 830. A) Bosheit der Eitelkeit. Ein Verlangen nach Hochschätzung gibt es, das nicht ungeordnet ist: Wenn wir wünschen, dass unsere natürlichen oder übernatürlichen Vorzüge anerkannt werden, damit Gott dadurch verherrlicht und unser Einfluss bezüglich des Guten gesteigert werde, so ist das in sich keinerlei Sünde. Es ist nämlich ganz in der Ordnung, dass das Gute geschätzt werde, wenn nur Gott als dessen Urheber anerkannt und er allein deshalb gepriesen werde. 1 Höchstens kann man sagen, es sei gefährlich, mit den Gedanken bei derartigen Wünschen zu verweilen, denn man läuft Gefahr, die Hochschätzung anderer um eigennütziger Zwecke willen zu suchen.

Das Ungeordnete liegt also darin, dass man wünscht, um seiner selbst willen geschätzt zu werden, anstatt diese Ehre auf Gott zurückzuführen, der alles Gute, das in uns vorhanden ist, in uns legte. Oder um eitler Dinge willen, die nicht verdienen, geschätzt zu werden. Oder endlich die Hochschätzung jener zu suchen, deren Urteil keinen Wert hat, wie z. B. der Lebemenschen, die nur eitle Dinge bewerten.

Niemand hat dieses Laster besser geschildert als der h1. Franz v. Sales. " Man nennt jenen Ruhm eitel, den man sich selbst zuspricht, entweder für das, was in uns nicht ver· handen ist oder was zwar vorhanden, uns aber nicht gehört, oder, wenn es wirklich vorhanden und uns gehört, nicht des Rühmens wert ist. Adelige Herkunft, Gunst hoher Persönlichkeiten, allgemeine Ehrung sind Dinge, die nicht in uns, sondern in unseren Vorgängern oder in der Meinung anderer

, Das erklärt sehr gut der hl. Thomas, 11" Ilre, q. 132, a. 1. .. Quod autem aliquis bonum suum cognoscat et approbet, non est peccatum ... Similiter etiam non est peccatum quod aliquis velit bona opera sua approbari : dicitur enim (Matth. V, 16)': Luceat lux vestra coram hominibus. Et ideo appetitus gloriae de se non nominat aliquid vitiosum ... Potest autem gloria dici vana tripliciter : uno modo ex parte rei de qua quis gloriam quaerit, puta cum quis quaerit gloriam de eo quod non est gloria dignum, sicut de aliqua re fragili et caduca. Alio modo ex parte ejus a quo quis gloriam quaerit, puto hominis cujus judicium non est certum. Tertio modo ex parte ipsius qui ... appetitum gloriae suae non refert in debitum finem .....

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VIERTES KAPITEL.

hegrÜndet sind. Gewisse Menschen werden stolz und bilden sich Wunder was ein, weil sie auf einem schönen Pferde sitzen, einen Federbusch am Hute tragen oder vornehm gekleidet sind. Wer sieht nicht diese Torheit ein? Ist da wirklich Ruhm zu ernten, so gebührt er dem Pferde, dem Vogel oder dem Schneider. .. Andere wieder sind riesig von sich eingenommen wegen eines flottgedrehten Schnurrbartes, eines wohlgepflegten, langen Bartes, gekräuselter Haare, weicher Hände oder ihres Tanzens, Spielens oder Singens. Durch so nichtige und törichte Dinge wollen sie also ihren persönlichen Wert erhöhen und ihren Ruhm vergrössern, weil sie feig sind. Andere wollen wegen ihres lÜckenhaften \Vissens von der Welt geehrt und geachtet werden, als müsste jeder bei ihnen erst in die Lehre gehen und sie als Yleister betrachten. Darum nennt man sie Pedanten (Kleinigkeitskrämer). Im sicheren Bewusstsein ihrer Schönheit, spreizen sich andere wieder und glauben, die ganze 'Velt müsse ihnen nachlaufen. Wie äusserst eitel, töricht und unverschämt ist das alles! Der Ruhm, den man aus solch wertlosen Dingen erzielt, ist eitel, töricht und nichtig. "

831. B) Fehler, die von der Eitelkeit herkommen. Die Eitelkeit erzeugt mehrere Felzler, die wie deren äussere 'Offenbarung zu Tage treten, insbesondere Rultmredigkeit, Praltlerei und J-Jeuchelei.

I) Ruhmrcdigkeit besteht in der Gewohnheit, von sich zu sprechen oder von einer Sache, die zum Vorteil gereicht. Alles in der Absicht, von anderen hochgeschätzt zu werden. Manche sprechen von sich, von ihrer Familie und von ihren Erfolgen mit einer solchen Offenheit, dass ihre Zuhörer lächeln mÜssen. Andere wieder lenken mit grossem Geschick das Gespräch auf einen Gegenstand, bei dem sie vorteilhaft hervortreten können. Auch gibt es Menschen, die bescheiden \'on ihren Fehlern reden, im stillen aber hoffen, dass man ihnen widersprechen und ihre guten Eigenschaften hervor. heben werde. '

2) Prahlerei ist es, wenn man durch seine Art und Weise beim Vollziehen einer Handlung, durch Entfaltung von Prunk,

, " Wer sich selbst tadelt", sagt der hl. Franz v. Sales (Esprit,

c. XIX)" sucht indirekt Lob zu erhaschen und gleicht dem Ruderer, der seinen Rücken dem Orte zuwendet, dem er mit allen Kräften zustrebt. Es würde ihn ärgern, würde man die Schlechtigkeiten, die er sich zuschreibt, tatsächlich glauben. Aus Hochmut will er für demütig gehalten we.rden. "

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 593

durch Eigenheiten, die man sich erlaubt, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken sucht.

3) Heuchelei verbirgt unter dem Äussern oder dem Scheine der Tugend die ärgsten geheimen Laster.

111. Die Boslzeit der Hoffart.

Um die Bosheit dieses Lasters richtig zu beurteilen, kann man dasselbe an sich und in seinen Wiyl?ungen betrachten.

832. 1. An sich: A) Die eigentliche Hoffart, die wissentlich und willentlich, auch stillschweigend, sich Gottes Rechte anmasst, ist schwere Sünde, ja, sogar die schwerste Sünde, wie der hl. Thomas sagt 1, weil sie Auflehnung gegen die Oberherrschaft Gottes ist.

a) Unablzängig sein wollen, Gott und seinen Vertretern den Gehorsam verweigern, und zwar in wichtigen Dingen, ist demnach TodsÜnde, weil man sich gegen Gott, unsern rechtll1ässigen Herrn und Gebieter, empört.

b) Ein schwerer Fehler ist es auch, sich selbst zuzuschreiben, was offenbar von Gott kommt, besonders Gnadengaben. Das nämlich heisst, stillschweigend leugnen, dass Gott der Urgrund alles Guten in uns ist. Viele tun es aber, indem sie z. B. sagen: " Ich verdanke alles mir selbst! "

c) Man sÜndigt auch schwer, will man, unter Auss(htltSS Gottes, fÜr sich selbst handeln. Das heisst leugnen, unser letztes Ziel ist Gott.

833. B) Abgeschwäcltter Hochmut, der zwar Gott als erste Ursache und letztes Ziel anerkennt, aber ihm nicht alle schuldige Ehrfurcht entgegenbringt, ihm daher stillschweigend einen Teil seiner Ehre raubt, ist ausgesprochene lässlz'che Sünde. Das trifft bei jenen zu, die sich ihrer guten Eigenschaften oder ihrer Tugenden rühmen, als wären sie überzeugt, das alles gehöre ihnen zu eigen. Oder bei jenen, die anmassend, eitel, ehrgeizig sind, ohne jedoch etwas zu tun, was in wichtigen Dingen dem göttlichen oder menschlichen Gesetze entgegen wäre.

) Sumo 11,,01., !Ia !Ire, q. 162, c. 5-6.

5fl4

VIERTES KAPITEL.

Diese Sünden können jedoch Todsünden sein, führen sie zu ernstlich tadelnswerten Handlungen. So kann die Eitelkeit, die an und für sich nur eine lässliche Sünde ist, schwere Sünde werden, wenn sie zum Eingehen unbezahlbarer Schulden führt oder in andern ungeordnetes Gefallen zu erregen sucht. Die Hoffart muss daher auch in ihren Wirkungen untersucht werden.

834. 2. In ihren Wirkungen. A) Hoffart, die nicht rechtzeitig bekämpft wird, endet zuweilen in verhängnisvollen Wirleungen. Wieviele Kriege wurden nicht durch den Stolz der Regierenden oder der Völker selbst verschuldet! 1 Und abgesehen davon, wieviele Spaltungen in den Familien, wieviele Gehässigkeiten im täglichen Leben sind nicht auf dieses Laster zurückzuführen! Die Kirchenväter lehren mit Recht, die Hoffart sei die Wurzel aller anderen Laster und sie verderbe ausserdem viele Tugendakte, weil sie uns veranlasse, diese in selbstsüchtiger Absicht zu vollziehen. 2

835. B) Vom Standpunkte der Vollkommen/teit aus, mit der wir uns beschäftigen, kann man sagen, ihr grösster Feind sei der Hochmut, denn er erzeugt in unserer Seele eine traurige Unfruchtbarkeit und ist ausserdem die Quelle sehr vieler Sünden. a) Er beraubt uns nämlich vieler Gnaden und vieler Verdienste.

I) Vieler Gnaden, weil Gott, der den Demütigen in freigebiger Weise seine Gnade verleiht, sie den

, .. Hominem efficit daemonem contumeliosum, blasphemum, perjurum, facit ut appetantur caedes ... " (S. CHRYSOSTOMUS, in ep. 11 ad Thess., C. I, homil. I, n. 2, P. G .. 471.)

2 .. Alia vitia eas solum virtutes impetunt quibus ipsa destruuntur. .. superbia autern, quam vilioru11t radicem diximus, nequaquarn unius virtutis extinctione contenta, contra cuncta animre membra se erigit, et quasi generalis ac pestifer morbus corpus omne corrumpit, ut quirlquid illa invadente agitur, etiamsi esse virtus ostenditur, non per hoc Deo, sed soli vanae gloriae serviatur". S. GREGORlUS, Moral., LXXXIV, c. 33, n. 48, P. L. LXXIV, 744.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 595 Hochmütigen verweigert. Deus sUjJe1'bis 1'esistz't, Itumilibus autem dat gratiam. 1 Erwägen wir aufmerksam diese Worte: Gott widersteht den Hochmütigen. " Der Hochmütige nämlich, sagt Olier 2, greift Gott unmittelbar an, ja, er vergreift sich an Gottes Person selbst, deshalb widersteht Gott solch frecher und abscheulicher Anmassung und, da er sich in seinem Wesen erhalten will, schlägt er nieder und zerstört, was sich gegen ihn erhebt. "

2) Vieler Verdienste. Eine der wesentlichen Bedingungen des Verdienstes ist die Reinheit der Absicht. Nun aber handelt der Hochmütige.für sielt oder, um den Menschen zu gefallen, an statt für Gott zu handeln. Ihm gilt daher der an die Pharisäer gerichtete Vorwurf: Auch diese vollbrachten gute Werke, jedoch aus Prahlerei, um von den Menschen gesehen zu werden. Von Gott hatten sie deshalb keinen Lohn zu erwarten. " Alz'oquill mercedem non habebz'tis apud Pat1'em vestru1JZ qui in ccelz's est ... amen, amen dzco vobz's, receperunt mercedem suam." 3

836. b) Der Hochmut ist auch die Quelle zahlreicher Fe/zier. I) Persönlicher Fehler. Aus Vermessenheit setzt man sich der Gefahr aLlS und erliegt ihr. Aus Hoclt1llut bittet man nicht inständig um die Gnaden, deren man bedarf und fällt. Dann entmutigt man sich und läuft Gefahr, die Sünde in der Beichte zu verschweigen. 2) Fehler gegen elen Nächsten. Aus Hochmut gibt man nicht nach, selbst wenn man unrecht hat. Man schlägt in der Unterhaltung einen bissigen Ton an, lässt sich zu scharfen, heftigen Auseinandersetzungen fortreissen, wodurch Spaltung und Zwietracht entstehen. Alls Hochmut lässt man bittere, auch ungerechte Ausserungen Gleichgestellten gegenÜber fallen, um letztere zu

'Jak. IV, 16. - 2 Introductioll, 6. Kap., 1. Abschn. 31Wattlz. VI, 1-2.

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VIERTES KAPITEL.

verdemütigen. Man übt herben Tadel an den Vorgesetzten und weigert sich, ihren Befehlen zu gehorchen.

837. c) Er ist endlich eine Ursache des UnglÜcks für jenen, eier sich ihm gewohnheitsmässig hingibt. Weil er in allem grass sein und stets über die anderen herrschen will. gibt es fÜr ihn weder Ruhe noch Frieden. Er beruhigt sich erst, hat er alle seine Nebenbuhler besiegt. Da er jedoch das nie vollständig erreicht, ist er unruhig, aufgeregt und lInglücklich. Es ist daher wichtig, ein Heilmittel gegen diese" gefährliche Laster zu suchen.

IV. Heilmz'ttel gegen den Hochmut.

838. Wir sagten bereits (N. 207), das beste Mittel gegen Hochmut sei die Erkenntnis Gottes als Urheber alles Guten. Ihm allein gebühre daher alle Ehre und aller Ruhm. Aus uns sind wir ein Nzdtts und SÜnde. Folglich verdienen wir nichts anderes als vergessen und verachtet zu werden. (N.208).

839. I. Wir sind nur Nichtigkeit. Davon müssen sich die Anfänger mittels der Betrachtung Überzeugen, indem sie im Lichte der Gnade wieder und immer wieder folgende Gedanken beherzigen:

Ich bin nichts, ich kann nichts, ich gelte nichts.

A) Ich bin nichts. Zwar gefiel es der göttlichen GÜte, mich aus Milliarden von Möglichkeiten auszuerwählen, um mir Dasein, Leben, eine geistige und unsterbliche Seele zu geben, und dafÜr muss ich Gott täglich preisen, aber a) ich komme aus dem l\Ticltts, meinem eigenen Gewicht nach strebe iclt naclt dem Nicltts, und ich würde unfehlbar in das ~ichts zurÜckfallen, erhielte mich mein Schöpfer nicht durch sein unaufhörliches Wirken. Mein Wesen gehört also nicht mir, sondern gänzlich Gott an. Ihm muss ich damit huldigen.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 597

b) Dieses \;\lesen, das Gott mir gegeben, ist lebendige Wirklichkeit, eine unfassbare Wohltat, für die ich ihm nie genug danken kann. Jedoch wie wunderbar es auch sein mag, im Vergleich zum göttlichen \;\lesen ist es wie nichts. " Tanquam nihilu1fZ ante te.·' 1 So unvollkommen ist es. I) Es ist ein zufälliges Wesen (ens contingens), das, ohne die Vollkommenheit der Welt zu beeinträchtigen, verschwinden könnte. 2) Ein geliehenes U7esen, das mir nur unter ausdrücklichem Vorbehalt der Herrschaftsrechte Gottes gegeben wurde. 3) Ein gebrechliches Wesen, das aus sich nicht bestehen kann und jeden Augenblick von dem, der es schuf, erhalten werden muss. Es ist daher ein Wesen, das seiner Natur nach von Gott abhängt und keinen anderen Daseinsgrund hat, als seinen Schöpfer zu verherrlichen. Welch unbegreiflicher Irrtum, welche Torheit und Ungerechtigkeit ist es deshalb, diese Abhängigkeit zu vergessen und zu handeln, als verdankten wir unsere guten Eigenschaften uns selbst und als könnten wir uns ihrer rühmen!

840. Was wir vom Menschen in bezug auf die natürliche Ordnung sagten, gilt noch mehr in der Ordnung der Gnade. Die Teilnahme am göttlichen Leben, die meinen Adel und meine Grösse ausmacht, wurde mir als eine ihrem Wesen nach unverdiente Gabe verliehen. Ich erhielt sie von Gott und J esus Christus. Ich kann sie ohne göttliche Gnade nicht lange bewahren. Nur durch die Übernatürliche Mitwirkung Gottes wird sie grösser (N. 126- I 28). Mit Recht muss ich sagen : ,. Gratias Deo super iltenarrabili dono e.fus." 2 Welch ein Undank und welch eine Ungerechtigkeit, sich auch nur den geringsten Teil dieser durchaus göttlichen Gabe zuzuschreiben! " Quid autem habes quod non accepisti? Si autelll accepisti,quid gloriaris quasi non acceperis ?"3

, Ps. XXX"II!, 6. - 0 If Korintl/eY, IX, 15. - 3 I Korinther, IV, 7.

598

VIERTES KAPITEL.

841. B) Ich kann nichts aus mir. Wohl habe ich von Gott kostbare Fähigkeiten erhalten, mittels derer ich Güte und Wahrheit erkennen und lieben kann. Sie wurden durch übernatürliche Tugenden und die Gaben des Hl. Geistes vervollkommnet. Diese Gaben der Natur und der Gnade, die sich so trefflich vervollständigen und verbinden, kann man nie genug bewundern. Aber aus mir selbst, aus eigener Entschlusskraft, kann z'ch nz'chts, um das alles in Bewegung zu setzen und zu vervollkommnen. Nichts in der natürliclten Ordnung ohne Mithilfe Gottes. Nichts in der iibernatiirliclzen Ordnung ohne die wirkliche Gnade, nicht einmal einen heilsamen Gedanken fassen oder ein übernatürliches Verlangen empfinden. Und wenn ich das weiss, kann ich da noch wegen dieser natürlichen und übernatÜrlichen Fähigkeiten mir etwas einbilden, als gehörten sie ausschliesslich mir? Das wäre ebenso Undank, Torheit und Ungerechtigkeit.

842. C) Ich gelte nichts. Erwäge ich, was Gott in mich gelegt hat und was er durch seine Gnade in mir bewirkt, dann freilich bin ich von grossem Wert, eine Wertsumme. " Emptz' enim estz's pretio magno ... " I tanti vales qua71tz' Deus. Ich gelte, was ich gekostet habe. Das war das Blut Gottes! Aber kommt die Ehre für meine Erlösung und Heiligung mir oder Gott zu? Die Antwort kann nicht zweifelhaft lauten. - " Immerhin ", sagt die besiegte Eigenliebe, "ich habe doch etwas, das mir angehört und mir Wert verleiht, nämlich meine freiwillige Einwilligung zur Mitwirkung mit der göttlichen Gnade. " Gewiss haben wir daran Anteil, aber nicht den Hauptantez'l. Diese freie Einwilligung ist nur AusÜbung der Fähigkeiten, die Gott uns unverdienterweise verliehen hat, und auch im Augenblicke, da wir sie geben, ist es Gott, der als Haupt-

, I Korinther, VI, 20.

ursache sie in uns bewirkt. "Operatur in vobis et velle et perficere. "I Folgen wir auch einmal dem Antrieb der Gnade, wie oft haben wir demselben widerstanden! Wie oft nur unvollkommen mitgewirkt ! Wahrhaftig, wir haben keinen Grund, uns zu rühmen, sondern sehr viel Ursache, uns zu verdemütigen.

Hat ein grosser Künstler ein Meisterwerk geschaffen, so schreibt man es ihm zu und nicht den Künstlern dritten und vierten Ranges, die ihm dabei behilflich gewesen. Um so mehr mÜssen wir unsere Verdienste Gott als deren erste und hauptsächliche Ursache zuschreiben und zwar in solchem Masse, dass, wie die Kirche es dem hl. Augustinus nachspricht, Gott seine Gaben krönt, wenn er unsere Verdienste belohnt. " Coronalldo merita coronas dona tua. " 2

Von welcher Seite wir uns daher auch betrachten mögen und welches auch immer der unermessliche \tVert der in uns vorhandenen Gaben, ja, selbst unserer Verdienste sein mag, wir haben kein Recht, uns deren zu rühmen, sondern die Pflicht, Gott dafür Huldigung und Dank darzubringen. Wir müssen ihn wegen des schlechten Gebrauchs seiner Gaben unsererseits um Verzeihung bitten.

843.2. Ich bin ein Sünder. Als solcher verdiene ich Veracfttutlg, alle Verdemütigungen, mit denen mich Gott zu überhäufen fÜr gut halten mag. Um uns davon zu Überzeugen, brauchen wir uns nur an das über die TodsÜnde und die lässliche SÜnde Gesagte zu erinnern.

A) Hatte ich das Unglück, eine einzzge TodsÜnde zu begehen, so verdiene ich ewige Schmach, weil ich die Hölle verdient habe. Wohl hege ich das innige Vertrauen, Gottes Verzeihung erlangt zu haben, aber wahr bleibt es doch, dass ich ein gegen Gott gerichtetes Majestätsverbrechen beging, eine Art Gottesmord, eine Art geistlichen Selbstmord

, Phi!., II, 13. - 2 Präfation am Feste Allerheiligen.

600

VIER TES KAPITEL.

(~. 719), und dass ich zur Sühne fÜr die Beleidigung der göttlichen Majestät bereit sein muss, alle möglichen VerdemÜtigungen, Verleumdungen, Beleidigungen, Beschimpfungen, Üble Nachrede anzunehmen, ja, zu verlangen. Und doch ist alles das weit unter dem Verdienst dessen, der ein einziges Mal die unendliche Majestät Gottes beleidigt hat. Habe ich sie aber oft beleidigt, mit welcher Bereitwilligkeit, ja, Freude, mÜsste ich nicht die Gelegenheit wahrnehmen, durch allerhand Schmach, die kurze Zeit währt, meine SÜnden abzubüssen!

844. B) Wir alle haben lässliche SÜnden begangen, wahrscheinlich auch vorsätzliche, indem wir absichtlich unsern Willen und unsere Lust dem \Villen und der Ehre Gottes vorzogen. Das war, wie wir schon sagten (N. 715), eine Beleidigung der göttlichen Majestät, eirJe Beleidigung, die so gros se Verclemütigungen verdient, dass selbst ein in ganzer, in tiefster Demut verbrachtes Leben uns nicht Möglichkeit verschaffen würde, aus uns Gott vollständigen Ehrenersatz zu leisten für das, was wir ihm ungerechterweise raubten. Wem diese Sprache übertrieben erscheint, der erinnere sich der Tränen und Busswerke der Heiligen, die nur geringe Fehler begangen hatten und doch glaubten, zur Reinigung ihrer Seele und zur Sühneleistung fÜr die der göttlichen Majestät zugefÜgten Beleidigungen nie genug tun zu können. Die Heiligen waren hellsehender als wir. Urteilen wir anders als sie, so ist das nur, weil wir vom Hochmut geblendet sind.

Als SÜnder sollen wir daher nicht nur die Hochschätzung von seiten anderer nicht anstreben, sondern uns selbst verachten und alle Verdemütigungen annehmen, die es Gott gefallen m3g, uns zu schicken.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 601

§ II. Der Neid. I

845. Neid ist Leidenschaft und Hauptlaster zugleich. Als Leidenschaft besteht er in einer Art tiefer Betrübnis, die man beim Anblick des bei den anderen wahrgenommenen Gutes empfindet. Im Geleite dieses Eindrucks entsteht Herzensbeklemmung, welche die Herzenstätigkeit vermindert und ein Angstgefühl hervorruft.

Hier befassen wir uns mit dem Neid nur als Hauptlaster. Es soll gezeigt werden: I. sein Wesen,

2. seine Bosheit und 3. die Gegenmittel.

846. I. Wesen. A) Neid ist die Neigung, sielt über das Gute des Nächsten zu betrüben wie über eine Schädigung unserer Überlegenheit. Oft gesellt sich der vVunsch dazu, den Nächsten des uns verdriessenden Gutes beraubt zu sehen.

Dieses Laster entstammt daher dem Hochmut, der nichts über oder ne.~en sich dulden mag. Ist man von seiner eignen Uberlegenheit überzeugt, so ist man betrübt zu sehen, dass andere ebenso oder mehr begabt sind oder wenigstens bessere Erfolge haben. V or allem sind die glänzenden Eigenschaften Gegenstand des Neides. Unter reifen Menschen jedoch kann er sich auch auf gutbegründete Eigenschaften, ja, sogar auf die Tugend richten.

Dieses Laster macht sich bemerkbar durch das Unbehagen, das man empfindet, wenn man andere loben hört. Man sucht dann die Lobeserhebungen abzuschwächen, indem man die Betreffenden bekrittelt.

847. B) Neid und Eifersucltt verwechselt man oft. Unterscheidet man sie, so bezeichnet man letztere als Übertriebene Liebe für das eigene Gute. Gleichzeitig ist damit die Furcht

, Hl. CYPRIAN, De zelo et livore, P. L. IV, 637-652. - Hl. GREGOR, Moral., I. V., c. 46., P. L. LXXV, 727'73°. - Hl. THOMAs, IIa Ha:, q. 36. De Malo, q. 10. - ALIBERT, op. cit. t. I. S. 331-340. - DESCURET, t. II, S. 241-274. - LAUMONIER, op. cit. 5. Kap.

602

VIER TES KAPITEL.

verknüpft, durch andere könnte uns das Gut entrissen werden. Man war z. B. Klassenerster und bemerkt nun die Fortschritte eines Mitschülers und wird eifersüchtig auf ihn, da man fÜrchtet, er könnte den ersten Platz erobern. Man besitzt die Liebe eines Freundes. Nun schleicht sich die Furcht ein, ein Nebenbuhler werde sie erobern und wird deshalb eifersüchtig auf ihn. Ein Kaufmann hat eine gute Kundschaft. Er fürchtet, ein Konkurrent möchte sie ihm entreissen. Daher die Eifersucht, die zuweilen zwischen Gewerbetreibenden, KÜnstlern und Schriftstellern, manchmal selbst unter Priestern herrscht. - Mit einem \Vorte, man ist neidisch auf das Gut des Nächsten und eifersÜchtig auf das eigene Gut.

e) Zu unterscheiden sind Neid und Wetteifer. Dieser ist eine lobwürdige Ge~innung und führt dazu, die guten Eigenschaften anderer nachzuahmen, ihnen gleichzukommen, sie womöglich zu übertreffen, aber auf ehrliche. Weise.

848.2. Bosheit des Neides. Man kann sie an ihm selbst lind an seinen Wirkungen beobachten.

A) An sich ist der Neid eine Todsünde seiner Wesen nach, weil er der Tugend der Nächstenliebe unmittelbar widerstrebt. Diese verlangt, man solle sich über das Gute bei andern freuen. Je bedeutender das beneidete Gut ist, desto schwerer ist die Sünde. " Daher ist es eine sehr schwere Sünde," sagt eier hl. Thomas, 1 den Nächsten um seine geistlichen Güter zu beneiden, sich über seine Fortschritte oder apostolischen Erfolge zu betrüben. Dieses ist der Fall, stimmt man den Regungen des Neides vollständig zu. Oft jedoch handelt es sich nur um Eindrücke oder unüberlegte Gefühle, oder wenigstens wenig überlegte und nicht ganz freiwillige. In diesem Falle ist die Sünde nur lässlich.

849. B) Seinen Wirkungen nach ist eier Neid zuweilen sehr strafbar.

a) Er ruft Gefühle eies Hasses hervor. Man neigt dazu, jene zu hassen, die man beneidet oder auf die

I " Est tarnen invidia qure inter gra'uissima peccata computatur, sc. invidentia fmterna: gratia:, secundum quod aliquis dolet de ipso angmento gratiae. "(Sum. theol. lla Ilre, q. 36, a. 4 ad 2.)

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 603

man eifersüchtig ist. Man ist darum leicht geneigt, schlecht von ihnen zu sprechen, sie anzuschwärzen, sie zu verleumden und ihnen Böses zu wünschen.

b) Er sät gern Unfrieden, nicht nur zwischen Fremden, sondern auch im Familienkreise (man erinnere sich an die Geschichte des ägyptischen J oseph), oder zwischen verschwägerten Familien. Diese Spaltungen können zuweile.l! sehr bedeutend werden und Feindschaften und Argernisse verursachen. Manchmal trennt er die Katholiken ein und derselben Gegend zum grossen Schaden der Kirche.

c) Er treibt zum masslosen Anstreben von Reichtümern und Ehrenstellen. Um jene, d~~ man beneidet, zu übertreffen, legt man sich ein Ubermass von Arbeit auf, übt mehr oder weniger ehrliche Kunstgriffe aus, wobei die Rechtschaffenheit aufs Spiel gesetzt wird.

d) Er verwirrt die Seele des Neidischen. Man geniesst weder Ruhe noch Frieden, solange es nicht gelingt, die Nebenbuhler auszustechen, zu übertreffen. Da man es selten erreicht, lebt man in beständiger Angst.

850. 3. Gegenmittel. Sie sind negativ oder positiv.

A) Negative Mittel sind : a) die im Herzen erwachenden, ersten Gefühle des Neides und der Eifersucht verachten. Sie wie etwas Niedriges zertreten, wie man ein giftiges Reptil zertritt. b) sich Ablmkung verschaffen, sich mit anderen Dingen beschäftigen. Ist die innere Ruhe wiederhergestellt, erwägen, wie wenig die guten Eigenschaften des Nächsten den unsrigen Eintrag tun, wie sie vielmehr zur Nachahmung uns anspornen sollen

851. B) Unter den positiven Mitteln gibt es zwei sehr wichtige.

604

VIERTES KAPITEL.

a) Das erste ergibt sich aus unserer Einverleibung in Christus. Kraft dieses Glaubenssatzes sind wir alle Geschwister, alle Glieder des mystischen Leibes, dessen Haupt Christus ist. Die guten Eigenschaften und Erfolge des einen der Glieder fallen auf die ~!lderen zurück. Anstatt uns daher wegen der Uberlegenheit unserer Brüder zu betrüben, sollten wir uns darüber freuen, denn nach der schönen Lehre des hl. Paulus 1 trägt sie zum Gemeinwohl und auch Zu unserem besonderen Heil bei. - Handelt es sich um Tugenden, derentwegen wir die anderen beneiden, so beherzigen wir Folgendes:

"Anstatt wegen dieser Tugenden Neid und Eifersucht zu hegen - oft durch EinflÜsterung des Teufels und der ungeordneten Eigenliebe - vereinigt euch mit dem Hl. Geiste J esu Christi im Allerheiligsten Altarssakrament. Ehret in ihm die Quelle dieser Tugenden und bittet ihn, um die Gnade, daran Anteil zu haben und Miteigentümer zu werden. Ihr werdet sehen, wie nützlich und vorteilhaft euch diese Übung sein wird. " 2

852. b) Das zweite Mittel besteht in der Pflege des Wetteifers, dieser löblichen und christlichen Gesinnung, vermöge der wir, gestützt auf die Gnade Gottes, die Tugenden des Nächsten nachzuahmen und zu übertreffen suchen.

Soll der Wetteifer wirklich gut sein und sich vom Neide unterscheiden, so muss er, I) auf einen geziemenden Gegenstand gerichtet sein, d. h. nicht auf die Erfolge, sondern auf die Tugenden der andern, zwecks Nachahmung. 2) Aus edlen Absichten hervorgehen, nicht mit dem Streben, andere zu besiegen, zu verdemütigen, zu beherrschen, sondern, um womöglich besser zu werden, damit Gott mehr verherrlicht und die Kirche mehr geachtet werde. 3) Ehrliche Mittel anwenden, nicht List und gewisse Kniffe oder andere unerlaubte Mittel, um das Ziel zu erreichen, sondern Anstrengungen, Arbeit, guten Gebrauch der Gaben Gottes.

, Röm., XII, 15, 16,

, J. J. OLlER, Ca/echo ehret., 2. Teil, 13. Lektion.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 605

In diesem Sinne ist der Wetteifer ein wirksames Mittel gegen Neid, denn er verletzt die Nächstenliebe in keiner Weise und ist gleichzeitig ein mächtiger Ansporn. Die besten unserer Brüder als V orbilder anerkennen, um ihnen nachzuahmen oder sie sogar zu übertreffen, heisst nämlich eigentlich die eigene Unvollkommenheit einsehen und durch Nutzbarmachung der Beispiele unserer Umwelt dem abhelfen wollen. Heisst das nicht mit anderen Worten, sich dem nähern, was der hl. Paulus tat, als er seine Jünger aufforderte, seine N achahmer zu sein, wie er selber ein N achahmer Christi war? "Jmitatores mei estote sicut et ego Christi. " I Folgt man dann nicht den Ratschlägen, die er den Christen gab, auf einander zu achten, um sich gegenseitig zur Nächstenliebe und den guten W'erken al1Zueifern ? " Consz'deremus invicem z'n provocatz'onelll carz'tatis et bonorum operum. "2 Heisst das nicht auch, in den Geist der Kirche eingehen, die uns die Heiligen zur Nachahmung vor Augen hält und so edlen und heiligen Wetteifer in uns entzündet? So wird Neid uns nur Gelegenheit zur Entfaltung der Tugenden sein.

§ III. Der Zorn. 3

Zorn ist Abirrung jenes instinktiven Gefühls der Selbstverteidigung, womit man beim Angriff Gewalt gegen Gewalt anwendet. Gegenstand unserer Erörterung werden sein : 1. Das Wesen des Zornes. 2. Seine Bosheit. 3. Gegen m z'ttel.

I. Wesen des Zornes.

853. Man unterscheidet den Zorn als Lez'deJlsc/taft und als Gefühl.

, I Kor. XI, 1. - 2 Hebr. X, 24.

3 Hl. GREGOR, Moral., I. V., c. 45. P. L. LXXV, 727-730. 'Hl. THOllAS, lJa lJ"" q. 1.08; De Malo, q. 12. - DEscURET, op. cit., A. lI, 1-57. - THOMAS, op. eil., 9. Kap., S. 94-103. - LAUMON1"~R. op. eil., 6. Kap.

606

VIERTES KAPITEL.

1. Zorn, als Leidenschaft betrachtet, ist ein durch physisches oder moralisches Leiden oder durch eine Widerwärtigkeit derselben Art bestimmtes, heftiges Bedürfnis der Rückwirkung oder Reaktion. Die Widerwärtigkeit löst eine heftige .. Gefühlserregung aus, wodurch die Kräfte zwecks Uberwindung der Schwierigkeit in Spannung geraten. In diesem Zustande ist man geneigt, seinen Zorn an Menschen, Tieren oder Dingen auszulassen.

Man unterscheidet zwei Hauptarten des Zornes: Dengliihenden oder ausfallenden Zorn bei den Starken und den blassen, fahlen oder krampfhaften Zorn bei den Schwachen. Beim ersteren schlägt das Herz heftig und man errötet. Der Atem wird unruhig", der Hals schwillt an, die Adern treten unter der Haut hervor, die Haare sträuben sich, das Auge funkelt und scheint aus den Höhlen heraustreten zu wollen, die Nasenlöcher erweitern sich, die Stimme wird heiser, stockt und wird dann wieder übermässig laut. Die Muskelkraft steigert sich. Der ganze Körper ist kampfbereit, und der unwiderstehliche Schlag trifft, zerschmettert oder beseitigt gewaltsam das Hindernis. - Beim blassen Zorn krampft sich das Herz zusammen, der Atem geht schwer, das Gesicht wird sehr bleich, kalter Schweiss perlt auf der Stirn, die Kiefer sind fest aufeinander gepresst, man wahrt ein vielsagendes Schweigen. Die innerlich verhaltene Erregung bricht schliesslich in roher Weise aus und entlädt sich in heftigen Schlägen.

854. 2. Als Gijültl ist der Zorn der brennende Wunsch, einen Angreifer zurückzustossen und zu züchtigen.

A) Es gibt einen gerechten Zorn, eine heilige Entrüstung, nämlich das heisse, jedoch vernünftige Verlangen, an Schuldigen die gerechte Strafe zu vollziehen. So war der göttliche Heiland von gerechtem Zorn gegen die Verkäufer erfasst, die durch ihr Handeltreiben das Haus seines Vaters schändeten. 1 Der Hohepriester Heli hingegen wurde streng gerÜgt, weil er das schlechte Betragen seiner Söhne nicht getadelt hatte.

, loh., II, 13-17.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 607

Der berechtigte Zorn setzt folgende Eigenschaften voraus: a) Er muss gerecht sein dem Gegenstande nach, d. h. nur darauf zielend, den Schuldigen zu bestrafen und zwar in dem Masse, wie er es verdient. b) Massvoll im Vorgehen, nicht weiter als der begangene Fehler es erfordert. e) Liebevoll in der Absicht, sich nicht von Hassgefühlen hinreissen lassend, sondern nur die Wiederherstellung der Ordnung und die Besserung des Schuldigen anstrebend. Fehlt eine dieser Bedingungen, so ergeben sich tadelnswerte Ausschreitungen. - Besonders bei Vorgesetzten und Eltern ist der Zorn berechtigt; zur Verteidigung der Interessen einer Stadt und zur Verhinderung des Sieges der Bösen haben einfache Bürger manchmal das Recht und die Pflicht, zornig zu werden. Es gibt nämlich Menschen, bei denen man mit Güte nichts erreicht und die nur die Strafe fürchten.

855. B) Der Zorn aber, der zu den Hauptsünden rechnet, ist ein heftiges, massloses Verlangen, den Nächsten zu züchtigen, ohne Rücksicht auf die genannten drei Bedingungen. In seinem Geleite findet sich oft Hass, der nicht nur den Angriff abzuwehren, sondern dafür Rache zu nehmen sucht. Das ist dann ein beabsichtigtes, länget andauerndes GefÜhl, das daher viel schwerere Folgen hat.

856. 3. Beim Zorn gibt es mehrere Grade. a) Anfangs ist es nur eine Regung der Ungeduld. Man zeigt Verstimmung bei der ersten Widerwärtigkeit, dem ersten Misserfolg. b) Dann ist es Aufwallun;;. Man ärgert sich Übermässig und gibt durch ungeordnete Bewegungen seine Unzufriedenheit kund. c) Manchmal steigen sich diese zur Heftigkeit (Jähzorn) und zeigt sich nicht nur in Worten, sondern auch in Sclzläyen. d) Der Zorn kann zur Wut werden, zu vorÜbergehender Tobsucht. Der Zornige ist dann nicht mehr Herr seiner selbst, spricht unzusammenhängende Worte, handelt in solch ungeordneter Weise, dass man ihn tatsächlich für toll ansehen könnte. e) Endlich artet der Zorn zuweilen in unerbittlichen Hass aus, der nur immer Rache schnaubt und sogar den Tod des Gegners herbeisehnt. Man muss diese Grade gut unterscheiden, um die Bosheit des Zornes richtig zu erfassen.

11. Bosheit des Zornes.

Man kann den Zorn an sielt und in seinen Wirleungm erwägen.

G08

VIERTES KAPITEL.

857. I. An sich betrachtet, kann man noch unterscheiden:

A) Ist der Zorn nur eine vorüber geltende, leidenschaftliche Erregung, so ist er seiner .~ atur nach lässliche Sünde. Dann nämlich ist zwar Ubermass in seiner Äusserung, jedoch werden, wie vorausgesetzt, die hohen Tugenden der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe nicht verletzt. - In manchen Fällen jedoch ist er so übermässig, dass man die Selbstbeherrschung verliert und sich zu groben Beleidigungen des Nächsten hinreissen lässt. Sind diese Regungen überlegt und gewollt, auch wenn sie leidenschaftlich sind, so sind sie doch ein schweres Vergehen. Aber oft sind sie nur halb gewollt.

858. B) Wird aus dem Zorn Hass und Groll, ist er ausserdem vorsätzlich und freiwillig, so ist er seiner Natur nach eine TodsÜnde, weil er die Nächstenliebe und oft die Gerechtigkeit schwer verletzt. In diesem Sinne sagt der Heiland : " Jeder, der seinem Bruder zürnt, wird dem Gerichte verfallen. \Ver aber zu seinem Bruder sagt: " Raca! " wird dem hohen Rate verfallen; und wer sagt : "Du Narr!" wird dem höllischen Feuer verfallen. " I r st aber die Regung des Hasses nicht reiflich erwogen oder stimmt man ihr nicht ganz zu, so wird es ein leichterer Fehler sein.

859. 2. Die nicht unterdrückten Wirkungen des Zornes sind manchmal furchtbar.

A) Seneka hat sie treffend geschildert. Mit dem Zorn "erbindet er Verräterei, Totschlag, Vergiftungen, innere Spaltungen in den Familien, Zwist und Bürgerkriege, Kriege mit all ihren verhängnisvollen Folgen. 2 Auch wenn der Zorn nicht so weit geht, ist er doch die Ursache einer grossen Menge von Fehltritten, denn durch ihn verlieren wir die

, Mattlt. V, 22.

Z: " Videbis credes ac venena et reorun1 mutuas sordes et urbium cl ades et totarum exitia gentium ... Aspice tot memori", proditos duces. " (De im, L. I, n. 2.)

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 609

Herrschaft über uns selbst. Besonders stört er den Frieden in den Familien und stiftet schreckliche Feindschaften.

860. B) Vom Standpunkte der Vollkommenheit aus, ist der Zorn, wie der heilige Gregor 1 sagt, ein grosses Hindernis für den geistlichen Fortschritt. Wird er nicht unterdrückt, so verlieren wir, I) die Klugheit und das klare Urteil; 2) die Liebenswürdigkeit, für gesellschaftliche Beziehungen unentbehrlich; 3) das Gerechtigkeitsgifühl, weil die Leidenschaft die Anerkennung der Rechte des Nächsten verhindert; 4) die zur innigen Vereinigung mit Gott, zum Frieden der Seele und für die Gefügigkeit gegen die Einsprechungen der Gnade so notwendige innere Sammlung. Aus diesem Grunde ist es daher von Wichtigkeit, ein Gegenmittel zu suchen.

I II. 1l1z'ttel gegen den Zorn.

Diese Mittel sollen die Leidenschaft des Zornes und das Gefühl des Hasses bekämpfen, das manchmal als Folge sich einstellt.

861. 1. Zur Besiegung der Lez'denschaft soll kein Mittel vernachlässigt werden.

A) Es gibt hygienische Mittel, die dazu beitragen, dem Zorn zuvorzukommen oder ihn zu mässigen. Dazu gehören; die Ernährungsweise, lauwarme Bäder, Duschbäder, Enthaltung von erregenden Getränken, besonders alkoholischen. Im Hinblick auf den innigen Zusammenhang von Leib und Seele, muss der Leib massvoll behandelt werden. Da man jedoch diesbezÜglich auf GemÜtsart und Gesundheitszustand zu achten hat, verlangt die Vorsicht, einen Arzt zu Rate zu ziehen. 2

862. B) Die 1IZoralz'schen Mittel sind jedoch die besten. a) Um dem Zorn ,zuvorzukommen, tut man gut, sich daran zu gewöhnen, vor dem Handeln erst

'Moral., I. c .. P. L. LXXV, 724-

2 Vgl. DEscuRET, La mldecine des passions. - J. LAuMoNIER. La tMrapeutique, S. 167-174.

N° 683. - 20

610

VIERTES KAPITEL.

zu überlegen. Dann wird man nicht von den ersten Anwandlungen der Leidenschaft überwältigt. Das erfordert lange, aber sehr wirksame Arbeit. b) Ist man trotzdem von der Leidenschaft überrascht worden, "ist es besser, sie schnell abzuweisen als lange mit ihr zu verhandeln. Denn ermöglicht man es ihr irgend wie, so macht sie sich zur Herrin und gleicht der Schlange, die mit grosser Leichtigkeit den Leib nachzieht, hat sie erst einmal einen Ort für den Kopf gefunden ... Bei der ersten wahrgenommenen Regung muss man schnell alle Kräfte zusammennehmen, zwar nicht auf einmal und ungestüm, sondern allmählich und doch fest." J Geht man beim Zorn nämlich ungestüm vor, wird man noch mehr verwirrt. c) Um den Zorn leichter zu unterdrücken, ist es gut, sich Ablenkung zu verschaffen, d. h. an anderes als an das ihn Erregende zu denken. Infolgedessen die Gedanken an erhaltene Beleidigungen zu bannen, Argwohn zu beseitigen u. s. w. d) Sehen wir uns vom Zorne erfasst, müssen wir Gott um Hilfe anrufen, ähnlich wie die Apostel beim Sturm auf dem Meere. Gott wird unseren Leidenschaften Halt gebieten, und grosse Ruhe wird eintreten. 2

863. 2. Die vom Zorn in uns hervorgerufenen Gefühle des Hasses, des Grolles und der Rache können nur durch die in der Liebe Gottes begründete Nächstenliebe gründlich geheilt werden. Da ist es an der Zeit, sich zu erinnern, dass wir alle Kinder desselben himmlischen Vaters, in denselben Christus einverleibt und zur seI ben ewigen Seligkeit berufen sind. Diese grossen Wahrheiten sind aber unverträglich mit Hassgefühlen. Daher also a) denke man an die Worte des Vaterunser:" V ergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. " Und, weil man von Gott Vergebung

J HI. FR. V. SALES, Philothea, 3. Buch, 8. Kap. - • Ibidem.

DER KAMPF GEGEN DIE' HAUPTSÜNDEN. 61 I

zu erhalten sehnlichst wünscht, wird man eher geneigt sein, den Feinden zu verzeihen. b) Man vergesse die Beispiele des Heilands nicht. Im Augenblicke des Verrats nennt er Judas seinen Freund. Vorn Kreuze herab betete er für seine Henker. Ihn bitte man um Kraft zum Vergeben und Vergessen. c) Man vermeide, an die empfangenen Beleidigungen und alles darauf Bezügliche zu denken. Die Vollkommenen mögen für die Bekehrung ihrer Beleidiger beten. Sie werden in diesem Gebete grosse Linderung ihrer Seelenwunden verspüren.

Das sind die hauptsächlichsten Mittel, um die drei Hauptlaster, Hochmut, Neid und Zorn zu überwinden. Nun wollen wir von den Sünden sprechen, die von der Sinnlichkeit oder der Begierlichkeit des Fleisches herkommen : Un11lässigkeit, Unkeuschheit und Trägheit.

2. ABSCHNITT. SÜNDEN DER SINNLICHKEIT.

§ 1. Die Unmässigkeit. I (GAUMENLUST).

Unmässigkeit ist Missbrauch der rechtmässigen Lust, welche Gott an Speise und Trank, heide zur Erhaltung des Einzelwesens so notwendigen Dinge, geknüpft hat. Wir behandeln I. ihr T/Vesen, 2. ihre Bosheit, 3. Gegenmittel.

864. I. Wesen. Unmässigkeit ist ungeordnete Liebe zu den Freuden der Tafel, des Essens und Trinkens. Das Ungeordnete liegt darin, dass die Esslust ihrer selbst wegen angestrebt und ausdrücklich oder stillschweigend als Ziel angesehen wird, ähnlich denen, deren Gott der Bauch ist. " Quorum deus venter est. " 2 Oder auch sie im Übermass

J S. THOMAs, 1I' IIre, q. 148; De Malo, q. 14. - J AUGEY, De quatltorvirtut. card. 1876. S. 569-57'1. - LAUMONIER, op. ci!., 2. Kap.

2 Phil. IIl, 19.

(j12

VIERTES KAPITEL:

anzustreben, ohne Rücksicht auf die Regeln der Mässigung, zuweilen selbst auf Kosten der Gesund-

heit.

865. Von den Theologen werden vier verschiedene Weisen angegeben, wie man sich gegen diese Regeln verfehlen kann.

Pra!jJrojJere, essen, ohne Bedürfnis danach ZU fühlen.

Ausserhalb der für die Mahlzeiten festgesetzten Stunden. Ohne Grund, nur um die Naschhaftigkeit zu befriedigen.

Laute et studiose, des höheren Genusses wegen, ausgesuchte oder sehr sorgfältig zubereitete Speisen wählen. Das ist die Sünde der Feinschmecker oder der Leckermäuler.

Nimis, die Grenzen des Appetites oder des Bedürfnisses überschreiten. Sich mit Speisen und Trank Überfüllen, dabei die Gesundheit aufs Spiel setzen. Offenbar kann nur ungeordnete Lust dieses Ubermass erklären. In der Welt nennt man

~s Schwelgerei.

Ardenter, mit Gier, Gefrässigkeit alles hinunterschlingen, wie gewisse Tiere es tun. Diese Art und Weise gilt in der Welt als unmanierlich.

866. 2. Die Bosheit der Unmässigkeit liegt in der Unterjochung der Seele unter den Leib. Sie verstofflicht den Menschen, schwächt sein intellektuelles und moralisches Leben und führt ihn, ohne dass er es merkt, den Abhang hinab zu den Freuden der Wollust, die eigentlich gleicher Art sind. Zur genaueren Feststellung der Schuldbarkeit muss eine Unterscheidung gemacht werden.

A) Unmässigkeit ist ein schweres Vergehen a) wenn sie so gross ist, dass man unfähig wird, und zwar für geraume Zeit, seine Standes pflichten zu erfüllen oder die Gebote Gottes und der Kirche zu halten. Schadet sie z. B. der Gesundheit, ist sie die Ursache bedeutender, unnötiger und ~!e Familie schädigender Ausgaben, führt sie zum Ubertreten der Fasten- und Abstinenzgebote. b) Ebenso, wenn sie die Ursache schwerer Sünden wird.

Einige Beispiele. " Die Ausschweifungen bei Tisch, " sagt

P. Janvier, "fÜhren zur Unkeuschheit, der Tochter der Unmässigkeit. Zuchtlosigkeit der Augen und Ohren, die von' der BÜhne und von Liedern ungesunde Nahrung fordern. Zügel-

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 613.

losigkeit der sich verwirrenden Phantasie. UnzÜchtigkeit des Gedächtnisses, das in der Vergangenheit Erinnerungen sucht, welche die Begierlichkeit erregen. Unzüchtigkeit des Denkens, das irregeht und sich auf Unerlaubtes richtet, Unzüchtigkeit des Herzens in seinem Streben nach fleischlichen Neigungen, Unzüchtigkeit des versagenden, den Sinnen unterjochten Willens .. , Zügellosigkeit bei Tisch fÜhrt zli ZÜgellosigkeit im Gespräch. 'Nie viele SÜnden begeht die Zunge im Laufe der Üppigen Mahlzeiten! Verfehlungen. gegen den Lebensernst! ... Verstösse gegen die Verschwiegenheit! Man verrät die .Geheimnisse, die man zu halten versprochen, Amtsgeheimnisse, die einem heilig sein sollten, und liefert alles der Bosheit und Tücke aus, den guten Ruf eines Gatten, einer Gattin, einer Mutter, die Ehre einer Familie, womöglich die Zukunft eines Landes ... Verfehlungen gegen Gerechtigkeit und Nächstenliebe! Mit unglaublicher Freiheit werden Üble Nachrede, Verleumdungen, Ehrabschneidungen in ihren schlimmsten Formen betrieben ... Verfehlungen gegen die Klugheit! Man bindet sich durch Verpflichtungen, die man nicht halten kann, ohne allen Gesetzen der Sittlichkeit Hohn zu sprechen. " ,

867. B) Unmässigkeit ist nur lässliche SÜnde, gibt man den Freuden der Tafel übermässig nach, jedoch ohne sich schwere Ausschreitungen zu schulden kommen zu lassen und ohne sich der Gefahr auszusetzen, ein wichtiges Gebot zu übertreten. So wäre es also eine lässliche Sünde, aus Lust mehr als gewöhnlich zu essen und zu trinken, nur um sich ein gutes Gericht nicht entgehen zu lassen oder einem Freunde zuliebe, ohne wirkliche Ausschreitungen zu begehen.

868. C) Vom Standpunkte der Vollkommenlteit aus ist die Unmässigkeit ein grosses Hindernis. I) Sie begÜnstigt den Mangel an Abtötung, wodurch der Wille geschwächt wird, und fördert die Freude an sinnlicher Lust, wodurch die Seele auf gefährliches Nachgeben vorbereitet wird. 2) Sie ist die Quelle vieler Fehler, veranlasst übermässige Freude und folglich Ausgelassenheit, Schwatzhaftigkeit, zweideutige Scherze, Mangel an Zurückhaltung und

J Careme. (Fastenpredigten) 1921. - Retraite pascale, Exces de table.

ti14

VIERTES KAPITEL.

Sittsamkeit, so dass die Seele den Angriffen des Teufels preisgegeben ist. Daher muss sie auf jeden Fall bekämpft werden.

869. 3. Gegenmittel. Im Kampfe gegen die Unmässigkeit muss man sich 'an den Grundsatz halten, die Lust sei nicht ein Ziel, sondern ein Mittel. Folglich soll sie der vom Glauben erleuchteten gesunden Vernunft untergeordnet sein. N. 193· Der Glaube aber fordert uns auf, die Freuden der Tafel durch Reinheit der Absiclzt, Mässigkeit und

Abtötung zu heiligen.

1) Vor allem mÜssen die Mahlzeiten in gerader, übernatürlicher Absiclzt eingenommen werden, nicht aber wie von dem nur die Lust anstrebenden Tiere, nicht wie von einem sich mit ehrsamer Absicht begnügenden Philosophen, sondern wie von einem Christen, um zur Ehre Gottes besser arbeiten zu können. Im Geiste der Dankbarkeit gegen die Güte Gottes, der uns das tägliche Brot zu schenken geruht. Im Geiste der Demut, indem wir uns wie ein hl. Vinzenz v. Paul sagen, dass wir das Brot, das wir essen, nicht verdient haben. Im Geiste der Liebe, die alle erneuten Kräfte in den Dienst Gottes und der Seelen stellt. So werden wir den Rat befolgen, den der hl. Paulus den ersten Christen gab. In vielen Klöstern wird er zu Beginn der Mahlzeiten wiederholt. "Ob ihr 'esset oder trinket, tuet alles zur Ehre Gottes." "Sive ergo manducatis sive bibitis ... omnia in gloriam Deifacite. " 1

870. 2) Diese Reinheit der Absicht wird uns Mässigung oder rechtes Masshalten lehren. Wollen wir zur Erwerbung der nötigen Kräfte für die Erfüllung unserer Standespflic~ten Nahrung nehmen, so werden wir dabei alles Ubermass vermeiden, weil dadurch unsere Gesundheit in Gefahr käme. Nun sagen aber die Hygieniker oder Gesundheits-

, I Korinther, X, 3I.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSUNDEN. 615 lehrer" Mässigkeit sei eine wesentliche Bedingung für Gewinnung physischer und moralischer Kraft. " Wir essen, um zu leben, müssen daher gesunde Kost geniessen, um gesund zu leben. Folglich darf man weder zuviel essen noch zuviel trinken. Verlässt man die Tafel, soll man sich leicht und kräftig fÜhlen und eher noch etwas hungrig sein, als wegen Übermässigen Genusses Beschwerden empfinden. " 1

Es muss jedoch betont werden, dasselbe Mass gelte nicht fÜr alle. Manche bedÜrfen einer reichlicheren Ernährung, um nicht der Tuberkulose anheimzufallen. Andere wieder müssen zur Verhinderung von Gicht ihre Esslust mässigen. Man halte sich darum an den Rat eines tÜchtigen Arztes.

871. 3) Der Christ versteht es, mit der Mässigkeit einige AbtiJ'tungen zu verbinden. A) Da es sehr leicht ist, auf die schiefe Ebene zu geraten und der Sinnlichkeit zuviel nachzugeben, enthält man sich zuweilen mancher Lieblingsspeisen, auch wenn sie bekömmlich, aber nicht notwendig sind. Durch Entziehen erlaubter GenÜsse erlangt man nämlich eine gewisse Herrschaft Über die Sinnlichkeit. Der Geist wird aus der Knechtschaft der Sinne befreit. Er erhält mehr Freiheit für Gebet und Studium und man weicht dadurch gefährlichen Versuchungen aus.

B) Eine ausgezeichnete Übung ist es, sich daran zu gewöhnen, keine Mahlzeit einzunehmen, ohne sich irgend eine kleine Abtötung aufzuerlegen. Durch diese kleinen Entziehungen wird der Wille vorteilhaft gestärkt, ohne dass die Gesundheit zu Schaden kommt. Aus diesem Grunde sind diese kleinen Abtötungen im allgemeinen den bedeutenderen, aber selten sich darbietenden vorzuziehen. Fromme Seelen fügen einen Beweggrund der Liebe hinzu. Man lässt ein StÜckchen für die Armen liegen, daher für den in ihnen lebenden Heiland, und, wie der hl. Vinzenz Ferrier 2 bemerkt, man

, E. CAUSTIER, La vic cl la santi, S. II~. 2 La vic spirituelle, 2. Teil, 3. Kap.

616

VIERTES KAPITEL.

darf nicht ein Abfall-stückchen zurücklassen, sondern ein recht gutes muss es sein, "wäre es auch noch so klein. Eine andere gute Ubung besteht auch darin, von dem weniger Bevorzugten zu essen.

872. C) Zu den bekömmlichsten Abtötungen gehören jene, die sich auf al/co/wlische Getl'änke beziehen.

Erinnern wir diesbezüglich an die Grundsätze: a) An sich ist der mässige Gebr~~!-lch von Alkohol oder geistigen Getränken kein Ubel. Laien und Priester, die darin Mass halten, sind daher deswegen nicht zu tadeln.

b) Aber im Geiste der Abtötung oder um des guten Beispiels willen sich davon enthalten, ist gewiss sehr löblich. So enthalten sich denn auch manche Priester oder Vereinsvorstände jeglichen geistigen Getränkes, um andere um so leichter davon abzubringen.

c) In manchen Fällen ist diese Enthaltung moralisch geboten, um Ausschreitungen zu vermeiden. r) Wenn man infolge erblicher Belastung eine gewisse Neigung zu geistigen Getränken hat. Dann nämlich kann einfacher Gebrauch einen fast unwiderstehlichen Hang verursachen, wie ein Funken genügt, um feuergefährliche Stoffe in Flammen aufgehen zu lassen. 2) Wenn man so unglücklich war, alteingewurzelte Alkoholiker-Gewohnheiten gehabt zu haben. Da ist gänzliche Enthaltung oft das einzige wirksame Heilmittel.

§ Ir. Die Unkeuschheit. I (WOLLUST).

873. 1. Wesen. Ebenso wie Gott zur Unterstützung des Selbsterhaltungstriebes die N ahrungsauf-

, S. TIIOMAS, IIa Ure, q. 153-154. - HI. ALPHONS, 3. Buch, N. 412- 485. - CAPELMANN, Medicina partoralis. - ANTON~LLI, M,dicina

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 617 nahme mit sinnlicher Lust verband, ebenso knüpft er sinnliche Lust an Handlungen, durch die das Menschengeschlecht sich fortpflanzt.

Diese Lust ist daher Ehegatten erlauht, sobald sie dieselbe für den Überaus edlen Zweck benutzen, welcher der Einsetzung der Ehe zugrunde lag, nämlich die Fortpflanzung .des Lebens. Abgesehen davon, ist sie strengstens untersagt. Trotz dieses Verbotes ist leider, besonders vom Entwickelungsalter an, eine mehr oder weniger heftige Neigung in uns, die Lust auch ausserhalb der rechtmässigen Ehe zu geniessen. Diese ungeordnete Neigung heisst Unkeuschheit (Wollust). Sie ist durch die zwei Gebote des Dekalogs verboten.

"Du sollst nicht Unkeuschheit treiben. "

" Du sullst nicht begehren deines Näcllsten Weib."

Also nicht bloss äussere Handlungen sind verboten, sondern auch die.freiwillig-en inneren Akte, Vorstellungen, Gedanken und WÜnsche. Und mit Recht. Denn hält man sich vorsätzlich bei unzüchtigen Gedanken, Vorstellungen oder bösen Begierden auf, so geraten die:Sinne in Unruhe und organische Regungen machen sich bemerkbar, die nur allzu oft das Vorspiel unreiner Handlungen sind. Will man daher diese vermeiden, so kommt es vor allem darauf an, die gefährlichen Gedanken und Vorstellungen zu bekämpfen.

874. 2. Schwere dieser Sünden. A) Das unm.ittelbare Anstreben und Wollen der bösen Lust ist Todsünde. Es ist tatsächlich eine sehr schwere Ausschreitung, die Erhaltung und Fortpflanzung des Menschengeschlechtes aufs Spiel zu setzen. Wäre es aber grundsätzlich erlaubt, der Wollust in

pastoralis, Romre, 1905. - SURBLED, Vie dejeum komme, Paris, I<lOO. - Vit de jewle jille, Paris, _1903. - FONSSAGRIVES, Conseils au.' parents el aux maUres sur l'tducation de la puretl. _ J. GUIBERT, La· puretl, Paris, 1910. - M. DUBOURG,· S~xieme et ,zeuvÜme Co:mma1Z-' demenls.

618

VIER TES KAPITEL.

Gedanken, Worten und Handlungen ausserhalb des rechtmässigen Gebrauchs in der Ehe zu fröhnen, so wäre es unmöglich, die Wut dieser Leidenschaft zu zügeln, denn ihre Forderungen steigern sich mit der gewährten Befriedigung, und bald .~väre die Absicht des Schöpfers zunichte gemacht. Uhrigens heweist das auch die Erfahrung. Nur zu viele junge Leute machen sich unfähig, das Leben fortzupflanzen, weil sie ihren Leib missbraucht haben. Daher gibt es in der unmittelbar gewollten Lust keine leichten Vergehen.

B) Fälle gibt es jedoch, in denen, infolge gewisser, an und für sich guter oder wenigstens gleichgiltiger Handlungen, diese Lust erwacht, ohne dass man sie unmittelbar anstrebt. Willigt man in sie nicht ein und hat man im übrigen zu der diese Lust veranlassenden Handlung einen hinreichenden Grund, so ist man nicht schuldig und braucht sich nicht zu ängstigen. Sind aber die Wollust erregenden Handlungen weder notwendig noch nützlich, wie z. B. gefährliche Lektüre, gewisse BühnenstÜcke, leichtfertige Unterhaltungen, unzüchtige Tänze u. s. w. so ist es augenscheinlich eine mehr oder weniger grosse Sünde der Unvorsichtigkeit, sich dieselben zu gestatten, je nach der daraus entstehenden Ausschreitung oder entsprechenden Gefahr dazu hezüglich der Einwilligung.

875. C) Vom Ge~ichtspunkte der Vollkommenheit aus gibt es nach dem Hochmut kein grösseres Hindernis fÜr den inneren Fortschritt als das Laster der Unkeuschheit. a) Möge es sich um Sünden, die man allein beging', oder um solche handeln, die man mit anderen Menschen begangen hat, bald werden tj'rannische Gewohnheiten entstehen, die jeden Aufschwung zur Vollkommenheit lähmen und den Willen sinnlichen Freuden zuneigen. Man findet weder am Gebet noch an strenger TugendÜbung Geschmack wie früher. Es gibt kein hoch-

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 619 herziges Streben mehr. b) Die Seele wird von Selbstsucht befallen. Die Liebe zu Verwandten und Freunden nimmt ab und verschwindet fast gänzlich. Es bleibt nur der Wunsch, um jeden Preis die böse Lust zu geniessen. Sinnenlust geniessen wird zum beständigen Gedanken. c) Dann geht den Fähigkeiten das Gleichgewicht verloren. Der Leib, die Wollust gebieten. Der 'Wille wird zum Sklaven dieser schändlichen Leidenschaft und empört sich bald gegen Gott, der die böse Lust verbietet und bestraft.

d) Bald machen sich die traurigen Wirkungen des Versagens der Willenskraft fÜhlbar: Der Verstand stumpft ab und wird schwächer, weil das Leben vom Haupte in die Sinne überging. An ernstem Studium findet man keinen Geschmack mehr. Die Phantasie ist nur noch auf Niedriges gerichtet. Das GemÜt siecht nach und nach dahin, trockn.et ein und verhärtet schliesslich, denn nur an sinnlichen VergnÜgen findet es noch Reiz. e) Oft wird selbst der Leib stark in Mitleidenschaft gezogen. Das Nervensystem, durch derartige Missbräuche Überreizt, verliert seine Kraft und wird fÜr seine ausgleichende und abwehrende Aufgabe unfähig. ' Die verschiedenen Organe Üben ihre Tätigkeit nur mehr in unvollkommener Weise aus. Der Ernährungsvorgang geschieht schlecht. Die Kräfte nehmen ab, man wird von Schwindsucht bedroht.

Eine auf diese Weise aus dem Gleichgewicht gebrachte, einen kraftlosen Körper belehende Seele denkt natürlich nicht mehr an Vollkommenheit. Von Tag zu Tag entfernt sie sich mehr davon. Sie kann von Glück reden, rafft sie sich noch rechtzeitig auf und sichert sie wenigstens ihr ewiges Heil!

Gegen dieses rohe Laster einige Mittel anzugeben, ist daher von Bedeutung.

876. 3. Gegenmittel. Um einer so gefährlichen Leidenschaft zu widerstehen, sind tieJe Uberzettgungen, Fludtt vor geJährlz'chen Gelegenheiten, Abtötutlg und Gebet notwendig.

, LAUMONIER, op. ci!., 3. Teil.

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VIERTES KAPITEL.

A) Die tiefen Überzeugungen müssen sich gleichzeitig auf die Notwendigkeit des Kampfes gegen dieses Laster und auf die Miiglichkeit des Sieges richten.

a) Was wir Über die Schwere der SÜnde der 1] nkeuschheit sagten, zeigt die dringende N otwendigkeit, sie zu vermeiden, um nicht den ewigen Strafen anheimzufallen. Dazu können zwei BeweggrÜnde aus den Schriften des hl. Paulus angeführt werden. I) Wir sind lebendige Tempel der hl. Dreifaltigkeit, geheiligt durch die Gegenwart des Gottes aller Heiligkeit und durch Teilnahme am göttlichen Leben (N. 97, I06.) Nichts aber verunehrt diesen Tempel mehr als das unreine Laster, das Leib und Seele des Getauften zugleich entweiht. 2) Wir sind Glieder Jesu Christi, dem wir durch die Taufe einverleibt wurden. Folglich mÜssen wir unsern Leib wie den Leib Christi selbst hochachten. Und durch Akte, die der Reinheit widerstreben, sollten wir ihn entweihen? Wäre das nicht eine Art niederträchtiger Gottesraub, nur um sich eine gemeine Lust zu verschaffen, die uns zum Tier erniedrigt?

877. b) Sehr viele sagen, Enthaltsamkeit zu üben, sei unmöglich. So dachte auch dei h1. Augustinus vor seiner Bekehrung. Aber nachdem er sich Gott wieder zugewendet hatte und er auch aus den Beispielen der Heiligen und durch 'die Gnade der Sakramente Kraft gefunden, verstand er, dass es nichts Unmögliches gebe, wenn man zu beten und zu kämpfen verstehe. Das ist sehr wahr. Aus uns sind wir so schwach, und die böse Lust ist zUweilen so verftihrerisch, dass wir schliesslich unterliegen können. Stützen wir uns aber auf 'die göttliche Gnade und machen wir ernste Anstrengungen, so gehen wir aus den härtesten Versuchungen siegreich hervor. - Man sage auch nicht, Enthaltsamkeit bei jungen .Leuten beeinträchtige die Gesundheit. Jeder ehrenwerte .Arzt antwOl:tet darauf mit der Erklärung eies Internationalen Brüsseler Arzte-Kongresses. J "Man muss vor allem der

J Ir. Kongress der Internationalen Konferenz, 1902. - Viele weitere Zeugnisse siebe F. ESCLANDE, "Le probleme de la cltasteU au point de

vue scimtijique. 1919, S. 122-136. " . " '

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 621

männlichen Jugend beibringen, Keuschheit und Enthaltsamkeit schaden nicht nur nicht der Gesundheit, sondern diese Tugenden seien selbst vom rein medizinischen und hygienischen Standpunkte aus zu empfehlen." Und in der Tat. Man kennt keine Krankheit, die auf Enthaltsamkeit zurückzufÜhren sei, wohl aber viele, die ihre Ursache in der Unkeuschheit haben.

8 7 8. B) Flucht vor' den Geleg'enheiten. Nach einem geistlichen Grundsatze wird die Keuschheit hauptsächlich durch Flucht vor gefährlichen Gelegenheiten bewahrt. Ist man von seiner Schwäche überzeugt, begibt man sich nicht unnötigerweise in Gefahr. Sind die Gelegenheiten nicht notwendig, so meide man sie sorgfältig, um nicht zu erliegen. " VI/er sich der" Gefahr aussetzt, wird in ihr umkommen." Qui antat periculum, in illo peribit. " I Es gilt also kein Zaudern, handelt es sich um Lektüre, Besuche, Begegnungen oder gefährliche Theaterstücke, von denen man ohne grössere Unannehmlichkeiten fernbleiben kann. Anstatt sie aufzusuchen, meide man sie, wie man vor einer Schlange flieht. Kann man sich diesen Gelegenheiten niclzt entzie/zen, so heisst es, durch innere Gesinnungen den Willen stärken, damit der Angriff weniger nahe erfolge. So erklärt der hl. Franz v. Sales, die nicht zu vermeidenden Tänze sollten wenigstens bescheiden, würdevoll und in guter Absicht ausgeführt werden, und damit diese gefährlichen Belustigungen keine bösen Neigungen in uns wachrufen, tut man gut, daran zu denken, wie manche Seelen in der Hölle leiden, und zwar wegen Sünden, die sie entweder beim Tanze oder infolge des Tanzes begingen.2 - \iVieviel mehr trifft das heutzutage zu, da unzüchtige, ausländische Tänze in vielen Gesellschaften Eingang fanden!

879. C) Es gibt aber auch Gelegenheiten, denen man sich nicht entziehen kann. Tag für Tag

, Eccles., IlI, 27. -' Philothea, 3. Buch, 33. Kap.

622

VIERTES KAPITEL,

begegnet man ihnen in sich und um sich. Diese lassen sich nur durch Abtötung besiegen. Von dieser Tugend wurde bereits gesprochen (N. 754- 8 15). Es bleibt uns nur noch übrig, an einige Vorschriften zu erinnern, die sich unmittelbar auf die Keuschheit beziehen.

a) Ganz besonders müssen die Augen überwacht werden, weil unvorsichtige Blicke Begierden entflammen, diese aber dann den Willen mitreissen. Daher erklärte der Heiland, dass, wer ein Weib mit Verlangen betrachte, im Herzen schon die Ehe gebrochen habe. " Qui videt"it mulierem ad concupiscendalll eam, iam 1/Zoeclzatus est in corde suo.'" Und er fügt hinzu" Wenn aber dein rechtes Auge dich ärgert, so reisse es aus und wirf es von dir. 2 Mit andere~~ Worten, wir mÜssen unsern Blick mit Gewalt von einem Argernis erregenden Gegenstande losreissen. Diese Sittsamkeit der Augen ist heute um so mehr geboten, als man überall Gefahr läuft, Personen und Dingen zu begegnen, die Versuchungen verursachen können.

b) Der Gejiilzlssi1t11 ist noch gefährlicher, weil er sinnliche Eindrücke hervorruft, die leicht zur bösen Lust führen. Man enthalte sich darum von Berührungen und Zärtlichkeiten, die lediglich die Leidenschaften erregen.

c) Bezüglich der Plzalltasie und des Gedächtnisses erinnere man sich der in N. 781 gegebenen Anweisungen. Der Wille aber muss nach den in N. 8II-816 angefÜhrten Grundsätzen durch mannhafte Erziehung gestärkt werden.

880. d) Auch das Herz muss durch den Kampf gegen sinnliche und gefährliche Freundschaften abgetötet werden (N. 600-604). Gewiss kommt eine Zeit, in der die zur Ehe Entschlossenen sich in rechtmässiger Liebe verbinden, aber diese Liebe muss keusch und übernatürlich bleiben. Sie sollen daher die den Schicklichkeitsgesetzen widerstrebenden Liebesbeweise vermeiden und sich erinnern, dass ihre Verbindung rein sein muss, soll Gott sie segnen. Die aber noch zu jung sind, um ans Heiraten zu denken, mögen sich vor den allzu fühlbaren und sinnlichen Neigungen hÜten, denn diese verweich-

J Matth., V, 28. - 21',,{attl,., V, 29·

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 623 lichen das Herz und hereiten es auf gefährliche Nachgiebigkeit vor. Man spielt nicht ungestraft mit dem Feuer. Verlangt man von der Auserwählten ein reines Herz, muss das ihr angebotene nicht auch so beschaffen sein?

881. e) Endlich ist eine der nützlichsten Abtötungen die energische und beharrliche Hingabe an die Standespflichten. Der Müssiggang ist ein schlechter Ratgeber. Die Arbeit hingegen nimmt unsere ganze Tätigkeit in Anspruch und hält Phantasie, Geist und Herz von gefährlichen Dingen fern. Wir werden bald darauf zurückkommen. N. 887.

882. D) Das Gebet. a) Das Konzil von Trient macht uns aufmerksam, Gott gebiete nichts Unmögliches, sondern verlange von uns, zu tun, was wir können, und um die Gnade für das zu bitten, was wir aus uns selbst zu tun unfähig sind. 1 Diese Vorschrift bezieht sich besonders auf die Keuschheit, denn den meisten Christen, selbst jenen, die im hl. Ehestande leben, verursacht sie eigene Schwierigkeiten. Um diese zu überwinden, muss man beten, oft beten und die grossen Wahrheiten betrachten. Solch häufige Erhebungen der Seele zu Gott lösen uns nach und nach von den sinnlichen Freuden los und ziehen uns zu heiligen, reinen Freuden empor.

b) Dem Gebet muss häufiger Empfang der M. Sakramente sich anschliessen. I) Beichtet matt oft, klagt man sich aufrichtig der gegen die Reinheit begangenen Fehler und Unvorsichtigkeiten an, wird die Gnade der Lossprechung samt den erhaltenen Ratschlägen den Willen gegen die Versuchungen ausserordentlich stärken. 2) Durch die öftere M. Kommunion wird diese Gnade noch vermehrt. Innige Vereinigung mit dem Gott aller

, Sess. VI, De justificatione, c. X!.

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VIERTES KAPITEL.

Heiligkeit ertötet die Begierlichkeit, macht die Seele empfänglicher für die geistlichen Güter und löst sie so von den roh-sinnlichen Freuden los. Durch Beicht und Kommunion heilte der hl. Philipp Neri die dem unreinen Laster ergebenen, jungen Leute. Auch heute gibt es kein wirksameres Mittel, um die Tugend zu wahren oder zu stärken. So viele junge Männer und junge Mädchen verfallen nicht der Ansteckung des Lasters nut: desl1alh, weil sie in der Übung ihrer Religi0nspflichten eine Waffe gegen die sie -belagernden Versucliungen finden. Diese Waffe verlangt zwar Mut, Kraft und immer wieder erneute Al4strengung, aber mit Gebet, Sakram~t:Jten und festem Willen siegt man über alle Hindernisse.

§ III. Die Trägheit .. I

883. Trägheit hängt mit Sinnlichkeit zusammen,. weil sie eigentlich von der Liebe zur Lust herrührt, insofern sie aller Anstrengung oder Unbequemlichkeit aus dem Wege zu gehen strebt. In uns allen liegt nämlich das Streben nach möglichst geringer Mühe. Es lähmt oder vermindert unsere Tätigkeit. . Legen wir also dar : 1. ihr Wesen, 2. ihre Bosheit

und 3. ihre Heilmittel. -

884. 1. Wesen. A) Trägheit ist Neigung zu Müssiggang oder wenigstens zu Nachlässigkeit, Schwerfälligkeit· im Handeln. Manchmal ist es krankhafte Veifass,ung, die von schlechtem Gesundheitszustand herkommt. Aber meistens ist es Krankheit des Willens, der die Anstrengung scheut und verweigert. Der Träge will jt;!de Mühe vermeiden, alles, was seine Ruhe stören, Ermüdung verursachen könnte. Als echter Schmarotzer lebt er auf

J S. THOMAs, I1a lIre,_q. 35, De Mdlo, q. 11. - NOEI- AI-EXANDER, op. ci!., S. II48-II70. - MELCHIOR CANO, Victoire sur soi-mh/le, 10. Kap. - W. FABER, Le progres, 8. Kap. - LAUMONIER, op. eil., 3. Kap. - VUILLERMET, Soyez deshpmmes, P~ris, ~908, XI~ S .. 185.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 625_

Kosten der andern, soviel er nur kann. Er ist sanft und ergeben, solange man ihn nicht belästigt, wird aber bösartig und streitsüchtig, will man ihn aus seiner Untätigkeit herausbringen.

B) Man unterscheidet versdtiedene Grade von Trägheit. a) Der Sorglose oder Lässige. Er begibt sich langsam, bequem und gleichgiltig an die Arbeit. Was er tut, ist schlecht getan. b) Der Nidttstuer weigert sich nicht unbedingt, zu arbeiten, aber er verspätet sich, lungert umher und schiebt die angenommene Arbeit auf unbestimmte Zeit hinaus. c) Der eigentliche Faule. Er will nichts Ermüdendes tun und zeigt ausgesprochene Abneigung gegen jegliche Arbeit des Leibes und des Geistes.

C) Richtet sich die Trägheit auf geistliche Übungen, so nennt man sie "acedia ". Sie besteht in einem gewissen' Widerwillen gegen geistliche Dinge. Man macht sie deshalb nachlässig, kürzt sie ab oder unterlässt sie sogar zuweilen unter leeren Vorwänden. Sie geht der Lauheit voraus, von eier wir bei der Abhandlung Über den Erleuchtungsweg sprechen werden.

885. 2. Bosheit. A) Um die Bosheit der Trägheit zu erfassen, bedenke man, dass der Mensch zur Arbeit geboren ist. Als Gott unsern Stammvater schuf, setzte er ihn in ein Paradies der \Vonne, c\amit er dort arb~ite. " Ut operaretur et custodiret illum. " I Der Mensch nämlich ist kein vollkommenes \\lesen wie Gott. Er besitzt zahlreiche Fähigkeiteri, die zur Vervollkommnung der Tätigkeit bedürfen. Das Arbeiten ist daher eine NotwC1ldigkeit für sein Wesen, zur Entfaltung seiner Fähigkeiten, zur Sorge für die Bedürfnisse des Leibes und der Seele und somit zur Erreichung seines Zieles. Das Gesetz der Arbeit bestand daher vor der Erbsünde. Nachdem der Mensch gesündigt hatte, wurde die Arbeit für ihn nicht nur ein Gesetz der Natur, sondern eine Strafe, insofern. sie mit Mühe- verbunden und gleichsam ein Mittel der Sühne wurde. Im Schweisse unseres Angesichtes müsse~ wir jetzt unser Brot essen, das des Geistes

J COI. 1I, 15.

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VIERTES KAPITEL.

ebensogut wie das den Leib ernährende. "In sudore tuo vescens pa ne " I

Gegen dieses zweifache Gesetz nun, gegen das natürliche und das positive, verfehlt sich der Träge. Er begeht somit eine Sünde, deren Schwere von der Wichtigkeit der vernachlässigten Pflichten abhängt. a) Geht er bis zur Unterlassung der zum Seelenheil oder zur Heiligung notwendigen, so ist das eine schwere Sünde. Ebenso wenn er absichtlich in wichtigen Dingen irgend eine seiner Standespflichten vernachlässigt. b) Führt diese Trägheit zur Vernachlässigung minder wichtiger Pflichten im religiösen oder bürgerlichen Leben, so ist die Sünde nur lässlich. Aber der Abhang ist schlüpferig, und bekämpft man nicht die Lässigkeit, so wird sie bald schlimmer, verhängnisvoller und strafbarer.

886. B) Vom Gesichtspunkte der Voll/w1JZmenI/eit aus ist geistige Trägheit wegen der verhängnisvollen Ergebnisse eines der grössten Hindernisse.

a) Unser Leben wird dadurch mehr oder weniger ulIj'ruclttbar. Man kann tatsächlich auf die Seele anwenden, was die Hl. Schrift vom Acker des Faulen sagt:

" Durch eines faulen Menschen Acker bin ich gegangen und durch den Weingarten eines törichten Mannes. Und siehe, er war ganz voll Nesseln, und Dornen bedeckten seine Oberfläche, und die Steinmauer

war eingestÜrzt ...

Du schläfst ein wenig, sprach ich, du schlummerst ein wenig, du legst die Hände ein wenig zusammen, um zu ruhen, so kommt die Armut Über dich wie

ein Läufer, und die DÜrftigkeit wie ein bewaffneter Mann." 2

Das findet man auch in der Seele des Trägen.

Statt der Tugenden gedeihen dort die Laster. Die zum Schutze der Tugenden errichteten Mauern der Abtötung fallen allmählich und lassen den Weg

J Gen. Uf, 19 .

• Sprichw., XXIV, 30-34.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN. 627 für die Angriffe des Feindes frei, d. h. für die SÜnde.

887. b) Sehr bald nämlich werden die Versuchungen stärker und lästiger, denn MÜssiggang lehrt viel Böses" 1JZultam lIlalitiam docuit oü·ositas. "I Er war es, der neben dem Hochmut Sodomas Ende herbeifÜhrte. " Siehe, dies war die Schuld Sodomas, deine~. Schwester: Hoffart, GenÜge an Nahrung, und Uberfluss und M üssiggang war ihr und ihrer Töchter Teil. "2 Geist und Herz des Menschen können nämlich nicht untätig sein. Werden sie nicht durch Studium oder andere Arbeit in Anspruch genommen, so dringt bald eine Menge von Vorstellungen, Gedanken, WÜnschen und Neigungen ein. Nun aber herrscht in unserm gefallenen Zustande, falls wir nicht dagegen ankämpfen, die dreifache Begierlichkeit vor. Sinnliche, sehr geizige, hochmütige, selbstsüchtige, eigensÜchtige Gedanken werden daher in der Seele die Oberhand gewinnen und sie zur SÜnde fÜhren. 3

888. C) Es handelt sich deshalb hier nicht nur um Vervollkommnung unserer Seele, sondern um ihr ewiges Hezl. Denn ausser den positiven Vergehen, zu denen MÜssiggang führt, ist schon die Tatsache allein, wichtige Pflichten zu unterlassen, Grund genug zur Verwerfung. Wir wurden erschaffen, um Gott zu dienen und unsere Standespflichten zu erfüllen. Wir sind die von Gott in seinen Weinberg gesendeten Arbeiter. Gott aber verlangt von seinen Arbeitern nicht bloss, dass sie sich des Schlechthandelns enthalten, sondern er will, dass sie arbeiten. Kreuzen wir nun die Arme, anstatt zu arbeiten, selbst wenn wir nichts Positives gegen das göttliche Gesetz tun, wird uns dann nicht Gott, der Herr, wie den Arbeitern unsern Müssiggang vorwer-

, Eccli .• XXXIII, 29. - 2 Ezech., XVI, 49.

3 MELCHIOR CANO. La victoire sur soi-mbne. 10. Kap.

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VIERTES KAPITEL.

fen? " Quz'd statz's tota die otz'osz'?" Der unfruchtbare Baum verdient, abgehauen und ins Feuer geworfen zu werden, nur, weil er keine Frucht hervorbringt. "Omnis ergo arbor, quce non fadt fructum bonu1lZ, excidetur et z'n z'gnem mz'ttetur. " !

889 3. Heilmittel. A) Zur H~ilung des Trägen muss man ihm zunächst tiefe Uberzeugung'en von der Notwendigkeit der Arbeit beibringen, ihn belehren, wie sowohl Reiche als Arme diesem Gesetze unterworfen sind, wie aber ein Verfehlen genüge, um der ewigen Verdammung anheimzufallen. Das ist die Lehre, die uns der liebe Heiland in dem Gleichnisse vorn unfruchtbaren Feigenbaume gibt. Drei Jahre sucht der Herr Früchte an ihm. Da er keine findet, befiehlt er dem Winzer, ihn umzuhauen. " Succide z'llam, ut quz'd terram occupat? " 2

Man sage nicht : "Ich bin reich, ich brauche nicht zu arbeiten. " Braucht man nicht für sich selbst zu arbeiten, so soll man es für andere tun. Gott ist es, der es uns befiehlt. Hat er uns Arme, Gehirn, Verstand und Vermögen gegeben, so geschah es, dass wir sie zu seiner Ehre und zum Wohle unserer Mitmenschen gebrauchen. Und in der Tat. An Gelegenheiten zu Betätigungen fehlt es !licht. Wieviele Arme sind zu unterstützen! Wieviele Unwissende zu belehren! Wieviele wunde Herzen zu trösten! vVieviele grosse Unternehmung'en zu gründen, um Bedürftigen Arbeit und Brot zu verschaffen! Will man eine zahlreiche Familie ernähren, muss man da nicht sich plagen und arbeiten, um die Zukunft seiner Kinder zu sichern? - Man verg'esse also nicht das hohe Gesetz christlicher Solidarität, kraft dessen die Arbeit eines jeden allen nützt, während Trägheit dem allgemeinen wie auch dem Wohle des einzelnen schadet.

, Mat/h., !Ir, ro. _. l.uk., XIII, 7.

890. B) Zu diesen Überzeugungen muss dauernde und 'tftetltodisclz angelegte Anstrengungkommen, unter Anwendung der gelegentlich angegebenen Regeln für die Willenserziehung (N. 8 I 2). Und da der Faule instinktiv vor der Anstrengung zurückschreckt muss man ihm unbedingt beweisen,

DER KAMPF .GEGEN - DIE HAUPTSÜNDEN. 629 es gebe eigentlich keinen unglücklicheren Menschen als den Müssiggänger. Da er nicht weiss, wie er die Zeit verwenden oder, wie er sagt, totscltlagen soll, langweilt er sich, fühlt Widerwillen gegen alles und verabscheut schliesslich das Leben. Wäre es da nicht besser, sich etwas anzustrengen, sich nützlich zu machen und etwas Glück zu erwerben durch den Versuch, um sich herum Glück zu verbreiten?

Unter den Faulen gibt es Menschen, die eine gewisse Tätigkeit wohl entfalten, jedoch nur bei Spiel, Sport oder anderen gesellschaftlichen VergnÜgungen. Diese muss man an den Ernst des Lebens erinnern und an die Pflicht, sich nützlich zu machen, damit sie ihre Tatkraft edleren Zwecken zuwenden und sich schämen, Schmarotzer zu sein. Oft ist der christliche Ehestand mit allen ihm zufallenden Obliegenheiten ein ausgezeichnetes Heilmittel. Ein Familienvater fühlt die Notwendigkeit, für seine Kinder zu arbeiten und kann die Verwaltung seines Vermögens nicht Fremden überlassen.

Woran man aber immer wieder zu erinnern hat, ist das Ziel des Lebens. I Wir sind hier auf Erden, nicht um als Schmarotzer zu leben, sondern um uns durch Arbeit und Tugend einen Platz im Himmel zu erobern. Und Gott sagt uns unaufhörlich: ,. Was tust du hier du Fauler? Geh' auch du hin und arbeite in meinem Weinberge." " Quid hic statis fota die otiosi ?,.. Ite et vos in vinealll meam. "2

3. ABSCHNITT: DER GEIZ. 3

Geiz schliesst sich an Begierlichkeit der Augen an, wovon wir bereits (N. 199) sprachen. Wir werden darlegen: I. sein Wesen, 2. seine Bosheit und 3. seine Heilmittel.

891. I. Wesen. Geiz ist ungeordnete Neigung zu irdisclzen Gütern. Um das Ungeordnete des Geizes

I OLLE-LAPRUNE, Le prix de la vie. - 2 Matth., XX, 6, 8.

3 S. THOMAS, lIa U"', q. u8. - De. Afalo, q. U3. - MELCHIOR .cANO, op. cit" 12-13. Kap. - MASSILLON, Discours sy"odaux, De l'avarice des prelres. - MONSABRE, Retraites pascales, 1892-1894 :

Les Idoles, la richesse. - LAUMONIER, op. ,;it., 8. Kap.

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zu erkennen, erinnern wir uns zunächst an die Absicht Gottes, als er dem Menschen zeitliche GÜter verlieh.

A) Gott setzte sich ein doppeltes Ziel, nämlich unsern persönlichen Nutzen und den unserer Mitmenschen.

a) Die GÜter der Erde werden verliehen, um den zeitlichen BedÜrfnissen des Menschen, der Seele und des Leibes, zu genügen. Um unser Leben und das Leben derer zu erhalten, die von uns abhängen, ebenso um uns die Mittel zur Pflege des Verstandes und der anderen Fähigkeiten zu verschaffen.

Zu diesen Gütern gehören r) die für die Gegenwart und die Zukunft notwendigen. Wir sind verpflichtet, sie uns durch ehrliche Arbeit zu erwerben. 2) die nützlich sind zur allmählichen Erhöhung unseres Einkommens, zur Sicherung unseres Wohlergehens oder desjenigen anderer, zur BegÜnstigung des Allgemeinwohles durch Förderung der Künste und ·Wissenschaften. Es ist nicht verboten, diese GÜter sich zu einem edlen Zwecke zu wünschen, doch müssen Arme und gute Werke einen gewissen Anteil daran haben.

b) Diese GÜter werden uns auch verliehen, um damit unseren notleidenden Mitmenschen zuhilfezukommen. Wir sind darum bis zu einem gewissen .<;;rade die Sclzatzmeister der Vorsehung und sollen unsern Uberfluss zur Unterstützung der Armen verwenden.

892. B) Jetzt werden wir leichter feststellen können, worin das Ungeordnete in der Liebe zu irdischen GÜtern besteht.

a) Zuweilen in der Absicht. Man verlangt nach ReichtÜmern um ihrer selbst willen. Man strebt nach ihnen wie nach einem Ziel oder wie nach einem Mittel zu Zielen, die man sich als letztes Ziel setzt, z. B. um sich Freuden oder Ehren zu verschaffen. -Bleibt man dabei stehen, betrachtet man den Reichtum nicht als Mittel zur Erlangung höherer GÜter, so ist das eine Art Götzendienst, Anbetung des goldenen Kalbes. Man lebt dann nur um des Geldes willen.

DER KAMPF GEGEN DIE HAUPTSÜNDEN.

b) Es offenbart sich auch in der Art, wie der Reichtum e1'worben wird. Man strebt nach ihm mit Gewinnsucht, mit allerhand Mitteln auf Kosten der Rechte anderer, auf Kosten der eignen oder der Untergebenen Gesundheit, durch gewagte Spekulationen, auf die Gefahr hin, die Frucht seiner Ersparnisse zu verlieren.

c) Es erscheint auch in der Art der Verwendung.

I) Man verausgabt die irdischen GÜter nur ungern und mit Knauserei, weil man sie anhäufen will, um grössere Sicherheit zu haben oder um des Einflusses, den Reichtum gewährt, teilhaftig zu werden. 2) Man spendet nichts oder fast nichts fÜr Arme und andere gute \Verke. "l(apital ansammeln" heisst das Losungswort. Das ist das höchste Ziel, nach dem man mit äusserster Anstrengung strebt. 3) Einige gehen darin so weit, dass sie ihr Geld wie einen Abgott lieben, gern abzählen und betasten. Das ist der klassische Typus des Geizhalses.

893. C) Dieses Laster findet sich selten bei jÜngeren Leuten. Diese sind noch leichtsinnig und sorglos und denken nicht daran, Kapital zu sammeln. Dennoch gibt es Ausnahmen und zwar unter Menschen von finsterem, misstrauischem, berechnendem Charakter. Erst im reiferen Mannes- oder Greisenalter zeigt es sich deutlich. Dann nämlich ängstigt man sich bei dem Gedanken, in Not geraten zu können. Diese Angst beruht zuweilen auf der Furcht vor Krankheit oder Unfällen, wodurch Unmöglichkeit oder Unfähigkeit zur Arbeit entstehen könnte. Unverheiratete, alte Junggesellen und Jungfern sind dieser Gefahr besonders ausgesetzt, da sie keine Kinder haben, die ihnen im Alter beistehen.

894. D) Die moderne Zivilisation hat eine andere Form unersättlicher Gier nach Reichtümern entwickelt: Die Pfutokratie, das Verlangen, Millionär oder Milliardär zu werden, nicht um seine eigene Zukunft oder die seiner Kinder zu sichern, sondern um die durch das Geld erhältliche Herrschgewalt zu erlangen. Verfugt man über ungeheure Summen, so erfreut man sich sehr grossen Einfluss.es, übt eine Macht aus, die oft wirksamer ist als die der Regierung. Man ist König des Eisens, des Stahls, des Petroleums, der Hochfinanz und gebietet den Herrschern ebenso wie den Nationen, Diese Geldherrschaft artet oft in unerträgliche Tyrannei aus.

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VIERTES KAPITEL.

895. 2. Seine Bosheit. A) Geiz ist ein Beweis von MisstraueJ1 gegen Gott, der mit väterlicher Sorgfalt über unsere BedÜrfnisse zu wachen versprochen hat, ferner uns wissen liess, es werde uns niemals am Notwendigen fehlen, wenn wir auf ihn vertrauen. Er fordert uns auf, die Vögel des Himmels zu betrachten, die weder säen noch ernten, und die Lilien des Feldes, die weder arbeiten noch spinnen, gewiss nicht, um uns zur Trägheit zu ermutigen, wohl aber um unsere ängstliche Sorglichkeit zu beruhigen und uns zum Vertrauen auf unsern himmlischen Vater aufzufordern. I Der Geizhals aber, statt sein Vertrauen auf .Gott zu setzen, legt es in die FÜlle seiner ReichtÜmer und fügt Gott durch sein Misstrauen gegen ihn Schmach zu : " Ecce homo qui non posuit Deu11Z ac{jutorem suum, sed speravit in multitudine divitiarum suarum et pra:valuit in vanitate sua. "2 Im Geleite dieses Misstrauens ist das zu grosse Vertrauen auf sich selbst, auf die persönliche Tätigkeit. Man will seine eigene Vorsehung sein und verfällt daher einer Art Abgötterei, das Geld als seinen Gott betrachtend. Niemand' kann jedoch zwei Herren zugleich dienen, Gott und dem :lVIammon. "Non potestis Deo servire et nzamnzona:. " 3

Aus den angeftihrten GrÜnden also ist diese SÜnde schwer i/wer lVatur nach. Ebenso, wenn sie Verfehlungen gegen wichtige Pflichten der Gereclztigkeit veranlasst, weil man sich betrügerischer Mittel bedient, um Reichtum zu erwerben oder zu behalten. Verfehlungen geg'en die Nächstenliebe, da' man notwendiges Almosen verweigert. Gegen die Pflichten der Religion, da man sich zu sehr von den Geschäften in Anspl:uch nehmen lässt und seine religiösen Pflichten dabei vergisst. - Es ist aber nur lässliche SÜnde, wenn man gegen keine der christlichen Haupttugenden oder der Pflichten gegen Gott fehlt.

896. B) Vom Gesichtspunkte der Vollkommenheit aus ist die ungeordnete Liebe zu ReichtÜmern ein sehr grosses Hindernis.

"Afqtth., VII," 24-34- - 2 {'s. LI, 9. - 3 Matth., VI. .24-

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a) Sie ist eine Leidenschaft, die Gottes Stelle in unserem Herzen einzunehmen strebt. Dieses Herz, der Tempel Gottes, wird von allerhand irdischen \VÜnschen, Sorgen und Geschäften bestÜrmt, die es ganz für sich in Anspruch nehmen; Um sich aber mit Gott vereinigen zu können, muss das Herz von allem Geschöpflichen und aller irdischen Sorge leer sein. Gott nämlich will "den ganzen Geist, das ganze Herz, die ganze Zeit und alle Kräfte seiner gebrechlichen Geschöpfe. "I - Man muss besonders den Hochmut aus dem Herzen bannen. Anhänglichkeit an ReichtÜmer zieht den Hochmut grass, weil man mehr auf seine Reichtümer als auf Gott vertraut.

Sein Herz an Geld hängen, heisst daher der Liebe Gottes ein Hindernis setzen. Denn wo Unser Schatz ist, da ist auch unser Herz. " Ubi thesaurus vester, z'bz' et cor vestrum erit." Es loslösen, heisst darum Gott die TÜre des Herzens öffnen. Eine von ReichtÜmern losgeschälte Seele ist reich an Gott. Toto Deo dives est.

b) Geiz hindert auch Abtötung und führt zu Sinnlichkeit.

Besitzt man Geld und hängt man daran, so will man es auch geniessen und sich viele Freuden verschaffen. Falls man diesen Genüssen entsagt, hängt man sein Herz um so mehr an das Geld. In jedem Falle ist es ein Götze, der uns von Gott abwendet. Somit ist es wichtig, diesen traurigen Hang zu bekämpfen.

897. Heilmittel. A) Das Hauptheilmittel is.t die auf Vernunft und Glauben begrÜndete feste Uberzeugung, die Reichtümer seien nicht ein Ziel, sondern von der Vorsehung verliehene Mittel, um sowohl unsere als auch unserer Mitmenschen BedÜrfnisse zu bestreiten. Gott bleibt deren oberster Herr. \Nir aber sind eigentlich nur seine Verwalter, und eines Tages mÜssen wir dem höchsten Richter Rechenschaft darÜber geben. Es sind Übrigens ver-

1 J.-J. OLlER, ln/rod. aux verlttS, Kap. II, I Sekt.

634

VIERTES KAPITEL.

gängliche Güter, die wir nicht mit uns ins Jenseits nehmen, wo sie auch keinen Kurs haben. Sind wir klug, so legen wir fÜr den Himmel und nicht fÜr die Erde Kapital an. " Häufet euch keine Schätze auf Erden an, wo sie Rost und Motte verzehrt und wo die Diebe einbrechen und stehlen, sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo sie weder Rost noch Motte verzehrt und wo die Diebe nicht einbrechen, noch stehlen. " I

B) Um sich von aller ungeordneten Liebe zu ReichtÜmern loszulösen, gibt es kein wirksameres Mittel, als durch reichliches Teilen mit N otleidenden und durch andere gute Werke seine GÜter auf der Himmelsbank anzulegen. Den Armen etwas schenken heisst Gott leihen, he isst das H undertfache erhalten, sogar schon hienieden, da man den Trost geniesst, GlÜck um sich zu verbreiten. Besonders aber im Himmel, wo J esus fÜr die um seiner Liebe willen geopferten, zeitlichen GÜter uns unvergängliche dafÜr schenkt. Was man nämlich dem Geringsten der Seinen gibt, betrachtet er als ihm selbst gegeben. Klug sind daher jene, die die Schätze der Erde gegen die des Himmels austauschen. Gott und die Heiligkeit suchen, darin besteht die christliche Klugheit. " Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit und alles übrige wird euch dazugegeben verden. "Qucerite primum regnu11l Dei et justitiam ejus et hcec omnia adjicientur

vobis." 2

898. C) Die Volllwmmenen gehen weiter. Sie verkaufen alles, um es den Armen zu geben oder einer Gemeinschaft zu Überlassen, wenn sie einer Ordensgenossenschaft beitreten. - Man kann auch unter Beibehaltung des Kapitals sich des Einkommens entäussern und es nur nach dem Rate eines klugen SeelenfÜhrers gebrauchen. Auf diese Weise

, kfatth .. VI, 19-20. - 2 Matt" .. VI, 33.

FÜNFTES KAPITEL.

635

bleibt man in dem von der Vorsehung angewiesenen Stande und Übt Losschälung des Geistes und des Herzens.

SCHLUSSFOLGERUNG.

899. So vollendet in uns der Kampf gegen die sieben HauptsÜnden die Ausrottung der bösen Neigungen, die sich aus der dreifachen Begierlichkeit ergeben. Freilich werden stets einige dieser Neigungen in uns bleiben, um uns in der Geduld zu Üben und das Misstrauen gegen uns selbst wachzuhalten. Aber sie werden weniger Gefahr bieten und wir werden unter dem Beistande der göttlichen Gnade sie leichter besiegen. Zwar werden sich trotz unserer BemÜhungen immer wieder Versuchungen in unserer Seele erheben, aber dadurch bietet sich uns nur Gelegenheit zu neuen Siegen.

FÜNFTES KAPITEL.

Der Kampf gegen die Versuchungen.

900. Trotz der Mühe, die wir uns bei der Ausrottung unserer Laster geben, können und mÜssen wir uns auf Versuchungen gefasst machen. Es hören nämlich unsere geistlichen Feinde, die Begierlichkeit, die Welt und der Teufel (N. 193-227), nie auf, uns Fallen zu stellen. Es bleibt daher noch Übrig, von der Versuchung zu sprechen, sowohl von der Versuchung im allgemeinen als auch von den hauptsäcltlichsten Versuchungen der Anfänger.

1. ABSCHNITT. DIE VERSUCHUNG IM ALLGEMEINEN 1.

901. Die Versuchung ist ein von umem g-eistlielten Feinden ausgeizender Reiz zum Brisen. "'/ir

, RODRIGUEZ, Prat. de ta perleet .. I/. P., 3. Tr. - HL. FRANZ ~'. SALES, Vie devote, 3. T., 3-10 Kap. - SCARAMELLI, Guide asctt., t. H. art. X. - SCHRAM, Instit. theot. myst., § CXXXVII-CXLIX,

636

FÜNFTES KAPITEL.

werden darlegen 1. die Absichten der Vorsehung bei der Versuchung; 2. das Psychologische an der Versuchung; 3. die Haltung, die man der Versuchung gegenÜber wahren soll.

I. Die Absichten der Vorsehung bei der Versuchung.

902. Gott versucht uns nicht unmittelbar.

"Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde, denn Gott kann nicht zum Bösen versucht werden; er versucht aber auch niemanden. "I Aber er gestattet unseren geistlichen Feinden, uns zu versuchen und verleiht gleichzeitig die zum Widerstande notwendigen Gnaden. "Fidelis est Deus qui non patietur vos tentari supra id quod potestis, sedfaciet etiam CU111 tentatione proventum. " 2 DafÜr hat er seine sehr guten Gründe.

1. Wir sollen uns den Himmel verdienen. Zwar hätte er ihn uns gleichsam als Geschenk gleich mitgeben können, aber in seiner Weisheit hielt er es fÜr besser, ihn uns als Belohnung zuteil werden zu lassen. Er will sogar, der Lohn entspreche dem Verdienst, folglich der Überwundenen Schwierigkeit. Nun ist sicher die unsere schwache Tugend gefährdende Versuchung eine der grössten Schwierigkeiten. Sie energisch bekämpfen heisst eine der verdienstlichsten Handlungen vollbringen. Haben wir sie mit dem Beistande der göttlichen Gnade überwunden, so können wir mit dem hl. Paulus sagen, dass wir einen guten Kampf gekämpft haben und dass uns die Krone der Gerechtigkeit gebühre, die Gott fÜr uns hinterlegt hat. Wir werden sie mit um so mehr Ehre und Freude tragen, je mehr wir taten, um sie zu verdienen.

- W. FABER, Progres, r6. Kap. - P. DE SMEDT, Notre vie surllat., 3. T., 3. ~ap. - ~IBET, L 'Ascetique, 10. Kap. - MGR GAY, Vie et vertus ehrtt., T. I, Ir. VIII. - LEHEN, f'Veg zum inneren Frieden, 3. T.,4· Kap. - DOM LEHODEY, Le saint Abandon, S. 332'343'BRUNETEAU, Les Tentations du jeune homme, "9"2.

'Jak., I, "3. _2](or.,X, "3.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 637 903. 2. Sie ist auch ein Mittel der Reinigung.

I) Durch die Versuchung werden wir nämlich daran erinnert, dass wir frÜher aus Mangel an V,Tachsamkeit und Energie erlagen und so haben wir Gelegenheit, Akte der Reue, der Scham und der Demut zu erneuern, die zur Reinigung der Seele beitragen. _ 2) Gleichzeitig werden wir durch sie veranlasst, uns andauernd und energisch anzustrengen, um nicht zu erliegen. Auf diese Weise sühnen wir unsere frÜhere Feigheit und Nachgiebigkeit durch entgegengesetzte Handlungen. Alles das reinigt die Seele. Will deshalb Gott eine Seele vollkommener reinigen, um sie zur Beschauung zu erheben, so lässt er sie abscheuliche Versuchungen erleiden, wie wir bei der Abhandlung über den Einigungsweg

näher zeigen werden.

904. 3. Sie ist endlich ein Mittel fÜr den innere1t ra rtsch ritt. - a) Die Versuchung ist wie ein Peitschenhz'eb, der uns weckt, gerade als wir einschlafen und erschlaffen wollten. Durch sie begreifen wir die Notwendigkeit, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben, sondern höher zu zielen, um desto sicherer der Gefahr auszuweichen.

b) Sie ist auch eine Schule der Demut, des Misstrauens gegen sich selbst. Man begreift besser die eigene Schwäche und Hilflosigkeit, fühlt mehr die Notwendigkeit der Gnade und betet mit grösserer Inbrunst. Man erkennt besser, wie notwendig die A btötung der Liebe zur Lust, der Quelle aller unserer Versuchungen, sei und umfasst bereitwilliger die täglichen kleinen Kreuze, um die Glut der Begierlichkeit zu ersticken.

c) Sie ist eine Schule der Gottesliebe, denn, um des Widerstandes sicher zu sein, wirft man sich in die Arme Gottes und sucht dort Kraft und Schutz. Man dankt ihm für die bereitwillig gewährten Gnaden und verhält sich ihm gegenÜber wie ein

638

FÜNFTES KAPITEL.

Kind, das in allen seinen Schwierigkeiten sich an den liebevollsten Vater wendet.

Die Versuchung hat demnach fÜr uns viele Vorteile. Darum erlaubt Gott, dass seine Freunde versucht werden." Weil du Gott wohlgefällig warst," sagte der Engel zu Tobias, " musstest du durch die Versuchung geprüft werden." - "Quia acceptus eras Deo, necesse fuit ut tentatio probaret te. " I

11. Das Psychologische in der Versuchung.

Wir behandeln: I'. die Häufigkeit der Versuchung; 2. ihre verschiedenen Phasen oder Wechselerscheinunge1Z/ 3. die Zez'chen und Grade der Einwillz'gung.

905. 1. Häufigkeit der Versuchungen. Häufigkeit und Heftigkeit der Versuchungen sind ausserordentlich wechselnd. Manche Seelen werden oft und heftig versucht. Andere wieder sehr selten und ohne tiefgehende Erschütterung. Diese Verschiedenheit erklärt sich aus mancherlei Gründen:

a) Zunächst aus lVatu1'anlage und Clla1'akter. Manche Menschen sind äusserst leidenschaftlich und gleichzeitig schwachen \Villens. Sie werden oft versucht und durch die Versuchung erschüttert. Andere, voll inneren Gleichgewichts und energisch, werden nur selten versucht und bewahren Ruhe in der Versuchung.

b) Durch die Erzielmng treten andere Unterschiede auf.

Manche Seelen, in der Furcht und Liebe Gottes erzogen, wurden an Ausübung der strengen Pflicht gewöhnt und sahen fast nur gute Beispiele vor sich. Andere hingegen wuchsen in der Liebe zur Lust und in der Scheu vor jeglichem Leiden auf und sahen nur zu viele Beispiele weltlicher und sinnlicher Lebemführung. Diese werden natürlich heftigeren Versuchungen ausgesetzt sein als jene.

c) Zu berücksichtigen sind auch die Absichten der göttlichen Vorsehung. Gott ruft manche Seele zu einem heiligen Stande und bewahrt deren Reinheit mit eifersüchtiger Sorge. Andere, auch zur Heiligkeit bestimmte Seelen, müssen zur Festigung ihrer Tugend durch harte Prüfungen gehen.

t Tob., XII, 13.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 6R9

Wieder andere endlich, die nicht zu einem so hohen Berufe auserkoren sind, werden oft versucht, aber nie über ihre Kräfte.

906. 2. Die drei Phasen der Versuchung. Der Überlieferten Lehre nach, die schon der hl. Augustinus darlegt, gibt es drei Phasen in der Versuchung: die EinflÜsterung, das Woltlgefallen und die Einwzlb'gztng.

a) Die EinflÜsterung besteht im Vorschlag zu irgend etwas Bösem. Phantasie oder Verstand stellen sich die Reize der verbotenen Frucht mehr oder minder lebhaft vor. Zuweilen ist diese Vorstellung sehr verfÜhrerisch, drängt sich uns hartnäckig auf und wird eine Art Besitznahme unserer Fähigkeiten. Wie gefährlich diese EinflÜsterung auch sein mag, sie ist nicht SÜnde, es sei denn, man habe sie veranlasst oder ihr frei zugestimmt. Erst, wenn der \Ville seine Zustimmung gibt, entsteht eine SÜnde.

b) Zur EinflÜsterung kommt dann das Wohlgefallen. Instinktiv - dem natÜrlichen Triebe folgend - richten sich die niederen Seelenkräfte auf das vorgeschlagene Böse und man empfindet eine gewisse Lust daran. "Es geschieht oft," sagt der hl. Franz v. Sales," I dass die niederen Kräfte ohne Einwilligung, ja sogar gegen den Willen der höheren, Wohlgefallen an der Versuchung finden; das ist jener Kampf, den der hl. Paulus beschreibt, wenn er sagt, das Fleisch erhebe sich gegen den Geist." - Solange der Wille sich nicht beteiligt, ist dieses Wohlgefallen der niederen Kräfte keine SÜnde, aber es besteht eine Gefahr, weil der Wille so zur Beteiligung gedrängt wird. Er sieht sich nun vor die Entscheidung gestellt. \iVird er zustimmen, ja oder nein?

c) Verweigert der Wille seine Zustimmung, kämpft er gegen die Versuchung und stösst er sie

• Philothea, 4. Buch, 3. Kap.

640

FÜNFTES KAPITEL.

zurÜck, so bleibt er Sieger und handelt in verdienstlicher Weise. Nimmt er aber teil am Wohlgefallen, hat er also willentlich Wohlgefallen daran und stimmt er zu, dann ist die SÜnde im Herzen begangen.

Alles hängt also von der freien Zustimmung des Willens ab. Darum werden wir mit grösserer Genauigkeit die Zeichen angeben, an denen man erkennen kann, ob und in welchen Masse man eingewilligt hat.

907. 3. Kennzeichen der Einwilligung. Zur deutlicheren Erläuterung dieses wichtigen Punktes betrachten wir die Kennzeichen der Nicht-Einwilligung, die der halben Einwilligung und die der vollen Einwilligung.

a) Man kann annehmen, nicht zugestimmt zu haben, empfindet man trotz der Einflüsterung und der triebartigen Lust Unzufriedenheit Über die Belästigung der Versuchung, kämpft man, um nicht zu erliegen, fÜhlt man in den höheren Seelenkräften lebhaften Abscheu gegen das eingeflÜsterte Böse. I

b) Man kann an der Versuchung schuld sein, erkennt man diese oder jene Handlung, die man unterlassen kann, als Quelle von Versuchungen voraus. " Weiss ich, "sagt der hl. Franz v. Sales,2 "eine Unterhaltung gibt mir Anlass zur Versuchung und Niederlage und begebe ich mich freiwillig dotthin, so bin ich zweifellos für alle Versuchungen, die ich dort habe, verantwortlich. " Schuldig ist man jedoch nur in dem Masse des Voraussehens. War die Voraussicht nur undeutlich und verworren, so

, Der hl. Franz v. Sales erzählt (Philothea, 4. B., 4. Kap.) dass bei einer heftigen Versuchung der hl. Katharina v. Siena gegen die Keuschheit der Heiland zu ihr sagte : .. Sage mir, meine Tochter, gab dir dieses schmutzige Denken deines Herzens Freude .. oder Traurigkeit, Bitterkeit oder Ergötzung?" Und sie antwortete: .. Ausserste Bitterkeit und Traurigkeit ... Der Heiland tröstete sie darauf und fügte hinzu, diese Leiden seien für sie grosses Verdienst und grosser Gewinn.

2 Philothea, 1. c., 6. Kap.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 641 ist auch die Schuldbarkeit dementsprechend geringer.

908. c) Die Einwilligung kann als unvollkommen angesehen werden :

r) Erfolgt die Abweisung der Versuchung nicht ebenso schnell wie die Erkenntnis von deren Gefährlichkeit. I Es ist dies ein Verfehlen gegen die Klugheit, das zwar nicht schwer ist, aber die Gefahr des Zustimmens in die Versuchung in sich birgt.

2) Zögert man einen Angenblick. Man möchte ein wenig die verbotene Frucht geniessen, aber Gott nicht beleidigen. Kurz, nach einem Moment des Zögerns stösst man die Versuchung zurÜck. Hier ist wieder ein lässlicher Fehler der U nklugheit.

3) Widersteht man der Versuchung nur halb.

Man leistet wohl Widerstand, jedoch ohne Energie und nur halb und halb. Halber Widerstand ist aber halbe Einwilligung, also lässliche SÜnde.

909. d) Die Einwilligung ist ganz und voll, lässt sich der durch frÜhere N achgiebigkeiten geschwächte Wille hinreissen, die böse Lust freiwillig zu geniessen, trotz des Widerspruchs des das Böse erkennenden Gewissens. Handelt es sich dabei um eine wichtige Sache, so entsteht eine TodsÜnde. Es ist dies dann die" delectatio 11lorosa, " wie die Theologen sagen, oder das innere Wohlgefallen. Tritt zum Gedanken der zustimmende WunscJz, dann ist die SÜnde schwerer. Geht man schliesslich vom Wunsche zur Ausführung- Über, oder wenigstens zum Anstreben und Aufsuchen der zur AusfÜhrung des Planes geeigneten Mittel, so liegt SÜnde der Tat vor.

, " Zuweilen überrascht uns ein gewisses Wollustgefühl, ehe wir uns davor geschützt haben. Das kann höchstens eine sehr geringe lässliche Sünde sein, die freilich grösser wird, bleibt man nach Erkenntnis des Bösen aus Nachlässigkeit einige Zeit in Verhandlungen mit der Ergötzung, ob man sie annehmen oder abweisen soll." (Phi/olhea, 1. c., 6. Kap.)

N° 683. - 21

642

FÜNFTES KAPITEL.

910. In den verschiedenen, von uns dargelegten Fällen erheben sich manchmal Zweifel Über volle oder nur halbe Zustimmung. Da muss man zwischen zartem und laxem oder allzuweitem Gewissen unterscheiden. Beim ersteren kann man annehmen, dass nicht eingewilligt wurde, weil die in Frage kommende Seele gewöhnlich nicht zustimmt. Beim zweiten wird man ein ganz entgegengesetztes Urteil fällen.

III. Unser Verhalten der VersucllUng geg-enüber. Zur Überwindung der Versuchungen und zur Förderung des geistlichen Wohles unserer Seele mÜssen hauptsächlich drei Dinge beachtet werden. 1. Man muss der Versuchung zuvorlwmmen. 2. Sie kräftig bekämpfen. 3. Nach dem Siege Gott danken oder aber nach erlittener Niederlage siclz sofort wieder erlzeben.

911. 1. Der Versuchung zuvorkommen. Bekannt ist das alte Sprichwort: "Besser vorbeugen als naclzträglich hez'len. " Das rät auch die christliche Weisheit. Als Christus, der Herr, die drei Apostel zum Ölgarten mitnahm, sagte er zu ihnen:" VVachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet.·" Vigilate et orate ut non intretis in tentationem." 1 Wachsamkeit und Gebet sind daher die zwei grossen Mittel, um der Versuchung zuvorzukommen.

912. A) Waclzen d. h. Wachtposten um die Seele aufstellen, damit sie nicht Überrascht werde. Man unterliegt so leicht in einem Augenblicke plötzlichen Überfalls! Diese Wachsamkeit setzt zwei Dinge voraus : Misstrauen g-egen sich selbst und Gottvertrauen.

a) Zu vermeiden ist daher die stolze Vermessenfteit, die unter dem Vorwande genÜgender Kraft

'Mallh., XXVI, 41.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 643 zum Siege die Gefahr aufsucht. Das war der Fehler des h1. Petrus, der bei der V oraussagung J esu von der Fluchtder Apostel ausrief: " Wirst du auch allen zum Argernis, mir sollst du es nicht sein." I Im Gegenteil, man erinnere sich, dass gerade jener, der zu stehen glaubt, achtgeben mÜsse, damit er nicht falle. "ltaque qui se existimat stare, videat ne cadat. " 2 Denn ist auch der Geist willig, so ist doch das Fleisch schwach. Sicherheit findet sich nur im demÜtigen Misstrauen gegen sich selbst wegen der eigenen Schwäche.

b) Man muss jedoch auch Übertriebene Furcht vermeiden, die die Gefahr nur steigert. Sind wir auch aus uns selbst schwach, so sind wir dennoch unbesiegbar in dem, der uns stärkt. "Gott ist getreu, er wird euch nicht Über eure Kräfte versuchen lassen, sondern der Versuchung auch einen solchen Verlauf geben, dass ihr sie bestehen könnt." 3

c) Infolge des begrÜndeten Misstrauens gegen uns selbst werden wir den gefährlichen Gelegenheiten ausweichen, z. B. jener Gesellschaft, jenem VergnÜgen H. s. W., wo wir erfahrungsgemäss leicht erliegen. Wir werden gegen MÜsszggangankämpfen, weil er eine der gefährlichsten Gelegenheiten ist (N. 885). Auch gegen jene gewohnte Weichlichkeit, welche die Spannkraft des Willens vermindert und zu jeder Nachgiebigkeit geneigt macht. 4 Man scheut dann, eitlen Träumereien nachzugehen, die bald die Seele mit gefahrbringenden Trugbildern anfüllen. Mit einem Worte, man Übt Abtötung in den

, Mark, XIV, 29. - 2 I. Kor., X, 12. - 3 I. Kor., X, 13.

4 Diese Weichlichkeit wird von MGR. GAY, Vie et vertus ehrtt., Ir. VIII, S. 525-526, sehr treffend geschildert. ,. Vom Schlafe befangen und daher den Schlägen des Feindes ausgesetzt ist die träge, weichliche, furchtsame, feige Seele, die jedes Opfer scheut, welches ernste An· strengung voraussetzt, jene Seele, die vielleicht an Wünschen reich, aber arm an EntschlÜssen und noch ärmer an Taten ist und die sich stets und Überall schont. fast immer ihrem Hange nachgibt und sich 1'om Strome treiben lässt. "

644 FÜNFTES KAPITEL.

(N. 767-817) von uns angegebenen verschiedenen Weisen sowie Hingabe an die Standespflichten, inneres Leben und das Apostolat. In solch regem Leben bleibt wenig Raum für Versuchungen.

d) Wachsamkeit muss sich besonders auf den schwachen Punkt der Seele erstrecken. Im allgemeinen nämlich erfolgt von dort aus der Angriff. Zur Verstärkung dieses verwundbaren Punktes dient das Pa rtikularexa 1Jlen , wodurch unsere Aufmerksamkeit fÜr längere Zeit auf diese Schwäche oder noch besser auf die engegengesetzte Tugend (N. 468) gerichtet bleibt.

913. B) Das mit Wachsamkeit verbundene Gebet zieht Gott auf unsere Seite und macht uns unbesiegbar. Im Grunde genommen, bringt unser Sieg Gott auch Vorteil. Er ist es ja, den der Teufel in uns angreift, dessen Werk er in uns zerstören will. Rufen wir daher mit Vertrauen Gott an, wir werden gewiss erhört werden. Jedes Gebet hilft in der Versuchung' das mÜndliche und das innere, das stille und das allgemeine, Anbetungs- und Bittgebet. Zur Zeit der Ruhe bete man ganz besonders für die Zeit der Versuchung. Erscheint diese dann, so bedarf es nur einer kurzen Erhebung des Herzens, und man wird erfolgreich bestehen.

914. 2. Der Versuchung widerstehen. Dieser Widerstand ist, je nach der Art der Versuchungen, verschieden. Es gibt deren, die zwar häufig, jedoch nicht sehr schwer sind. Diese muss man verachten, wie der hl. Franz v. Sales es vortrefflich erklärt. I

" Was die kleinen Versuchungen von Eitelkeit, Argwohn, Traurigkeit, Eifersucht, Neid, Liebelei und ähnlichen Täuschungen anbetrifft, die wie Mücken und Fliegen vor unsern Augen tanzen und uns bald auf die Wange, bald auf die N ase stechen ... so widersteht man ihnen dadurch am besten, dass man sich nicht um sie kümmert. Werden wir auch durch

, Plzilothea, 4. B., 9. Kap.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 645

sie belästigt, so kann uns das alles nicht schaden, solange wir fest entschlossen sind, Gott zu dienen. Verachten Sie also diese kleinen Anfechtungen und halten Sie dieselben nicht einmal eines Gedankens wert, sondern lassen Sie sie um die Ohren summen, solange es ihnen gefällt. .. ganz wie man es mit Mücken macht."

Hier wollen wir besonders von den schweren Versuchungen sprechen. Sie mÜssen schnell, energisch, mit Beharrlichkeit und Demut bekämpft werden.

A) Schnell, ohne erst lange mit dem Feinde zu verhandeln, ohne Zögern. Anfangs hat die Versuchung in der Seele noch nicht festen Fuss gefasst, da weist man sie noch leicht ab. Bedeutend schwerer ist es, ist sie bereits in das Innerste der Seele eingedrungen. Daher erst kein langes Besprechen. Bringen wir den Begriff der verbotenen Lust mit etwas äusserst Abstossendem in Verbindung, wie z. B. mit einer giftigen Natter oder einem Verräter, der uns in den RÜcken fallen will und erinnern wir uns an die Worte der Hl. Schrift : "Fliehe die SÜnde wie die Schlange, denn näherst du dich ihr, wird sie dich beissen. " Quasi a fade colubri fuge peccata. " I Diese Flucht geschieht durch Gebet und durch energisches Ablenken des Geistes auf einen andern Gegenstand.

915. B) Energisch, nicht weichlich und gleichsam ungern. Das nämlich käme gleich einer Einladung an die Versuchung, zurÜckzukommen. Daher mit Kraft und Entschlossenheit, als Beweis des Abscheus vor einem solchen Vorschlage. "vVeiche zurÜck, Satan!" Vade retro Satana! 2 Die Taktik muss aber, je nach der Art der Versuchungen, verschieden sein. Handelt es sich um Reize der Lust, so wende man sich ab, entweiche, indem man die Aufmerksamkeit auf einen den Geist ganz in Anspruch nehmenden Gegenstand lenkt. Unmittelbarer Widerstand wÜrde meistens die Gefahr nur vergrössern.

, Eccli. XXI, 2. - 2 Mark, VIII, 33.

646

FÜNFTES KAPITEL.

Handelt es sich um V/iderwillen gegen die Erfüllung der Pflicht, um Abneigung, Hass, Menschenfurcht, da ist es oft besser, der Versuchung die Stirn zu bieten, offen und frei der .~chwierigkeit ins Auge zu sehen und zu deren Uberwindung die Grundsätze des Glaubens zu Hilfe zu rufen.

916. C) Mit Beharrlichkeit. Zuweilen nämlich kehrt die einen Augenblick besiegte Versuchung mit erneuter Angriffswut zurÜck, und der Teufel bringt aus der WÜste sieben Geister mit, die schlimmer sind als er. Dieser Hartnäckigkeit unseres Feindes muss mit nicht weniger zähem Widerstande begegnet werden. Derjenige, der bis zum Ende kämpft, erringt den Sieg. Um aber des Sieges sicherer zu sein, muss man die Versuchung dem Beichtvater offenbaren.

Diesen Rat gaben die Heiligen, besonders der hl. Ignatius und der hl. Franz v. Sales. " Denn wohl gemerkt," sagt letzterer, "die erste Bedingung, die der böse Feind von der zu verführenden Seele fordert, ist Schweigen. Ganz so machen es jene, die Frauen und Mädchen verführen wollen. Sie verlangen zu allererst, dass ihre Vorschläge den Vätern oder Gatten nicht mitgeteilt werden, während Gott bei seinen Einsprechungen vor allen Dingen wünscht,dass wir sie den Oberen und Seelenführern bekannt geben." 'Tatsächlich scheint eine besondere Gnade mit dieser Herzenseröffnung verknÜpft zu sein. Eine geoffenbarte Versuchung ist halb Überwunden.

917. D) Mit Demut. Diese nämlich zieht die Gnade herab und die Gnade ist es, die den Sieg verleiht. Der aus Hochmut gefallene Teufel flieht vor einem aufrichtigen Akte der Demut, und die im Stolze ihre Kraft erneuernde dreifache Begierlichkeit wird leicht besiegt, schlagen wir ihr sozusagen, durch die Demut das Haupt ab.

918. 3. Nach der Versuchung hÜte man sich wohl, bis ins kleinste zu untersuchen, ob man zustimmte oder nicht. Diese Unvorsichtigkeit

, Philothea, 4 B., 7. K.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 647 könnte die Versuchung aufs neue heraufbeschwören und so neue Gefahr verursachen. Übrigens kann man leicht, ohne langes Nachgrübeln, auf das Zeugnis des Gewissens hin erkennen, ob man Sieger blieb.

A) War man so glÜcklich zu siegen, so danke man aus ganzem Herzen Jenem, der uns den Sieg verlieh. Es ist das eine Pflicht der Dankbarkeit und gleichzeitig das beste Mittel, um zur richtigen Zeit neue Gnaden zu erlangen. \Vehe Jen Undankbaren, die sich selbst den Sieg zuschreiben, anstatt Gott dafÜr zu danken! Bald werden sie sich durch persönliche Erfahrung von ihrer Schwäche Überzeugen können.

919. B) Hatte man hingegen das Unglück, zu erliegen, so entmutige man sich nicht, sondern erinnere sich, wie herzlich der verlorene Sohn aufgenommen wurde. Gleich ihm werfe man sich zu FÜssen des Stellvertreters Gottes und rufe aus tiefstem Herzen : " Vater, ich habe gesÜndigt wider den Himmel und wider dich. Ich verdiene nicht mehr, dein Sohn zu heissen." I Gott, der noch barmherziger ist als der Vater des jungen Verschwenders wird uns den Friedenskuss geben und uns wieder seine Freundschaft anbieten.

Um jedoch RÜckfälle zu vermeiden, nehme der reuige SÜnder aus seinem Vergehen Anlass zu tiefer VerdemÜtigung vor Gott, zur Einsicht seiner eigenen Unfähigkeit, Gutes zu tun, zu grösserem Gottvertrauen und grösserer Vorsicht in sorgfältiger Vermeidung aller Gelegenheit zur SÜnde, zur Erneuerung in den BussÜbungen. Ein auf diese Weise wiedergutgemachter Fehler wird kein wahres Hindernis fÜr die Vollkommenheit sein. 2 Wie der hl. Augustinus mit Recht bemerkt, werden die sich

, Luk. XV, 21.

, Siehe J. TrssoT, L'art d'"tiliser ses .falttes d'apres S. Fr. de Sales.

G48

FÜNFTES KAPITEL.

auf diese Weise 'Niederaufraffenden demÜtiger, vorsichtiger und eifriger. "Ex castt l~ttmzHores, cautiores, ferventiores. " I

2. ABSCHNITT. DIE HAUPTSÄCHLICHEN VERSUCHUNGEN DER ANFÄNGER.

Aus den angegebenen Quellen entstehen allerhand Versuchungen fÜr Anfänger. Es gibt deren aber einige, die sie besonders anzugehen scheinen. Es sind das I. die aus Tröstungen und Trockenheiten entstehenden Täusclzungen. 2. Der Mangel an Belzarrlicltkeit. 3. Die Hast. 4. Zuweilen Skrupel.

§ 1. Täuschungen der Anfänger betreffs der

Tröstungen. 2

920. Im allgemeinen gewährt Gott den Anfängern fÜhlbare Tröstungen, um sie an seinen Dienst zu fesseln. Dann werden sie ihnen eine Zeitlang entzogen, um ihre Tugend zu prüfen und zu festigen. Es gibt nämlich Seelen, die der Meinung sind, einen hohen GI ad von Heiligkeit zu besitzen, wenn sie viele Tröstungen haben. Verschwinden diese dann und finden sich dafÜr innere Trockenheit und Trostlosigkeit ein, so halten sie sich fÜr verloren. Somit ist es wichtig, ihnen die richtige Auffassung vom inneren Trost und innerer Trockenheit beizubringen und sie dadurch vor der Vermessenheit und ebenso vor Entmutigung zu bewahren.

I. Die Tröstungen.

921. I. Wesen und Entstehen. a) Fülzlbare Tröstungen sind sanfte Regungen, die das Gefü!tl ergreifen uud tiefempfundene geistige Freude aus-

, De corrept. et gratia, cap. 1.

2 S. Fll. DE SALES, Philotliea, 4- Buch, I3.-I5. Kap. - F. GUILLORE, Lu secrets de la vie spirituelle, tr. VI. - W. FABER, Progds, 23. Kap. - DOM LEHODEY, Le saint Abandon, S. 344 u. ff. - P. DE SMEDT, Notre vie s"mat. 3. Teil, 5. K.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 649 lösen. Das Herz erweitert sich und schlägt freudiger, das Blut kreist schneller, das Antlitz ist verklärt, die Stimme voller RÜhrung, und zuweilen offenbart sich diese Freude durch Tränen. - Diese fÜhlbaren Tröstungen unterscheiden sich von den geistlichen, die meistens den fortschreitenden Seelen verliehen werden und höherer Art sind, da sie durch Erleuchtung auf den Verstand und durch Antrieb zu Gebet und Tugend auf den Willen wirken. Übrigens finden sich die beiden oft vermischt vor. Was wir davon sagen werden, bezieht sich sowohl auf die einen wie auf die anderen.

b) Diese Tröstungen können allS einer dreifachen Quelle herrÜhren :

I) Von Gott, der mit uns wie eine Mutter mit ihrem Kinde verfährt und uns durch die in seinem Dienste empfundenen SÜssigkeiten anzieht, um uns leichter von den falschen Freuden der \Velt loszulösen.

2) Vom Teufel, der auf Nervensystem, Phantasie und GefÜhl wirkt und auf diese Weise gewisse fÜhlbare RÜhrungen hervorrufen kann. Dieser bedient er sich dann, um uns zu unklugen Strengheiten anzutreiben, zur Eitelkeit, Vermessenheit, auf die bald Entmutigung folgt.

3) Von der Natur selbst. Es gibt Menschen, deren Naturanlage phantastisch, leicht erregbar, optimistisch ist und die in der Pflege der Frömmigkeit ganz naturgemäss Nahrung fÜr ihr GefÜhlsleben finden.

922. 2. Vorteile. Tröstungen sind gewiss von Nutzen.

a) Sie erleichtern die Erkenntnis Gottes. Die von der Gnade unterstÜtzte Phantasie stellt sich gern die LiebenswÜrdigkeit Gottes vor. Das Herz verkostet sie. Man hat Freude am Gebet, an der Betrachtung. Die Seele erfasst besser die GÜte Gottes.

65()

FÜNFTES KAPITEL.

b) Sie tragen zur Stärkung des T,villens bei. Da dieser nicht mehr in den niederen Seelenkräften Hindernisse, sondern im Gegenteil wertvolle Hilfe findet, löst er sich vom Geschöpflichen leichter los, liebt Gott inniger und, dank der durch das Gebet erlangten Unterstützung, hält er besser die kräftigen Vorsätze, zu denen er sich ermuntert fühlte. Infolge der fühlbaren Liebe zu Gott erträgt er tapfer die täglichen kleinen Opfer und legt sich gern einige Abtötungen auf.

c) Durch sie erwerben "vir Gewohnheiten der Sammlung, des Gebetes, des Gehorsams und der Liebe zu Gott, die auch nach dem Aufhören der Tröstungen in gewissem Masse andauern.

923. 3. Gefahren. Dennoch bergen die Tröstungen auch Gefahren.

a) Sie erregen eine Art geistlicher NascJzttaftig-keit, so dass man mehr an den Tröstungen Gottes als am Gott des Trostes haftet. Sind si.~ vergangen, vernachlässigt man seine geistlichen Ubungen und seine. Standespflichten. Selbst im Augenblicke, da man sich ihrer erfreut, ist die Andacht noch lange nicht tiefgehend. Während man nämlich z. B. noch über das Leiden Christi Tränen vergiesst, verweigert man ihm das Opfer dieser fühlbaren Freundschaft oder jener Entbehrung! Echte Tugend kann aber nur da sein, wo die Liebe zu Gott bis zum Einschluss des Opfers vordringt. N. 321. " Viele Seelen haben derartige ZärtlichkeitsgefÜhle und Tröstungen. Nichtsdestoweniger hören sie nicht auf, recht lasterhaft zu sein. Folglich haben sie keine wahre Liebe zu Gott und noch viel weniger wahre Frömmigkeit. " I

b) Sie begünstigen oft den Hochmut unter der oder jener Form. I) Eitles Wohlgefallen an sich

, FR. V. SALES, Pililothea, 4. Buch, 13. Kap.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 651 selbst. Empfindet man Trost, fällt das Beten leicht, so hält man sich gern für heilig, während man doch noch ein Neuling in der Vollkommenheit ist! - 2) Eitelkeit. Man möchte mit anderen Über diese Tröstungen sprechen, um sich hervorzutun, zuweilen werden sie einem dann für längere ~.eit entzogen. 3) Vermessertheit. Man ist der festen Uberzeugung, unbesiegbar zu sein, setzt sich manchmal der Gefahr aus oder beginnt wenigstens der Ruhe zu pflegen, gerade wenn man seine Anstrengungen verdoppeln und Fortschritte machen sollte.

924.4. Verhalten gegen die Tröstungen. Um aus den Tröstungen rechten Nutzen zu ziehen und den bezeichneten Gefahren zu entgehen, ist folgendes zu beachten:

a) Wohl darf man bedingungsweise nach Tröstungen verlangen, mit der Absicht, sich ihrer zu bedienen, um Gott zu lieben und seinen Willen zu erfüllen. So lässt uns die Kirche am Pfingstfeste in der Kollekte um die Gnade des geistlichen Trostes bitten : "et de eius sem per consolatione gaudere. " Tatsächlich ist die Tröstung eine Gabe Gottes, welche bezweckt, uns beim vVerke unserer Heiligung behilflich zu sein. Man m'uss sie daher sehr hochschätzen und darf sie begehren, aber nur in Unterwürfigkeit unter den heiligen Willen Gottes.

b) Werden uns solche Tröstungen geschenkt, nehmen wir sie dankbar und demütig an, uns ihrer unwürdig erkennend und Gott alles Verdienst zuschreibend. Gefällt es ihm, uns wie verwöhnte Kinder zu behandeln, so sei er dafür gepriesen, aber gestehen wir unsere Unvollkommenheit ein, da wir noch der Kindermilch bedürfen" quibus lacte opus est et non solido (ibo." Vor allem rühmen wir uns ihrer nicht, denn das wäre das, sicherste Mittel, sie

zu verlieren. >0'

e) Haben wir sie in Demut empfangen, so gebrauchen wir sie gewissenhaft nach der Meinung

652

FÜNFTES KAPITEL.

dessen, der sie uns schenkte. Er aber gewährt sie uns, wie der hl. Franz v. Sales sagt, damit wir sanft gegen jedermann und lieberfüllt gegen ihn seien. Die Mutter gibt dem Kinde Zuckerwerk, damit es sie küsse. Küssen wir daher unsern Erlöser, der uns soviel Süssigkeit schenkt. Den Erlöser küssen heisst aber ihm gehorchen, seine Gebote halten, seinen Willen tun, seinen Wünschen nachgeben, kurz, ihn in Demut und Gehorsam umarmen. " I

d) Endlich muss man überzeugt sein, diese Tröstungen werden nicht immer dauern und man muss Gott um die Gnade bitten, ihm auch in der Trok. kenheit zu dienen, sollte er sie uns schicken. U nterdessen wolle man nicht durch Geistesanstrengungen

diese Tröstungen festhalten, sondern halte Mass in ihnen und klammere sich fest an den Gott allen . Trostes.

11. Troeluulzeit.

Um uns in der Tugend zu befestigen, sieht sich Gott veranlasst, uns von Zeit zu Zeit innere Trokkenlteit zu schicken. Erklären wir hier 1. deren Wesen, 2. die ihr zugrunde liegende Absicht der Vorsehung, 3. unser Verhalten ihr gegenÜber.

925. 1. Wesen. Trockenheit ist Entzielmng der jühlbaten und geistlielzen Tröstungert, welche Gebet und Ubung der Tugenden erleichtern. Trotz oft erneuter Anstrengungen findet man keinen Geschmack am Gebet, empfindet sogar Langeweile und Ermattung dabei, und die dafür angesetzte Zeit erscheint sehr lang. Glauben und Vertrauen fehlen schein bar. Die Seele, sonst frisch und freudig, gerät in eine Art Erstarrung. Nur vom Willen gleichsam gestossen, schleppt man sich weiter. Das ist gewiss ein recht peinlicher Zustand. Dennoch hat er auch sein Gutes.

, 'Pflilothea, 4. Buch, 13. Kap.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 653 926. 2. Absicht der Vorsehung. a) Sendet Gott uns Trockenheit, so geschieht es, um uns von allem Geschaffenen loszulO'sen, selbst von dem in der Frömmigkeit gefundenen Glück, damit wir lernen, Gott allein und um seiner selbst wz'llen lieben.

b) Er will uns auch verdem ü tigert, indem er uns zeigt, die Tröstungen schulde er uns nicht, sondern gewähre sie als ihrem Wesen nach unverdiente

Gunst.

c) Durch die Trockenheit werden wir noch mehr gereinigt, sei es von früheren Fehlern, sei es von gegenwärtigen Anhänglichkeiten und allem selbstsÜchtigen Streben. Im Dienste Gottes stehen zu müssen, ohne Lust,lediglich aus Uberzeugung und Willenskraft, ist mit Leiden verbunden. Gerade dieses Leiden ist Sühne und Wiedergutmachung.

d) Endlich befestigt Gott uns in der Tugend.

Will man beharrlich sein im Beten und Gutestun, muss man energisch und andauernd s~.ine Willenskraft in Tätigkeit setzen. Diese Ubung eben befestigt die Tugend.

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FÜNFTES KAPITEL.

seinen Trost verweigert." - Ist der Grund der Trockenheit erkannt, so demÜtige man sich und suche ihn zu entfernen.

928. b) Haben wir diese Prüfung nicht selbst verschuldet, so gilt es, sie gut auszunüt;;en. r) Damit das gelinge, muss man sich in der Uberzeugung bestärken, es sei verdienstlicher, Gott ohne Geschmack und ohne Trost zu dienen als unter vielen Tröstungen. Zur Gottesliebe genügt es, Gott lieben zu wollen. Übrigens besteht der vollkommenste Akt der Liebe in der Gleichförmigkeit unseres Willens mit dem göttlichen. 2) Zur Erhöhung des Verdienstes bei diesem Akt gibt es nichts Besseres, als sich mit dem Heiland zu vereinigen, der im Öl garten aus Liebe zu uns Widerwillen und Traurigkeit empfinden wollte, und mit ihm zu wiederholen :" Verumtamen non mea voluntas sed tua flat!" I 3) Besonders ~.arf man sich nie entmutigen, nichts von seinen Ubungen, Anstrengungen U\1d Vorsätzen unterlassen, sondern muss den lieben Heiland nachahmen, der sein Gebet verlängerte, als Todesangst ihn befiel. "Factus z'n agonz'a prolz'xius orabat. "

929. Weisungen für den Seelenfüb.rer. Auf diese Lehren von Tröstungen und Trockenheit muss man oft zurückkommen, damit sie von den zu leitenden Seelen gut verstanden werden. Trotzdem nämlich meinen sie, viel besser zu handeln, geht ihnen alles nach Wunsch und Belieben, als gegen den Strom schwimmen zu mÜssen. Jedoch nach und nach wird das Licht hierüber klarer. Haben sie erst gelernt, sich zµr Zeit eies Trostes nicht überheben und während innerer Trokenheit sich nicht niederschlagen lassen, werden sie schnellere und andauerndere Fortschritte machen.

'Lllk., XXII, 42.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 655

§ 11. Mangel an Beharrlichkeit bei Anfängern.

930. 1. Das Übel. Gibt sich eine Seele Gott hin und beginnt sie, im geistlichen Leben Fortschritte zu machen, so werden manche Schwierigkeiten durch eine gewisse feurige Begeisterung für die Tugend überwunden, auch fühlt sie sich von der Gnade Gottes getragen, und der Reiz der Neuheit lockt sie an. Es kommt jedoch der Augenblick, da Gott uns auf eine weniger fühlbare Weise seine Gnade schenkt. In Erneuerung der immer gleichen Anstrengungen ermatten wir und die innere Schwungkraft erscheint durch das Andauern der gleichen Hindernisse gelähmt. Da lässt man es leicht an Beharrlichkeit fehlen und erschlafft.

"Diese innere Verfassung offenbart sich I) in den geistlichen Ubungen, bei denen man sich weniger Jy):ühe gibt. Man kÜrzt sje ab oder unterlässt sie. 2) in der Ubung der Tugenden. Man hatte den Weg der Busse und Abtötung grossherzig betreten und findet nun, er sei mÜhsam und langweilig. Man verlangsamt seinen Schritt. 3) in der gewohnten Heiligung der Handlungen. Man hatte sich daran gewöhnt, oft die gute Meinung zu erneuern, um seine Handlungen desto sicherer mit Reinheit der Absicht zu verrichten. Nun ermattet m~m in dieser Übung, vernachlässigt sie und dadurch wird die Routine, die Neugier, die Eitelkeit und die Sinnlichkeit Beweggrund vieler unserer Handlungen. Unmöglich kann man öei solcher Verfassung fortschreiten, denn ohne beharrliche MÜhe erreicht man nichts.

931. 2. Das Heilmittel. A) Man muss die feste Überzeugung in sich tragen, das Werk der Vollkommenheit sei langwierig und fordere viel Ausdauer. Nur jenen gelinge es, die, ungeachtet aller Misserfolge, sich immer wieder mit erneutem Eifer ans Werk geben. So machen es tÜchtige Geschäftsleute, wenn sie Erfolge erreichen wollen. So muss es jede Seele machen, die auf ihren Fortschritt bedacht ist. Jeden Morgen frage sie sich, ob sie nicht etwas mehr, besonders manches besser fÜr

656

FÜNFTES KAPITEL.

Gott tun könnte. Jeden Abend untersuche sie sorgfältig, ob sie wenigstens teilweise das am Morgen sich Vorgenommene ausgeführt habe.

B) Nichts trägt mehr zur, Sicherung der Beharrlichkeit bei als die treue Ubung des Partikularexamens (N. 468). Richtet man seine ganze Aufmerksamkeit auf einen gewissen Punkt, auf eine Tugend und legt man seinem Beichtvater über den gemachten Fortschritt Rechenschaft ab, so kann man des Voranschreitens sicher sein, selbst, wenn man sich dessen nicht bewusst ist.

Auch was wir über die \Villenserziehung sagten (N. 8 I 2), ist ein ausgezeichnetes Mittel für die Beharrlichkeit.

§ III. Die übertriebene Hast der Anfänger.

Viele sehr gut gewillte Anfänger geben sich mit allzu grossem Eifer und mit übertriebener Hast an die Arbeit ihrer Vervollkommnung, ermüden endlich und erschöpfen in nutzloser Mühe ihre Kraft.

932. 1. Ursachen. a) Die Hauptursache des verfehlten Handeins liegt darin, dass man Gottes Tätigkeit durch die eigene ersetzt. Anstatt vor dem Handeln zu überlegen, das Licht des Hl. Geistes anzurufen und ihm zu folgen, stürzt man sich mit fieberhaftem Eifer in die Handlung hinein. Anstatt den Beichtvater vorher um Rat zu fragen, handelt man zuerst und stellt ihn dann vor die vollendete Tatsache. Daher viele Unklugheiten, viel verlorene MÜhe. "M agm' passus extra via17t. "

b) Oft auch ist Vermessenheit dabei. Man möchte die einzelnen Stufen überspringen, möglichst bald aus den Bussübungen herauskommen und schnell die Vereinigung mit Gott erreichen. Leider aber erheben sich unvorhergesehene Hindernisse. Man verliert den Mut, weicht zurück und fällt in schwere Fehler.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 657

c) Andere Male ist es Neugier, die vorherrscht.

Man sucht unaufhörlich nach neuen Mitteln zur Vollkommenheit, probiert sie eine Zeitlang aus und lässt sie bald wieder beiseite, sogar ehe sie irgend welche Wirkungen hervorbringen konnten. Unaufhörlich schmiedet man neue Pläne zur Besserung seiner selbst und der anderen und vergisst, sie in Ausführung zu bringen.

Das unzweideutigste Ergebnis solcher übertriebenen Geschäftigkeit ist Verlust der inneren Sammlung, Aufregung und Verwirrung, ohne irgend ein wirkliches Resultat.

933. 2. Die Heilmittel. a) Das Hauptheilmittel ist, sich in gänzlicher Abhängigkeit Gottes Wirken zu unterwerfen, vor dem Handeln reiflich nachzudenken, um Erlangung des göttlichen Lichtes zu beten, den Seelenführer um Rat zu fragen und sich an seine Entscheidung zu halten. Ebenso wie in der Ordnung der Natur nicht die gewaltsamen, sondern die wohl gezügelten Kräfte die besten Ergebnisse erzielen, ebenso ist es im übernatürlichen Leben nicht die fieberhaft gesteigerte Anstrengung, die uns zum Fortschritt verhilft, sondern ruhige und wohlgeordnete Tätigkeit. "Langsam, aber sicher! "

b) Indessen, um sich so dem Wirken Gottes zu überlassen, müssen die Ursachen der Hast bekämpft werden. I) Jene natürliche Lebhaftigkeit, die auf allzu schnelle Entscheidung drängt. 2) Die Vermessenheit, die aus übermässiger Hochschätzung seiner selbst hervorgeht. 3) Die Neugier, die immer auf der Suche nach Unbekanntem ist. Diese Fehler müssen daher nacheinander durch das Partikularexamen in Angriff genommen werden, dann wird Gott seinen Platz in der Seele wieder einnehmen und sie ruhig und sanft auf den Wegen der Vollkommenheit leiten.

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FÜNFTES KAPITEL.

§ IV. Skrupel.'

934. Der Skrupel ist eine physische und moralische Krankheitserscheinung, wodurch im Gewissen cine Art Betörung entsteht. Aus nichtigen Gründen glaubt man, Gott beleidigt zu haben. Diese Krankheit ist Anfängern nicht eigen, tritt jedoch sowohl bei ihnen wie bei vorgeschritteneren Seelen auf. Es muss daher ein Wort darüber gesagt werden und zwar 1. über deren Wesen, 2. über deren Gegenstand, 3. über deren Nachteile und Vorteile und 4· über deren Heilmittel.

1. Wesen des Skrupels.

935. Das Wort Skrupel (lateinischscrupulus, kleiner Kieselstein) bezeichnete lange Zeit hindurch ein sehr kleines Gewicht, unter dem nur die empfindlichsten Wagen nachgaben. Im übertragenen Sinne bedeutet es einen kleinlichen Grund, der nur bei den Menschen eines äusserst zartfühlenden Gewissens Bedeutung hat. Daher bezeichnet man gegenwärtig damit eine übertriebene Unruhe, Gott beleidigt zu haben, die von manchen Gewissen aus den nichtigsten Beweggründen empfunden wird. Um deren Wesen besser zu erkennen, müsscn wir ihr Entstehen, ihre Grade und den Unterschied erklären, der zwischen Skrupeln und einem zarten Gewissen besteht.

936. 1. Entstehen. Der Skrupel ensteht bald aus rein-natürlicher Ursache, bald durch übernatÜrhches Eingreifen.

'S. IGNATlUS, Exereit, .<pirit., Regulre de scrupulis, - ALVAREZ DE PAZ, t. I!, lib, I, Part. II!, cap, XII, § V, - SCARAMELLl, Guide asdtique, tr. II, art. XL - SCHRAM, Inst, !Mol, mystieeE, t. I. § 73.83, _ S, ALPHONSUS, Theol, moralis, tr. I, De conscientia, n. IO·19· - LOMBEZ, Paix interieure, z. Teil, 7, Kap, - W, FABER, Progres, 17. Kap. - DUBOIS, L'Ange eonducteur des ames serupuleuses, p, DE LEHEN, La voie de la paix interieure, 4, TeiL - A. EYMIEl:, Legoltv, de soi-meme, t. I!. L'obsession et le scrupule, - DOM LEHODEY, Le saint A bandoll, S, 407-414,

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 659 a) Vom natürlichen Gesichtspunkte aus sind Skrupel oft physische und moralische Krankheitserscheillungen. I) Die physische Krankheit, die eine solche Störung verursachen kann, besteht in einer Art nerviJ'ser Niederg-eschlagmheit, wodurch das richtige Urteil nachteilig beeinflusst wird in sittlicher Hinsicht und leicht ohne wirklichen Grund die hartnäckig quälende Meinung entsteht, eine Sünde begangen zu haben. 2) Es gibt aber auch sittliche (moralisclze) Ursachen, die zu demselben Ergebnis führen: Ang-stlicher, zaghafter Sinn, der sich in den kleinsten Einzelheiten verliert und über alle Dinge unbedingte Gewissheit haben möchte. Unerleuchteter Sinn, der sich Gott stets nicht nur als strengen, sondern auch als unerbittlichen Richter vorstellt und in menschlichen Handlungen Eindruck mit Zustimmung verwechselt und der Meinung ist, in Sünde gefallen zu sein, weil die Phantasie stark und lange beeinflusst war. Hartnäckiger Sinn, der sein eigenes Urteil dem des Beichtvaters vorzieht, eben deshalb, weil er sich mehr von seinen Eindrücken als von der Vernunft leiten lässt.

Sind beiderlei U rsachen, phy~ische und moralische, vereinigt, so sitzt das Ubel tiefer und ist schwerer zu heilen.

937. b) Der Skrupel kann aber auch aus einem die Kräfte der Natur Übersteigenden Eingreifen Gottes oder des Teufels entstehen.

I) Gott lässt zuweilen diese Qual in uns zu, bald zur Strafe, besonders wegen unseres Stolzes, unserer Regungen eitler Selbstgefälligkeit, bald zur PrÜfung, damit wir die begangenen Sünden sühnen, uns von inneren Tröstungen loslösen und zu einer höheren Stufe von Heiligkeit gelangen. Das trifft besonders bei jenen Seelen zu, die Gott zur Beschauung vorbereiten will, wie wir bei der Abhandlung Über den Einigungsweg näher veranschaulichen werden.

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FÜNFTES KAPITEL.

2) Auch der Teufel pfropft manchmal sein Einwirken auf eine krankhafte Verfassung unseres Nervensystems auf und bringt Verwirrung in die Seele. Er redet ihr ein, sie befände sich im Zustande der Todsünde und versucht auf diese Weise, sie am Empfange der hl. Kommunion oder an der Erfüllung ihrer Standespflichten zu hindern. Besonders gibt er. sich die grösste Mühe, uns über die Bedeutung dieser oder jener Handlung hinwegzutäuschen, damitformell eine Sünde zustande komme, selbst da, wo kein genÜgender Stoff vorliegt, wenig'stens nicht für schwere Sünde.

938. 2. Grade. Bei den Skrupeln unterscheidet man begreiflicherweise sehr viele Grade. a) Anfangs handelt es sich nur um ein zaghaftes, äusserst ängstliches Gewissen, das Sünde wahrnimmt, wo keine ist. - b) Dann wieder sind es vorübergehende Skrupel, die man dem Beichtvater unterbreitet, aber so, dass man seine Lösung sofort annimmt. _ c) Schliesslich entsteht der eigentliche Skrupel, der zäh und im Geleite von Eigensinn auftritt.

939. 3. Der Unterschied zwischen Skrupel und zartem Gewissen. Das skrupulöse Gewissen muss man vom zarten oder ängstlichen wohl unterscheiden.

a) Der Ausgangspunkt ist nicht derselbe. Das zarte Gewissen liebt Gott innig und will ihm zu Gefallen die kleinsten Verfehlungen, die geringsten freiwilligen . Unvollkommenheiten meiden. Das skrupulöse wird von einer gewissen Selbstsucht geleitet, derzufolge es zu sehnlichst wünscht, des Gnadenstandes sicher zu sein.

b) Aus Abscheu vor der SÜnde und in dem Bewusstsein seiner Schwäche nährt das zarte Gewissen begründete, aber nicht beunruhigende Furcht). Gott zu missfallen. Das skrupulöse dagegen unterhält nichtige Furcht, stets Sünde zu begehen.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 661 c) Das furchtsame Gewissen versteht den Unterschied zwischen Todsünde und lässlicher Sünde und unterwirft sich im Zweifel sofort dem Urteile des Beichtvaters. Das skrupulöse streitet hartnäckig' mit dem Seelenführer und unterwirft sich nur sehr schwer seinen Entscheidungen.

Muss man einerseits Skrupel sorgfältig vermeiden, so gibt es andererseits nichts Kostbareres als ein zartes Gewissen.

Ir. Geg'i!nstand des Skrupels.

940. I. Manchmal sind die Skrupel allgemeiner Natur und erstrecken sich auf allerlei Gegenstände. Vor der Handlung steigern sie die Gefahren, denen man bei dieser oder jener Übrigens ganz harmlosen Gelegenheit begegnen kann, ins Masslose. Nach vollzogener Handlung erfüllen sie die Seele mit unbegründ~~er Unruhe und bringen dem Gewissen leicht die Uberzeugung bei, es habe sich schwer versÜndigt.

941. 2. Häufiger beziehen sie sich auf eine Anzahl besonderer Gegenstände.

a) Auf friihere Beicltten. Man gibt sich sogar nach mehreren Generalbeichten nicht zufrieden. Fürchtet, sich nicht über alles angeklagt oder es nicht genügend bereut zu haben, Will immer wieder aufs neue anfangen. b) Auf schlechte Gedanken, Die Phantasie ist mit gefährlichen oder unreinen Vorstellungen erftillt, die einen gewissen Eindruck hervorrufen. Man' fürchtet deshalb, ihnen zugestimmt zu ,haben, ja, man ist dessen sogar sicher, obschon sie ausserordentlich Missfallen erregen. c) Auf/{otteslästerliche Gedanken. Weil solche in den Sinn kommen, ist man überzeugt, zugestimmt zu haben, trotz des Abscheus, den man dagegen empfindet. d) Auf die Nächstenliebe. Man hat übler Nachrede, die man hörte, nicht energisch widersprochen, hat aus Menschenfurcht die Pflicht brüderlicher Zurechtweisung unterI,~ssen, hat dem Nächsten durch unüberlegtes Reden Argernis gegeben, hat einen Auflauf von Menschen gesehen und sich nicht darum gekümmert, ob nicht ein Unfall das Eingreifen eines Priesters für die Spendung der Absolution

, notwendig machte. In alldem sieht man sehr schwere Sünden.

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FÜNFTES KAPITEL.

e) Auf konsekn'erte Hostien, die man unbefugt berührt zu hahen fürchtet, und will Hände und Gewänder reinigen. f) Auf die Konsekrationsworte, auf vollständig richtiges Beten des Breviers u. s. w.

III. Nachteile und Vorteile der Skrupel.

942. 1. Lässt man sich unglücklicherweise von den Skrupeln beherrschen, so bringen sie an Leib und Seele die schlimmsten Wirkungen hervor:

a) Allmählich führen sie Schwächung und gewissermassen Zerrüttung des Nervensystems herbei. Beständige Furcht und Angst wirken niederdrückend auf die Gesundheit des Leibes. Sie können zu einer wahren Besessenheit werden und in eine fixe Idee ausarten, die an Irrsinn grenzt.

b) Sie verblenden den Geist und fälschen das Urteil. Nach und nach verliert man die Fähigkeit zu unterscheiden, was Sünde ist und was nicht, was schwer und was lässlich ist. Die Seele wird ein Schiff ohne Steuer.

c) Oft ist Mangel an Andacht des Herzens deren Folge. Da man nämlich immer in Aufregung lebt und in Verwirrung, wird man schrecklich egoistisch, misstraut aller Welt, selbst Gott, den man zu streng findet. Man klagt darüber, dass er uns in diesem unglücklichen Zustande lässt und ist ungerecht in der Klage gegen ihn. Dabei kann von wahrer Andacht natürlich keine Rede sein.

d) Endlich kommen Schwächen und Niederlagen.

I) Der Skrupulant verbraucht in nutzlosen Anstrengungen bei Kleinlichkeiten seine Kräfte und hat dann deren nicht mehr genug zum Kampfe an den wichtigsten Punkten. Die Aufmerksamkeit nämlich kann si,c::h nicht über die ganze Linie erstrecken. Daher Uberrumpelung, Niederlagen und manchmal schwere Vergehen. 2) Übrigens sucht man instinktiv Erleichterung der Qualen und da man sie in der Frömmigkeit nicht findet, sucht man sie anderswo,

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 663

in BÜchern, gefährlichen Bekanntschaften. Diese sind zuweilen Ursache bedauernswerter Fehltritte, und man verfällt der Entmutigung.

943. 2. Versteht man es aber die Skrupulosität als Prüfung anzunehmen und sie mit Hilfe dnes klugen Beichtvaters nach und nach zu überwinden, so können sich fÜr die Seele g-rosse Vorteile ergeben.

a) Skrupel tragen zur Reinigung der Seele bei.

Man bemüht sich dann nämlich, die kleinsten Sünden, die geringsten freiwilligen U nvollkommenheiten zu vermeiden und erwirbt so eine grosse Reinheit des Herzens.

b) Sie helfen uns Demut und Gehorsam üben, da sie uns nötigen, in aller Einfachheit dem Beichtvater unsere Zweifel zu unterbreiten und seiner Entscheidung uns in voller Unterwerfung nicht nur unseres Willens, sondern auch unseres Urteils zu fügen.

c) Durch sie dienen wir Gott mit grösserer Reinheit der Absicht, da wir uns, durch Entwöhnung geistigen Trostes einzig an Gott anschliessen und ihn um so mehr lieben, je mehr Prüfungen er uns sendet.

IV. Heilmittel gegen Skrupel.

944. Den Skrupel muss man von Anfang an bekämpfen, ehe er im Innersten der Seele \iVurzel gefasst hat. Das Hauptheilmittel, das eigentliche und einzige Mittel ist der volle und unbedingte Gehorsam gegen einen klugen Seelen fÜhrer. Da die Leuchte des Gewissens verdunkelt ist, muss man zu anderem Lichte seine Zuflucht nehmen. Der Skrupulant ist ein Schiff ohne Steuer und Kompass. Darum muss dieses Schiff ins Schlepp~ tau genommen werden. Der SeelenfÜhrer muss daher zunächst das Vertrauen des Skrupulanten gewinnen, dann aber auch seine Autorität Über ihn aus.zuiibett verstehen, um ihn zu heilen.

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FÜNFTES KAPITEL.

945~ I. Vor allem muss das Vertrauen gewonnen werden. Gern gehorcht man dem, zu dem man Vertrauen hat. Das Vertrauen ist aber nicht immer leicht zu gewinnen. Skrupulanten fühlen zwar instinktiv das Bedürfnis nach einer Leitung. Einige jedoch wagen sich ihr nicht vollständig auszuliefern. Sie wollen sich zwar Rat holen, aber auch ihre Gründe auseinandersetzen. Mit einem Skrupulanten darf man sich jedoch nicht in Streitereien einlassen. Man muss energisch mit ihm reden und ihm klar und deutlich sagen, was er zu tun habe.

Um dieses Vertrauen einzujlössen, muss der Seelenführer es sich durch Tiichtiglceit und Hingabe verdienen.

a) Er lasse zuerst das Beichtkind sich ganz aussprechen und zeige nur hie und da durch Bemerkungen, er habe alles gut verstanden. Darauf stelle er einige Fragen, auf die der Skrupulant nur mit ja oder nein zu antworten braucht und leite so selbst eine methodische Gewissenserforschung. Dann füge er hinzu: " Ich verstehe Ihren Fall. Sie leiden in dieser oder jener Hinsicht." - Für das Beichtkind ist es schon eine sehr grosse Erleichterung, sich gut verstanden zu wissen. Zuweilen genÜgt das, um sein ganzes Vertrauen zu gewinnen.

b) Mit dem Gutverstehen muss Hingabe verbunden werden. Der Seelen führer zeige sich daher geduldig. Anfangs wenigstens höre er, ohne auch nur mit den Wimpern zu zucken, die langatmigen Auseinandersetzungen des Skrupulanten an. Er zeige sich gütig, nehme Anteil an dem Ergehen dieser Seele und äussere den Wunsch und die Hoffnung, sie zu heilen. Smift. Er spreche nicht in strengem und barschem Tone, sondern mit Güte, selbst wenn er etwas befehlen muss. Nichts ist so sehr geeignet, das Vertrauen zu gewinnen, als Festigkeit mit GÜte vermischt.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 665

946. 2. Ist das Vertrauen gewonnen, so muss man seine Autorität zur Geltung bringen und Gehorsam verlangen. Man sage dem Skrupulanten :

"Wollen Sie geheilt werden, so müssen Sie blind gehorchen. Gehorchen Sie, so sind Sie in grösster Sicherheit, sollte sich selbst Ihr Seelenführer irren, denn Gott verlangt gegenwärtig nur eines von Ihnen, den Gehorsam. Das ist so wahr, dass, wenn Sie glauben, mir nicht gehorchen zu können, Sie sich einen anderen Beichtvater suchen müssen. Blinder Gehorsam, einzig und allein, wird Sie heilen, wird Sie sicher heilen. "

a) Bei seinen Anordnungen spreche der Beichtvater klar und deutlich und genau, er vermeide allen Doppelsinn. Kategorisch, nicht in Bedingungsform, z. B. nicht: "Wenn Sie das beunruhigt, tun Sie es nicht ", sondern ganz unbedir.gt : " Tun Sie das, meiden Sie jenes, verachten Sie diese Versuchung. "

b) Gewöhnlich soll man die Entscheidungen nicht begründen, besonders nicht im Anfange. Ist der Skrupulant später so weit, die Stärke des Grundes zu begreifen und zu fühlen, soll man ihn kurz angeben, um sein Gewissen allmählich zu formen. Vor allem jedoch kein Hin- und Herreden über den Grund der Entscheidung. Stellt sich bei der AusfÜhrung ein Hindernis entgegen, so nimmt man darauf Rücksicht, aber die Entscheidung bleibt bestehen.

c) Man darf daher seinem Urteil nicht widersprechen. Vor der Entscheidung überlege man sich die Sache reiflich und erteile keine Befehle, die man nicht aufrecht erhalten kann. Die Verordnung jedoch widerrufe man nicht, wenn nicht infolge erneuter Veränderung der Umstände eine Abänderung notwendig erscheint.

d) Um sich zu vergewissern, dass die Anordnung richtig verstanden wurde, lasse man sich dieselbe

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wiederholen, dann bleibt nur noch übrig, für die Ausführung zu sorgen. Dieses ist schwer, denn der Skrupulant schrickt manchmal vor der Ausführung zurück wie der Verurteilte vor der Hinrichtung. Man erkläre ihm kurz und bündig, er müsse darÜber berichten. Hat er dem Rat Folge geleistet, so höre man ihn erst an, ist die Ausführung geschehen. Es kann daher vorkommen, dass dieselbe Anordnung mehrmals wiederholt werden muss, bis die Ausführung richtig erfolgt ist. Man tue es ohne Ungeduld, aber mit wachsender Energie. Schliesslieh wird der Skrupulant dann doch gehorchen.

947. 3. Ist der geeignete Augenblick gekommen, so soll der Seelenführer den Allgemeingrundsatz einprägen, demzufolge der Skrupulant alle Zweifel verachten muss. Nötigenfalls lasse man ihn in irgend einer Form aufschreiben, etwa wie folgt: " vVas mich betrifft, gilt als Gewissenspflicht nur die Evidenz, d. h. eine jeden Zweifel ausschliessende Gewissheit, ruhige und volle Sicherheit, so klar wie zwei und zwei vier ist. Ich kann daher nur dann eine Todsünde oder lässliche Sünde begehen, wenn ich absolut sicher bin, die betreffende Handlung ist mir unter schwerer oder lässlicher Sünde verboten, und trotzdem ich es weiss, sie doch vollziehen will. Ich werde deshalb die Wahrscheinlichkeiten, mögen sie auch noch so stark sein, nicht beachten und mich nur durch klare und sichere Evidenz für gebunden erachten. Ist diese nicht vorhanden, so handelt es sich nicht um Sünde." Kommt der Skrupulant und bezeugt, er habe eine lässliche oder schwere Sünde begangen, so frage ihn der Beichtvater: "Können Sie schwören, vor dem Handeln klar die Sündhaftigkeit der Tat erkannt und trotzdem Ihre volle Einwilligung dazu gegeben zu haben? " - Diese Frage wird den Grundsatz deutlicher hervortreten lassen und ihn leichtfasslicher machen.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 667 948. 4. Endlich muss dieser Allgemetngrundsatz auf die sich darbietenden besonderen Schwierigkeiten angewendet werden.

a) Betreffs der Generalbeichten erlaube man deren eine, dann aber gestatte man nicht, darauf zurückzukommen, ausser bei Evidenz in bezug auf folgende zwei Punkte: I) Handelt es sich um eine sicher begangene Todsünde. 2) Besteht die Gewissheit, sich über diese Sünde nie in einer giltigen Beichte ang-eklagt zu haben. - Im übrigen erkläre der Beichtvater nach einiger Zeit, auf die Vergangenheit sei nicht mehr zurückzukommen und eine vielleicht ausgelassene Sünde sei mit den anderen bereits nachgelassen worden.

b) Bezüglich der innerm Sünden durch Gedanken und Wünsche gebe man folgende Richtlinie: Wäh- 1'md der Krisis die Aufmerksamkeit ablenken und an anderes denken. Nach der Krisis sich nicht erforschen, ob mall gesündigt habe (sonst nämlich wird die Versuchung von neuem beginnen), sondern seinen Weg ruhig weitergehen, die Standes pflichten erfüllen, zur h1. Kommunion gehen, solange nicht Gewissheit einer vollen Einwilligung vorhanden ist. (N. 909).

949. c) Oft ist die hl. Kommunion eine Qual für die Skrupulanten. Sie fürchten, nicht im Stande der Gnade oder nicht nüchtern zu sein. Jedoch I) ist die Angst, nicht im Stande der Gnade zu sein, ein Beweis, dass sie darüber keine Gewissheit haben. Daher sollen sie kommunizieren. Die hl. Kommunion wird sie in den Stand der Gnade versetzen, falls sie nicht darin wären. 2) Das eucharistische Fastengebot soll bei Skrupulanten nur dann ein Hindernis sein, wenn sie absolut sicher sind, nicht mehr nüchtern zu sein.

d) Die M. Beichte wird ihnen oft zu noch grösserer Qual. Es ist demnach von Wichtigkeit,

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FÜ NFTES KAPITEL.

sie ihnen leicht zu machen. Man erkläre ihnen deshalb: " I) Sie sind nur zur Anklage der sicher begangenen Todsünden verpflichtet. 2) Von den lässlichen Sünden nennen Sie nur jene, die Ihnen nach fünf Minuten langer Erforschung einfallen werden. 3) Auf die Reue verwenden Sie sieben Minuten. Während dieser Zeit bitten Sie Gott darum und erwecken dieselbe im Herzen, und Sie werden sie haben." Sie wenden dagegen ein: "Aber ich fÜhle sie doch ,nicht!" - Antwort: "Das ist nicht nötig. Die Reue ist ein Akt des Willens, gehört somit nicht dem Gefühlsleben an. " - In gewissen Fällen hochgradiger Skrupulosität befehle man den Beichtkindern, sich mit dieser allgemeinen Anklage zu begnügen:" Ich klage mich aller seit meiner letzten Beichte begangenen Sünden und aller jener meines vergangenen Lebens an. "

950. 5. Antwort auf Schwierigkeiten. Manchmal wird das Beichtkind zu seinem geistlichen Führer sagen : "Sie behandeln mich wie einen Skrupulanten. Ich bin aber keiner." - Darauf antworte man: "Es steht nicht Ihnen zu, darüber zu urteilen, sondern mir. Sind Sie ganz sicher, nicht skrupulös zu sein? Sind Sie wie andere Menschen ruhig und in Frieden nach Ihren Beichten? Haben Sie nicht Zweifel und Angste, die die meisten Menschen nicht kennen? Sie befinden sich also nicht in einem normalen Seelenzustand. Vom physischen und moralischen Gesichtspunkte aus ist eine gewisse Stiiruttg des Gleichgewichtes in Ihnen. Sie bedÜrfen daher einer besonderen Behandlung. Gehorchen Sie infolgedessen ohne Widerrede und Sie werden geheilt werden. Gehorchen Sie aber nicht, wird sich Ihr Zustand nur noch verschlimmern. "

Durch solche und ähnliche Mittel wird schliesslich mit dem Beistande der Gnade Gottes diese unleidliche Krankheit der Skrupel geheilt werden.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 669

NACHTRAG ÜBER DIE UNTERSCHEIDUNG DER GEISTER. I

951. Die verschiedenen, in uns wirkenden Geister.

Im Vorausgehenden haben wir wiederholt von den verschiedenen Regungen gesprochen, die uns zum Guten oder Bösen antreiben. Es ist gewiss von Bedeutung, den Ursprung dieser Regungen kennen zu lernen.

Theoretisch gesprochen, können sie sechs Hauptquellen entspringen:

a) aus uns selbst, dem zum Guten anregenden Geiste und dem zum Bösen antreibenden Fleische.

b) Aus der Welt, insofern sie durch die Sinne auf unsere inneren Fähigkeiten wirkt, um sie auf das Böse zu richten. N.212.

c) Von den guten Engeln, die in uns gute Gedanken wecken.

d) Von den bösen Geistern, die, im Gegenteil auf unsere äusseren und inneren Sinne wirken, um sie zum Bösen anzutreiben.

e) Von Gott, der allein bis ins Innerste unserer Seele dringen kann und uns nur auf das Gute hinweist.

952. In der Praxis genÜgt es jedoch zu wissen, ob diese oder jene Regungen vom Guten oder vom Brjsen herrÜhren. Vom Gulen, nämlich von Gott, von den guten Engeln oder dem von der Gnade getragenen Geiste. Vom Bösen, d. h. vom Teufel, von der Welt oder dem Fleische. Die Richtlinien, vermöge deren wir den einen Urheber von dem andern unterscheiden können, heissen "Regeln Über die Untcrsclzeidzmg der Geister. " Schon der hL Paulus hatte die Grundlage dafÜr gegeben, als er im Menschen Fleisch und Geist unterschied und ausserhalb des Menschen den Geist Gottes, der uns zum Guten, und die gefallenen Engel, die uns zum Bösen antreiben. Seither haben geistliche Schriftsteller, wie z. B, Kassian, der hL Bernhard, der hl. Thomas, der Verfasser der Nachfolge Christi (J. B. 54-55. Kap,), der hl. Ignatius Regeln fÜr die Unterscheidung der entgegengesetzten Regungen von Natur und Gnade angegeben.

, S, THOMAS, Ia IIre, q, 80, a, 4. - De Imitatione Christi. L II!, c, 54, De diversis motibus naturre et grati",. - S, IGNATIUS, Exercitia spirit" Regulre aliquot etc, - SCARAMELLI, Du discenzem~nt des esjn'ts, - CARD, BONA, De discretione spirituum, - RIBET, L'Ascetique, 40, Kap, - MGR, A. CHOLLET, Discernement des esprits, Die!, de Tlztol. t. IV., 1375-1415, nebst reichlicher Bibliographie.

670

FÜNFTES KAPITEL.

953. Regeln des hl. Ignatius, die besonders fÜr An/dnKe,.. bestimmt sind.

Die ersten zwei Regeln beziehen sich auf das verschiedenartige Verhalten des guten uns bösen Geistes SÜndern und eifrigen Seelen gegenÜber.

1. Erste Regel. Den SÜndern, die ihren Leidenschaften keine ZÜgel anlegen, fÜhrt der böse Feind scheinhare Freuden und Wollliste vor, um sie in ihren Lastern desto fester ZU halten und zu bestärken. Der gute Geist hingegen erregt in ihrem Gewissen Unruhe und Gewissensbisse, damit sie aus ihrem traurigen Zustande herauskommen.

Zweite Regel. Handelt es sich um aufriclttig bekehrte Menschen, so erregt der Teufel in ihnen Traurigkeit und Gewissensunruhen, Hindernisse aller Art, um sie zu entmutigen und ihren Fortschritt zu hemmen. - Der gute Geist hingegen gibt ihnen MUt, Kraft, heilsame Gedanken ein, damit sie in der Tugend fortschreiten. Der Baum wird daher nach seinen FrÜchten beurteilt. Alles, was den Fortschritt hemmt, kommt vom Bösen. Alles, was den Fortschritt' begünstigt, kommt von Gott.

954. 2. Die dritte ReKel befasst sich mit den geistliclzen Tröstungen. - Sie kommen vom guten Geist: x) wenn sie innere Regungen des Eifers hervorbringen : zuerst einen Funken, dann eine Flamme, endlich einen Glutofen der göttlichen Liebe. 2) wenn sich in Tränen der echte Ausdruck innerer Zerknirschung oder Liebe zum göttlichen Heiland auslöst. 3) wenn sie Glauben, Hoffnung und Liebe vermehren oder der Seele Beruhigung und Frieden bringen.

955. 3. Die folgenden Regeln (4.-9.) beziehen sich auf die geistliche Trostlosigkeit: x) Trostlosigkeit ist Verfinsterung des Geistes oder Neigungen des Willens zu niedrigen und irdischen Dingen, wodurch die Seele traurig und träge wird. 2) Dann soll man nichts an den früher gefassten Vorsätzen ändern, wie es der böse Feind eingibt, sondern fest bei den frÜheren Entscheidungen verharren. 3) Man soll sogar daraus Anlass zu grösserem Eifer nehmen, fÜr das Gebet, die Gewissenserforschung, die Busse mehr Zeit verwenden. 4) Auf göttliche Hilfe vertraüen, die, obgleich nicht fÜhlb.ar, dennoch tatsächlich unseren natÜrlichen Fähigkeiten zur Ubung des Guten verliehen wird. 5) Geduldig ausharren und auf Rückkehr des Trostes hoffen. Sich sagen, die Trokkenheit sei vielleicht eine Strafe fÜr unsere Lauheit. Eine PrÜfung, durch die Gott uns handgreiflich zeigt, wie wenig wir ohne himmlischen Trost vermögen. Eine Lehre, da Gott uns beweist, wie wir uns allein keinen Trost verschaffen können und so unsern Hochmut heilt.

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 671

956. 4. Die elfte Regel kommt auf die Tröstungen zurück.

Sie ermahnt uns, in dieser Zeit Vorräte an Mut und Kraft aufzuspeichern, um später die Zeit der Trostlosigkeit besser zu ertragen. Sie ermahnt uns auch zur Demut in Erkenntnis unseres geringen Vermögens bei Entziehung fühlbaren Trostes und zeigt uns, dass wir auch zur Zeit der inneren Trostlosigkeit viel tun können, wenn wir uns auf Gott stützen.

957. 5. Die letzten drei Regeln (12.-14.) legen die Verftihrungsschliche des Teufels dar, um sie aufzudecken. a) Der Teufel benimmt sich wie ein böses Weib, das beim Widerstande schwach, beim Nachgeben aber leidenschaftlich und grausam ist. Man muss daher dem bösen Geiste mit Unerschrockenheit widerstehen. - b) Er benimmt sich wie ein Verführer, der Geheimhaltung seiner bösen Lockungen verlangt. Das beste Mittel, ihn zu besiegen, ist deshalb, alles dem Beichtvater zu offenbaren. - e) Er macht es wie ein Heerführer, der, zwecks Einnahme der Festung, sie auf ihrer schwächsten Seite angreift. Darum ist es von Bedeutung, bei der Gewissenserforschung diesen schwächsten Punkt besonders zu überwachen.

KURZE ZUSAMMENFASSUNG DES ERSTEN BUCHES.

Das von Anfängern erstrebte Ziel ist die, Reinigung der Seele, damit sie, losgelöst von den Uberbleibsein und Gelegenheiten der Sünde, zur Vereinigung mit Gott gelangen.

958. Um dieses Ziel zu verwirklichen, nehmen sie Zuflucht zum Gebete. Sie erfüllen ihre Pflichten Gott gegenüber und machen ihn dadurch geneigt ihnen ihre früheren Vergehen zu verzeihen. In Vereinigung mit dem menschgewordenen Worte flehen sie voll Vertrauen zu Gott und erlangen Gnaden der Reue und des festen Vorsatzes, wodurch ihre Seele immer mehr gereinigt und gegen zukünftige Rückfälle gewahrt wird. Dieses Ergebnis wird noch sicherer durch die Betrachtung erzielt. Durch langes und tiefes Nachdenken werden unerschÜtterliche Überzeugungen gewonnen. Rückblicke auf uns selbst lassen besser unser Elend und unsere Armseligkeit erkennen. Die alsdann den Tiefen

672

FÜNFTES KAPITEL.

dieses armen Herzens entquillenden innigen Gebete, die gefassten und schon in die Tat umgesetzten Vorsätze, alles das reinigt die Seele, flösst ihr Abscheu vor der Sünde und deren Gelegenheiten ein und macht sie ,:;tark gegen Versuchungen und grosslTlütig in der Ubung der Busse.

959. Denn besser erkennt sie jetzt die Grösse der durch die Sünde Gott zugefügten Beleidigung und die strenge Sühnepflicht. Daher betritt sie mutig die Wege der Busse. In Vereinigung mit J esus, der unsertwillen ein Büsser sein wollte, unterhält sie im Herzen Gesinnungen der Reue, der Verdemütigung, der Scham und wirft sich stets ihre Sünde vor. In diesen Gesinnungen gibt sie sich strengen Busswerken hin, nimmt grossmütig die von Gott gesandten Kreuze und Bestimmungen der Vorsehung an, legt sich einige Entbehrungen auf, spendet Almosen und sühnt so die Vergangenheit.

Um in Zukunft die Sünde zu meiden, übt sie sich in der Abtötung, zügelt nämlich ihre äusseren und inneren Sinne, ihren Verstand und ihr Wollen, mit einem Worte, alle ihre Fähigke~!en, um sie Gott zu unterwerfen und sie nur in Ubereinstimmung mit seinem heiligen Willen zu gebrauchen.

Freilich finden sich in ihr aus den Tiefen aufsteigende, böse Neigungen, die sieben Hauptsünden genannt. Aber gestützt auf die göttliche Gnade, unternimmt sie deren Ausrottung oder wenigstens Schwächung. Tapfer kämpft sie gegen eine jede von ihnen und es kommt einmal der Augenblick, da sie dieselben genügend beherrscht.

Trotzdem erheben sich Versuchungen aus den tiefsten Tiefen der Seele, die zuweilen schrecklich sind und vom bösen Feinde und der Welt verstärkt werden. Jedoch, ohne den Mut zu verlieren, käm pft sie in der Kraft dessen, der die Welt und das Fleisch überwand, von Anfang an und solange es nötig ist, gegen die Anstürme des Feindes. Und

DER KAMPF GEGEN DIE VERSUCHUNGEN. 673 mit der Gnade Gottes werden diese Angriffe meistens Gelegenheiten zu Siegen sein. Geschähe auch einmal ein unglücklicher Fall, so würde die gedemütigte, aber vertrauende Seele sich gleich in die Arme der göttlichen Barmherzigkeit werfen und deren Verzeihung erflehen. Eine auf diese Weise wiedergutgemachte Niederlage wäre für ihren geistlichen Fortschritt kein Hindernis.

960. Immerhin müssen wir hinzufügen, dass die in diesem ersten Buche geschilderten aktiven Reinigungen nicht genügen, um einer Seele vollkommene Reinheit zu schenken. Deshalb wird diese Reinigungsarbei~ während des Erleuchtungsweges durch positive Ubung der sittlichen und theologischen Tugenden fortgesetzt. Sie wird erst auf dem Einigungswege vollendet, wenn die vom hl. ] ohannes v. Kreuz so gut geschilderten passiven Reinigungen der Seele vollkomme;ze Herzensreinheit geben. Letztere ist in der Regel zur Beschauung notwendig. Davon im dritten Buche.

ZWEITES BUCH.

Der Erleuchtungsweg

oder

der Zustand der fortschreitenden Seele.

961. Ist die Seele durch lange und mühsame, der Zahl und Schwere ihrer Vergehen entsprechende Busse von ihr.en früheren SÜnden gereinigt, ist sie ferner durch Ubung der Betrachtung, der Abtötung und des Widerstandes gegen böse Neigungen und Versuchungen in der Tugend gefestigt worden, so betritt sie den Erleuchtungsweg. Es heisst dieser so, weil er durch positive Ubung der christlichen Tugenden, besonders in der Nachfolge Christi, besteht. Christus aber ist das Licht der Welt. Wer ihm folgt, wandelt nicht in der Finsternis. " Qui sequitur 1J1e non ambulat in tenebris, sed habebit lumen vita:. " I

EINLEITUNG 2.

Ehe wir die Tugenden schildern, die die fortschreitenden Seelen üben sollen, sind drei Fragen zunächst zu beantworten: I. FÜr welclle Seelen ist der Erleuchtungsweg? 2. Welcher Gang ist auf diesem Wege zu befolgen? 3. Wie unterscheiden sich die auf diesem Wege wandelndenfrolllmen und eifrigen Seelen?

'loft. VIII, 12.

, PHIL. ASS. TRINITATE, Sumo Theol, myst., P. II. - LIt GAUD1ER, De perfeet. vita! spir" p, IIa, - SCHRAM, 1nstit, myst, , § CIlI. -- A, SAUDRl<:AU, Les degres, t. I. Vie illuminative.

ZWEITES BUCH. - DER ERLEUCHTUNGSWEG. 675

I. Für welche Seelen ist der Erleuchtungsweg? 962. Die hl. Therese schildert die Inhaber der dritten Wohnungen', d. h. der fortschreitenden Seelen, auf folgende \;Veise : "Sie verlangen sehnliehst, die göttliche Majestät nicht zu beleidigen, vermeiden selbst lässliche Sünden, tun gern Busse, sammeln sich zu bestimmten Stunden, benutzen gut ihre Zeit und üben \;Verke der Nächstenliebe. Alles an ihnen ist wohlgeordnet : ihre Vir orte, ihre Kleidung. Besitzen sie ein eigenes Haus, ist alles wohl bestellt. "

Aus dieser Beschreibung kann man folgendes schliessen :

963. 1. Da der Erleuchtungsweg in der Nachfolge Christi besteht, muss man bei dessen Betreten drei Bedingungen erfüllen, vermöge d~.ren man dem göttlichen Meister durch positive Ubung seiner vorbildlichen Tugenden folgen kann.

A) Eine gewisse Reinlteit des Herzens muss schon erworben sein, um ohne zu grosse Kühnheit die gewohnheitsmässige Vereinigung mit dem lieben Heiland, die die Nachahmung seiner Tugenden voraussetzt, anstreben zu können. Solange die Seele noch in Gefahr schwebt, von Zeit zu Zeit in eine TtJdsÜnde zu fallen, muss sie vor allem energisch die Gelegenheiten zur Sünde, die bösen Neigungen der Natur und die Versuchungen bekämpfen. Hat sie diese Schwierigkeiten überwunden, so wird sie sich mit Nutzen der positiven Seite der Tugenden zuwenden. Auch muss sie die freiwillige lässliche Sünde verabscheuen und sich Mühe geben, sie zu meiden_

B) Ausserdem müssen ihre Leidenschaften abgetötet sein. Um J esus zu folgen, gilt es nämlich, nicht

I Chateau, troisiemes dem eures, I. Kap" N, 80,

676

ZWEITES BUCH.

nur der Todsünde, sondern auch der vorsätzlichen lässlichen Sünde zu entsagen, besonders jener, die man oft begeht und zu der man grössere Neigung hat. Durch tapferes Kämpfen gegen die Leidenschaften und Hauptlaster erlang-t man aber jene Selbstbeherrschung, welche die Ubung der positiven Seite der Tugenden und so allmähliche Annäherung an das göttliche Vorbild ermöglicht. Dann erst kann man ein wohlgeordnetes Leben führen, Zeiten innerer Sammlung festsetzen und sich der Erfüllung seiner Standespflichen voll widmen.

964. C) Endlich ist es notwendig, durch die Betrachtung von allen grossen Wahrheiten tz'ef durchdrungen worden zu sein, um beim inneren Gebet den frommen Regungen und dem eigentlichen Beten mehr Zeit widmen zu können. Durch diese Regungen und Gebete zieht man die Heilandstugenden auf sich herab und vermag sie mit leichter Mühe zu üben.

Man erkennt somit die Fortschreitenden an diesen zwei Hauptkennzeichen " I) Es fällt ihnen sehr schwer, das rein-diskursive, innere Gebet zu üben. Auf Einwirkung des Hl. Geistes hin verbinden sie ihre Verstandeserwägungen mit vielen Regungen der Liebe. 2) Sie verlangen sehnliehst und andauernd, sich mit ihrem Herrn und Heiland zu vereinigen, ihn zu erkennen, ihn zu lieben und ihm nachzufolgen.

965. 2. Aus dem Gesagten gehen die Hauptun-. terschiede zwischen den beiden Wegen, dem Rei-. nigungs- und dem Erleuchtungswege hervor.

A) Auf dem einen wie auf dem andern Wege wird das Ziel nur durch Mühe und Kampf erreicht. Aber Anfänger kämpfen gegen die Sünde und deren Ursachen, während Fortschreitende kämpfen, um durch Erwerbung der Tugenden des Heilandes ihre Seele zu schmÜcken. Immerhin besteht kein

Gegensatz zwischen bei den Richtlinien. Der eine Weg führt auf den andern. Loslösung von der Sünde und ihren Ursachen ist schon Tugendübung (auf der ersten Stufe, die vorzugsweise negativ ist). Im übrigen vervollkommnen die auf dem Erleuchtungswege geübten positiven Tugenden die Losschälung von sich selbst und von den Geschöpfen. Auf dem ersten Wege wird die negative Seite, auf dem zweiten die positive mehr betont. Beide ergänzen sich gegenseitig. Man hört also nicht auf, Busse zu tun und sich abzutöten, aber es geschieht, um sich mit J esus zu vereinigen und ihm ähnlicher zu werden.

B) Die wesentlich gleichen Mittel unterscheiden sich in der Art und Weise ihrer Anwendung. Die frühere diskursive Betrachtung wird affektiv. Das gewohnheitsmässig auf Gott gerichtete Denken konzentriert sich mehr auf den Heiland, den man kennen, lieben und dem man nachfolgen will. Er wird in Wahrheit der Mittelpunkt unseres Lebens.

II. Der auf dem Erleuchtungswege zu befolgende Gang.

966. Der Gang ergibt sich aus dem Gesagten.

I. Das unmittelbare Ziel ist Anglez'chung an jesus Christus, so dass er der Mittelpunkt unseres Lebens werde.

A) Wir machen aus ihm den Mittelpunkt unserer Gedanken. Wir durchforschen sein Leben und seine Geheimnisse. Das Evangelium übt neue Anziehungskraft auf uns aus. Wir lesen es bedächtig, in liebender Gesinnung, wir nehmen an den unbedeutendsten Einzelheiten im Leben des Heilandes, besonders aber an seinen Tugenden Anteil. Wir finden darin unerschöpflichen Stoff zum inneren Gebet, betrachten gern über seine Worte, sinnen über jedes einzelne nach und wenden sie auf uns an. Wollen wir eine Tugend üben, so beobachten

DER ERLEUCHTUNGSWEG. 6?7

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. ZWEITES BUCH.

wir sie zunächst in Jesus. Wir erinnern uns an seine Unterweisungen und seine Beispiele und finden darin den mächtigsten Beweggrund, seine Gesinnungen und Tugenden in uns zu erzeugen. Er ist ferner der Mittelpunkt unserer Gedanken bei der hl. Messe und beim Empfange der hl Kommunion. Die liturgischen Gebete sind ein vorzügliches Mittel, ihn immer besser kennen zu lernen. Endlich gibt man sich Mühe, in die Lehre des Heilandes, besonders Über das innere Leben, tiefer einzudringen, J esus in Büchern zu suchen: Jesum qucerens iu libris.

967. B) Diese Kenntnis führt zur Liebe, und J esus wird so der Mittelpunkt unserer Herzensneigungen. a) In der Tat, wie könnte man täglich denjenigen tiefer zu erfassen suchen, der Güte und Schönheit selbst ist, ohne in Liebe zu ihm zu erglühen? " Seit ich J esus Christus erkannte, " sagt Lacordaire, "erschien mir nichts mehr schön genug, um meine Begierlichkeit zu erregen. " I Vvurden die Apostel auf Thabor beim Anblick der verklärten Menschheit des Herrn so von Bewunderung und Liebe hingerissen, dass sie ausriefen: Hier ist es gut sein, bonum est ?tos flic esse" 2, wieviel mehr sind wir von der göttlichen Schönheit entzückt, die von dem auferstandenen Heilande uns entgegenstrahlt?

b) Und wie könnte man ihn nicht lieben, betrachtet man oft die Liebe, die er uns in der Menschwerdung, der Erlösung und in der hl. Eucha .. ristie bewies und zu beweisen nicht aufhört? In einer Strophe von wunderbarer Bündigkeit hat der hl. Thomas die grossen \i\T ohltaten des Erlösers uns gegenüber zusammengefasst:

S q nascens dedit SOCiUlIl, Convescens in eduZium, Se moriens in jJretiu1Jl,

Se reX1Zans dat in jJnP1lliulIl. 3

, CHOCARNE, Vie du P. Lacordaire, t. JI, II9,

2 fi1a!!!,., XVII, 4,- 3 Hymnus der Laudes am hl. Fronleichnamsfeste,

DER ERLEUCHTUNGSWEG. (j79

Am Tage seiner Geburt wird er unser Weggefährte, unser Freund, unser Bruder. Er lässt uns nie allein. Durch die Einsetzung des eucharistischen Geheimnisses wird er unsere Speise. Mit seinem Leibe, seinem Blute, seiner Seele und seiner Gottheit sättigt er unsere nach ihm hungernden und dürstenden Seelen. Durch den Tod am Kreuze entrichtet er das Lösegeld für uns, befreit uns aus der Knechtschaft der Sünde, erstattet uns das Übernatürliche Leben zurück und gibt uns den grössten Beweis der Liebe, den ein Freund dem andern geben kann. Endlich, im Himmel, gibt er sich selbst als Lohn. Wir besitzen ihn die ganze Ewigkeit hindurch und von da an ist unser Glück und seine Herrlichkeit ein und dasselbe. - Daher können wir nie genug seine Güte anerkennen, nie ihn so lieben, wie er es eigentlich verdient._

968. C) Liebe aber fÜhrt zur Nachahmung.

Ebendeshalb, weil man aus Hochschätzung der Tugenden eines Freundes, sich zu diesem hingezogen fühlt, will man selbst zu den nämlichen Tugenden gelangen, um mit ihm ein Herz und eine Seele zu sein. Man versteht sehr wohl, diese Vereinigung könne nur dann tief und innig sein, nimmt man an den Gedanken, Gesinnungen und Tugenden des Freundes teil. Naturgemäss zeichnet man die Züge des geliebten Menschen nach. So wird J esus der Mittelpunkt unserer Handlungen, unseres ganzen Lebens. Beim Gebete ist es der Heiland, der in seinem Geiste der Gottesverehrung den himmlischen Vater in uns verherrlicht und auf wirksame Weise Gnaden erfleht, deren wir bedürfen. Bei der Arbeit vereinigt man sich mit dem göttlichen Arbeiter von N azareth, um gleich ihm zur Ehre Gottes und zum Heile der Seelen tätig zu sein. Bei Anstrebung einer Tugend blickt man auf J esus, das vollkommene Vorbild dieser Tugend. In seiner Kraft bemÜht man sich, sie zu üben. Selbst die Erholu1Zf[

680

ZWEITES BUCH.

soll in Vereinigung mit ihm und in seinem Geiste stattfinden, und zwar um nachher um so besser für die grossen Zwecke Gottes und seiner Kirche arbeiten zu können.

969. 2. Zur Erreichung dieses Zieles sind aber Mittel erforderlich. Sie bestehen, ausseI' im Gebet und der affektiven Betrachtung, im, standhaften Bemühen, die christlichen Tugenden zu üben. Dadurch lernen wir den göttlichen Meister besser kennen und lieben, folge~ ihm mutiger nach. Es handelt sich hier um die Ubung der göttlichen und der sz'ttlichen Tugenden. Gründlz'che Tugend muss angestrebt werden, .. d. h. die nicht auf Stimmung, sondern auf .fester Uberzeugung' beruht.

A) Diese Tugenden werden gleicMaufend geübt, insofern man die sittlichen nicht ohne die göttlichen pflegen kann und umgekehrt. So kann man z. B. ohne Führung durch das Licht des Glaubens, ohne Unterstützung durch die Hoffnung, ohne Aneiferung durch die Liebe zu Gott die chrz'stliche KluglieÜ nicht üben. Ebenso setzen Glaube und Hoffnung die Tugenden Klugheit, Stärke und Mässigkeit voraus. Und so ist es mit allen Tugenden.

I mmerhin gibt es Tugenden, die sich besser diesem oder jenem Stadium des Erleuchtungsweges anpassen. So werden jene, die diesen Weg beginnen, sich gewisser sittlicher Tugenden, die ihnen zur Besiegung der Sinnlichkeit oder des Hochmutes nötiger sind, besonders befleissigen. Sind späterhin diese Laster überwältigt, widme man sich besonders der Übung der göttlichen Tugenden, wodurch man unmittelbar mit Gott vereinigt wird.

970. B) Um diese Lehre fasslicher zu gestalten, ist es notwendig, schon jetzt kurz auf den Unterschied zwischen diesen Tugenden hinzuweisen.

a) Der unmittelbare Gegenstand der gbitlichen (theologischen) Tugenden ist Gott selbst und ihr

DER ERLEUCHTU NGSWEG. 681

Beweggrund eine göttliche Eigenschaft. Durch den Glauben also glaube ich an Gott wegen seiner göttlichen Autorität. Ich liebe ihn durch die Liebe wegen seiner unendlichen Güte. Dadurch verez'm'gen uns diese Tugenden UflJllÜtelbar mit Gott. Durch den Glauben erhalten wir Anteil an Gottes Gedanken, durch die Liebe an Gottes Liebe.

b) Der unmittelbare Gegenstand der sittlichen Tugenden ist ein geschaffenes Gut. Ihr Beweggrund ein ehrsames Gut. So z. B. bezweckt die Gerechtigkeit, jedem zu geben, was ihm gebührt. Ihr Beweggrund ist die Ehrlichkeit. Durch Beseitigung der Hemmnisse, wie Ungerechtigkeit, bereiten diese Tugenden unsere Vereinigung mit Gott vor, ja beginnen sie. Bin ich nämlich gerecht, so vereinige ich mich mit Gott, der die Gerechtigkeit selbst ist.

Jedoch sind es die goltlz'chen Tugenden, die, unmittelbar auf Vereinz'gung hz'nzielend, diese Vereinigung vollenden.

971. C) Daraus ergibt sich, dass der Rangordnung nach die göttlz'chen Tugenden zuerst erforscht werden sollen. Folgt man jedoch, wie wir es hier tun, der psychologischen Ordnung, die vom minder Vollkommenen zum Vollkommeneren aufsteigt, so muss man mit den sittlzdlen Tugenden beginnen. Unsere frÜhere Bemerkung Über die gleichlaufende Übung der christlichen Tugenden darf man jedoch dabei nicht ausser acht lassen.

Il I. Zwei G1'uppen von fortschreitenden 5 eeZen. Auf dem Erleuchtungswege lassen sich mancherlei Gruppen von Seelen unterscheiden, besonders zwei Hauptgruppen, die .frommen und die ei.frz'gen Seelen.

972. 1. Erstere haben guten Willen, streben das Gute an und machen ernste Anstrengungen in Vermeidung absichtlicher SÜnden. Aber sie sind noch

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ZWEITES BUCH.

eitel und vermessen. \iVenig geÜbt in der Selbstverleugnung, fehlt es ihnen an Kraft und Beharrlichkeit, besonders zur Zeit der Prüfungen. Daher allzu häufige Schwankungen in ihrer Lebensführung. Alles zu ertragen bereit, solange die Heimsuchungen noch in der Ferne liegen, klagen sie, sobald Leid und Trockenheit sie befällt. Zu grossmütigen Vorsätzen schnell entschlossen, fÜhren sie doch nur unvollkommen dieselben aus, besonders, wenn unvorhergesehene Schwierigkeiten sich einfinden. Aus diesem Grunde machen sie nur langsame Fortschritte. Es tut ihnen not, die Tugenden des Starkmuts, der Beharrlichkeit und der Demut zu Üben.

973. 2. Die eifrigm Seelen sind demÜtiger und grossmÜtiger. Von Misstrauen gegen sich selbst er'füllt und auf Gott vertrauend, der christlichen Selbstverleugnung bereits gewohnt, zeigen sie mehr Energie und Beharrlichkeit. Dennoch ist ihre Entsagung weder unbedingt noch allgemein, Sie hegen ein grosses Verlangen nach Vollkommenheit, aber ihre Tugend ist noch nicht genÜgend durch PrÜfungen gefestigt. Bieten sich ihnen Trost und Freude, so haschen sie g'ern danach und ruhen wohlgefällig darin aus. Sie haben sich die Kreuzesliebe noch nicht zu eigen gemacht. Die am Morgen gefassten, energischen Vorzätze werden nur teilweise ausgeführt, weil die Beharrlichkeit in den Anstrengungen fehlt. In der Liebe zu Gott sind sie weit genug fortg'eschritten, um gefährlichen Dingen zu entsagen, aber sie hängen noch manchmal zu sehr an dem, was Gott ihnen zu lieben gestattet, an ihren Verwandten und ihren Freunden und auch an den in geistlichen Übungen empfundenen Tröstungen. Sie müssen sich daher noch vollkommener von all den Dingen losmachen, die ihre Vereinigung mit Gott hemmen.

\iVir werden diese zwei Gruppen von Seelen nicht getrennt behandeln. D~r Seelen fÜhrer wähle jedoch

DER ERLEUCHTUNGSWEG.

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unter den Tugenden, die wir hier näher beschreiben, jene aus, die den einzelnen Seelen am besten entsprechen.

EINTEILUNG DES ZWEITEN BUCHES.

974. Da die fortschreitenden Seelen darauf hinzielen, dass Jesus der jJ![ittelpunkt ihres Lebens werde, sollen sie I. sorgfältig das affektive innere Gebet pflegen, um daraus Kenntnis, Liebe und Nachfolge ihres göttlichen Vorbildes zu schöpfen. 2. in besonderer, aber nicht ausschliesslicher Weise jene sittlichen Tugenden Üben, die sie von den ihrer Vereinigung mit Gott entgegenstehenden Hindernissen befreien und so ihre Vereinigung mit dem Vorbilde aller Vollkommenheit einleiten. 3. Dann die Enfaltung der schon auf dem Reinigungswege und gleichlaufend mit den sittlichen Tugenden geÜbten göttlichen Tugenden fördern und aus ihnen den Hauptantrieb ihres Lebens machen. 4. wegen der in Aussicht stehenden erneuten Angriffe des bösen Feindes sich zum Kampfe bereit halten und ihn siegreich bestehen. I. Somit wird das zweite Buch vier Kapitel umfassen:

I. KAP. - DAS DIESEM WEGE EIGENE AFFEK-

TIVE INNERE GEBET.

2. KAP. - DIE SITTLICHEN TUGENDEN.

3. KAP. - DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN.

4. KAP. - DER KAMPF GEGEN DIE ERNEUTEN ANGRIFFE DES BÖSEN FEINDES.

I Beim Erleuchtungswege wird daher weder von der passiven Reinigung der Sinne, noch vom Gebet des Ruhens in Gott die Rede sein, Diese gehören schon dem Einigungswege an, ebendeshalb, weil sie schon ein Anfang der eingegossenen Besehauung sind, Dennoch möge der Leser wissen, dass hervorragende Schriftsteller der Ansicht sind, die ersten passiven Reinigungen und das Ruhen gehörten dem Erleuchtungswege an, VgL P., GARRIGOu-LAGRANGE, Perfret, ehret, et conlemplalion. t. 1., p, VIII.

684

ERSTES KAPITEL.

ERSTES KAPITEL Das affektive innere Gebet '.

975. Die fortschreitenden Seelen setzen die geistlichen Übungen der Anfänger fort (N. 657), erhöhen aber deren Zahl und Dauer und nähern sich so dem schon geschilderten gewohnheitsmässigen Gebete (N. 522), das erst auf dem Einigungs'wege vollständig verwirklicht wird. Sie geben sich vor allem dem, affektiven inneren Gebete hin, das nach und nach bei ihnen die diskursive Betrachtung 'ersetzt. \iVir werden daher darlegen : I. dessen Wesen, 2. dessen Vorzüge, 3. dessen Schwz'erz'gkei-

ten, 4. die Methode, nach der man dieses Gebet üben kann.

I. ABSCHN. WESEN DES AFFEKTIVEN INNEREN GEBETES.

976. L Definition. Das affektive innere Gebet ist, wie das \iV ort es andeutet, ein Gebet, bei dem die .frommen Regunge.n vorherrschen, d. h. die verschiedenartigen Wz'llensakte, wodurch wir Gott unsere Liebe und unser Verlangen, ihn zu verherrlichen, ausdrÜcken. Bei diesem Gebet ist das Herz mehr als der Verstand beteiligt.

Wie wi~, sagten (N. 668), mÜssen An.fänger sich zunächst Uberzeugungen erwerben. Demnach legen sie mehr Nachdruck auf Verstandeserwägungen und gewähren den Affe~~en nur sehr beschränkten Raum. Fassen die Uberzeugungen in der Seele allmählich tiefere Wurzel, so werden sie schnell

, THOM, DE V ALLGORNERA, q. II, disp, VI. mit zahlreichen Zitaten aus dem hl. Thomas, - RODRIGUEZ, p, 1., TL V" De l'oraison. CRASSET, Instr. familieres sur l'oraison, - COURBON, Instr, famil, sur l'oraison, De l'oraison d'affection, - R. DE MAUjl1:IGNY, Oraison ,me1ltale, t. L, P',3, Oraison affective. - D. V.,LEHOPEY, Les Voies de /'o1'aison mentale, 2, T., 8. Kap,

DAS AF~EKTIVE INNERE GEBET. 685

\vach, und so widmet man dani1 den Affekten um so mehr Zeit. Von der Liebe zu Gott und der Schönheit der Tugend hingerissen, erhebt sich die Seele in frommem Aufschwung leichter zum Urheber alle" Guten, um ihn anzubeten, ihn zu preisen, ihm zu danken, ihn zu lieben. Zu J esus Christus, unserm Berrn, ihrem Heiland, Vorbilde, Haupte, Freunde, Bruder, um ihm ihre innigste Liebe darzubringen, Zur allerseligsten Jungfrau, der Mutter J esu und unserer Mutter, der Spenderin aller göttlichen Gnadenerweise, um ihr gegenÜber der kindlichsten, vertrauendsten und grossmütigsten Liebe Ausdruck zu geben (N. 166).

Noch andere Gesinnungen entquellen von selbst dem Herzen, Gesinnungen der Beschämung, der Zerknirschung und Verdemütigung beim Anblicke des eigenen Elendes, glühendes Verlangen, es besser zu machen, vertrauensvolles Gebet um die notwendige Gnade dazu, Regungen des Eifers fÜr Gottes Verherrlichung, die sie veranlassen, für die grossen Anliegen der Kirche und der Seelen zu beten.

977.2. Übergang von der Betrachtung zum affektiven inneren Gebete., Nicht auf einmal g~langt man zu dieser Gebetsweise. Es gibt eine Ubergangszeit, in welcher Erwägungen und Affekte mehr oder weniger vermengt werden. Dann eine andere, wo zwar noch Erwägungen angestellt werden, aber in Form von Zwiegesprächen: " Hilf mir, o mein Gott, die Notwendigkeit jener Tugend recht einzusehen!" Darauf denkt man einige Mi~ nuten nach und fährt dann fort: " Dank sei dir, o Gott) fÜr deine göttlichen Erleuchtungen. Lass in deiner GÜte diese Überzeugungen immer tiefer in meine Seele dringen, um meine Lebensführung wirksamer zu beeinflussen ... Hilf mir, ich bitte dich, einzusehen, wie weit ich noch von jener Tugend entfernt bin ... was ich tun muss, um sie besser zu üben ... schon heute." Endlich kommt der Zeit-

688

ERSTES KAPITEL.

e) Die Haupttugenden, wie z, B, die Verehrung Gottes, der Gehorsam gegen die Oberen, die Demut, der Starkmut, die Mässigung und besonders die drei göttlichen Tugenden sollen nicht ihrem abstrakten Wesen nach erwogen, sondern als von Jesus selbst geÜbt Gegenstand der Betrachtung sein. Um ihm ähnlich ZU werden und ihm Liebe zu beweisen, versuche man sie zu Üben,

f) Man höre nie auf, Über Busse, Abtötung, SÜnde und die letzten Dinge zu betrachten, aber es geschehe auf andere \Veise als auf die der Anfänger. So schaue man auf J esus als vollkommenes Vorbild der Busse und Abtötung, wie er, mit unseren SÜnden beladen, sie durch ein langes Martyrium sÜhnt, und man bemÜhe sich, ihn mit allen diesen Tugenden in sich zu ziehen. Betrachtet man Über Tod, Himmel und Hölle, so geschehe es, um sich zwecks inniger Vereinigung mit J esus von den geschaffenen Dingen loszulösen und sich dadurch die Gnade eines guten Todes und einen schönen Platz im Himmel, nahe bei J esus, zu sichern.

2. ABSCHN. VORTEILE DES AFFEKTIVEN INNEREN GEBETES.

Diese Vorteile gehen aus dem Wesen selbst dieses Gebetes hervor.

981. 1. Der Hauptgewinn dieser Gebetsweise besteht in z'nnz'gerer und gewolmheitsmässz'gerer Vereinz'gung mit Gott. Die Vermehnmg der Affekte erzeugt Zunahme an Liebe zu Gott in uns. Somit sind sie vVz'rkung und Ursache. Sie entspringen der Liebe zu Gott, vervollkommnen diese aber auch, weil durch Wiederholung derselben Akte die Tugenden wachsen. - Ebendadurch erhöhen sie unsere Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheiten. Denn, wie der hl. Bonaventura I bemerkt, " besteht die beste vVeise, Gott zu erkennen, in dem Verkosten der SÜssigkeit seiner Liebe. Diese Art der Erkenntnis ist viel erhabener, edler, viel genussreicher als das Suchen nach Gott durch VernunftgrÜnde. " Wie

, Sent. I. III, dis!. 35, a, I., q, 2, " Optimus enim modus cognoscendi Deum est experimentum dulcedinis; multo enim excellentior et nobilior et delectabilior est quam per argumenlUm inquisitionis, ..

DAS AFFEKTIVE INNERE GEBET. 689

man nämlich die Vorzüglichkeit eines Baumes durch Verkosten seiner Frucht richtiger beurteilt, ebenso schätzt man die Vortrefflichkeit der göttlichen Eigenschaften höher, hat man erst die SÜssigkeit der Liebe Gottes erfahren. Ihrerseits steigert diese Erkenntnis unsere Liebe, unsern Eifer und gibt uns den eigentlichen Schwung, alle Tugenden vollkommener zu üben.

982. 2. Durch Vermehrung der Liebe vervollkommnet das affektive innere Gebet alle aus ihr hervorgehenden Tugenden: a) Gleicfiförmz'gkeit mit dem Willen Gottes. Man findet sein GlÜck darin, den Willen des Geliebten zu tun. b) Verlangen nach Verherrlichung Gottes und dem Heil der Seelen. Wo Liebe herrscht, kann man nicht umhin, den Gegenstand der Liebe zu preisen und preisen zu lassen. c) Lz'ebe zum stz'llschwez'gen und zur Sammlung. Man will mit dem Geliebten allein sein, um öfter an ihn zu denken und ihm von Liebe zu sprechen. d) Sehnsucht nach häufiger Kommunion. Den Gegenstand seiner Liebe wÜnscht man möglichst vollkommen zu besitzen. Man ist beglückt, darf man ihn ins Herz aufnehmen und den ganzen Tag über mit ihm vereint bleiben. e) Opfergez·st. Innige Vereinigung mit dem gekreuzigten Heiland und, durch ihn, mit Gott kann ja nur in dem Masse geschehen, als man sich selbst und seiner Bequemlichkeit entsagt, um ohne Straucheln das Kreuz zu tragen und alle von der Vorsehung gesandten Prüfungen anzunehmen.

983. 3. Im affektiven Gebet geniesst man auch oft geistlichen Trost. Gibt es ja doch keine reinere und sÜssere Freude als die aus dem Verkehr mit einem Freunde erblÜhende. Bei Jesus aber, dem zärtlichsten und hochherzigsten aller Freunde, verkostet man gewissermassen die Freuden des Himmels: Esse cum Jesu dulcis paradisus. Freilich treten neben den Freuden auch manchmal Trok-

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ERSTES KAPITEL.

kenheit oder andere Prüfungen auf. Sie werden aber in sanfter Ergebung angenommen. Immer wieder versichert man Gott, ihn trotz allem lieben und ihm dienen zu wollen. Das Bewusstsein, fÜr Gott zu leiden, ist schon Linderung, ist schon Trost im Leiden.

Man kann wohl hinzufügen, das affektive innere Gebet sei weniger mÜhsam als das diskursive. Bei letzterem wird man bald müde,Schlussfolgerungen zu ziehen, während der ungehinderte Herzenserguss in GefÜhlen der Liebe, der Dankbarkeit und der Lobpreisungen sanfte Ruhe in der Seele verbreitet, so dass sie für die Zeit der Tat Kräfte aufspeichern kann.

984. 4. Durch Vereinfachung des affektiven inneren Gebetes, d. h. durch Verminderung der Zahl und Verschiedenartigkeit der Affekte und durch Verstärkung einzelner aus ihnen, wird man nach und nach zum ein.fachen z'nneren Gebet geführt werden. Dieses ist schon erworbene Beschauung, und so bereitet das affektive Gebet die verliehene oder eigentliche Beschauung in den dazu berufenen Seelen vor. Davon werden wir beim Einz'gungswege

sprechen.

3, ABSCHN. NACHTEILE UND GEFAHREN DES AFFEKTIVEN INNEREN GEBETES.

Den besten Dingen haften Nachteile und Gefahren an. So ist es auch beim affektiven inneren Gebet. Es kann zu Missbräuchen führen, wird es nicht mit weiser Vorsicht geÜbt. Wir wollen die hauptsächlichsten Missbräuche und deren Gegenmittel hier angeben,

985. 1. Der erste ist Überanstrengung, die Folge davon: Ermüdung und Erschöpfung. Es gibt nämlich Menschen, die, im Bestreben, ihre Affekte zu verstärken, Kopf und Herz überanstrengen, sich erfolglos abmühen, mit aller Gewalt zur Erzeugung

DAS AFFEKTIVE INNERE GEBET. 691

von Akten, von Liebesausbrüchen sich anfeuern, bei denen jedoch mehr die Natur als die Gnade beteiligt ist. Unter solchen Kraftanstrengungen ermÜdet das Nervensystem, steigt das Blut zu Kopf, verzehrt eine Art langsames Fieber die Kräfte, und bald stellt sich Erschöpfung ein. Es können sogar physiologische Störungen daraus entstehen und den frommen Gefühlen sich mehr oder weniger sinnliche Empfindungen beimengen.

986. Das ist ein schwerer FeMel' und es gilt, ihm yon Anfang an zu steuern. Man folge deshalb den Weisungen eines klugen SeelenfÜhrers, dem man diesen Zustand offenbaren soll. Das Heilmittel aber besteht in der festen Überzeugung, die wahre Liebe zu Gott grÜnde sich viel mehr auf das Wollen als auf das Fültlen ,. die Grossmut dieser Liebe bestehe nicht im gewaltsamen Aufschwung I, sondern im ruhigen und festen Beschluss, Gott nichts zu verweigern. Vergessen wir nicht: Liebe ist ein vVillensakt. Freilich springt er oft auf das GefÜhlsleben über und erzeugt dort mehr oder minder starke GemÜtserregungen. In diesen jedoch besteht,nicht die wahre Andacht. Es sind nur begleitende Ausserungen, die dem Willen untergeordnet und von ihm gemässigt werden mÜssen. Geschieht es nicht, so gewinnen sie die Oberhand - es tritt Unordnung ein - und, an statt die echte Frömmigkeit zu fördern, lassen sie diese in fühlbare und manchmal sinnliche Liebe ausarten. Im Grunde genommen nämlich, sind alle heftigen Erregungen der gleichen Art. Leicht geht man von der einen zur andern Über. Man strebe also danach, die Affekte zu vergeistz'gen, sie zu beruhigen und in den Dienst des Willens zu stellen. Dann geniesst man den Frieden,

I Wohl gibt es Heilige, deren Liebe zuweilen einen solchen Aufschwung nahm, dass sie sich äusserlich sinnlich wahrnehmbar kundgab. Aber nicht sie selbst bewirkten es, sondern die Gnade Gottes. Es wäre daher Vermessenheit, wollte man, unter dem Vorwande, die Heiligen nachzuahmen, in sich solch gewaltsame Erregungen hervorrufen.

692

ERSTES KAPITEL.

der alle Begriffe übersteigt: " Pax Dez' qua: exsuperat omnem sensum. " I '

987. 2, Der zweite Fehler ist Stolz und Vermes'senheit. Weil man von guten und edlen Gesinnungen, heiligem Verlangen und schönen Plänen bezÜglich des geistlichen Fortschrittes getragen wird, ferner, weil man fühlbaren Eifer verspürt und zu solcher Zeit die Freuden, Güter und Eitelkeiten der Welt verachtet; hält man sich leicht fÜr fortgeschrittener als man es tatsächlich ist. Ja, man fragt sich sogar, ob man vielleicht nicht schon ganz nahe dem Gipfel der Vollkommenheit und der Beschauung sei. Manchmal sogar hält man während des Gebetes den Atem an, um Gott sprechen zu hören. Derartige Gesinnungen beweisen im Gegenteil sehr klar, dass man von den Höhen der Vollkommenheit noch sehr weit entfernt ist. Die Heiligen, die Eifrigen misstrauen sich selbst, halten sich stets fÜr die geringsten, sind immer bereit, die anderen sich selbst vorzuziehen. Da heisst es also, zur Übung der Demut, des Misstrauens gegen sich selbst zurÜckkehren, doch berÜcksichtige man, ,~as wir später von dieser Tugend sagen werden. Ubrigens, wenn sich solche Gesinnungen des Stolzes entwickeln,sorgt Gott oft selbst dafür, dass die Seelen zur richtigen Abschätzung ihrer Geringwertigkeit und Unfähigkeit zurückkehren. Er entzieht ihnen die Tröstungen und besonderen Gnaden. Sie begreifen dann, wie weit sie noch von dem erstrebten Ziele entfernt sind.

988. 3. Es gibt auch solche, deren ganze Andacht im Anstreben geistlz"cher Tro'stungen liegt. Dabei vernachlässigen sie ihre Standes pflichten und die Pflege der gewöhnlichen Tugenden. Sie bilden sich ein, vollkommen zu sein, wenn sie nur schöne Betrachtungen halten. - Das ist eine grosse Täuschung. Ohne Gleichförmigkeit mit dem gött-

, ~Izil, IV, 7,

DAS AFFEKTIVE INNERE GEBET. 693

lichen Willen gibt es keine Vollkommenheit. Der Wille Gottes aber verlangt, dass wir, ausser den Geboten, unsere Standes pflichten treu erfüllen und die kleinen Tugenden der Bescheidenheit, Sanftmut, Herablassung und der Liebenswürdigkeit ebensogut wie die grossen üben. Sich einbilden, ein Heiliger zu sein, weil man das Gebet und besonders dessen Tröstungen liebt, heisst vergessen, dass nur der vollkommen ist, der den Willen Gottes tut. i, Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Himmelreich eingehen, sondern wer den \t\Tillen meines Vaters tut. " I

Versteht man es aber, die Hindernisse und Gefahren durch die angegebenen Mittel zu beseitigen, so bleibt bestehen, dass das affektive innere Gebet unserem geistlichen Fortschritte wie auch dem apostolischen Eifer zu grossem Nutzen gereicht.

Untersuchen wir nun die Methoden, die uns zu dessen besserer Pflege verhelfen.

4, ABSCHN. METHODEN DES AFFEKTIVEN INNEREN GEBETES,

Diese Methoden lassen sich auf zwei Haupttypen zurückführen, auf die des hl. 19natius und die von saint-sulpice.

I. Dz'e Met/lOden des hl. 19tzatz'us. 2

Von den ignatianischen Methoden beziehen sich drei auf das affektive innere Leben : 1. die Beschauung/ 2, die Anwendung der sz'nne/ 3. die zweite Wez'se zu beten.

I. DIE IGNATIANISCHE BESCHAUUNG.

989. Hier handelt es sich nicht um die Beschauung 'm JIO'heren Sinne, nicht einmal um die erworbene, sondern um eine Wez'se des inneren Gebetes. Einen Gegenstand beschauen, heisst nicht,

, Matth. VII, 21.

2 S, IGNACE, Exercices spirit, 2, Sem. - R. MAUMIGNY, Pratique de 1'01', mentale, t. I. V. P<trtie,

69±

ERSTES KAPITEL.

ihn vorÜbergehend ansehen, sondern in Ruhe und aus .freier Wahl dabei verweilen, bis man ganz befriedigt ist. Heisst, ihn mit Bewunderung, mit Liebe betrachten, wie eine Mutter sich in den Anblick ihres Kindes versenkt. Eine solche Beschauung kann sich auf die Geheimnisse aus dem Leben des Heilandes oder auf die Eigenschaften Gottes beziehen.

Bei der Betrachtung eines Geheimnisses stellt man sich I) die in dem. Geheimnisse auftretenden Personen vor, z. B. die Allerheiligste Dreifaltigkeit, den lieben Heiland, die allerseligste J lIIlgfrau oder andere Personen. Man sieht ihr Ausseres und Inneres. 2) Ho'rt man zllre vVorte, fragt sich, an wen sie gerichtet werden und was sie ausdrÜcken. 3) Erwägt man die Handlungen, deren Art und Umstände. Alles zwecks besserer ErfÜllung der Pflichten gegen Gott, gegen den Heiland, die liebe Gottesmutter, ebenso um J esus besser kennenzulernen und ihn inniger zu lieben.

990. Soll eine solche Beschauung fruchtbringender sein, so muss man das betreffende Geheimnis nicht als vergangenes Ereignis, sondern als gegenwärtiges betrachten, das sich wirklich vor unseren Augen abspielt. Es besteht ja wegen der daran geknÜpften Gnade auch tatsächlich weiter. Ausserdem wohnt man ihm nicht als blosser Zuschauer bei, sondern man ni1llmt tätigen Anteil daran, z. B. durch Vereinigung der Gesinnungen mit denen der allerseligsten Jungfrau im Augenblicke der Geburt des göttlichen Kindes. Man strebt auch ein jJraktisches Ergebnis an, z. B. tiefere Erkenntnis J eSll, grossmÜtigere Liebe zu ihm.

In diesen Rahmen lassen sich, wie man sieht, leicht alle GefÜhle von Bewunderung, Anbetung, Dankbarkeit und Liebe zu Gott einfÜgen, wie auch Gesinnungen der Reue beim Anblick unserer SÜnden, endlich alle Gebete, die wir fÜr uns oder andere verrichten wollen.

Damit die Menge der Affekte dem Frieden lind der Ruhe der Seele nicht Eintrag tue, beherzige man die so weise Bemerkung des hl. Ignatius' : " Finde ich bei einem Punkte,

, Exere. spirit. T, 2. Annot., 4, addit. - DURAND, Mldit. ef iectuns tour une retraite de 80u Iojours, S, 256-259.

DAS AFFEKTIVE INNERE GEBET. 695

was ich suchte, so werde ich dabei verweilen und ruhen und mich nicht um das Weitere kÜmmern, bis meine Seele ganz befriedigt ist, Denn nicht die FÜlle von Gedanken sättigt die Seele und befriedigt sie, sondern das innere Verkosten der \\Tahrheiten, die sie betrachtet."

2. ANWENDUNG DER FÜNF SINNE.

991. Mit diesem Namen bezeichnet man eine sehr einfache und sehr innige Gebetsweise. Sie besteht darin, dass man die fÜnf Sinne der PIlalltasie oder des Geistes auf irgend ein Geheimnis aus dem Leben des Heilandes richtet, damit alle Umstände dieses Geheimnisses tiefer in die Seele eindringen und das Herz zu frommen Gesinnungen und guten EntschlÜssen angeregt werde.

Als Beispiel diene das Geheimnis der Geburt Christi,

I) Anwendung des Gesiclttes,' Ich sehe das Kindlein in der Krippe, das Stroh, auf dem es liegt, die \\Tindeln, in die es eingehÜllt ist... Ich erblicke seine vor Kälte zitternden Händchen, seine tränenerftillten Äuglein... Das ist mein Gott. In lebendigem Glauben bete ich ihn an, - Ich sehe die allerseligste Jungfrau ... welche Bescheidenheit! Welch himmlische Schönheit 1. .. Ich beobachte, wie sie das J esuskind in ihre Arme nimmt, es einhÜllt, an ihr Herz drÜckt und es auf das Stroh niederlegt: Es ist ihr Sohn und ihr Gott! Ich bete diesen Gott an, versunken in tiefste Bewunderung". Ich denke an die h1. Kommunion ... es ist der gleiche J esus, den ich empfange ... Ist derselbe Glaube, dieselbe Liebe in mir?

2) Amvendu7Zg des Gehijrs,' Ich höre das WIilJmern des göttlichen Kindes .. , seine durch das Leiden ihm entrissenen Seufzer. .. es friert, es leidet.., besonders wegen des Undankes der Menschen, .. Ich höre die \\Torte, die sein Herz zum Herzen seiner heiligen Mutter spricht, ferner, deren Antwort \'011 des Glaubens, der Anbetung, der Demut, der Liebe, .. und ich vereinige mich mit ihren Gesinnungen ...

3) Anwendung des Geruches,' Ich atme den Wohlgeruch der in der Krippe geÜbten Tugenden, den Wohlgeruch J esu Christi und ich erflehe von meinem Erlöser den geistlichen Sinn, um den \\Tohlgeruch seiner Demut einatmen zu können",

4) Amvmdu7Zi( des Gescllmackes,' Ich verkoste das GlÜck, mit J esus, lVlaria und J oseph zu weilen, die Wonne, sie zu

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ERSTES KAPITEL.

lieben und, um einen noch grösseren Genuss zu haben, werde ich mich in die allernächste Nähe meines Erlösers begeben, ..

5) Anwendung des GefÜhls: Mit meinen Händen berühre ich ehrfurchtsvoll die Krippe und das Stroh, auf dem mein Erlöser ruht. .. ich küsse sie in Liebe ... und wenn das göttliche Kind es mir gestattet, küsse ich seine heiligen Füsse, I

Zum Schlusse hält man ein frommes Zwiegespräch mit Jesus, mit seiner heiligen Mutter und bittet um die Gnade, den göttlichen Erlöser immer grossmÜtiger zu lieben.

992. Die Betrachtung über die göttlichen Ez'genschaften geschieht durch Erwägungen über jede einzelne derselben in Gesinnungen der Anbetung,des Lobes und der Liebe, worauf dann abschliessend die gänzliche Hingabe seiner selbst an Gott folgt. 2

3. DIE ZWEITE WEISE zu BETEN.

993. Diese zweite Weise zu beten besteht im langsamen Durchnehmen eines mündlichen Gebetes, wie z. B. des Vaterunsers, englischen Grusses, des Salve Regz'na u. s. w., wobei man die Bedeutung eines jeden Wortes erwägt und verkostet.

So kann man z. B. beim Vaterunser das erste Wort erwägen und sagen : 0 mein Gott, du, der Ewige, der Allmächtige, der Schöpfer aller Dinge. Du hast mich als Kind angenommen, bist mein Vater. Du bist es, denn du hast mir in der Taufe Anteil an deinem göttlichen Leben verliehen und vermehrst es täglich in meiner Seele ... Du bist es, weil du mich liebst, wie nie ein Vater, eine Mutter ihr Kind geliebt haben ... denn du bist für mich von Vaterliebe und Vatersorge erfüllt.., " 3

Bei diesem ersten Worte verweile man, solange man in ihm Bedeutungen und Gefühle findet, die in der Seele Licht, Kraft oder Tro5t verbreiten. Bieten zwei Wörter oder eines schon genügenden Stoff für die Zeit der Betrachtung, so sorge man sich nicht, weiter zu gehen. Man verkoste diese

I Der hl. Ignatius wagt es nicht, so weit zu gehen, Andere Heilige haben es getan und man kann sie hierin nachahmen, treibt die Gnade

dazu an. ~

2 Siehe die letzte Contemplatio des hl. Ignatius, Ex. Spirit. ,+ Woche. 3 A, DURAND, op, cit, S. 458-459,- R. DE MAUMIGNY, /, c" VI. Kap.

DAS AFFEKTIVE INNERE GEBET. 687

Vlorte, ziehe eine praktische Folgerung daraus und bitte um die Gnade, ihr treu zu sein,

Auf diese drei einfachen und leichten Weisen kann man das innere affektive Gebet üben.

Ir. Dz'e Met/zode von Saint-suljn·ce.

Wie bereits N. 701 bemerkt, ist diese Methode Herzensgebet. Fortgeschrittene Seelen können sich daher unter Beachtung folgender Anmerkung derselben bedienen :

994. I. Der erste Punkt, Anbetung-, der für Anfänger ziemlich kurz war, dauert immer länger und nimmt für sich allein zuweilen mehr als die Hälfte der Gebetszeit in Anspruch, Die von der Liebe zu Gott erfasste Seele ergeht sich in Bewunderung, Lob, Preis und Dank bald gegen die drei göttlichen Personen, bald gegen jede einzelne im besondern, bald gegen den lieben Heiland, das vollendete Vorbild der angestrebten Tugend, Je nach den Umständen bringt sie auch der lieben Gottesmutter und den Heiligen Huldigungen der Verehrung, Dankbarkeit und Liebe dar. Dabei fÜhlt sie sich zur Nachahmung von deren Tugenden hingezogen,

995. 2, Der zweite Punkt, Verez'nz'gung-, wird auch fast vollständig affektiv. Die wenigen angestellten Erwäg-ungen sind sehr kurz und vollziehen sich in Form von Zwiegespräclten mit Gott oder dem göttlichen Heilande:" Hilf mir, 0 mein Gott, mich mehr und mehr zu überzeugen ... " 1m Geleite und im Gefolge dieser finden sich Ergüsse der Dankbarkeit für die erhaltenen Erleuchtungen, sehnliches Verlangen, die betrachtete Tugend zu üben. Die Selbsterforschung über diese Tugend geschieht unter den Augen des Heilandes und durch Vergleich mit diesem göttlichen Vorbilde. Das Ergebnis davon : Durch den Gegensatz zwischen ihm und uns, erkennt man die eigenen Fehler und

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ERSTES KAPITEL.

das eigene Elend besser. Dann fassen Demut und Beschämung tiefere \Nurzel im Herzen, es wächst das Gottvertrauen, weil man vor dem göttlichen Seelenarzte steht. UnwillkÜrlich schreit das Herz auf: " Herr, siehe, der, den du lieb hast, ist krank. " "Ecce quem amas injirmatur!" I Daher innige Gebete um die Gnade zur Erlangung dieser oder jener Tugend, nicht nur fÜr sich, sondern auch fÜr andere, fÜr die ganze Kirche. Vertrauensvolle Gebete, weil durch unsere Einverleibung in Christus diese Gebete von ihm unterstÜtzt werden.

996. 3. Auch die Mitwirkung, als dritter Punkt, wird mehr Herzenssache. Der gefasste Vorsatz wird J esus unterbreitet, um von ihm gebilligt zu werden. Er soll zwecks vollkommenerer Angleichung an den göttlichen Meister ausgefÜhrt werden. Gegen sich selbst Misstrauen hegend, zählt man dabei auf göttliches Mitwirken. Dieser Vorsatz findet in einem geistlichen Blumenstrauss, einer im Laufe des Tages oft wiederholten frommen Anrufung, seinen Ausdruck. Die letztere hilft uns nicht nur den Vorsatz ausfÜhren, sondern auch in Liebe dessen gedenken, der ihn uns eingab.

997. Es gibt jedoch Fälle, in denen die in Trockenheit befindliche Seele nur mit grosser Mühe solche Affekte hervorbringt. In sanfter Hingabe an den Willen Gottes beteure sie dann ihren Entschluss, Gott zu lieben, ihm treu zu bleiben, sich um jeden Preis in seiner Gegenwart und in seinem Dienste zu halten. Sie erkenne demütig ihre Unwürdigkeit und Unfähigkeit, vereinige sich mit dem Willen des Heilandes, bringe Gott dessen Huldigungen dar und füge die eigenen Leiden hinzu, nicht mehr zur Ehre der göttlichen Majestät tun zu können. Solche Willensakte sind noch verdienstlicher als fromme Affekte.

Das sind die hauptsächlichsten Methoden des affektiven inneren Gebetes. Jeder wähle die ihm am meisten zusagende und, den Anregungen der

'loh,. XI. +

ZWEITES KAPITEL.

Gnade folgend, entnehme er ihr, was sich gerade auf die Bedürfnisse und Übernatürlichen Neigungen seiner Seele bezieht. Auf diese Weise wird er in der Tugendübung Fortschritte machen.

ZWEITES KAPITEL.

Die sittlichen Tugenden. I

Ehe wir die einzelnen beschreiben, müssen wir kurz an die theologischen Begriffe bezüglich der eingegossenen Tugenden erinnern.

VORBEGRIFFE VON EINGEGOSSENEr.!

TUGENDEN.

Wir sprechen zunächst über die eingegossenen Tugenden im allgemeinen. Dann über die sittlichen Tugenden im besondern.

1. Die eingegossenen Tugenden im allgemeinen. 2 998. Es gibt natürlz'che Tugenden, d. h, gute, durch häufige Wiederh<?~ung von Akten erworbene Gewohnheiten, die die Ubung des ehrbaren Guten erleichtern. So können die Ungläubigen und Heiden mit dem natÜrlichen Beistande Gottes die sittlichen Tugenden der Klugheit, Gerechtigkeit, Stärke und

's. THOMAs, Ia IIre, q, 55-67, lIa Ilre, q, 48-17°, - SUAREZ, Disput, metaphys., XLIV, de passionibus et habitibus, De jide eie, ]OANNES A S, THOMA, Cm-sus theol" TI', de passiolliblts, habitibus et virtutibus, eie, - ALVAREZ DE PAZ, t. II, lib, !II, de adeptione virlulum, - PHIL. ASS. TRINIT., P. II, Ir. II, dis, 1,11. - p, RODRIGUEZ, Pofeetion clmftienne, verseh, Abhandlungen, - BI. FRANZ V. SALES, Philollzea, passim, - ],-J, OLlER, lntrod, a la vie et aux vertus chrtt. _ MG1{ GAY, De la vie et des vertus clmft, , Ir. VI, VII, XX, X, XI. RIBET, Les vertus et les dons, - p, DE SMEDT, Notre vie su,.,wtltrelle, t,l1.

2 S, THOMAS, l' Ure, q. 62-63, - SUAREZ, De passioJ1ibus et Iza/litibus, diss, 1I1. - J. A S, THOMA, op, cit., disp, XVI. - L. BILLOT, De virt, infusis, - p, JANVIER, Ca,hne 1906, - p, GARRIGOu,LAGRANGE, Pe,! cluB, et contemplation, S, 62-75,

699

700

ZWEITES KAPITEL.

Mässigkeit erwerben und sich darin vervollkommnen. Von diesen Tugenden sprechen wir aber hier nicht, sondern von den übernatürlichen oder eingegossenen, so wie wir sie bei den Christen finden.

999. In den Zustand der Übernatur erhoben, haben wir kein geringeres Ziel vor Augen als die beseligende Anschauung Gottes. Deshalb müssen wir nach diesem Ziele streben durch Akte, die von übernatürlichen Grundsätzen und Beweggründen getragen werden. Ziel und Akte, die zu ihm führen, müssen nämlich im Verhältnis zueinander stehen. So müssen also die Tugenden, die man in der Welt natürliche nennt, von uns in übernatürlicher Weise geübt werden. Wie mit Recht P. GarrigouLagrange I bemerkt, sind nach der Lehre des h1. Thomas" die christlichen, sittlichen Tugenden eingegossen und in ihrem formalen Gegenstande wesentlich verschieden von den höchsten erworbenen sittlichen Tugenden, welche die grössten Philosophen beschreiben ... Es ist ein unendlicher Abstand zwischen der nur von der reinen Vernunft geregelten, aristotelischen Mässigkeit und der auf dem Glauben an Gott und auf übernatürlicher Klugheit beruhenden christlichen Mässigkeit. "

Da wir bereits (N. I2I-I22) darlegten, wie diese Tugenden uns durch den in uns lebenden H1. Geist mitgeteilt werden, bleibt uns nur noch zu beschreiben übrig r. ihr Wesen, 2. ihr Wachstum, 3. ihre Scltwächung; 4. die zwischen ihnen bestehende Verbindung, 5. die Ordnung', in der wir sie besprechen.

I. WESEN DER EINGEGOSSENEN TUGENDEN.

1000. A) Unter eingegossener Tugend versteht man ein Tätigkeitsprinzip, das Gott als übernatürliche Fähigkeit in die menschlicfle Seele legt, um uns

, Op. eil .• p. 64.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 701

dadurch die Möglichkeit zu verdienstlichen Akten zu verleihen.

Es besteht demnach unter dreifachem Gesichtspunkt ein wesentlicher Unterschied zwischen eingegossenen und erworbenen Tugenden, nämlich in bezug auf Ursprung, Art der Ubung und in bezug auf das Ziel.

a) Was den Ursprung angeht, so werden die natÜrlichen Tugenden durch Wiederholung derselben Akte erworben. Die ÜbernatÜrlichen verleiht Gott gleichzeitig mit der heiligmachenden Gnade unserer Seele.

b) Da in ihrer Übunl{ die natürlichen Tug'enden durch Wiederholung derselben Akte erworben werden, verleihen sie uns die Leiclztigkeit, schnell und freudig ähnliche Akte zu setzen. Die von Gott in unsere Seele gelegten übernatÜrlichen Tugenden geben uns nur die Möglichkeit, verdienstliche Akte hervorzubringen, samt einer gewissen Neigung, dies zu tun. Die Leichtigkeit stellt sich erst später, nämlich nach häufigem Setzen der Akte, ein.

e) Betreffs des Zieles verfolgen die natürlichen Tugenden das ehrbare Gute und richten unsere Blicke auf Gott, den Schöpfer, hin, während die eingegossenen Tugenden das übernatÜrliche Gute im Aug-e haben und uns zum Gott der Dreifaltigkeit führen, so wie ihn uns der Glaube kennen lehrt. Daher mÜssen die BeweggrÜnde zur Ubung dieser Tugenden Übernatürlich sein .. Ihr Ausgangspunkt ist die Freundschaft mit Gott. Ich Übe Klugheit, Gerechtigkeit, Mässigkeit und Starkmut, um mit Gott im Einklang zu sein.

1001. Daraus ergibt sich, dass die Akte dieser übernatürlichen Tugenden viel vollkommener als die der erworbenen sind. I Es bewirkt beispielsweise unsere Mässigkeit nicht nur die zur Bewahrung der Menschenwürde notwendige Masshaltung, sondern auch positive Abtötungen, wodurch wir uns mehr dem göttlichen Meister angleichen. Vermöge unserer Demut vermeiden wir nicht nur die der Schicklichkeit entgegengesetzten Auswüchse des Stolzes und Zornes, sondern nehmen auch die Verdemütigungen

'Sum. theol., Ila IIre, q. 63, n. 4- - H. NOBLE, Vie spirituelle, Nov. 1921, S. I03-104·

702

ZWEITES KAPITEL.

an, die uns unserem göttlichen Vorbilde ähnlicher machen.

Es ist infolgedessen ein wesentlicher Unterschied zwischen erworbenen und eingegossenen Tugenden vorhanden : Grundlage und formaler Beweggrund sind nicht die gleichen.

1002. B) Die Leichtigkeit in der Übung der eingegossenen Tugenden wird durch Wiederholung derselben Akte erworben, sagten wir. Durch sie nämlich vollzieht man schneller, leichter und lieber (promptius, facilius, delectabilius) den Akt. Zu diesem glÜcklichen Ergebnisse tragen drei Hauptursachen bei :

a) Gewohnheit vermindert die Hindernisse oder Widerstände der verdorbenen Natur, und so erzielt man mit gleicher Anstrengung bessere Erfolge. b) Sie verleiht unseren fähigkeiten Schmie;;sa71lkeit, vervollkommnet sie durch Ubung, bewirkt, dass sie die uns zum Guten antreibenden Beweggründe schneller erfassen und macht sie geeigneter zur Verwirklichung des erkannten Guten. Wir empfinden sogar eine gewisse Lust, diese schmiegsamen FähigkeiteIl auf die Probe zu stellen, ähnlich dem Virtuosen, dessen Finger gern Über die Tasten einer vorzÜglichen Klaviatur fahren. c) Endlich wird uns unsere Aufgabe durch die wirkliche Gnade (gratia actualis) auf besondere Weise erleichtert und lieber gemacht, und diese Gnade wird uns mit um so grösserer Freigebigkeit aufgedrungen, je treuer wir ihr entsprechen.

Beiläufig sei bemerkt, diese einmal erworbene Leichtigkeit gehe nicht gleich verloren, sobald man durch eine Todsünde das Unglück hatte, die eingegossene Tugend zu verlieren : Da die Leichtigkeit das Ergebnis häufig wiederholter Akte ist, dauert sie kraft der psychologischen Gesetze bezüglich erworbener Gewohnheiten einige Zeit an.

2. \VACHSTUl\I DER EINGEGOSSENEN TUGENDEN.

1003. A) Die eingegossenen Tugenden können in unserer Seele wachsen. Dieses geschieht auch tatsächlich und zwar in dem Masse wie die heiligmachende Gnade, der sie entfliessen, wächst. Dieses

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 703

Wachstum kommt unmittelbar von Gott, weil er allein das göttliche Leben und dessen verschiedene Bestandteile in uns vermehren kann. Gott aber bewirkt dieses Wachstum in uns, so oft wir die heiligen Sakramente empfangen, gute Wer/ce verrichten oder beten.

a) Schon durch ihre EinsetZl1ng bewirken die M. Sakramente Vermehrung der heiligmachenden Gnade in uns und deshalb auch der ihr anhaftenden eingegossenen Tugenden, und zwar im Verhältnis zu unserer seelischen Verfassung (N.259-261).

b) Auch unsere g-uten Werke verdienen uns nicht nur die ewige Seligkeit, sondern auch Vermehrung der heiligmachenden Gnade und somit der eingegossenen Tugenden. Diese Vermehrung hängt grösstenteils vom Eifer in unseren Gesinnungen ab (N. 237).

c) Das Gebet hat ausser seinem Verdienstwert auch Erllörungswert. Es erfleht und erlangt Zuwachs' an Gnade und Tugenden, und das im Verhältnis zum Gebetseifer. Es liegt also viel daran, sich mit den Gebeten der Kirche zu vereinigen und mit ihr um Vermehrung des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu bitten. "Da nobis jidei, spei et caritatis augmentum. "

B) Nach der Lehre des hl. Thomas geschieht dieser Zuwachs nicht durch Erhöhung des Grades oder der Zahl, sondern durch vollkommneren und tatkräftigeren Besitz von Tugend. In diesem Sinne fassen die Tugenden tiefere Wurzeln in unserer Seele und werden dadurch grÜndlicher und tatkräftiger.

3. SCHWÄCHUNG DER TUGENDEN.

Nicht geÜbte oder nur weichlich geÜbte Tatkraft wird bald schwächer werden oder sogar ganz verloren gehen.

1004. A) Abnahme der Tugenden. Die eingegossenen Tugenden sind eigentlich verminderungsunfähig, ebenso wie die heiligmachende Gnade, von der sie abhängen. Die lässliche SÜnde kann sie nicht vermindern, wie sie ja auch die heiligmachende Gnade selbst nicht vermindern kann. Aber besonders, wenn die lässliche Sünde oft und vorsätzlich begangen wird, hemmt sie in beträchtlichem Masse

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ZWEITES KAPITEL.

die Übung der Tugenden, weil die durch frühere Akte erworbene Leichtz'gkeit vermindert wird. Diese letztere kommt nämlich von einem gewissen Eifer und von Beharrlichkeit der Kraftanstrengung. Die freiwilligen lässlichen SÜnden zerstören die Schwungkraft und lähmen teilweise unsere Tätigkeit (N. 730). So verliert man durch lässliche SÜnden der Unmässigkeit die in Abtötung der Sinnlichkeit erworbene Leichtigkeit, ohne dass die eingegossene Tugend der Mässigkeit an und für sich vermindert wird. Ausserdem führt Missbrauch der Gnaden zur V ~rminderung der aktuellen Gnaden, wodurch die Ubung der Tugenden erleichtert wurde. Aus diesem Grunde üben wir sie mit geringerem Eifer. Endlich bahnen, wie bereits gesagt (N. 73 I), die freiwilligen lässlichen Sünden den Weg zu schweren Vergehen und somit zum Verluste der Tugenden an.

1005. B) Verlust der Tugenden. Es lässt sich als Grundsatz aufstellen, dass die Tugenden durch jeden Akt verloren gehen, der ihren Formalgegenstand oder Beweggrund vernichtet. Dadurch wird nämlich der Tugend die Grundlage entrissen.

a) So geht die Liebe durch jede Todsünde verloren, welcher Art sie auch sei, denn die Todsünde steht in unmit· telbarem Gegensatz zur unendlichen Güte Gottes. Durch sie wird demnach der Formalgegenstand oder die Grundlage der Liebe zerstört.

b) Die eingegossenen, sittlichen Tugenden gehen durch die TodsÜnde verloren. Sie sind nämlich derartig mit der Liebe verbunden, dass sie bei deren Verschwinden mitverschwinden. Jedoch die erworbene Leichtigkeit, Akte der Klugheit, Gerechtigkeit u. s. w. zu setzen, verbleibt noch einige Zeit nach dem Verlust der eingegossenen Tugenden kraft des Beharrens erworbener Gewohnheiten.

e) Glaube und Hd/nung aber verbleiben in der Seele, selbst nach dem Verlust der Gnade durch die TodsÜnde, es sei denn, die begangene Sünde sei dem Glauben und der Hoffnung direkt entgegengesetzt. Die andern SÜnden zerstören nämlich in uns nicht die Grundlage von Glaube und Hoffnung, und ausserdem will Gott uns diese beiden

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 705

Tugenden als letzten Rettungsanker belassen: Solange man glaubt und hofft, vollzieht sich die Bekehrung verhältnismässig leicht.

4. VERBINDUNG DER TUGENDEN UNTEREINANDER. 1006. Es wird öfter gesagt, alle Tugenden seien unte1'einander verbunden. Das bedarf einiger Erklärungen.

A) Zunächst die Liebe. Wohl verstanden und richtig geÜbt, umfasst sie alle Tugenden, nicht nur Glaube und Hoffnung (was selbstverständlich ist), sondern auch die sittlichen Tugenden, wie wir N. 318 erklärten, im Anschluss an die Lehre des hl. Paulus : "CarÜas patiens est, caritas benigna est ... " Das ist insofern wahr, als jener, der Gott liebt und den Nächsten aus Liebe zu Gott, zur Übung jeder Tugend bereit ist, sobald er sich im Gewissen dazu verpflichtet glaubt. Man kann nämlich Gott nicht vom Grunde des Herzens aus und Über alles lieben, will man seine Gebote und sogar einige Räte nicht beobachten. Ausserdem ist es der Liebe eigen, alle Handlungen auf Gott, das letzte Ziel, zu beziehen, sie folglich den christlichen Tugenden gemäss zu ordnen. Man kann auch sagen, je mehr die Liebe zunimmt, desto stärker werden vom Grunde aus die anderen Tugenden.

Obschon die Liebe zu Gott den "'Villen zu den Akten der sittlichen Tugenden geneigt macht und deren Übung erleichtert, verleiht sie nicht unmittelbar und notwendigerweise Vollkommenheit in diesen Tugenden,z.B. inder Klugheit, Demut, im Gehorsam ·oder in der Keuschheit. Nehmen wir an, ein SÜnder, der schlechte Gewohnheiten hatte, bekehre sich aufrichtig. Gewiss wird er die Liebe in aller Aufrichtigkeit Üben, aber er ist nicht deshalb auf einmal vollkommen weise, vollkommen keusch oder vollkommen mässig. Es wird ihn Zeit und MÜhe kosten, bis er die alten Gewohnheiten losgeworden ist und neue angenommen hat.

1007. B) Da die Liebe die Form, die letzte Vollendung aller Tugenden ist, werden diese ohne die Liebe nie vollkommen sein. So z. B. sind Glaube

N° 683. - 23

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ZWEITES KAPITEL.

und Hoffnung, die in der Seele des Sünders zurück bleiben, zwar echte Tugenden, jedoch ungestall d. h. jener Vollkommenheit beraubt, die sie au Gott als letztes Ziel hinstreben lässt. Aus dieserr Grunde können die in diesem Zustande verrichteter Akte des Glaubens und der Hoffnung nicht der Himmel verdienen, trotzdem sie übernatürlich sinc und der Bekehrung vorarbeiten.

1008. C) Besitzt man die sittliche7Z Tugenden in ihrer Vollkommenheit, d. h. sind sie von der Liebt gestaltet und dies in höherem Grade, so sind sie tatsächlich untereinander verbunden, mit anderen Worten, man kann die eine ohne die anderen nicht besitzen. So setzen alle Tugenden in ihrer Vollkommenheit die Klugheit voraus. Diese wiederum kann ohne Beihilfe des Starkmutes, der Gerechtigkeit und der Mässigkeit nicht vollkommen geübt werden. Ein schwacher Charakter, der zur U ngerechtigkeit und Unmässigkeit neigt, wird sich bei vielen Gelegenheiten gegen die Klugheit verstossen. Gerechtigkeit kann ohne Seelenstärke und Mässigung nicht vollkommen geübt werden. Starkmut muss durch Klugheit und Gerechtigkeit gemässigt werden und würde ohne Mässigkeit nicht lange dauern. Und so bei allen. I

Sind die sittlichen Tugenden nur in geringerem Grade vorhanden, so zieht das Vorhandensein der einen nicht notwendigerweise die Übung der anderen nach sich. So gibt es Menschen, die züchtig sind, ohne demütig zu sein. Andere wieder sind demütig, aber nicht barmherzig oder barmherzig, ohne die Gerechtigkeit zu üben. 2

I I. Die sittliclten Tugenden.

Erst soll deren Wese7Z, Zahl und gemeinsames Mer/;;mal kurz erklärt werden.

, V gl. S. AUGUSTINUS, Brief 167 an Hieronymus, P. L., XXXIII, 735. 2 HJ. GREGOR. Moral., 1: XXII, c. 1.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 70';

1009. I. Ihr Wesen. Aus zweifachem Grunde heissen diese Tugenden sittlich: a) um sie von den blossen Verstandestugenden zu unterscheiden, die ohne jegliche Beziehung zum sittlichen Leben den Verstand vervollkommnen, wie z. B. Wissenschaft, Kunst u. s. w. b) um sie von den f:Oltlichen Tugenden zu unterscheiden, die zwar auch unsere Sitten ordnen, aber, wie wir schon gesagt haben, Gott unmittelbar zum Gegenstand haben. Die sittlichen Tugenden hingegen haben als nächstes Ziel ein geschaffenes ÜbernatÜrliches Gut, z. B. die Beherrschung unserer Leidenschaften. Dennoch Übersehe man nicht, dass die ÜbernatÜrlichen sittlichen Tugenden auch wahrhaft Anteilnahme am Leben Gottes sind und uns auf die beseligende Anschauung Gottes vorbereiten. In ihrer allmählichen Vervollkommnung und besonders in ihrer Vollendung durch die Gaben des HI. Geistes nähern sich diese Tugenden übrigens schliesslich so sehr den göttlichen Tugenden, dass sie wie .. von diesen durchdrungen und nur verschiedene Ausserungen der sie gestaltenden Liebe sind.

1010. 2. Ihre Zahl. Im Hinblick auf ihre mannig-

. faltigen Verzweigungen gibt es sehr viele sittliche Tugenden. Alle lassen sich jedoch auf die vier Kardinaltugenden (vom Worte cardines, TÜrangeln) zurÜckführen. Man nennt sie Kardinaltugenden, weil sie, sozusagen, die vier Angeln sind, auf die sich alle anderen Tugenden stützen.

Diese vier Tugenden entsprechen in der Tat allen Bedürfnissen der Seele und vervollkommnen alle sittlichen Fähigkeiten derselben.

1011. A) Sie entsprechen allen Bedüifnissen der Seele.

a) Zunächst tut es uns not, die notwendigen oder nützlichen Mittel zur Erreichung unseres Übernatürlichen Zieles zu wählen: das ist die Aufgabe der Klugheit.

708

ZWEITES KAPITEL.

b) Wir mÜssen auch die Reclzte des Näclzsten achten,' das macht die Gereclttigkeit.

c) Um uns selbst und unsere Güter gegen die uns bedrohenden Gefahren zu verteidigen, und zwar ohne Furcht und ohne Gewalt, bedürfen wir des Starkmutes.

d) Um die Güter dieser Welt und deren Freuden innerhalb der richtigen Grenzen zu geniessen, ist uns MässigkeÜ notwendig.

Auf diese Weise also ordnet die Gereclttigkeit unsere Beziehungen zum Nebenmenschen, Starkmut und Mässigkeit unsere Beziehungen zu uns selbst, die Klugheit aber ist die Leiterin der anderen drei Tugenden.

1012. B). Sie vervollko1nl1men alle unsere sittlichen Fälzigkeiten. Die Klugheit leitet den Verstand, die Gerechtigkeit den Willen, der Starkmut das iraszible und die Mässigkeit das konkupiscible Begehrungsvermögen. Es sei jedoch bemerkt, dass es sich bei den Begehrungsvermögen nur mitte1st des Willens um Sittlichkeit handeln kann. Starkmut und Mässigkeit haben ihren Sitz in dieser höheren Fähigkeit ebensogut wie in elen niederen Fähigkei-. ten, die durch den \Villen geleitet werden.

1013. C) Endlich ist noch dies beizufügen: Jede dieser Tugenden kann als Gattung angesehen werden, die zur Vollständigkeit u.nerlässliche (integrierende), eigene (subjektive) oder mögiiche(potentiale) Bestandteile aufweist.

a) Zur Vol1~tändigkeit unerliisslic1z notwendige Bestandteile sind die zur Ubung der Tugend nÜtzlichen oder notwendigen Ergänzungen, und zwar so, dass sie ohne diese Bestandteile nicht vollkommen wäre. So sind Geduld und Ausdauer integrierende Bestandteile des Starkmutes.

b) Subjektive Bestandteile sind, sozusagen, die verschiedenen der Haupttugend untergeordneten Arten. So sind Nüchternheit und Keuschheit subjektive Bestandteile der Mässigkeit.

DIE SITTLIClilEN TUGENDEN. 70!l

c) Pote1Ztiale (oder mitverbundene) Bestandteile haben eine gewisse Ahnlichkeit mit der Haupttugend, ohne aber allen Bedingungen der Tugend ganz zu entsprechen. So ist die Tugend der Gottesverehrung der Gerechtigkeit nahe verwandt. Sie bezweckt nämlich, Gott die ihm schuldige Huldigung darzubringen, kann es aber nicht in der erwünschten Vollkommenheit noch in genauerGleichheit tun. Im Gehorsam wird den Vorgesetzten die ihnen schuldige Unterwürfigkeit bewiesen, aber auch hier handelt es sich nicht um absolut strenges Recht, noch um Beziehungen zwischen Gleichberechtigten.

Um unsere Aufgabe und die unserer Leser zu erleichtern, werden wir diese Abteilungen und Unterabteilungen nicht alle aufzählen. Vielmehr wählen wir die Haupttugenden, deren Pflege wirklich von Bedeutung ist. Wir wollen nur bei jenen Bestandteilen verweilen, die vom theoretischen und praktischen Gesichtspunkte aus die - wesentlichsten sind.

1014. 3. Ihr gemeinsames Merkmal. a) Alle sittlichen Tugenden sind darauf bedacht, di~ richtige Mitte zwischen den entgegengesetzten Ubertreibungen innezuhalten. In medio stat virtus. Sie müssen tatsächlich den Regeln folgen, die ihnen von der durch den Glauben erleuchteten Vernunft vorgeschrieben w~~den. Gegen diese Regeln kann man aber durch Uberschreiten oder durch Nichterreichen des Masses fehlen. Die Tugend besteht demnach im Vermeiden dieser beiden Fehler.

b) An sielt betrachtet, bestehen die göttlichen Tugenden nicht in der richtigen Mitte. Denn, sagt der hL Bernhard, das Mass der Gottesliebe besteht in der Liebe ohne Mass. Jedoch in ihrer Beziehung zu uns müssen sie sich auch in der goldenen Mitte halten, oder, mit anderen Worten, von der Klugheit geleitet werden. Diese gibt uns die Umstände an, unter denen wir die göttlichen Tugenden Üben können und sollen. So z. B. zeigt sie uns, was zu glauben und was nicht zu glauben ist, wie man gleichzeitig der Vermessenheit und der Verzweiflung aus dem Wege gehen kann.

EINTEILUNG DES ZWEITEN KAPITELS. 1015. In unserem zweiten Kapitel handeln wir nacheinander von den vier KardinaltuJ(enden und

HO

ZWEITES KAPITEL.

oden sich daran anschliessenden hauptsächlichsten Tugenden.

I. Die Klugheit.

II D' G hf I 't { die Gottesverehrung

. le erec Ig <ei der Gehorsam.

II I. Der Starkmut.

{die Keuschheit IV. Die Mässigkeit die Demut

die Sanftmut.

I. ABSCHNITT. DIE TUGEND DER KLUGHEIT. I Wir werden darlegen I. ihr Wesen, 2. ihre Notwettdigkeit, 3. die Mittel, um sich darin zu vervollkommnen.

I. Ihr Wesen.

Um es besser zu erfassen, geben wir ihre Definitz'on (Begriffsbestimmung), ihre Bestandteile und ihre Arten an.

1016. I. Definition. Die Klugheit ist eine sittliche und übernatÜrliche Tugend, die den Verstand geneigt macht, bei jeder Gelegenheit die zur Erreichung unserer Ziele besten Mittel zu wählen. Dabei werden alle Ziele unserem letzten untergeordnet.

Es handelt sich demnach hier weder um die Klugheit des Fleisches, noch um die rein menschliche KlugheÜ, sondern um die cllristliche.

A) Es ist nicht die Klugheit des Fleisches. Diese macht uns erfinderisch im Entdecken von Mitteln zur Erreichung eines schlechten Zieles, zur Befriedigung der Leidenschaften, zur Bereicherung, zur Erlangung von Ehrenstellen. Der hl. Paulus verwirft sie, denn sie ist gottfeindlich, erhebt sich gegen Gottes Gesetz und als Gegnerin des Menschen führt sie ihn zum ewigen Tode. 2

, KASSIAN, Conler., I!. .- HL. lOH. KLIMACHUS, "Die leiter ", XXV!. - HL. THOMAS, Ha IIre, q. 47'56. - CH. DE SMEDT, Notre vt'e surnaturelle.

2 Römerbrief, VIII, 6-8.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 711

Es handelt sich hier auch nicht um rein mensehliehe Klugheit, welche nach den geeignetsten Mitteln für die Erreichung eines natürlichen Zieles sucht, ohne sie dem letzten Ziele zu unterordnen. Wir beobachten sie bei Leuten, die Handel betreiben, wir finden sie bei KÜnstlern und Arbeitern. Sie suchen Geld zu verdienen oder berÜhmt zu werden, ohne sich um Gott und die ewige Seligkeit zn kÜmmern. Man soll ihnen vor Augen halten, es diene zu nichts, die ganze Welt zu gewinnen, wenn dabei die Seele verloren geht '.

1017. B) Es handelt sich also hier um die christliche Klugheit. Sie beruht auf den Grundsätzen des Glaubens und fÜhrt alles auf das übernatürliche Ziel zurück, auf Gott, hienieden erkaNnt und geliebt, im Himmel in seinem Besitz. Wohl befasst sich die Klugheit nicht unmittelbar mit diesem, ihr vom Glauben vorgesteckten Ziele. Stets hat sie jedoch dasselbe vor Augen und in seinem Lichte strebt sie die besten Mittel an, damit alle unsere Handlungen auf dieses Ziel gerichtet seien. Sie beschäftigt sich daher mit den Einzelheiten unseres Lebens. Sie ordnet unsere Gedanken, damit sie sich nicht von Gott weg verirren. Sie regelt unsere Absichten, um alles davon fernzuhalten, was deren Reinheit trüben könnte. Sie ordnet unsere Neigungen und Gefühle sowie unsere TVzllensäusserungen, um sie an Gott zu fesseln. Sie ordnet selbst unsere äusseren Akte und die AusfÜhrung unserer Vorsätze, um sie auf unser letztes Ziel zu richten 2.

1018. C) Diese Tugend hat im eigentlichen Sinne ihren Sitz im Verstande, denn sie beurteilt und unterscheidet, was in jedem besonderen Falle zur Erreichung unseres Zieles geeigneter ist. Sie ist an;;ewandte Wissenscllaft. Zur Kenntnis der Grundsätze fügt sie die der positiven Wirklichkeit, in der wir unser Leben einrichten sollen 3. Trotzdem ist auch der

, Mattl!. XVI, 26.

2 " Prudentia est et vera et perfecta qure ad bonurn linern totius vitre recte cOllsiliatur, judicat et prrecipit. .. (S. THOM. Ha llre , q. 47, a. 73)·

3 " Ideo llecesse est quod prudens et cognoscat universalia principia ratiollis et cognoscat singularia, circa qure sunt operatiolles ... (S. THOM. ]Ja ]Ja!, q. 47, a. 3.).

712

ZWEITES KAPITEL.

Wille beteiligt. Er befiehlt dem Verstande, sich den Erwägungen von Motiven und Gründen zuzll\venden, um dann eine richtige Auswahl treffen und später die Ausführung der auf diese Weise gewählten Mittel anordnen zu können.

1019. D) Richtschnur der christlichen Klugheit ist nicht die Vernunft allein, sondern die durch den Glauben erleuchtete Vernunft. Ihren edelsten Ausdruck findet sie in der Bergp1'edigt. Daselbst ergänzt und vervollkommnet der göttliche Meister das alte Gesetz und befreit es zugleich von den falschen Auslegungen der jüdischen Schriftgelehrten. Die Übernatürliche Klugheit schöpft demnach Licht und Eingebungen aus den der Welt diametral entgegengesetzten Vorschriften des Evangeliums. Zur Anwendung auf die täglichen Handlungen schaut sie auf die Beispiele der Heiligen, die dem Evangelium entsprechend lebten, und in zweifelhaften Fällen lässt sie sich von den Lehren der unfehlbaren Kirche leiten. So gelangen wir zur moralischen Sicherheit, uns nie zu verirren.

Übrigens sind die von ihr angewendeten Mittel nicht nur ehrbar, sondern auch übernatürlich. Es sind Gebet und Sakramente, die unsere Kräfte zur Ausübung des Guten verdoppeln und uns um so bessere Erfolge erzielen lassen.

Das wird noch mehr einleuchten bei Erorterung der Bestandteile dieser Tugend.

1020. 2. Bestandteile. Zum klugen Handeln bedarf es hauptsächlich dreier Bedingungen: reifliche Uberlegung, weise Entscheidung und gute A us/ührung.

A) Zunächst also muss reiflich überlegt werden, welche Mittel zur Erreichung des .. gesetzten Zieles am geeignetsten seien. Dieses Uberlegen muss der Wichtigkeit der zu treffenden Entscheidung entsprechen. Um reiflich zu überlegen. muss man selbst nachdenken und bei Klugen sich Rat Izolen.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 713

1021. a) Man soll über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges nachdenken.

I) Die Erinnerung an Vergangenes wird von grossem Nutzen sein. Im Grunde bleibt sich die menschliche Natur im Laufe der Zeiten immer gleich. Man forsche daher in der Gescltichte nach, um zu erfahren, wie unsere Vorfahren die Aufgaben lösten, die jetzt an uns herantreten. Ihre Versuche zu deren Lösung werden unsere Unerfahrenheit belehren und uns manche Missgriffe ersparen. Bei der Feststellung dessen, was glÜckte oder misslang, erkennen wir besser die zu meidenden Klippen und die zu erfassenden MitteL Aber auch die eigene Erjahrunj! muss man zu Rate ziehen. Von Kindheit an sah man sich ein oder anderes Mal in Berührung mit ähnlichen Schwierigkeiten. Fragen wir uns nun, was uns damals gelang und was zu Misserfolg fÜhrte, und sagen wir uns entschlossen : ich will mich nicht den gleichen Gefahren aussetzen, will nicht denselben Versuchungen unterliegen.

2) Es sind aber auch die Gegenwart und die veränderten Verhältnisse, in denen wir leben, zu berücksichtigen. Jedes Jahrhundert, jeder Mensch hat seine charakteristischen Eigenheiten und wir selbst hegen im reiferen Alter nicht mehr dieselben WÜnsche wie in der Jugend. Da kommt uns nun die EillSicltt zu Hilfe, um frÜher gemachte Erfahrungen durch Anpassung an gegenwärtige Verhältnisse gut auszunützen.

3) Klug ist es endlich auch, die Zukunft zu befragen.

Bevor wir eine Entscheidung treffen, ist es nÜtzlich, die Folgen unserer Handlungen fÜr uns selbst oder fÜr andere möglichst vorauszusehen. Der Vergangenheit eingedenk und die Zukunft voraussehend, werden wir am ehesten die Gegenwart meistern.

Alles dieses auf eine bestimmte Tugend, die Keuschheit, angewendet, erfahre ich aus der Geschichte, was die Heiligen taten, um sich inmitten der Gefahren der Welt rein zu erhalten. \1eine Erfahrung wird mir sagen, worin meine Versuchungen bestanden und mit welchen Mitteln ich widerstand. Ebenso wird sie meine Siege und Niedl<rlagen aufzählen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit kann ich daraus schliessen, welche \Virkung dieser oder jener Schritt, diese oder jene LektÜre, dieser oder jener Verkehr auf mich in Zukunft ausÜben wird.

1022. b) Nachdenken allein genÜgt nicht. Man muss auch verstehen, sich bei klugen und ~!fahrenen Menschen Rq,t zu holen. Ein Wort, eine Ausserung

714

ZWEITES KAPITEL.

aus dem Munde eines Freundes, eines Verwandten, zuweilen sogar eines Untergebenen, öffnet uns die Augen und zeigt uns eine vergessene oder unbeachtete Seite einer Sache. In zwei Köpfen steckt mehr Klugheit als in einem, und Besprechung bringt Licht. Wieviel mehr gilt das von dem Worte eines Seelen führers, der uns genau kennt, der an der Sache nicht persönlich beteiligt ist, also besser als wir selbst erkennt, was zum Wohle unserer Seele gereicht! In sorgsamer Fügsamkeit befrage man daher einen klugen und erfahrenen Mann. Das schliesst übrigens den Gebrauch der eigenen Urteilsfähigkeit nicht aus, vermöge deren wir schnell und genau wahrnehmen, was sich an positiven GrÜnden in den Ratschlägen, die man uns gab, wie auch in unseren eigenen Beobachtungen findet.

Doch vergesse man nicht, sich an den besten aller Ratgeber, an den Vater des Lichtes, zu wenden. Ein mit grossem Vertrauen gebetetes" Veni .5.r:ncte Spiritus" wird oft nützlicher sein als vieles Uberlegen.

1023. B) Nach reiflichem Überlegen muss man richtig u.rteilen, d. h. entscheiden, welche der vorgeschlagenen Mittel tatsächlich die wirksamsten seien. Zu diesem Zwecke a) beseitige man sorgfältig die Vorurteile, die Leidenschaften und Eindrücke, die als störende Elemente das Urteil trüben. Vielmehr halte man sich entschlossen die Ewigkeit vor Augen, um alles im Lichte des Glaubens zu bewerten. 'b) Man verweile nicht an der Oberfläche der Gründe, 'die uns der einen oder anderen Seite zuneigen, sondern untersuche sie gründlich, und zwar mit Sclla1:fblick, und erwäge genau das FÜr und Gegen. c) Endlich urteile man mit Bestimmtheit, ohne übermässiges Zögern. Hat man sich die Sache je nach ihrer Wichtigkeit überlegt und die anscheinend _beste Entscheidung getroffen, wird Gott uns keinen :Y onvurf machen, da wir ja alles taten, um seinen

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 715

Willen zu erkennen. Wir dürfen dann bei de't Ausführung unserer Entschlüsse auf seine Gnade hoffen.

1024. C) Nun darf man auch nicht zögern, den einmal gefassten Plan zu verwirklichen. Drei Dinge sind dazu erforderlich: Voraussicht, Umsicht und Vorsicht.

a) Voraussicht. Voraussehen heisst vorher die zur Verwirklichung unserer Absichten notwencjige Mühe, die uns erwartenden Hindernisse und die zur Uberwindung derselben erforderlichen Mittel zu berechnen, damit der Kraftaufwand dem beabsichtigten Ergebnisse angemessen sei.

b) Umsiclzt. Man muss die Augen aufmachen, rechts und links Dinge und Personen anschauen, um daraus möglichst viel Nutzen zu ziehen. Ferner sind alle Umstände ins Auge zu fassen, um sich ihnen anzupassen. Die Ereignisse sind aufmerksam zu verfolgen, um sie günstigenfalls auszunützen, ungÜnstigenfalls den schlimmen Folgen zuvorzukommen.

c) Vorsicht." Videte quolllodo caute ambuletis. " , Selbst bei aller Voraussicht ereignen sich die Dinge nicht immer so, wie wir es erwarten. Unsere Weisheit ist beschränkt und nicht unfehlbar. Im sittlichen Leben muss man daher, wie bei Geschäftsangelegenheiten, Reserven vorrätig haben, Vorsichtsmassregeln treffen. Der geistliche Feind greift gern immer wieder an, auch wenn er geschlagen wurde, wie w'ir bereits (N. 900) zeigten. Dann heisst es, zu den Kraftvorräten greifen, zum Gebete, zu den hl. Sakramenten, zu den Ratschlägen des Beichtvaters Zuflucht nehmen. So wird man nicht das Opfer unvorhergesehener Umstände. Man lässt sich nicht aus der Fassung bringen, führt schliesslich, mit der Gnade Gottes, die reiflich Überlegten Absichten einem guten Ende zu.

1025.3. Verschiedene Arten von Klugheit. Je nach dem Gegenstande, auf den sie sich richtet, gibt es verschiedene Arten von Klugheit. Sie ist individuell, regelt sie unser per" sönliches Verhalten. Von ihr haben wir soeben gesprochen. Sie ist sozial, wenn ihr Gegenstand das Wohl der Gesellschaft ist. Nach den drei Arten von Gesellschaften: Familie, Staat und Heer, unterscheidet man auch drei Arten von Klugheit. Die lzäusliche Klugheit, wodurch die Beziehungen der Gatten zueinander, der Eltern zu ihren Kindern, und

, Ephes. V, 15.

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ZWEITES KAPITEL.

umgekehrt, geregelt werden. Die bÜrgerliche, die fÜr das Gemeinwohl und die gute Regierung des Staates sorgt. Die strategische, die sich mit dem Zustande der Streitmacht befasst.

Wir halten uns hier nicht bei den Einzelheiten auf. Die dargelegten, allgemeinen Grundsätze genügen für unseren Zweck. Es ist Sache der christlichen Eheleute, der Staats· männer und Heeresführer die praktische Anwendung dieser Grundsätze auf ihre besondere Lage gewissenhaft zu er· forschen.

Ir. Notwendigkez't der Klug-heit.

Die Klugheit ist ebenso unentbehrlich für unser ezgenes Verhalten wie für die Leitung anderer.

1026. 1. FÜr unser eigenes Verhalten oder unsere Heiligung. Sie veranlasst uns, die Sünde zu 11lez'den und die Tugenden zu üben. A) Wie schon gesagt, bedarf es zur Vermez'dun.r der Sünde der Erkenntnis ihrer Ursachen und Gelegenhez'ten, ebenso wie des Aufsuchens und richtigen Gebrauches der Gegenmz'ttel. Gerade das ist es nun, was die Tugend der Klugheit tut, wie wir aus der Untersuchung ihrer Bestandteile schliessen können. Auf frühere Erfahrungen gestützt und über den gegenwärtigen Zustand der Seele gut unterrichtet, erkennt sie, was für uns zur Zeit oder später Anlass oder Gelegenheit zur Sünde wäre. Dadurch schon schlägt sie die besten Mittel zur Beseitigung oder Milderung der Gefahren vor, lehrt die beste Kampfweise zur Überwindung und sogar zur Nutzbarmachung der Versuchungen. \Vieviele Sünden würden begangen, wäre nicht die Klugheit! Wieviele geschehen aus Mangel an Klugheit!

1027. B) Zur Übung der Tugenden und somit zur leichteren Vereinigung mit Gott bedarf es nicht minder der Klugheit. Mit Recht vergleicht man die Tugenden mit einem Wagen und die Klugheit mit dem Wagenlenker "aunga virtutulll. " Sie ist sozusagen das Auge der Seele, das den einzuschlagen-

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 717

den Weg und die zu vermeidenden Hindernisse sieht.

I) Sie ist zur Übung aller Tugenden notwendig.

Der sittlichen Tug~nden, die sich in der richtigen Mitte halten und Ubertreibungen nach jeder Seite hin vermeiden mÜssen. Selbst der göttlichen Tugenden, die zur geeigneten Zeit und durch die den verschiedenen Lebensverhältnissen angepassten Mittel geübt werden sollen. So steht es der Klugheit zu, die den Glauben bedrohenden Gefahren festzustellen und die Mittel zu suchen, um erstere zu beseitigen. Ferner, über die Pflege und Betätigung des Glaubenslebens zu belehren und auch zu erklären, wie sich Gottvertrauen mit der Furcht vor den göttlichen Strafgerichten vereinigen lasse, wie gleichzeitig Vermessenheit und Verzweiflung vermieden werden können. Es ist Sache der Klugheit, zu zeigen, wie die Liebe alle unsere Handlungen beleben kann, ohne die Ausübung unserer Standespflichten zu hemmen. U n.~ wie vieler Klugheit bedarf es nicht auch in der Ubung der brÜderlichen

Liebe!

2) Noch notwendiger ist sie zur Übung einer gewissen Anzahl von Tugenden, die sich zu widersprechen scheinen, Gerechtigkeit und Güte, Sanftmut und Starkmut, heilige Strengheiten und berechtigte Sorge fÜr die Gesundheit, Hingabe an den Nächsten und Keuschheit, inneres Leben und äussere Bezie-

hungen.

1028. 2. Handelt es sich um AusÜbung des Apostolates, so ist Klugheit nicht minder not-

wendig.

a) Auf der Kanzel flösst die Klugheit dem Priester ein, was er sagen und was er verschweigen soll, wie er es sagen muss, ohne bei den Zuhörern Anstass zu erregen; ferner gibt die Klugheit ihm ein, wie er dem Bildungsgrade der Zuhörer das göttliche Wort anzupassen habe, damit es sie überzeuge, erschüttere und bekehre. Vielleicht noch notwendiger ist sie für den Religionsunterricftt, wo es sich darum handelt,

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ZWEITES KAPITEL.

Kinder zu Christen heranzubilden und in deren Seele tiefe Eindrücke hervorzurufen, die das ganze Leben hindurch dauern sollen.

b) I m Beichtstuhle wird der Priester durch sie zum scharfsichtigen und unbestechlichen Richter, der die Schuldbarkeit richtig erkennt, an die Beichtkinder genaue und klare, ihrem Alter und Stande entsprechende und alle Umstände berücksichtigende FrageIl stellt. Er wird durch die Klugheit zum Lehrer, der, ohne Argernis zu geben, zu unterweisen versteht, gewisse Seelen im guten Glauben lässt, andere aufklärt, je nach den verschiedenen, vorauszusehenden Folgen. Er wird zum Arzt, der mit Takt und Verständnis die Ursachen der Krankheit ergründet, deren Heilmittel weise erkennt und vorschreibt. Er wird zum Vater, dessen Aufopferung Vertrauen einflösst, der jedoch ZurÜckhaltung zu wahren weiss, um nicht allzu menschliche Sympathie wachzurufen.

e) vVelchen Taktes bedarf es nicht, um bei Taufen, Erstkommunionen, Hochzeiten, Spendung der hl. Sterbesakramente, Begräbnissen alle WÜnsche der Familien zu erfüllen, ohne den göttlichen und liturgischen Vorschriften zuwiderzuhandeln! Welche Diskretion ist bei Krankenbesuchen oder bei anderen Besuchen, die aus SeelsorgsgrÜnden geschehen, erforderlich!

d) Desgleichen bei der weltlichen Ver1valtungder Pfarreien, bei Gebührfragen fUr die verschiedenen Verrichtungen, Kultsteuern. Ferner zur Erlangung aller der Kirche notwendigen Zuschüsse, ohne d~bei die Pfarrkinder vor den Kopf zu stossen, ohne ihnen Argernis zu geben, ohne den Ruf vollkommener Selbstlosigkeit, den jeder Priester haben muss, aufs Spiel zu setzen!

III. Mittel zur Vervollkommnung in dieser Tugend.

1029. Ein Allgemeinmittel wird für alle Tugenden, die sittlichen und göttlichen, angewendet: das Gebet. Es zieht J esus mit seinen Tugenden auf uns herab. V/ir erwähnen es ein für allemal, um nicht mehr darauf zurÜckkommen zu müssen. \Vir führen nunmehr nur noch die jeder Tugend eigenen Mittel an.

1030. 1. Der allen anderen Grundsätzen voranstehende und auf alle Seelen anzuwendende allgemeine Grundsatz lautet : Alles Urteilen und

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 719

Entscheiden ist· dem letzten ÜbernatÜrlichen Ziele unterzuordnen. Diesen Rat gibt der .. hI. Ignatius gleich bei Beginn seiner Geistlichen Ubungen, und zwar in seiner Betrachtung über den obersten Grundsatz oder das Fundament.

a) Es sei jedoch bemerkt, dass dieser Grundsatz nicht von allen Seelen in gleicher Weise aufgefasst werden solL Anfänger mögen bei der Betrachtung über das Ziel und Ende des Menschen besonders die Rettung der Seele ins Auge fassen, Vollkommene die Ehre Gottes. Diese letztere Art ist an und fÜr sich besser, es könnte jedoch sein, dass sie nicht von allen erfasst und bewertet wird.

b) Um diesen Grundsatz konkreter zu gestalten, knÜpfe man ihn an einen Spruch, der ihn uns vor Augen halte, z. B. Quid hoc ad a!lernitatem.~ - Quod Cl!ternum non est, nihil est. - Quid prodest homini .? ••

FÜr die Praxis ist es gut, sich von einem dieser Aussprüche ganz durcl.dringen zu lassen, immer wieder darauf zurÜckzukommen, bis er, sozusagen, ins Fleisch Übergeht, und gewohnheitsmässig danach zu leben. Durch diese Ubullg wird man das Fundament der christlichen Klugheit in sich legen.

1031. 2. Durch diesen Grundsatz gewappnet, suchen Anfänger sich der Fehler zu entledigen, die der christlichen Klugheit entgegengesetzt sind I.

a) So bekämpfen sie energisch die Klugheit des Flez'sc!zes. Da sie gierig nach der Möglichkeit strebt, das dreifache, niedere Begehren zu befriedigen, töten sie die Genusssucht ab. Auch erinnern sie sich, dass den falschen Freuden der vVelt nur zu oft bittere Reue folgt und sie im Vergleiche mit den ewigen Freuden nichts sind.

b) Sie vermeiden sorgfältig Arglist, Täuschung und Betrug, auch wenn sie ein ehrsames Ziel verfolgen, denn sie wissen, ehrlich sein ist die grösste Klugheit, und der Zweck heiligt nicht die Mittel. Nach dem Evangelium sei die Einfalt der Tauben

, Um nicht mehrmals auf dieselben Tugenden zurückzukommen, geben wir nach Möglichkeit bei jeder Tugend den Grad an, der den verschiedenen Stufen der Vollkommenheit entspricht.

720

ZWEITES KAPITEL.

mit der Klugheit der Schlangen zu verbinden. Une das ist um so notwendiger, weil die genanntel Fehler meist ungerechterweise öfter frommen Per sonen, Priestern und Ordensleuten vorgeworfel werden. Man befleissige sich daher sorgfältig de vollkommenen Geradheit und evangelischen Einfalt

1032. c) Sie strengen sich an, auch die das Urtei trübenden Vorurteile und Leidenschaften abzutöten Die Vorurteile, durch die man einer vorgefassten vielleicht falschen oder unvernünftigen Meinung nach eine Entscheidung trifft. Die Leidenschaften:

Hochmut, Sinnlichkeit, Wollust, übertriebene Sorge für die zeitlichen Güter, wodurch die Seele in Unruhe versetzt wird und nicht das Beste, sondern das fÜr die zeitlichen Interessen Angenehmere und Nützlichere wählt. Um diese störenden Einflüsse loszuwerden, mögen sie die \Vorte des Evangeliums beherzigen : " Qumrite primu11Z regnu11Z Dei et iustitiam ez·us." Sie hüten sich daher, unter dem Eindruck einer starken Leidenschaft eine Entscheidung zu treffer.., warten vielmehr ab, bis wieder Ruhe in der Seele herrscht. Ist eine schnelle Entscheidung notwendig, so sammeln sie sich wenigstens einen Augenblick, versetzen sich in die Gegenwart Gottes, bitten um Erleuchtung und folgen ihr treu.

d) Zur Bekämpfung der Obeiflächlz'chkez't des Geistes, des vorschnellen Urteils oder der U nüberlegtheit bemühen sie sich, nz'e zu handeln, ohne nachzudenken, ohne sich nach dem Beweggrunde der betreffenden Handlung, nach ihren guten oder schlimmen Folgen zu fragen, alles im Lichte des Ewigkeitsgedankens. Dieses Überlegen muss der Bedeutung der zu treffenden Entscheidung angemessen sein. In ernsten Dingen ziehen sie einen klugen und erfahrenen Mann zu Rate. So gewöhnt man sich nach und nach daran, keine Entscheidung zu treffen und nichts zu tun, ohne es auf Gott und das letzte Ziel zu beziehen.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 721

e) Um endlich Unentschlossenheit zu vermeiden,

d. h. Übertriebenes Zögern bei einer Entscheidung, sorgen sie für Beseitigung der Ursache dieser geistigen Krankheit (Verworrenheit oder Unklarheit des Geistes, Mangel an Unternehmungsgeist u. s. w.). Zu diesem Zwecke lassen sie sich von einem weisen Seelenführer bestimmte Richtlinien geben, wodurch sie sich in gewöhnlichen Fällen rasch zu entscheiden vermögen. In schwierigeren Fällen holen sie sich Rat.

1033. 3. Was nun die fortschreitenden Seelen anbelangt, so werden sie auf dreifache \i\Teise in der Klugheit Fortschritte machen:

a) Durch Ergründen der Handlungen und Worte des göttlichen Meisters im Evangelium, um darin eine Lebensrichtschnur zu finden und durch Gebet und Nachfolge die Gesinnungen dieses göttlichen Vorbildes in sich zu wecken. I) Man bewundere daher seine Klugheit im verborgenen" Leben : dreissig Jahre lang verbleibt er bei der Ubung der uns so schwer fallenden Tugenden, der Demut, des Gehorsams und der Armut. Er sah voraus, ohne solchen Anschauungsunterricht würden wir nicht zum Verständnis dieser so notwendigen Tugenden

. gelangen. Nicht minder bewundernswert ist seine Klugheit im offentlichen Leben. Im Kampfe gegen den bösen Feind vereitelt er dessen Berechnungen und verwirrt ihn durch unwiderlegliche Antworten. Den Umständen entsprechend, verkÜndet er seine Lehre, von Stufe zu Stufe höher steigend, offenbart er erst allmählich seine MessiaswÜrde und Gottessohnschaft. Um seine Gedanken verständlicher zu machen, bedient er sich vertrauter Vergleichsformen und Gleichnisse, und zwar der letzteren, um seinen Gedanken entweder zu verbergen oder zu enthÜllen, je nach den verschiedenen Umständen. Geschickt entlarvt er seine Widersacher und antwortet auf deren verfängliche Fragen mit Gegenfragen, die sie

722

ZWEITES KAPITEL.

ausser Fassung bringen. Die Heranbildung der Apostel vollzieht er allmählich. Er erträgt deren Fehler und passt seine Lehre ihrem derzeitigen geistigen Fassungsvermögen an. "Non potestis portare Jnodo" r. Nichtsdestoweniger versteht er ihnen auch harte Wahrheiten zu sagen, wie z. B. die Ank.~ndigung seines bitteren Leidens, um sie auf das Argernis des Kreuzes vorzubereiten. Selbst inmitten seines qualvollen Leidens antwortet er mit Ruhe sowohl den Richtern wie den Knechten, schweigt zur richtigen Zeit.. .. Mit einem Wort, in allen Dingen paart er erhabenste Klugheit mit Festigkeit und Pflichttreue.

2) \Vas seine Lehre anbetrifft, so lässt sie sich in folgende Worte zusammenfassen: "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit... Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben ... Wachet und betet." Qumrz'teergo prz'1Jlum 1'egnum Dez' et justitz'am ('Jus ... Estote ergo prudentes sicut serpentes et sz'mplices sz'cut columbm. " r" Vz'gilate et orate. "2

Diese Lehren und Beispiele zu betrachten und inständig den Heiland zu bitten, uns Anteil an seiner Klugheit nehmen zu lassen, ist das Hauptmittel zur Vervollkommnung in dieser Tugend.

1034. b) Dann sollen sie die von uns besprochenen Bestandteile der Klugheit pflegen, nämlich den gesunden Menschenverstand, die Gewohnheit, nachzudenken, die Bereitwilligkeit, bei anderen sich Rat zu holen, ferner, Entschlossenheit, Voraussicht und Umsicht des Geistes.

1035. c) Endlich besitze ihre Klugheit die vom hl. Jakobus 3 hervorgehobenen Eigenschaften. Der Apostel unterscheidet zwischen echter und falscher \Veisheit und fügt hinzu : "Qua: autem desursum

I Mallh. VI, 33 u. X, r6. ~ 2 Ma>'kus, XIII, 33. - 3 Jak. ur, 13-18.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 723

est sapientia, primum quidem pudz'ca est, deinde pacifica, 111odesta, suadibz'lis, plena 17iz'sericordia et fructibus bonis, non judicans, sz'ne sz·mulatione. "

Pudica, bedacht auf Bewahrung jener Leibes- und Herzensreinheit, die uns mit Gott und dadurch mit der ewigen Weisheit vereint.

Pacijica, den Seelenfrieden, die Ruhe, das Mass und das stete Gleichgewicht bewahrend, die für kluge Entscheidungen notwendig sind.

Modesta, voller Leutseligkeit anderen gegenüber und dadurch auch suadibilis, sich überzeugen lassend, guten Gründen zugänglich. Man gibt also nicht heftigen Aufwallungen nach und vermeidet dadurch alle Streitigkeiten.

Plena misericordia et fructibus bonis, voller Barmherzigkeit gegen Arme und Unglückliche, gern bereit, ihnen Gutes zu erweisen, denn im Ansammeln von Schätzen fÜr den Himmel offenbart sich die christliche Klugheit.

Non judicans, sine simulatione, ohne Parteilichkeit und Doppelzüngigkeit, ohne Heuchelei, lauter Fehler, die Seele und Urteil trüben.

1036. Die Vollkommenen üben die Klugheit in hervorragender Weise, und zwar unter der Leitung der Gabe des Rates, wie wir dies bei der Abhandlung Über den Einz'gungsweg näher veranschaulichen werden.

2. ABSCHN. DIE TUGEND DER GERECHTIGKEIT. I

Nach kurzem Erinnern an die theologische Lehre von der Gerechtigkeit, werden wir nacheinander die sich daran anschliessenden Tugenden der Gottesverehrung und des Gehorsams behandeln.

§ 1. Gerechtigkeit im eigentlichen Sinne. Wir legen dar I. ihr T17esen., 2. die hauptsächlichsten Rz'chtlz'nz'en für deren Ubung.

'S. THOMAs, IIa lIa:, q. ,56-122. - DOM SOTO, Dejustitia etjU7'e. LESSIUS, De justitia. - AD. TANQuEREY, Synopsis theol. 1J1oralis, t. IlI, De virtute justitire. nebst zahlreich angefÜhrten Schriftstellern. 'P. J ANVIER, Careme, (fastenpredigten) 19r8.

"

724

ZWEITES KAPITEL.

I. Wesen der Gerechtzg·keÜ.

1037. I. Definition. In der Hl. Schrift bezeichnet das Wort Gerechtigkeit oft die Gesamtheit der christlichen Tugenden. So erklärt J esus jene selig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten, d. h. der Heiligkeit. "Beatz' quz' esurz'unt et sz'tz'unt justz'tz·am. "r In dem hier gebrauchten, engsten Sinne jedoch bezeichnet es jene übernatürliche,

sz'ttÜche Tugend, die unseren Willen geneigt macht, anderen beständig zu geben, was z'hnen rechtmässl'g gebührt.

Diese Tugend hat ihren Sitz im Willen und regelt unsere strengen FjÜchten dem Nächsten gegenüber. Dadurch unterscheidet sie sich von der Nächstenliebe, der göttlichen Tugend, durch die wir die andern als Brüder in J esus Christus ansehen, und zwar macht sie uns deshalb geneigt, anderen Dienste zu leisten, die über die strenge Gerechtigkeit hinausgehen.

1038. 2. Vorzüglichkeit. Dank der Gerechtigkeit herrscht Ordnung und Frieden im Leben des einzelnen, sowie in demjenigen der Gesamtheit. Eben weil sie die Rechte eines jeden achtet, kann Ehrlichkeit in den Geschäften herrschen. Sie unterdrückt den Betrug, schützt die Rechte der Kleinen und Niedrigen, zÜgelt die Raubgier und Ungerechtigkeit der Starken und begründet so die gesellschaftliche Ordnung. 2 Ohne sie gäbe es Anarchie, beständigen Kampf zwischen den sich gegenÜberstehenden Vorteilsbestrebungen, Bedrückung der Schwachen durch die Starken, Sieg des Bösen.

, Matth., V, 6.

2 So bemerkt BossuET, Sermon sur la Justice, ed. Lebarcq, t. V,

p. 161 .. Sage ich Gerechtigkeit, so nenne ich gleichzeitig das hl. Band der menschlichen Gesellschaft, den notwendigen ZÜgel der Schrankenlosigkeit... Herrscht Gerechtigkeit, so findet sich Treue in den Verträgen, Ehrlichkeit in den Geschäften. Ordnung in der Verwaltung. Die Erde erfreut sich der Ruhe, und selbst der Himmel gibt, sozusagen, helleren Glanz von sich und sendet uns grössere Fruchtbarkeit ...

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 725

Hat schon die natÜrliche Gerechtigkeit solche Vorzüge, wieviel mehr die christliche, die Anteilnahme an der Gerechtigkeit Gottes selbst ist! Vom HI. Geiste uns mitgeteilt, dringt sie bis in die Tiefen unserer Seele, macht sie unerschÜtterlich, unbestechlich und so besorgt um die Rechte des Nächsten, dass man nicht nur jede eigentliche Ungerechtigkeit, sondern auch die geringsten Verstösse gegen

das Taktgefühl scheut.

1039. 3. Hauptarten. Es sind zwei Hauptarten zu unterscheiden: Die allgemeine Gerechtigkeit, die uns vorschreibt, unseren Verpflichtungen den Gemeinschaftsverbänden gegenüber nachzukommen, und die besondere Gerechtigkeit, die sich auf unsere pflichten gegen die einzelnen bezieht.

a) Erstere, auch gesetzliche Gerechtigkeit genannt, weil sie auf genauer Beobachtung der Gesetze beruht, verpflichtet uns zur Anerkennung der von der Gemeinschaft empfangenen grossen Wohltaten, verlangt daher Ertragen der auferlegten gesetzmässigen Lasten und Leistung der erforderten Dienste. Da das Gemeinwohl dem Wohle des Einzelwesens vorgeht, gibt es Fälle, in denen die Bürger einen Teil ihrer Güter opfern, ja selbst ihr Leben zur Verteidigung des Staates aufs Spiel setzen müssen. - Aber die Gemeinschaft hat auch Pflichten den Untertanen gegenüber. Sie soll die gemeinschaftlichen Güter nicht nach Laune und Gunst, sondern nach den Fähigkeiten jedes Bürgers und mit Berücksichtigung der Billigkeitsvorschriften verteilen. Allen schuldet sie den unerlässlichen Schutz und Beistand zur Wahrung der Rechte und wesentlichen Interessen eines jeden Bürgers. Günstlingswirtshaft gegen die einen und Verfolgung gegen die andern sind Verstösse gegen die ausgleichende Gereclltigkeit, die von den Gemeinschaften ihren Mitgliedern

gegenüber geübt werden soll.

1040. b) Die zweite, die man besondere nennt, regelt die Rechte und pflichten der BÜrger untereinander. Sie muSS sich auf alle Rechte erstrecken, also nicht nur auf das Besz'tzrecht, sondern auch auf ihre Rechte bezüglich der GÜter des Leibes und der Seele, auf das Recht ihres Lebens, ihrer Frei-

heit, ihrer Ehre, ihres guten Rufes.

726

ZWEITES KAPITEL.

\Vir können nicht auf alle Einzelheiten hier eingehen, die wir schon in unserer Moraltheologie.r darlegten. Es genüge, an die haup.tsächlichsten Richtlinien zu erinnern, die bei Ubung dieser Tugend für uns in Betracht kommen.

Ir. Hauptrz'chtlz'nz'enfür die Übung der Gerechtzg"keit.

1041. 1. Grundsatz. Begreiflicherweise müssen fromme Menschen, Ordensleute und Priester, die Gerechtigkeit mit grösserer Vollkommenheit und feinerem Zartgefühl als die Weltleute Üben. Es ist ihre Pflicht, sowohl bezüglich der Rechtschaffenheit als auch in allen anderen Tugenden ein gutes Beispiel zu .. geben. Anders handeln, hiesse dem Nächsten Argernz's geben und unseren Gegnern einen Scheingrund liefern, um die Religion zu verwerfen. Es hiesse auch, dem gez'stlz'chen Forstschrz'tt ein Hz'ndernzs setzen. Denn der Gott aller Gerechtigkeit kann jene nicht zu seinen Vertrauten machen, die seine ausdrücklichen Gebote betreffs der Gerechtigkeit ganz offen verletzen.

1042. 2. Anwendungen. A) Zunächst muss man das Recht des Besz'tzes in bezug auf die zeitlichen GÜter achten.

a) Man vermeide daher mit grösster Sorgfalt die kleinen Diebstähle, die auf abwärtsgleitender Bahn oft zu grösseren Ungerechtigkeiten führen. Diesen Grundsatz präge man den Kindern schon ein und flösse ihnen eine Art unwillkÜrlichen Abscheu vor der kleinsten Ungerechtigkeit ein. Mehr noch sind jene Diebstähle zu vermeiden, wie sie von Kautleuten oder Gewerbetreibenden begangen werden : Gewohnheitsillässiger Betrug betreffs GÜte und Ge'wiclzts der Ware, unter dem Vorwande, ihre Konkurrenten handeln ebenso. Auch Verkauf zu übertriebenen Preisen oder Einkauf zu lächerlichen Preisen durch Missbrauch der Einfalt derer, mit denen sie ihre Abkommen treffen. Man halte sich fern von wagftalsigen Spekulationen, jenen verdächtigen Geschäften,

1 Synopsis theologial moralis, t. III. De virtute justitia!.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 727

bei denen man unter dem Vorwande, grosse Summen zu gewinnen, sein eigenes Vermögen und das der andern aufs

Spiel setzt.

b) Man hüte sich, Schulden ZU machen, wenn man nicht sicher ist, sie bezahlen zu können. Hat man bereits solche, so betrachte man es als Ehrensache, sie möglichst bald abzu-

zahlen.

c) Hat man einen Gegenstand entlehnt, so muss man ihn mit grösserer Vorsicht behandeln, als wenn er uns gehörte. Man darf nicht vergessen, ihn sobald als möglich zurÜckzuerstatten. Wieviel unbewusste Diebstähle geschehen nicht infolge der Nichtbeachtung dieser Vorsichtsmassregelnt

d) Hat man freiwillig irgend einen Schaden angerichtet, so verlangt die Gerechtigkeit, dass man ihn wiedergutmache. Geschah es unabsichtlich, so ist man dazu nicht streng verpflichtet. Wer aber nach Vollkommenheit strebt, tut es, soweit es ihm irgend möglich ist.

e) Bekam man Geldsummen oder Wertsachen für gute Werke zur Aufbewahrung, so treffe man alle notwendigen gesetzlichen Vorsichtsmassregeln, damit bei plötzlich eintretendem Todesfalle diese Summen ganz im Sinne der Spender verwendet werden. Das gilt besonders fÜr die Priester, die Messstipendien oder Almosen erhalten. Nicht nur mÜssen sie in geordneter Weise darÜber Buch führen, sondern auch als Universalerben oder Testamentsvollstrecker einen Priester bestimmen. Dieser kann fLir die Persolvierung der hl. Messen und fÜr die richtige Verwendung der Almosen

Sicherheit gewähren.

1043. B) Man muss auch ebenso den. guten Ruf und die Ehre des Nebenmenschen achten.

a) Man nehme sich daher vor freventlichen Urteilen über den Nächsten in acht. Auf biossen Schein hin oder aus mehr oder weniger nichtigen Gründen unsere BrÜder in Christo verurteilen, ohne gründliche Kenntnis ihrer Absichten, heisst sich die Rechte Gottes anmassen, der allein höchster Richter Über die Lebendigen und Toten ist. Es hiesse eine Ungerechtigkeit gegen den Nächsten begehen, denn man verurteilt ihn, ohne ihn ZU hören, ohne die geheimen BeweggrÜnde seiner Handlungen zu kennen, und zwar geschieht das meistens unter dem Einflusse von Vorurteilen oder irgend einer Leidenschaft. Gerechtigkeit und Liebe verlangen im Gegenteil, dass man sich entweder des Urteilens enthalte oder die Handlungsweise des Nächsten möglichst günstig auslege. b) Noch viel mehr muss man sich der Üblen Nachrede ent-

halten, durch die des Nächsten Fehltritte oder geheimen

728

ZWEI TES KAPITEL.

Fehler anderen bekannt gegeben werden. Vorausgesetzt, die Fehler seien wirklich vorhanden, so haben wir trotzdem nicht das Recht, sie zu offenbaren, solange sie nicht als öffentlich bekannte Tatsachen gelten. Tun wir es aber doch, so betrÜben wir erstens den Nächsten, dessen guter Ruf angegriffen wird, und zwar leidet er um so mehr, je mehr EhrgefÜhl er besitzt. Zweitens setzen wir ihn vor seinesgleichen in der Achtung herab. Drittens schaden wir seiner Autorität und dem Vertrauen, dessen er zur Führung seiner Geschäfte oder ZllT AusÜbung eines berechtigten Einflusses bedarf und verursachen aus diesem Grunde manchmal nicht wieder gut zu machenden Schaden.

Man sage nicht, jener von dessen Fehlern wir sprechen, habe kein Recht mehr auf seinen guten Ruf. Er geniesst dieses Recht, solange seine Vergehen nicht öffentlich sind. Schliesslich darf man das V/ort des Heilandes nicht ausser acht lassen; " Wer sich ohne Sünde weiss, werfe den ersten Stein! ", Es sei bemerkt, dass die Heiligen ausserordentlich barmherzig sind und auf jede Weise den guten Ruf ihrer Brüder zu schonen suchen. Wir können nichts Besseres tun, als ihrem Beispiele zu folgen.

c) Dadurch gehen wir der Gefahr aus dem Wege, andere zu verleumden, d. h. durch lügenhafte Beschuldigungen uns am Nächsten zu versündigen. Die Verleumdung ist eine um so grössere Ungerechtigkeit, weil ihr oft Bosheit oder Neid zugrunde liegt. Und wieviele Ubel zieht sie nach sich! Menschliche Bosheit fängt sie leider nur zu leicht auf, lässt sie dann sclmell von Mund zu Mund gehen, zerstört Ruf und Ansehen jener, die ihr zum Opfer fallen und fÜgt ihnen zuweilen in ihren Geschäften bedeutenden Schaden zu.

1044. Strenge Pflicht ist es daher, üble Nachrede und Verleumdungen wieder gut zu mac/len. Freilich ist das schwer, denn man straft sich selbst nicht gern Lügen, aber auch wenn man sein Wort noch so aufrichtig zurückzieht, so kann das begangene Unrecht doch nur sehr schwer wieder gut gemacht werden. Sogar die widerrufene Lüge lässt oft unauslöschliche Spuren zurück. Das ist freilich kein Grund, das begangene Unrecht nicht wieder gut zu machen, im Gegenteil, man muss sich um so mehr bemühen, es zu tun, je grösser das Unrecht gewesen ist. Die Schwierigkeit der SÜhneleistung soll uns

'Joh. VIII, 7.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 729

daher bewegen, uns alles dessen zu enthalten, das uns irgendwie in diesen Fehler fallen lassen könnte.

Jene, die nach Vollkommenheit streben, pflegen darum nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch die Nächstenliebe. Diese bewirkt, dass wir im Nächsten Gott sehen und sorgfältig alles vermeiden, was ihn betrüben könnte. Darauf kommen wir später noch zurÜck.

§ II. Die Tugend der Gottesverehrung. I 1045. Diese Tugend hängt mit der Gerechtzgkeit zusammen, weil wir durch sie Gott die ihm sclzuldz'ge Verehrung darbringen. Da wir aber ihm nicht die unmdlichen Huldigungen zollen können, auf die er Anrecht hat, erfüllt unsere Gottesverehrung nicht alle Bedingungen der Tugend der Gerechtigkeit. Deshalb ist sie nicht im eigentlichen Sinne ein Akt eier Gerechtigkeit, doch nähert sie sich ihr soviel wie möglich. - Wir legen dar: I. Wesen, 2. Notwendz'glcez't und 3. Ubung dieser Tugend.

I. Wesen der Tugend der Gottesverellrung.

1046. Die Gottesverehrung ist eine ÜbernatÜrHeize, sÜtlielle Tugmd, wodurc/l unser WÜle genezgt ge1!tacltt wird, Gott wegen sez'ner unendlz'chen Vollkommenheit und seiner höchsten J-lerrschaft über U1lS die ihm selllddz'ge Verehrung darzubringen.

a) Es ist eine in ihrer Art von den drei göttlichen Tugenden verschiedene Tugend. Diese haben Gott selbst zum unmittelbaren Gegenstand, während der der Gottesverehrung ezgene Gegenstand der innere und äussere Dienst Gottes ist. Sie setzt jedoch die Tugend des Glaubens voraus, wodurch wir über die

1 S. THOMAS, IIa ure. q. 84. - SUAREZ, De virtute ef statu religionis. t. T, I. 11. - BOUQU[LLO~. De virtute religionis. - J.-J. OLlER, Introd. a la vie et aux ,'erlus, eh.!. - MGR O'HULST, Fastenpredigten 1893. Conf. 1. - CH. OE SMEOT, op. eil. S. 35-I04. - RIBET, Les verllts, 2r. Kap.

730

ZWEITES KAPITEL.

Rechte Gottes erleuchtet werden. In ihrer Vollkommenheit erhält sie Gestalt von der Lz'ebe und ist schliesslich nur Ausdruck und Offenbarung der drei göttlichen Tugenden.

b) Ihr formaler Gegenstand oder Beweggrund ist die Anerkennung der unendlichen VorzÜglichkeit Gottes, des ersten Urgrundes und letzten Zieles, des vollkommenen \Nesens, des Schöpfers, von dem alles abhängt und dessen Einwirkung alles unterworfen ist.

c) Die durch die Gottesverehrung veranlassten Akte sind innerlich und äusserlz'ch.

1047. Durch die inneren Akte unterwerfen wir Gott unsere Seele mit ihren Fähigkeiten, beson .. ders Verstand und Willen. I) Der erste und wichtigste dieser Akte ist die Anbetung. Unser ganzes Wesen beugt sz'ch dadurch vor jenem, der die FÜlle alles Seins und die Quelle alles Guten im Geschöpfe ist. Im Geleit oder Gefolge der Anbetung ist die ehl/urchtsvolle Bewunderung beim Anblick seiner unendlichen Vollkommenheiten. 2) Und als dem Urheber aller Güter, die wir besitzen, bezeugen wir ihm Dankbarkeit. 3) Wir erinnern uns jedoch unserer SÜndhaftigkeit und erwecken in uns Bussgesz'nnung'e1Z, um die seiner Majestät zugefügte Beleidigung zu sühnen. 4) Da wir zum Vollbringen guter Werke und zur Erreichung unseres Zieles unaufhörlich seiner Hilfe bedÜrfen, richten wir an ihn unsere Gebete oder Bitten und erkennen ihn so als Quelle alles Guten an.

1048. Diese inneren Gesinnungen bekunden wir durch äussere Akte, deren \Vert um so grösser ist, je vollkommener die durch sie ausgedrückten, inneren Akte sind. I) Der hauptsächlz'chste dieser Akte ist unstreitbar das Opfer. Es ist dies ein äusserer, sozialer Akt, bez' dem der Priester im Namen der Kirche Gott ein Sclzlachtopfer darbringt,

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 731

und zwar z'n der Absz'cht, Gottes hiJ'chste Herrschaft anzuerkennen, dz'e seiner Majestät zugefügte Beleidz'gung zu sühnen und in Verez'nz'gung mz't zAnz zu treten. Im neuen Bunde gibt es nur ein Opfer, nämlich das der heiligen Messe. Es bringt durch die Erneuerung des Opfers auf dem Kalvarienberge Gott unendliche Huldigungen dar und erlangt für die Menschen alle Gnaden, deren sie bedürfen. Wir haben schon früher (N. 271-276) die Wz'rkungen der hl. Messe erwähnt, ebenso die zu ihrer N utzharmachung notwendigen Gesz'nnullgen, 2) Zu diesem hauptsächlichsten Akte treten noch: die im Namen der Kirche von ihren Vertretern dargebrachten, offentHchen Gebete, besonders das Chorgebet, der Segen mit dem Allerheiligsten, Ferner besondere mÜndliche Gebete und die mit Besonnenheit und zur Ehre Gottes abgelegten Ez'de und GelÜbde, wobei alle in den Abhandlungen der Moraltheologie be~~ichnetel1 Bedingungen zu beobachten sind. Aussere Übernatürliche Akte, die zur Ehre Gottes vollzogen werden, und, wie der hl. Petrus sagt, geistliche, Gott wohlgefällige Opfer sind. " Offerre spirituales hostias, acceptabz'les Deo, " r

Daraus lässt sich schliessen, dass die Gottesverehrung die vorzügli~hste der sittlichen Tugenden ist, denn durch die Ubung derselben kommen wir Gott näher als durch die anderen Tugenden.

I I. Notwendzglm't der Tugend der Gottesverehrung-.

Um ordnungsgemäss vorzugehen, zeigen wir :

1. dass alle Geschöpfe Gott Ehre zu erweisen haben.

2. dass es besonders die Pflicht des Mensclzen ist und, 3. vor allem die Pflicht des Priesters,

1049. 1. Alle Geschöpfe sollen Gott EItre erweisen.

Jedes Werk lobt den Meister, der es schuf. Wie viel

1 I Petr, II, S,

732

ZWEITES KAPITEL.

mehr soll daher das Geschöpf den Ruhm seines Schöpfers verkünden! Denn der Künstler schliesslich gestaltet nur sein Werk. Hat er es einmal fertiggestellt, so hört seine Tätigkeit auf. Der göttliche Künstler hat seine Geschöpfe nicht nur gebildet, er hat sie aus dem Nz'clzts hervorgezogen und ihnen nicht nur das Gepräge seines genialen Geistes, sondern auch den Widerschein seiner Vollkommenheiten aufgedrÜckt. Durch ihre Erhaltung, durch die Hilfe seines Bez'standes und seiner Gnade kÜmmert er sich noch weiter um sie, so dass sie in vollständiger Abhängigkeit von ihm sind. Weit mehr als die Werke eines Künstlers sollen sie deshalb den Ruhm ihres Urhebers verkÜnden. Das tun auf ihre Weise die leblosen \Vesen, denn durch Entfaltung ihrer Schönheit und ihres Ebenmasses fordern sie uns auf, Gott zu verherrlichen. " CmH enarrant gloriam Dez r ••. " z'pse fedt nos et non l'pSz' nos. "2 Aber diese Huldigung ehrt Gott nur sehr unvollkommen, denn sie hat nichts Freies an sich.

1050. 2. Dem Menschen also steht es zu, Gott in bewusster Weise zu verherrlichen, den leblosen Wesen sein Herz und seine Stimme zu leihen, um Gott freie und verständige Huldigung darzubringen. Ihm, dem Könige der Schöpfung, steht es zu, alle diese Wunderwerke zu schauen, um sie alle auf Gott zu beziehen und auf diese Weise der Hoheprz'ester der Schöpfung zu sein. Besonders aber soll er Gott in seinem eigenen Namen loben: vollkommener als die vernunftlosen Wesen ausgestattet, nach dem Ebenbilde und Gleichnisse Gottes erschaffen, am Leben Gottes teilnehmend, soll er in beständiger Bewunderung, Lobpreisung, Anbetung, Dankbarkeit und Liebe für seinen Schöpfer und Heiligmacher leben. Das sagt auch der hl. Paulus.3 " Aus ihm, durch ihn und in ihm ist alles. Ihm sei

1 Ps. XVIII, 2. - 2 Ps. XCIX, 3. - 3 Röm. XI, 36; xrv, 7-8.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 733

Ehre in Ewigkeit!... Denn leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. " Er erinnert seine Jünger daran, dass unser Leib, ebensogut wie unsere Seele, ein Tempel des hl. Geistes sei, wobei er hinzufügt : ., Verherrlichet Gott in eurem Leibe."" Glorificate et portate Deum z'n c01pore vestro. " r

1051. 3. Diese Pflicht obliegt ganz besonders den Priestern. Leider sind nämlich die meisten Menschen so in ihre zeitlichen Geschäfte und Vergnügen verstrickt, dass sie für die Anbetung Gottes nur sehr wenig Zeit verwenden. Es mussten daher aus ihrer Mitte eigene Beauftragte erwählt werden, damit diese, Gott genehm, nicht nur in ihrem Namen, sondern auch im Auftrage der Gesamtheit, dem Allerhöchsten die von ihm mit Recht beanspruchten Huldigungen darbrächten. Das nun ist die Aufgabe des katholischen prz·esters. Von Gott selbst aus der Mitte der Menschen heraus erwählt, ist er gleichsam der Gottverehrungsvermittler zwischen Himmel und Erde, beauftragt, Gott zu verherrlichen, ihm die Huldigungen aller Geschöpfe darzubringen und darauf Gnaden und Segnungen auf die Erde herabregnen zu lassen. Das ist seine Standespflicht, sein Amt, eine wahre Pflicht der Gerechtigkeit, wie der hl. Paulus 2 sagt: " Omnz's namque Pontzfex ex hominz'bus assumptus pro h011lz'nibus constituz'tur z'n iis qUa! sunt ad Deum, ut offerat dona et sacrijida pro peccatis." Aus diesem Grunde ,:,~rtraut ihm die hl. Kirche zwei grosse Mittel zur Ubung der Gottesverehrung an. Das Brevz'elgebet und die M. Messe. Dieser doppelten Pflicht soll er sich mit um so grösserem Eifer hingeben, als er durch die Verherrlichung Gottes diesen gleichzeitig zur Erhörung unserer Gebete geneigt macht. Dadurch bewirkt er seine eigene Heiligung und die

'I. Kor. vr, 20.- 2 Hebr. V, I.

734

ZWEITES KAPITEL.

der ihm anvertrauten Seelen (N. 393-401). Seine Gebete haben grosse Wirksamkeit, denn es ist ja die Kirche, es ist Jesus, der mit ihm und in ihm betet. Christi Gebete aber werden allzeit erhört: exaudz'tus est pro sua reverenÜ·a. r

111. Übung der Tugend der Gottesverehrung.

1052. Zur richtigen Übung dieser Tugend bedarf es der Pflege wahrer FriJ'mmz'gkez't. Diese aber besteht in der blez'benden Genez'gthez't des Wz'llens, sich schnell und grossherzz'g an alles zu geben, was zum Dienste Gottes g-eho·rt. Im Grunde genommen, ist es eine Bekundung der Liebe zu Gott, und so hängt die Gottesverehrung mit der Tugend der Liebe zusammen.

1053. I. Anfänger Üben diese Tugend: a) durch treues Beobachten der Gebote Gottes und der Kirche betreffs Gebet, Heiligung der Sonn- und Festtage. b) Durch Vermeiden der gewohnten äusseren und inneren Zerstreutheit, einer Quelle häufiger Ablenkungen im Gebet. Also durch .. eine gewisse \Vachsamkeit im Kampfe gegen die UberHutung weltlicher Lustbarkeiten, eitler Träumereien .

. c) Durch innere Sammlung vor dem Gebet, zwecks grösserer Aufmerksamkeit, und durch Übung der Gegenwart Gottes (N. 446).

1054. 2. Die Fortschreitenden mögen sich bemühen, in den Geist der Gottesvere1trzmg einzudringen, in Vereinigung mit Jesus, dem grossen Verehrer seines Vaters (" le grand Religieux du Pere "). J esus nämlich verherrlichte Gott im Leben wie im Tode auf unendliche Weise (N. 151).

a) Dieser Geist der Gottesverehrung begreift zwei Hauptgesinnungen, Eh1:furcht und Liebe. Die Ehrfurcht ist eine Gesinnung tiefer Ehrerbietung und

'Hebt'. V, 7.

DIE SJTTLICHEN TUGENDEN. 735

Gottesfurcht, wodurch wir Gott als unseren Schöpfer und höchsten Herrn anerkennen und uns freuen, unsere unbedingte Abhängigkeit von ihm laut zu verkünden. Liebe wendet sich dem überaus liebenswürdigen lind liebevollen Vater zu, denn es gefiel ihm, uns als seine Kinder anzunehmen. Er hört auch nicht auf, uns mit zärtlicher Vaterliebe zu umgeben. Dieser zweifachen Gesinnung entspringen alle anderen: Bewunderung, Dankbarkeit und Lobpreisung.

1055. b) Im Heilz'gsten Herzen Jesu. ist es, wo wir diE?se Gesinnungen der Gottesverehrung schöpfen sollen. J esus, der göttliche Vermittler, hat nur zur Verherrlichung seines Vaters gelebt. "Ego te darijicavi super terram." Er starb, um Gott wohlzugefallen, um ihn zu versöhnen und bezeugte dadurch, dass er nichts fand, was würdig wäre, zu leben und vor Gott zu bestehen. Nach seinem Tode setzt er sein Werk fort, nicht nur im Allerheiligsten Altarssakramente, wo er die Allerheiligste Dreifaltigkeit anzubeten nicht aufhört, sondern auch in unseren Herzen. In ihnen bewirkt er durch seinen göttlichen Geist, dass unsere Seele von ähnlichen Gesinnungen erfÜllt wird wie die seinigen. In allen Christen lebt er, besonders aber in seinen Priestern. Durch sie erhöht er den Ruhm desjenigen, dem allein Anbetung und Ehrfurcht gezollt werden muss. Durch sehnliches Verlangen sollen wir darum ihn in unser Herz eingehen lassen und uns ihm schenken, damit er in uns, mit uns und durch uns die Tugenden der Gottesverehrung übe.

" Dann kommt er in uns ", schreibt J.-J. OIier, I " und Überlässt sich uns hier auf Erden in den Händen der Priester als Lobopfer, um uns mit seinem Opfergeist zu vereinen, um uns an seinen Lobpreisungen teilnehmen zu lassen und um uns innerlich die Gesinnungen seiner Gottesverehrung mitzuteilen. Er verbreitet sich in uns, durchdringt uns allmählich,

I 11lf1'od. a la vie et aux vertus, r. Kap.

736

ZWEITES KAPITEL.

erftillt unsere Seele mit Wohlgerüchen und mit den inneren Gesinnungen seines religiösen Geistes. So wird aus unserer und seiner Seele eine einzige, die er belebt mit ein und demselben Geiste der Ehrfurcht, der Liebe, des Lobes, der inneren und äusseren Aufopferung aller Dinge zur Ehre Gottes, seines Vaters."

1056. c) Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass J esus unse1'e Mitarbeit verlangt. Da er in qer hl. Kommunion zu uns kommt, um uns an seinem Zustande und Geiste als Opfer teilnehmen zu lassen, müssen wir mit ihm und in ihm im Opfergeist leben, daher die ungeordneten Neigungen kreuzigen und behend den Eingebungen der Gnade folgen. Dann werden alle unsere Handlungen Gott wohlge.fällig und ebensoviele Opfer sein, Akte der Gottesverehrung, zum Lobe und zur Verherrlichung Gottes, unseres Schöpfers und unseres Vaters. Dadurch werden wir durch die Tat verkünden, Gott sei alles, das Geschöpf nichts, denn im einzelnen bringen wir unser ganzes Wesen, alle unsere Handlungen zur Ehre Gottes, unseres höchsten Herrn, dar.

d) Das tun wir besonders durch die Handlungen, die recht eigentlich Akte der Gottesverehrung sind, durch Beiwohnen der hl. Messe, Verrichten der liturgischen und anderer Gebete, wie wir bereits erklärten (N. 274, 284, 523).

N. B. - Die Vollko1lZmenen Üben diese Tugend unter Beeinflussung der Gabe der Främmz'gkeit. Darüber sprechen wir später.

§ III. Die Tugend des Gehorsams. I Diese Tugend hängt mit der Gerechtigkeit zusammen, weil der Gehorsam eine den Oberen schul-

, s. J. KUMACHUS. L·lchelle. IV. - S. THoMAs, IIa II"', q. r04- 105· - Hl. KATHARINA VON SIENA, Dialog., T. 11. - Hl. FRANZ V. SALES. P/lilothea, 3. B., Ir. Kap. ElItretiens, X-Xl. - RODRIGUEZ, P. III, Tr. V. Vom Gehorsam. - J.-J. OLlER, Introd., I3. Kap. _ TRoNsoN, De l'oblissallce. - Hl. LIGUORI, La veritable epouse, 7. Kap.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 737

dige Huldigung, ein Akt der Unterwürfigkeit ist. Er unterscheidet sich jedoch von der Gerechtigkeit, weil er Ungleichheit zwischen Vorgesetzten und Untergebenen schafft. Wir legen dar : r. Sein T17esen und seine Grundlage,' 2. seine Grade " 3. seine Ez'g-enschaj"ten und 4. seine Vorzüglichkez't.

I. Wesen und Grundlage des Gehorsams.

1057. r. Definition. Der Gehorsam ist eine sz'ttliche, übernatürliche Tugend, die uns genez'gl macht, unseren Wz'llen dem der rechtmässzgen Oberen als den Stellvertretern Gottes zu unterweifen. Zunächst sind die letzten \Vorte näher zu erklären, denn sie bilden die Grundlage des christlichen Gehorsams.

1058.2. Grundlage dieser Tugend. Der Gehorsam gründet sich auf die Oberherrschaft Gottes und die vom Geschöpfe ihm schuldige unbedingte U nterwerfung.

A) An erster Stelle ist einleuchtend, dass wir Gott gehorchen mÜssen (N. 481).

I) Von Gott erschaffen, sollen wir in vollständiger Abhängigkeit von seinem Willen sein. Alle Geschöpfe gehorchen seiner Stimme. " Omnia serviunt tibi. "1 Die vernunftbegabten Geschöpfe jedoch haben diesbezüglich eine grössere Verpflichtung, weil sie mehr empfangen haben. Dazu gehört besonders die Gabe der Freiheit, fÜr die wir uns durch freiwillige U nterordnu.ng unseres Wollens unter das unseres Schöpfers am besten erkenntlich zeigen. 2) Als Kinder Gottes schulden wir unserem himmlischen Vater Gehorsam nach dem Vorbilde Jesu. Im Gehorsam zur Welt gekommen, verliess Jesus die Welt auch nur aus Gehorsam: "Factus obediens usque ad mortem. "23) Aus der Knechtschaft der Sünde erkauft, gehören wir nicht mehr uns an, sondern J esus Christus, der sein Blut hingab, um uns zu den Seinigen zu machen. "jam non estis vestri, empti enim estis pretio magno. "3 Deswegen schulden wir seinen Geboten Gehorsam.

- MGR GAY, Vie et vertus, tr. XI. De l'obeissance. - CH. DE SMEDT, No/re vie surnat., t. II, S. 124-151. - RIBET, Vertus. 29. Kap.

D. C. MARMION, Le Cllrist, ideal du moine, Conf. xrI. S. 334-389.

1 Ps. CXVllr, 91. - 2 Pllil. II, 8. - 3/. Kor. vr, 20.

N° 683. - 24

738 ZWEITES KAPITEL.

1059. B) Daher sollen wir den rechtmässigen Vertretern Gottes gehorchen. Dieser Punkt muss gut verstanden werden. a) Da der Mensch für seine leibliche, geistige und sittliche Heranbildung sich nicht selbst genügen kann, sollte er nach Gottes Willen in Gemez'nschaft leben. Die Gemeinschaft bedarf einer Obergewalt, wodurch die Anstrengungen ihrer Mitglieder auf das Gemeinwohl gerichtet werden. Gott will also eine hierarchische Gemeinschaft, bestehend aus Vorgesetzten, die zu befehlen haben und aus Untergebenen, die gehorchen müssen. Um diesen Gehorsam zu erleichtern, überträgt er seine Gewalt auf die rechtmässigen Oberen. " Non est enz'm potestas nz'sz' a Deo. " 1 Infolgedessen kommt der Gehorsam gegen diese dem gegen Gott gleich. Der Ungehorsam gegen sie heisst, seiner eigenen Verurteilung entgegeneilen. "Itaque quz' resistz't potestatz' Dei ordz'nationi resz'stz't, quz' autem resz'stunt, zpsz' sz'bi damnatz'onem acquirunt." 2 Die Vorgesetzten haben die Pflicht, nur als Abgesandte Gottes zu seiner grösseren Ehre und zur Förderung des Gemeinwohls ihre Autorität auszuÜben. Fehlen sie dagegen, so sind sie wegen Missbrauchs der Vollmacht Gott und dessen Stellvertretern verantwortlich. Den Untergebenen obliegt die Pflicht, Gottes Stellvertretern wie Gott selbst zu gehorchen. " Qui vos audz't, 1tZe audit ... qui vos spernit, 1ne spernz't. " 3 Der Grund dafÜr ist leicht einzusehen. Ohne diese Unterordnung wäre in den verschiedenen Gemeinschaften nur Unordnung und Zuchtlosigkeit. Alles würde darunter leiden.

1060. b) Weiches sind nun aber die 1wlztlllässz'gen Oberen? Es sind jene, die von Gott an die Spitze der verschiedenen Gemeinschaften gestellt wurden.

I) In der natÜrlichen Ordnung lassen sich drei Arten von Gemeinschaften unterscheiden : die Haus- oder Familien-

1 Röm. XIII, r. _. Rölll. XIII, 2. - 3 Lu!;., X, 16.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 739

gemeinschaft, der die Eltern vorstehen, namentlich der Vater. Die biirgerliclze Gemeinschaft, die von den rechtmässigen Inhabern der Gewalt geleitet wird, je nach den verschiedenen Regierungsformen der einzelnen Nationen. Die Betriebsgemeinschaft, in der Meister und Gesellen nach den im Arbeitskontrakt festgesetzten, beiderseitigen Rechten und Pflichten gemeinsam arbeiten. '

2) In der übernatürliclten Ordnung sind folgende Rangstufen: der Papst, dessen höchste und unmittelbare Gewalt sich auf die gesamte Kirche erstreckt. Die Bz'scllöfe, deren Jurisdiktion sich auf ihre entsprechenden Diözesen erstreckt. Ihnen untergeordnet, die Pfarrer und Kapläne, jeder in den vom Kirchenrecht vorgezeichneten Grenzen. Ausserdem gibt es in der Kirche besondere Gemeinschaften mit vom Papste oder den Bischöfen gebilligten Konstitutionen und Regeln und mit Oberen, die den letzteren entsprechend ernannt werden. Also auch hier finden wir rechtmässige Vorgesetzte. Wer daher einer Gemeinschaft beitritt, verpflichtet sich dadurch zur Beobachtung der Regeln und zum Gehorsam gegen die Oberen innerhalb der von der Regel bestimmten Grenzen.

1061. C) Der Ausübung der Vollmacht sind somit Grenzen gezogen.

I) Zunächst ist es selbstverständich, dass weder Verpflichtung noch Erlaubnis besteht, einem Vorgesetzten zu gehorchen, wenn es sich um einen Befehl handelt, der offenbar gegen die Gebote Gottes oder der Kirche verstiesse. In diesem Falle gilt das \,tVort des hl. Petrus 2 : "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen." Obedz're oportet Deo 11lagis quam IW11lz·1Zibus. Ein befreiendes Wort, das die christliche Freiheit vor jeder Tyrannei schützt 3.

, Siehe das Rundschreiben LEO xrn. Rermn Novarum und unsere Abhandlung De justitia, in der wir dasselbe erörtern.

, Apostelgesch. V. 29.

3 So lehrt der hl. FRANZ V. SALES. Entretiens spirit., rr. Kap .. S. 170- 17I. : .. Viele gaben sich grosser Täuschung hin ... sie glaubten. er bestände darin. unbedachterweise alles Befohlene zu tun, selbst wenn

740

ZWEITES KAPITEL.

Ebenso stünde es bei einem augenscheinlich unmöglich ausznführenden Befehl. "Ad impossibile nemo temtur. " Da wir aber alle der Täuschung zugänglich sind, muss man im Falle eines Zweifels annehmen, der Vorgesetzte habe recht : in dubio praesumptio

stat pro superiore.

2) Befiehlt ein Oberer etwas ausserhalb seiner Befugnis, widersetzt sich z. B. ein Vater dem reiflich erwogenen Berufe seines Kindes, so überschreitet er seine Rechte, und man ist nicht gehalten, ihm zu gehorchen. Ebenso verhielte es sich, würde der Obere einer Genossenschaft einen Befehl erteilen, der ausserhalb des Belanges der Konstitutionen und Regeln wäre, denn diese bestimmen weise die Schranken seiner Gewalt.

11. Die Grade des Gehorsams.

1062. I. Anfänger mögen sich vor allem bemühen, die Gebote Gottes und der Kirche genau zu halten und sich wenigstens äusserlich den Befehlen der rechtmässigen Vorgesetzten mit Eifer, Pünktlichkeit und übernatürlichem Geiste zu unter-

werfen.

1063. 2. Seelen, die bereits Fortschritte gemacht haben, a) betrachten sorgfältig die Beispiele, die Jesus uns gibt vom ersten Augenblicke seines Lebens an, da er sich anbietet, um in allem den Willen seines Vaters zu tun, bis zum letzten Atemzug, wo er als Opfer seines Gehorsams stirbt. Sie bitten ihn flehentlich, mit diesem Geiste des Gehorsams zu ihnen zu kommen und in ihnen zu leben. Sie geben sich Mühe, sich mit ihm zu vereinigen, um den Vorgesetzten gegenüber gehorsam

es gegen die Gebote Gottes oder der Kirche wäre. Darin irrten sie sich sehr ... denn da die Oberen nie die Befugnis haben, etwas zu befehlen, was den Geboten Gottes widerspricht, so haben die Untergebenen auch keinerlei Verpflichtung, in einem solchen Falle zu gehorchen, ja, sie wiirrlen sich durch Gehorsam versündigen. "

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 741

zu sein, wie er selbst einst Maria und J oseph gehorchte. "Et erat subdz'tus illis" I.

b) Sie begnügen sich nicht mit dem äusserlichen Gehorsam, sondern unterwerfen auch innerlich ihren Willen, selbst in schwierigen und ihren Neigungen widerstrebenden Dingen. Sie tun es von ganzem Herzen, ohne zu klagen und sind glücklich, dadurch ihrem göttlichen Vorbilde gleichförmiger zu werden. Besonders vermeiden sie alle Umwege, um den Oberen zu bestimmen, das zu wÜnschen, was sie wollen. " Denn ", sagt der hl. Bernhard. "wenn du etwas begehrst und deshalb offen oder heimlich bei deinem geistlichen Vater dich bemÜhst, ihn dahin zu bringen, dass er dir wirklich das befiehlt, wonach du dich sehnst, so täuschst du dich selbst, wenn du glaubst, du seist gehorsam. Nicht du gehorchst, sondern der Obere gehorcht dir. " 2

1064. 3. Vollkommene Seelen gehen noch weiter. Sie unterwerfen ihr Urtet't dem des Oberen, ohne erst die Gründe des Befehls zu untersuchen.

Das erklärt sehr gut der hl. Ignatius. 3 : " Wer aber die völlige Hingabe seiner selbst zu vollziehen sich entschlossen hat, muss ausser dem Willen auch noch sein Urteil opfern ... so dass er nicht nur wolle, was der Obere will, sondern auch innerlich mit dem Urteile des Oberen Übereinstimme soweit der Verstand durch die Kraft des Willens einer Beeinflussung zugänglich ist... vVie unser Wille auf Irrwege geraten kann, so auch der Verstand, namentlich in dem, was uns selbst betrifft. Findet man es also zweckmässig, seinen Willen mit dem des Oberen in Einklang zu bringen, um nicht auf Abwege zu geraten, so muss man auch, aus Furcht, falsch zu urteilen, mit dem Urteile des Oberen Übereinstimmen. " Der hl. 19natius fügt jedoch hinzu: "Fasst jemand eine Sache anders als der Obere auf und hält man nach verrichtetem Gebete es fÜr eine Pflicht, es dem Oberen mitzuteilen, so kann man es tun. Um jedoch dabei nicht von der ungeordneten Eigenliebe und vom Eigensinn getäuscht zu werden, sei vor und nach erfolgter Aussprache der innere Gleichmut zu bewahren, stets bereit, nicht nur auszufÜhren oder zu unterlassen, worum es sich handelt, sondern auch zu billigen und es fÜr das Beste zu halten, was immer der Obere bestimmen wird." - Das ist, was man als blinde?1 Gehorsam bezeichnet, so dass man in der Hand der Vorgesetzten sei" perinde ac baculus ... perinde ac cadaver 4". Mit den vom hl. Ignatius gemachten Ausnahmen

1 Luk. II, SI. - 2 Serm. de diversis, XXXV, 4.

3 BriejCXX. - 4 S. }GNAT. Constit., VI, § I, reg. 36.

742

ZWEITES KAPITEL.

und denen, die wir oben erwähnten, hat ein solcher Gehorsam nichts UnvernÜnftiges, denn Gott ist es, dem wir Willen und Verstand unterwerfen. Bei der Abhandlung über die Eigenschaften des Gehorsams werden wir das noch ausfÜhrlicher darlegen.

II I. Die Eigmschaftm des Gehorsams.

Der vollko1ll1llme Gehorsam muss sein : über1Z(~türlich der Absicht nach, allgemein der Ausdehnung nach, vollständig der Ausführung nach.

1065. I. Übernatürlich der Absicht nach. Das soll heissen, Gott selbst oder J esus Christus erscheine uns in unseren Vorgesetzten, weil sie ihre Gewalt nur durch ihn erhalten haben. Nichts macht den Gehorsam leichter als das. 'vVer wollte sich weigern, Gott zu gehorchen? In diesem Sinne ermahnt der hl. Paulus die Diener : "Gehorcht euren Herren mit Furcht und Zittern, in der Einfalt eures Herzens, wie Christus. Nicht in Augendienerei wie solche, die den Menschen gefallen wollen, sondern als Diener Christi, den Willen Gottes erfü llend. "lVon ad oculu71Z servientes, quasi lzomim'bus placmtes, sed ut servz' Christz',facz'mtes voluntatem Dei ex I1m'mo" I.

Das schrieb auch der hl. Ignatius an seine Ordenssöhne in Portugal. "Darum wünsche ich, dass ihr emsig Sorgfalt und MÜhe darauf verwendet, Christum, den Herrn, in jedem Oberen anzuerkennen und in ihm der göttlichen Majestät Ehrfurcht und Gehorsam mit der grössten Gewissenhaftigkeit zu erweisen ... Sie sollen niemals auf die Person sehen, der sie gehorchen, sondern in ihr Christus, den Herrn, erblicken, dem zuliebe der Gehorsam zu leisten ist. Denn nicht etwa, weil der Obere sehr klug oder sehr tugendhaft ist oder mit irgend welchen anderen Gaben Gottes ausgezeichnet ist, sondern weil er Gottes Stelle vertritt, muss man ihm gehorchen... Ebensowenig darf man etwa einen Mangel an Klugheit bei dem Oberen zum Vorwande nehmen, um ihm mit weniger Gewissenhaftigkeit zu gehorchen, denn in seiner Eigenschaft als Oberer stellt er die Person dessen dar, der

, l!.phes. VI, 5-9.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 743

die unfehlbare Weisheit ist und selbst ergänzen wird, was seinem Diener bei der AusÜbung seines Amtes mangelt, sei es an Tugend, sei es an anderen guten Eigenschaften" '.

Dieser Grundsatz ist durchaus weise. Gehorchen wir nämlich heute dem Oberen, weil seine Eigenschaften uns zusagen, was tun wir morgen unter einem Oberen, der uns dieser Eigenschaften bar erscheint? Geht da nicht auch unser Verdienst verloren, wenn wir uns einem von uns geschätzten Menschen anstatt Gott selbst unterwerfen? Schauen wir also nicht auf die Fehler unserer Oberen, weil das den Gehorsam erschwert, noch auf ihre guten Eigenschaften, weil das ihn weniger verdienstlich macht, sondern auf den lebendigen Gott, der durch ihre Person befiehlt.

1066. 2. Allgemein in seiner Ausdehnung, d. h. allen Befehlen eines rechtmässzgm Oberen ist Folge zu leisten, wenn er rechtmässig befiehlt. Der Gehorsam unterwirft sich daher, wie der hl. Franz v. Sales 2 sagt, " in Liebe, alles Befohlene zu tun, und zwar in aller Einfachheit, ohne jemals auf das \Nie des Befehls zu achten, wenn nur der Befehlende die Befugnis hat und das Befohlene zur Vereinigung unseres Geistes mit Gott dienen kann." Er fügt jedoch hinzu, dass man zur Gehorsamsverweigerung verpflichtet sei, sobald der Obere etwas befehle, was offenbar dem göttlichen Gebote widerstrebe. Sonst wäre es ein unbesonnener Gehorsam, wie der hl. Thomas sagt. "Obedimtia ... z'ndiscreta, qua: etiam in zllz'citz's obedz't. " 3

Solche Fälle ausgenommen, kann der wahrhaft Gehorsame nicht irregehen, selbst wenn der Obere sich irrt und minder Gutes befiehlt, als was man tun möchte. Dann belohnt nämlich Gott, der die Herzen durchforscht, den Gehorsam und sichert den Erfolg des im Gehorsam Unternommenen. Bei Auslegung der Worte" vir obedz'ens loquetur victon'as"

1 Brief CXX. - 2 Entretiens spirit. II. Kap. S. 170. 3 S. Thomas, IIa IIre, q. 104, a. 3 ad 3.

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ZWEITES KAPITEL.

sagt der hl. Franz v. Sales 1 " Der wahrhaft Gehorsame bleibt Sieger in allen Schwierigkeiten, in die er durch den Gehorsam gefuhrt wird und wird in Ehren die vVege des Gehorsams wandeln, wie gefahrvoll sie auch immer sein mögen." Mit anderen Worten, unser Vorgesetzter kann sich beim Befehlen irren, wir jedoch sind nie einem Irrtume ausgesetzt, wenn wir gehorchen.

1067. 3. VOllständig der Ausdehnung nach, folglich pünktlich, ohne Vorbehalt, beharrlich und sogar freudig.

a) PÜnktlich, denn bei vollkommenem Gehorsam gehorcht man schnell, und zwar aus Liebe. "Der Gehorsame liebt den Befehl und sobald er ihn von weitem wahrnimmt, worin er auch immer bestehe, ob nach seinem Geschmack oder nicht, nimmt er ihn gern entgegen, hält ihn für etwas Wertvolles und sorgt gewissenhaft für dessen Ausführung" 2.

Das sagt auch der hl. Bernhard 3 : " Der wahrhaft Gehorsame kennt keinen Vorzug_ Er verabscheut den Aufschub, weiss nichts von Verspätung, ja, er kommt dem Befehl zuvor. Seine Augen sind wachsam, ebenso seine Ohren. Seine Zunge zum Sprechen bereit, seine Hände zur Tat, seine FÜsse reisefertig. Seine Aufmerksamkeit ist gespannt, um sofort den Befehl des Oberen zu erfassen ".

b) Ohne Vorbehalt. Eine Wahl nämlich treffen, in gewissen Dingen gehorchen und in anderen nicht, heisst, das Verdienst des Gehorsams verlieren, den Beweis liefern, dass man sich unterwirft, wenn die Sache zusagt, mit anderen Worten, dass man also nicht aus übernatürlicher Gesinnung handelt. Denken wir doch an das, was der Heiland gesC\gt hat:

"Nicht ein Strichlein oder ein Punkt vom Gesetze wird vergehen, bis alles geschieht. "Iota unum aut unus apex non prceteribit a lege donec o1nnia flant.4 "

Er verlangt von uns auch Beharrlichkeit. Darin liegt eines der grossen Verdienste dieser Tugend, "denn es fällt nicht

1 Vrays Entre!. spirit. II. Kap. S. 191. - 2 lbid. S. 178. 3 Sermo de diversis, XLI, 7. Man lese die ganze Predigt. 4 Matth. V, 18.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 745

schwer, eine befohlene Sache einmal oder so oft man will gern zu tun. Sagt man uns aber: " Das haben Sie immer zu tun, Ihr ganzes Leben lang ", dazu gehört Tugend und darin liegt die Schwierigkeit. 1

c) Freudig-. "Hilarem enim datorem dilig-it Deus. "2 Nur wenn der Gehorsam von der Liebe getragen wird, kann er in mühsamen Dingen freudig sein. Dem Liebenden fällt nichts schwer, weil er nicht an das Leiden, sondern an den denkt, fÜr den er leidet. Sieht man nun den göttlichen Meister in der Person des Befehlenden, wie sollte man ihn nicht lieben, wie sollte man nicht grossherzig das kleine Opfer bringen, das derjenige von uns verlangt, der als Opfer seines Gehorsames den Tod fÜr uns erlitt? - Darum ist stets der von uns gesetzte, allgemeine Grundsatz zu erneuern : Gott muss man in der Person des Oberen sehen. Dann b~greift man auch besser den hohen "Vert und die Früchte des Gehorsams.

IV. Vorzüglichkeit des Gehorsams.

1068. Aus dem Gesagten geht die VorzÜglichkeit des Gehorsams hervor. Der hl. Thomas zögert nicht, zu erklären, nach der Tugend der Gottesverehrung sei der Gehorsam die vollkommenste aller sittlichen Tugenden. Mehr als die anderen verbinde er uns mit Gott, insofern er uns von unserem Eigenwillen, dem grössten Hindernisse für die Vereinigung mit Gott, loslöse. 3 Ausserdem ist er der Vater und Beschützer der Tugenden und verwandelt unsere gewöhnlichen Handlungen in Tugendakte.

1069. I. Der Gehorsam vereinigt uns mit Gott und bewirkt, dass wir gewohnheitsmässig am Leben Gottes teilneJl1nen.

1 Bl. FRANZ V. SALES, ElIh·eI. spirit., II. Kap. 2 1/. Kor. IX, 7 ..

3 Sumo theol. IIa IIre, q. 104, a. 3 ..

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ZWEITES KAPITEL,

a) Tatsächlich unterwirft er unseren Willen unmittelbar dem göttlichen und mit dem Willen auch unsere Fähigkeiten, insofern sie vom Willen abhängig sind. Diese Unterwerfung geschieht freiwillig, ist darum um so verdienstlicher. Die unbeseelten Geschöpfe gehorchen Gott aus der Notwendigkeit ihres Wesens heraus. Der Mensch jedoch aus freier Wahl seines Willens. Somit bringt er seinem höchsten Herrn sein Teuerstes dar und bringt ihm das wertvollste Opfer. "Per obedientiam mactatur propria voluntas.'" So tritt er in Verbindung mit Gott, denn er hat keinen anderen als Gottes \Villen und wiederholt das heldenhafte Wort J esu auf dem Olberge : " Non mea voluntas, sed tua fiat!" 2 Eine sehr verdienstliche und sehr heiligende Vereinigung ist das, denn dadurch wird der Wille, unser kostbarstes Gut, mit dem allzeit guten und heiligen Willen Gottes eins.

b) Und, da der Wille der König aller Fähigkeiten ist, so vereinigen wir durch seine Verbindung mit Gott alle anderen Fähigkeiten unserer Seele. Dies ist ein grösseres Opfer als das der äusseren Güter durch Armut, als das der Güter unseres Leibes durch Keuschheit und Abtötung. Es ist in der Tat das vorzÜglichste aller Opfer. " Melior est obedientia quam victil1ue. " 3

c) Er ist auch das beständigste und dauerndste Opfer. Bei der sakramentalen Vereinigung bleiben wir nur kurze Zeit mit Gott vereint. Gewohnheitsmässiger Gehorsam aber stellt zwischen unserer Seele und Gott eine Art bleibender, geistiger Vereinigung her. Wir bleiben dann in ihm, wie er in uns bleibt, denn wir wollen alles, was er will und nichts als was er will. " Unum velle, unum nolle. " Das ist eigentlich die wirklichste, innigste und zweckmässigste Vereinigung, die es gibt.

1070. 2. Folgerichtig ist der Gehorsam der Vater und Beschützer aller Tugenden nach dem schönen Auspruch des hl. Augustinus : " Obedie1Ztia in creatura rationali mater quodammodo est custosque virtutum. " 4

a) Er wird tatsächlich eins mit der Liebe,,, denn," so lehrt der hl. Thomas,,, Liebe bewirkt vor allem Einheit des Wollens." "In Izoc caritas Dei peifecta est quia amicitia facit z'dem 'l!elfe ac nolle. " 5 Ist das

1 S. GREGORIUS, Mora!, 1. XXV, C. 10. - 2 Lukas, XXII, 42. 3 I Reg. XV, 22. - 4 De Civit. Dei, 1. XIV, C. 12.

5 Sumo (keo!. IIa II"', q. 104, a. 3.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 747

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nicht auch die Lehre des hl. Johannes? Nachdem er erklärt hat, der, welcher behaupte, Gott zu lieben, die Gebote aber nicht halte, sei ein Lügner, fügt er hinzu: " Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrhaft die Liebe zu Gott vollkommen, und daran erkennen wir, dass wir in ihm sind." Qui autem servat verbum f!jus, vere in hoc caritas Dei peifeäa es! : et in hoc scimus quoniaHI in ipso sUJnus. " I Lehrt das nicht auch der göttliche Meister, wenn er sagt, ihn lieben heisse, seine Gebote halten? "Sz dzligÜz's me, servate mandata." 2 Somit ist wahrer Gehorsam, im Grunde genommen, ein vorzüglicher Liebesakt.

o n s r 1 I

1071. b) Durch den Gehorsam üben wir auch die anderen Tugenden, insofern sie geboten oder wenigstens angeraten sind." Ad obedientiam pertz'nent omnes actus virtutum, prout szmt z'n prcecepto. " 3

So Üben wir durch ibn Abtötung und Busse, beide im Evangelium so oft vorgeschrieben, ferner Gerechtigkeit, Gottesverehrung, Nächstenliebe und alle im Dekalog enthaltenen Tugenden, Durch ihn gleicben wir sogar den lVIärtyrern, die ibr Leben für Gott hinopfern. So fasst es nämlich der hl. Ignatius auf: 4 " Durch ihn werden Wille und eigenes Urteil zu allen Zeiten hingegeben und als Brandopfer auf dem Altare niedergelegt. Statt des eigenen freien Willens herrscht im Menschen der Wille J esu Christi, unseres Herrn, der uns durch den Befeblenden kund getan wird. Beim Gehorsam wird nicht nur, wie beim Martyrium, das Verlangen zu leben hingeopfert, sondern alles Wünschen und Verlangen zugleich." Ähnlicbes sprach auch der hl. Pakomius zu einem jungen Ordensmann, der sich nach dem Martyrium sehnte: " Martyrer genug ist derjenige, der sich recht abtötet. Grösseres Martyrium ist es wahrlich, das ganze Leben hindurch im Gehorsam auszuharren, als auf einmal durch einen Schwertstreich das Leben zu lassen. "5

1072. c) Der Gehorsam gibt uns daher vollkommene Sicherheit. Uns selbst überlassen, könnten

1 J. Joh. II, 3. - 2 Joh. XIV, 15.

3 S. THOMAS, I ja 11<1', q. 104, a. 3 ad 2. - 4 Ep. cit.

5 Zitiert v. hl. FRANz V. SALES in Entntiens spirit., S. 183.

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ZWEITES KAPITEL.

wir über das Vollkommenste im Zweifel sein. Der Gehorsam weist uns für jeden Augenblick unsere Pflicht an, zeigt uns also den sichersten Weg zur Heiligung. Handeln wir nach den Vorschriften des Gehorsams, so verwirklichen wir in möglichst vollkommener Weise die fÜr Vollkommenheit verlangte, wesentliche Bedingung, nämlich die Erfüllung des göttlichen Willens. "QUI2 placita sunt ei facio semper. "

Daraus ergibt sich ein GefUhl unerschÜtterlichen und tiefen Friedens. "Pax multa dil(E{entibus legem tuam, Domine. " Will man nur den durch die Oberen ausgesprochenen Willen Gottes tun, so kümmert man sich nicht um das, was zu tun ist, noch um die Mittel zu dessen Verwirklichung sondern man braucht nur die Befehle des Stellvertreters Gottes entgegenzunehmen und sie nach besten Kräften auszuführen. FÜr alles übrige sorgt die Vorsehung. Sie verlangt von uns nicht den Erfolg, sondern nur die Mühe bei der Ausführung der erteilten Befehle. Ubrigens kann man bezüglich des Endergebnisses ruhig bleiben. ErfÜllen wir den \Villen Gottes, so ist es doch klar, dass er auch fÜr Erfüllung des unsrigen Sorge tragen wird, d. h. er wird unsere Gebete erhören und unsere Unternehmen segnen. Wir werden daher auf dieser Welt Frieden geniessen und kommt es zum Sterben, wird der Gehorsam die Pforten des Himmels uns öffnen. Der Himmel war durch den Ungehorsam unserer Stammeltern verloren gegangen und wurde durch den Gehorsam J esu Christi für uns wiedererobert. Nun ist er jenen vorbehalten, die sich von den Stellvertretern des göttlichen Erlösers führen lassen. FÜr die wahrhaft Gehorsamen gibt es keine Hölle. " Quid enim odit aut punit Deus prater propriam voluntatem? Cesset voluntas propria, et inferlZus non erit. " 1

1073. 3. Endlich werden durch den Gehorsam' die gewöhnlichsten Beschäftigungen des Lebens, Mahlzeiten, Erholungen, Arbeiten, in Tugenden und Verdienste verwandelt. Alles, was im Geiste des Gehorsams geschieht, hat Anteil am Verdienst dieser Tugend, ist wohlgefällig in den Augen Gottes und wird von ihm belohnt. Andererseits ist alles, was im Gegensatz zum Willen der Oberen

1 S. BERNAlmus, SerlllO III in tempore paschali, 3.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 749

geschieht, mag es auch an und für sich vorzüglich sein, im Grunde genommen, ein Akt des U ngehorsams. Daher wird der Gehorsam oft mit einem Reisenden verglichen, der ein von einem ausgezeichneten Steuermann geführtes Schiff bestiegen hat. Jeden Tag, selbst beim Ruhen, nähert er sich dem Hafen und gelangt so, ohne Ermüdung, ohne Sorge, zum ersehnten Ziel, zum Hafen der glückseligen Ewigkeit.

1074. Schliessen wir mit den Worten, die Gott zur hl. Katharina von Siena sprach' :" Wie lieblich und glorreich ist diese Tugend, die alle anderen enthält! Von der Liebe wurde sie empfangen und geboren. Auf ihr ist der Fels des Glaubens begründet ... Sie ist der Mittelpunkt der Seele, der kein Sturm mehr schaden kann ... Entbehrungen betrÜben sie in k~iner Weise, denn im Gehorsam lernte sie, nichts wÜnschen, als mich allein, und ich kann, wenn ich es will, all ihr Verlangen stillen ... 0 Gehorsam, dir gelingt die Uberfahrt ohne MÜhe und du landest sicher im Hafen des Heiles! Wirst gleichförmig dem Worte, meinem eingeborenen Sohne. Du besteigst die Barke des hochheiligen Kreuzes und bist bereit, alles zu leiden, um nicht vom Gehorsam des ewigen Wortes abzuweichen und sein Gebot nicht zu tibertreten. Wie gross macht dich doch deine Beharrlichkeit! So gross, dass du von der Erde bis zum Himmel reichst, denn durch dich und zwar durch dich allein kann er geöffnet werden. "

3. ABSCHNITT. DIE TUGEND DES STARKMUTES. 2

1075. Die durch Gottesverehrung und Gehorsam vollendete Gerechtigkeit regelt unsere Beziehungen zu anderen. Starkmut und Mässigkeit ordnen unser Verhalten uns selbst gegenüber. Bei der Abhandlung über den Stark11lut werden wir schildern : 1. sein Wesm, 2. die Tugenden .. die sich ihm anschliessm, 3. die Mittel zu seiner Ubung.

1 Dialogo, T. II.

2 S. THOMAS, IIa IIre, q. 123-140; seine Kommentatoren, besonders Cajetall und f. de S. Thomas. - P. J ANVIER, Fastenpredigten 1920. ~ RIBET, Vertus, 37.-42. Kap. -CH. DE SMEDT, Notre vie surnat., t. II, S. 210-267.

7GO

ZWEITES KAPITEL.

§ 1. Wesen der Tugend des Starkmutes. I. Definition. 2. Grade.

I. Definition.

1076. Diese Tugend, die Seelenstärke, Charakterstärke oder christliche Mannhaftigkeit genannt wird, ist eine ÜbernatÜrliche, sittlz'che Tugmd, wodurch die Seele in Veifolgung des schwierigm Gutes befestigt wird, ohne sich durch Angst, nicht einmal durch Todesfurcht erschÜttern zu lassm.

A) Zweck dieser Tugend ist Unterdrückung von Anwandlungen der die Kraft zum Guten lähmenden Furcht und Mässigung der ohne sie leicht in Vermessenheit ausartenden Kühnheit. "Et ideo fortitudo est circa timores et audacias, quasi cohibitiva timorum et audaciarum moderativa. " I

1077. B) Ihre Akte lassen sich hauptsächlich auf zwei zurückführen : Schwieriges unterneh11lm und ertragm. Ardua aggredi et sustinere.

a) Der Starkmut besteht zunächst im Unternehmm und AusfÜhrm schwieriger Dinge. Auf dem -Wege der Tugend und der Vollkommenheit gibt es nämlich zahlreiche, schwer zu überwindende und immer wieder erstehende Hindernisse. Diese nun darf man nicht fürchten, vielmehr soll man ihnen entgegengehen und mutig sie zu überwinden suchen. Das ist die erste Tat der Tugend des Starkmutes.

Diese Tat setzt voraus: r) Entschiedenheit, um sofort sich zu entschliessen, um jeden Preis seine Pflicht zu tun. 2) Mut, Edelsinn, 11m ü.ie den Schwierigkeiten angemessenen und mit diesen wachsenden Anstrengungen zu machen, viriliter agend'" 3) Beharrlichkeit im Streben bis zum Ende, trotz der Fortdauer und steten Erneuerung der feindlichen Angriffe.

b) Aus Liebe zu Gott muss man auch zu leidm verstehen, und zwar in den zahlreichen und schwe-

1 S. THOMAs, lIa II"', q. 123, a. 3.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 751

ren Prüfungen, die er uns schickt, in Trübsal, Krankheit, Verspottung, Verleumdung, deren Opfer man werden kann.

Das ist oft schwerer als tätiges Handeln. " Sustillere dij/icilius est quam aggredi," sagt der hl. Thomas 1 und er gibt drei GrÜnde dafÜr an. I) Aushalten setzt Angriff von Überlegenem Feinde voraus. Derselbe ist sich dieser Uberlegenheit bewusst. 2) Wer den Anprall aushält, ist bereits in Schwierigkeiten verwickelt und verspÜrt es. Wer a~greift, sieht sie nur voraus. Nun aber ist ein gegenwärtiges Ubel furchtbarer als eines, das "man voraussieht. 3) Ertragen setzt voraus, dass man unter dem Anprall längere Zeit hindurch unbeweglich und unbeugsam ausharre, z. B. wenn män infolge einer schweren Krankheit lange an das Bett gefesselt ist oder wenn man heftige und langandauernde Versuchungen durchzumachen hat. Hat jemand eine schwierige Sache vor, so gibt er sich im Augenblicke selbst wohl MÜhe, aber gewöhnlich lässt er dann nach.

11. Grade des Starkmutes.

1078. 1. Anfänger sollen mutig gegen die verschiedenen Anwandlungen von Furcht kämpfen, die sich der Pflichterfüllung entgegenstellen.

I) Furcht vor Ermüdung und Gifahrett. Der Mensch hat kostbarere Güter als Vermögen, Gesundheit, Ruf und Leben. Das mögen sie bedenken. Es sind die Güter der Gnade, die selbst wieder gleichsam die Präludien ewigen Glückes sind. Folgerichtig opfere man daher grossmütig jene zeitlichen, u!'!l die unvergänglichen zu erwerben. In 9.er festen Uberzeugung, es gebe nur ein wahres Ubel, die Sünde, werden sie dasselbe um jeden Preis meiden, selbst auf die Gefahr hin, alle nur denkbaren zeitlichen Übel ertragen zu müssen.

1079. 2) Furcht vor Verspottung oder Tadel, mit anderen Worten, Mmschenfurcht. So haben wir Angst vor ungünstigen Urteilen über uns, vor Spottreden, Drohungen, Unrecht und Beleidigun-

1 Sumo tlteol., IIa nre. q. 123. a. 6. ad I.

752

ZWEITES KAPITEL.

gen, deren Opfer man werden könnte. Wie manche auf dem Schlachtfelde unerschrockene Männer schrecken vor solchen Drohungen oder Tadeln zurück! Und wie wichtig ist es, die jungen Leute zur Verachtung der Menschenfurcht zu erziehen, zu dem männlichen Mute, der es wagt, der öffentlichen Meinung engegenzutreten und ohne Furcht und Tadel der persönlichen Überzeugung zu folgen!

3) Furcht, das Mz'ssfallm bez' Freunden. zu erregen.

DieserGedanke flösst zuweilen noch mehr Schrecken ein, als die Furcht vor der Rache der Feinde. Man bedenke jedoch, es sei besser, Gott als den Menschen zu gefallen. Das sind doch auch wohl falsche Freunde, die uns hindern wollen, unsere Pflicht voll und ganz zu erfüllen. Ihnen gefallen wollen, hiesse, die Achtung und Freundschaft unseres Herrn J esu Christi verlieren. " 5z' adhuc lzo1JZinibus placerem, Christi servus nOft essem" I. Wieviel weniger darf man die Pflicht opfern im Streben nach eitler allgemeiner Beliebtheit. Der Beifall der Menschen geht vorüber. Dauernd aber und wahrhaft wertvoll für uns ist nur das beifällige Urteil Gottes, des untrüglichen Richters. Mit dem hl. Paulus behaupten wir deshalb zum Schluss, der einzig anzustrebende Ruhm sei jener, der aus der Treue gegen Gott und die Pflicht hervorgehe. "Quz' autem gloriatur, in Domino glorietur. Non enim qui se ZPSUlJt comltlmdat, z'lle probatus est, sed quem Deus commendat" 2.

1080. 2. Fortgeschrittene Seelen üben die positive Seite der Tugend des Starkmutes und bemühen sich dabei, J esu Seelenstärke nachzuahmen, wie sie uns das Beispiel seines Lebens lehrt.

I) Diese Tugend findet sich in seinem verborgenen Leben.

Vom ersten Augenblicke an bietet sich J esus als Ersatz fÜr alle Opfergaben des Alten Bundes dar, indem er sich selbst als Opfer für die Menschen hingibt. Er ist sich bewusst, sein Leben werde infolgedessen ein Martyrium sein. Aber er

1 Gal. I, 10. - 2 ll. Kor. X, 17'18.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 753

wählt es frei, dieses Martyrium. Von Geburt an umfängt er daher mit glÜhender Liebe Armut, Abtötung und Gehorsam, erträgt Verfolgung und Verbannung, hüllt sich dreissig Jahre lang in gänzliche Dunkelheit, um die Gnade zu verdienen, die gewöhnlichsten Handlungen heiligen zu können und uns Liebe zur Demut ein zuflössen. Auf diese Weise lehrt er uns Starkmut üben und Mut in den tausend kleinen Einzelheiten des täglichen Lebens beweisen.

2) Sie bekundet sich in seinem ijffintliclzen Leben. Im langen Fasten, das er sich vor Beginn seiner Lehrtätigkeit auferlegt. Im siegreichen Kampf, den er gegen den bösen Feind fÜhrt. In seinen Predigten, die allen jÜdischen Vorurteilen zum Trotz, ein rein-geistiges Reich verkünden, dessen Grundlagen neben der Gottesliebe, Demut, Opfergeist. und Selbstverleugnung sind. In der Kraft, mit der er das Argernis verpönt und die haarspalterischen Auslegungen der Schriftgelehrten verurteilt. In der eifrigen Sorge, womit er wertlose Volkstümlichkeit und das ihm angebotene Königtum von sich weist. In der kaum bemerkbaren und doch kraftvollen Heranbildung seiner Apostel, und zwar durch Berichtigung ihrer Vorurteile, Besserung ihrer Fehler und Zurechtweisung desjenigen, den er zum Haupte der Apostelschar erkoren hatte. In dem Geiste der Entschiedenheit, den er auf dem Wege nach J erusalem zeigt, obschon er genau wusste, er werde zum Leiden, zur Verdemütigung und zum Tode fÜhren. So lehrt uns sein Beispiel, welch ruhigen und ausdauernden Mut wir bei allen Beziehungen zum Nächsten haben sollen.

3) Sie leuchtet hervor in seinem Leidensleben. In jener qualvollen Todesangst, in der er trotz Trockenheit und \Viderwillens das Gebet lange fortsetzt. "Factus in axonia prolixius orabat." In der vollkommenen Seelenruhe, die er im Augenblicke seiner ungerechten Gefangennahme bekundet. Im Schweigen, das er inmitten von Verleumdungen und angesichts der Neugierde des Herodes bewahrte. In der Würde seines Auftretens vor den Richtern. In der heldenhaften Geduld, die er inmitten der ihm zugefügten, unverdienten Qualen bewies, wie auch bei den Verspottungen, mit denen man ihn überschÜttete. Besonders in der stillen Ergebung, mit der er sich vor seinem Hinscheiden den Händen seines Vaters Überliess. So lehrt er uns Geduld inmitten der härtesten Prüfungen.

Da findet man, wie ersichtlich, reichlichen Stoff zur Nachahmung. Damit sie gelinge, bitten wir den lieben Heiland flehentlich, er möge mit der Fülle seiner Kraft, "in plenitudine 'virtutis suce ", zu uns kommen Wir aber müssen bei der praktischen

754

ZWEITES KAPITEL.

Übung dieser Tugend mitwirken, nicht nur bei grossen Gelegenheiten sie üben, sondern auch in den tausend kleinen Einzelakten des täglichen Lebens, und dabei bedenken, Beharrlichkeit im Kleinen erfordere ebensoviel, ja, mehr Heldenmut als glänzende Taten.

1081. 3. Vollkommene Seelen pflegen nicht allein die Tugend sondern auch die Gabe des Starkmutes, was wir bei beim Einigungswege näher veranschaulichen werden. Sie erhalten sich in der grossmütigen Verfassung, sich für Gott hinzuopfern, den langsamen Martertod zu erleiden, der in der stetig erneuten Anstrengung besteht, alles für Gott zu tun, alles zu seiner Ehre zu leiden.

§ 11. Die mit dem Starkmute verbundenen Tugenden.

1082. Der Tugend des Starkmutes schliessen sich vier Tugenden an : Zwei davon helfen zur Vollbringung schwieriger Dinge, Hochherzigkeit und Grosszügigkeit. Zwei helfen im Leide, Geduld und Ausdauer. Nach dem Zeugnisse des hl. Thomas sind sie zugleich ergänzende und hinzugefügte Bestandteile der Tugend des Starkmutes.

I. Die Hochherzigket"t.

1083. I. Wesen. Die Hochherzigkeit, auch Seelengrösse oder Edelsinn genannt, ist eine edle und grossmütige Neigung, grosse Dinge für Gott und dm Nächstm zu unternehmen. Sie unterscheidet sich vom Ehrgeiz, der, im Gegensatz zu ihr, seinem Wesen nach selbstsüchtig ist, sich durch Gewalt oder Ehrentitel über die anderen zu erheben sucht. Selbstlosigkeit ist das unterscheidende Merkmal der Hochherzigkeit. Sie will anderen zu Dienste sein.

a ) Voraussetzung ist daher eine edle Seele, die ein hohes Ideal verfolgt und edel gesinnt ist. Eine

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 755

I?utige Seele, die ihr Leben mit ihren innersten Uberzeugungen in Einklang zu bringen versteht.

b) Sie offenbart sich nicht nur durch vornehme Gesinnung, sondern auch durch edle Tatm, und zwar auf allen Gebieten. Im Heeresdienst durch glänzende Waffentaten. Im bürgerlichen Leben durch Verbesserung sozialer Einrichtungen, durch grosse industrielle Unternehmungen, durch Hebung des Handels und Gewerbes. In der übernatürlichen Ordnung durch ein unaufhörlich verfolgtes, erhabenes Ideal, durch grossmütige Anstrengungen, sich zu überwinden und sich selbst zu Übertreffen, sich gründliche Tugend anzueignen, auf jede mögliche Art apostolisch tätig zu sein, gute Werke zu stiften und zu leiten. Alles das ohne zu fürchten, dabei Vermögen, Gesundheit, Ruf, ja, sogar das Leben aufs Spiel zu setzen.

1084. 2. Der entgegengesetzte Fehler ist die Kleinmütigkeit. Aus übertriebener Angst vor Misserfolg zaudert man und bleibt untätig. Um Fehlgriffe zu vermeiden, begeht man in Wirklichkeit die grösste Ungeschicklichkeit. Man tut nichts oder fast nichts und vergeudet so sein Leben. Augenscheinlich wäre es besser, sich einigen Misserfolgen auszusetzen, als in Untätigkeit zu verharren.

I I. Grosszügigkeit oder Freigebigkeit.

1085. I. Wesen. Eine edle Seele und ein weites Herz ist stets zur Grosszügigkeit oder Freigebigkeit geneigt. Gern unternimmt man grosse Werke und trägt auch deshalb gern die daraus sich ergebenden, grossm Kosten.

a) Zuweilen flössen Stolz oder Ehrgeiz solche Werke ein. Das ist dann selbstverständlich keine Tugend. Ist aber das Ziel die Ehre Gottes oder das Wohl des Nächstm, so wird der natürliche Wunsch nach Grossem übernatürlich. Anstatt stets sein Ver-

756

ZWEITES KAPITEL.

mögen zu vergrössern, verwendet man das Geld für grosse und edle Unternehmungen, für Kunstwerke, Bauten von Kirchen, Spitälern, Schulen und U niversitäten, mit einem Worte, für alles, was das Gemeinwohl. fördert. Das ist dann eine Tugend, durch die wir die natürliche Anhänglichkeit an das Geld und den Wunsch, immer noch reicher werden zu wollen, überwinden.

1086. b) Die <;!rosszügigkeit ist eine vorzÜgliche Tugend, deren Ubung den Reichen nahezulegen ist. Man beweise ihnen, dass sie die ihnen von der Vorsehung anvertrauten Reichtümer nicht besser verwenden können als durch Nachahmung der grossartigen Freigebigkeit Gottes in seinen Werken. Wieviele katholische Unternehmungen fristen heutzutage ein kümmerliches Leben, weil sie die nötigen Mittel nicht aufbringen können! Würde man da nicht einen edlen Gebrauch von den angehäuften Kapitalien machen, und wäre das nicht deren beste Anlage zur Sicherung eines schönen Platzes im Himmel? Und wieviele andere katholische Einrichtungen wären ins Leben zu rufen! Mit jeder Generation wachsen die Bedürfnisse : Bald sind Kirchen und Schulen zu bauen, bald sind die Gehälter für die Geistlichen aufzubringen. Manchmal ist der allgemeinen Not abzuhelfen. Dann wieder müssen neue Werke gegründet werden, wie Horte, Syndikate, Versicherungen, Sparkassen u. a. m. Da öffnet sich ein weites Gebiet für jeglichen Tätigkeitstrieb und für jeglichen Geldbeutel.

c) Zur Übung dieser Tugend braucht man nicht einmal reich zu sein. Der hl. Vinzenz v. Paul war nicht reich und dennoch gibt es wohl kaum einen Menschen, der allem Elend seines Jahrhunderts gegenÜber eine so grosse, so weise, wahrhaft königliche Freigebigkeit bewiesen und Werke mit solch andauerndem Erfolge gestiftet hat wie er. Ist die Seele edel veranlagt, so findet sie in der öffentlichen Wohltätigkeit Mittel, und es scheint, als stellte sich die göttliche Vorsehung nur dann in den Dienst hingebender Aufopferung, wenn man es versteht, sich ihr gänzlich anzuvertrauen und die

Gesetze der Klugheit zu beachten oder den Anregungen des HI. Geistes zu folgen.

1087. 2. Die entgegengesetzten Fehler sind Knauserei und Verschwendung.

a) Knauserei oder Knickerei hemmt den Aufschwung des Herzens, versteht die Ausgaben der grossen Bedeutung des zu unternehmenden Werkes nicht anzupassen, ist kleinlich und beschränkt in ihren Leistungen. b) Verschwmdung hingegen treibt zu übermässigen Ausgaben, zur Vergeudung ungezählter Gelder, die in keinem Verhältnis zur unternommenen Sache stehen und zuweilen sogar über die Verrnögensverhältnisse gehen. Daher auch Verschwendungssucht genan n t.

Der Klugkeit .:steht es zu, die richtige Mitte zwischen beiden Ubertreibungen zu halten.

III. Die Geduld. I

1088. I. Wesen. Geduld ist eine christliche Tugend, vennoge derm wir aus Liebe zu Gott und in Vereinigung mit Jesus Christus physische oder moralische Leidm gleichmÜtig Cl/tragen. Verstehen wir es, aus übernatürlichen Beweggründen und tapfer zu leiden, so genÜgt der Anteil, den wir am Leiden erhalten, um aus uns Heilige zu machen. Viele aber leiden nur unter Murren und Klagen, manchmal sogar unter Flüchen, die sie gegen die göttliche Vorsehung ausstossen. Andere wieder leiden aus Hochmut oder Habsucht und gehen so der Frucht ihrer Geduld verlustig. Der wahre Beweggrund zum Leiden ist Unterwürfigkeit unter den Willen Gottes (N. 487) und, damit uns das leichter werde, Hoffnung auf den ewigen Lohn als Krönung unserer Geduld (N. 49I). Den stärksten Antrieb zum Leiden aber erhalten wir durch

1 Hl. FRANZ V. S.~LES, Pflilo!lua, 3. B., 3. Kap. - J.-J. OLlER, [n/rod., 9. Kap. - W. FABER, Progres, 9. Kap. - D. V. L~;HODEY, Le saint Aba1ldon, 3. T., 3-5. Kap.

758

ZWEITES KAPITEL.

Betrachtung des leidendm und sterbmdm Heilandes. Ertrug er, die Unschuld selbst, so viele physische und moralische Qualen so heldenhaft, und zwar aus Liebe zu uns, zu unserer Erlösung und Heiligung ist es da nicht recht und billig, dass wir, die Schuldigen, die wir durch unsere Sünden seine Leiden verursachten, mit ihm zu leiden bereit seien, um, in derselben Absicht wie er, an dem Werke unserer Reinigung und Heiligung mitzuarbeiten ? Hatten wir erst Anteil an seinem Leiden, so werden wir nachher auch Anteil an seiner Glorie haben. Edle und grossmütige Seelen fÜgen noch einen apostolischen Beweggrund hinzu. Sie ergänzen durch ihre Leiden das bittere Leiden des Heilandes und wirken so an dem Loskauf der Seelen mit (N. 149). Darin liegt das Geheimnis der heldenhaften Geduld und der Kreuzesliebe der Heiligen.

1089. 2. Die Grade der Geduld entsprechen den drei Stufen des geistlichen Lebens.

a) Anfangs nimmt man das Leiden als von Gott kommend ohne Murren und ohne Empörung an, da man auf himmlische Güter hofft. Man nimmt es an, um begangene Fehler zu sühnen, das Herz zu reinigen und um ungeordnete Neigungen, besonders Traurigkeit und Niedergeschlagenheit, zu meistern. Man nimmt es trotz des Widerstrebens der empfindsamen Natur an. Bittet man, der Leidenskelch möge vorübergehen, so fügt man hinzu, man wolle sich trotz allem dem göttlichen Willen unterwerfen.

1090. b) Auf der zweiten Stufe umfängt man die Leiden gern und zwar mit Entschiedenheit, in Vereinigung mit J esus Christus, um dem göttlichen Meister ähnlicher zu werden. Mit ihm betritt man daher freudig den Leidensweg, den er von der Krippe bis zum Kalvarienberg gegangen. Man bewundert, preist und liebt ihn in all den peinvollen Lagen, in denen er sich befand : in der grossen

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 759

Armut, zu der er sich bei seinem Eintritt in die Welt entschloss, in seiner Zufriedenheit in der armen Krippe, die seine Wiege ist, wo er mehr durch den Undank der Menschen als infolge der kalten Jahreszeit leidet. In den Leiden der Verbannung, ferner in den bescheidenen Arbeiten während seines verborgenen Lebens. In den Mühen, Ermüdungen seines öffentlichen Lebens, besonders aber in den physischen und moralischen Qualen seines langen und bitteren Leidens. Der Gedanke" Christo igitur passo z'n carne, et vos eadem cogitqtz'one annamini" I stärkt und man fühlt sich mutiger im Leiden und in der Traurigkeit. Aus Liebe zu Jesus streckt man sich neben ihm auf das Kreuz aus. " Christo conjixus sum crucz'. " 2 Steigert sich das Leiden, so wirft man einen liebevollen Blick auf ihn und hört ihn sagen:

"Beati qzti lugmt ... beati qui persecutionem patiuntur propter justitimn." Die Hoffnung, sein Glück im Himmel einst mit ihm zu teilen, macht alle mit ihm zu erleidenden Schmerzen erträglicher. "Si tamm compatimur ut et conglorificemur." 3 Zuweilen geht das so weit, dass man sich wie der hl. Paulus seiner Leiden und Bedrängnisse freut, da man ja weiss, mit Christus leiden, heisst, ihn trösten und sein Leiden ergänzen, heisst, ihn hienieden vollkommener lieben und sich um so besser auf die Liebe zu ihm in der Ewigkeit vorbereiten. " Libmter gloriabor z'n z'njirmz'tatibus mez's, ut z'nhabitet in me virtus Christi." 4 ... Superabundo gaudz'o in ol1mi trz'bulatione nostra. " 5

1091. c) Das nun führt uns zum dritten Grade der Geduld, nämlich der Liebe zum Leiden und dem Verlangm danach. Gott will man dadurch verherrlichen und zur Heiligung der Seelen beitragen. Das steht den vollkommenen, besonders aber den apostolisch gesinnten Seelen zu, den Ordensleuten,

'1 Petr. IV, 1. -' Gal. Il,I9. - 3 Röm. VIII, 7· 411 Kor. XII, 9. - 5 11 Kor. VII, 4.

760

ZWEITES KAPITEL.

Priestern und auserlesenen Seelen. Das war auch die Gesinnung des lieben Heilandes, als er sich schon gleich bei seinem Eintritt in die \i\Telt seinem Vater als Schlachtopfer darbrachte und das Verlangen äusserte, die leidensvolle Taufe seiner Passion zu empfangen. "Baptismo llabeo baptizari : et quomodo coarcto1' usquedum perjicz"atur ! " I

Aus Liebe zu ihm und um sich ihm anzugleichen, hegen die vollkommenen Seelen dieselben Gesinnungen. " Denn ", sagt der hl. Ignatius"', wie die an irdischen Dingen hängenden Weltleute mit Eifer Ehren, Ruhm und Ansehen bei den Menschen suchen und anstreben, ... ebenso eifrig lieben und wünschen die im geistlichen Leben Fortschreitenden und wahren Nachahmer Jesu Christi alles, was dem Weltgeiste zuwider ist ... so dass sie, falls es ohne Beleidigung Gottes und ohne Ärgernis des Nächsten geschehen könnte, gern Schimpf und Beleidigung und falsches Zeugnis gegen sich ertrügen. Gern möchten sie als Toren angesehen und behandelt werden, jedoch ohne Anlass dazu ihrerseits, so sehr sehnen sie sich danach, in irgend einer Weise unserem Heilande J esus Christus ähnlich zu werden ... Damit wir unter dem Beistande der göttlichen Gnade ihm so nahe wie möglich und zwar in allen Dingen nachfolgen, weil er der wahre Weg ist, der die Menschen zum Leben führt. " Selbstverständlich kann nur die Liebe zu Gott und zum gekreuzigten Heiland bewirken, Kreuze und VerdemÜtigungen zu lieben.

1092. Soll man noch weiter gehen, sich Gott als Schlachtopfer anbieten und von Gott aussergewähnliche Leiden sich erbitten, sei es, um ihm Sühne zu leisten, sei es, um irgend eine ausgezeichnete Gnade zu erlangen? Gewiss hat es Heilige gegeben, die das taten, und noch heute fühlen grossmütige Seelen sich dazu angetrieben. Aber, allgemein gesagt, tut man nicht klug daran, solche Bitten anzuraten. Gar zu leicht nämlich fällt man dabei in Täuschung. Oft ist es nur eine der Vermessenheit ähnliche Grossmut, die sie eingiebt. P. de Smedt 3 sagt :

, Luk. XII, 50.

, Constitut. Soc. Jesu. Examen generale, cap. IV, n. 44.

3 Notre vie surnaturelle, t. II, S. 260. - P. CapeUe, der diese Frage besonders untersuchte (Les Ames Ginireuses, 1920, 3. T., 4.-7. Kap.)

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 761

"Man stellt sie zur Zeit fühlbaren Eifers, und ist diese vergangen, fühlt man sich zu schwach für die heldenhaften Akte der Unterwürfigkeit und Ergebung, die man sich in der Phantasie so schön ausgemalt hatte. Daher dann schwere Versuchungen zu Entmutigung oder sogar Murren gegen die göttliche Vorsehung .. , somit eine Quelle vieler Belästigungen und Widerwärtigkeiten für die betreffenden Seelenführer. " Man verlange deshalb nicht von selbst Leiden oder besondere Prüfungen. Sollte man sich dazu angeregt fühlen, so hole man sich erst bei einem klugen Seelenführer Rat und tue nichts ohne seine Gutheissung.

IV. Die Ausdauer.

1093. Ausdauer im Kraftaufwand ist vorhanden, kämpft und leidet man bis zum Ende, ohne der Ermattung, der Entmutigung oder der T,vez'chlichkeit zu erlÜgen.

1. Die Erfahrung lehrt, dass nach wiederholten Anstrengungen Ermüdung im Gutestun sich einstellt. Man wird es müde, immer den \Villen anzuspannen. Der hl. Thomas sagt: "Dz'u insz'stere alz"cui difficz"lz" specz"alem difficultatem habet. " I Keine Tugend jedoch ist solid, solange sie nicht die Probe der Zeit bestanden hat und solange sie nicht durch tief eingewurzelte Gewohnheiten gefestigt wird.

Dieses Gefühl der Ermattung erzeugt oft Entmutigung und Verweichlz"chung. Der Verdruss über die immer wieder zu erneuernden Anstrengungen reibt die Willensenergie auf und verursacht eine gewisse moralische Erschlaffung oder Entmutigung. Dann gewinnen Liebe zur Lust und Bedauern, davon

fasst seine Lehre in 3 Sätzen zusammen: J esus wählt sich selbst seine Opfer. Er macht sie vorher aufmerksam auf die zu ertragenden Leiden. Er fordert ihre freie Zustimmung dazu.

, Sumo theot., IIa llre, q. :t37, a. I.

762

ZWEITES KAPITEL.

entwöhnt zu sein, die Oberhand und man überlässt die Führung den schlimmen Neigungen.

1094.2. Um dieser Schwäche entgegenzuwirken: 1) bedenke man zunächst, Beharrlichkeit sei eine Gabe Gottes (N. 127). Man erhält sie durch Gebet. Erflehen wir sie deshalb inständig, in Vereinigung mit Jesus, der bis zum Tode ausharrte, und durch die Fürsprache derjenigen, die wir mit Recht als "getreue Jungfrau" anrufen.

2) Denken wir öfter an die Kürze des irdischen Lebens und an die ewige Dauer des unsere Mühen krönenden Lohnes: die ganze Ewigkeit werden wir ausruhen. Dafür lohnen sich wirklich einige Mühen und Widerwärtigkeiten auf Erden. Fühlen wir uns trotz allem noch schwach und schwankend, so ist es höchste Zeit, inständig um die uns so überaus notwendige Gnade der Ausdauer zu bitten. Beten wir mit dem hl. Augustinus : "Da, Domine, quod jubes et jube quod vis! "

3) Endlich gebe man sich, gestützt auf die allmächtige Gnade Gottes, mit neuem Eifer mutig ans Werk, und zwar ungeachtet des scheinbaren geringen Erfolges der Versuche. Gott verlangt ja nur die Mühe, nicht aber den Erfolg. Dennoch vergesse man nicht, sich hin und wieder eine gewisse Ruhepause und Zerstreuung zu gönnen. Homo non potest diu vz'vere sine alz"qua consolatione. Die Ausdauer schliesst also berechtigte Ruhe nicht aus. Otz'are quo melius labores. Es kommt nur darauf an, ihrer in Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes und nach den Weisungen der Regel oder eines weisen Seelen führers zu pflegen.

§ III. Mittel, die Tugend des Starkmutes zu ~rwerben oder zu vervollkommnen.

Zunächst erinnern wir den Leser an das bereits über die Willensbildung Gesagte (N. SII) und fügen einige Bemerkungen bei, die hier mehr am Platz sind.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 763

1095.1. Das Geheimnis unserer Kraft beruht auf dem Mz'sstrauen gegen uns selbst und dem unbedingten Vertrauen auf Gott. Ohne Hilfe der Gnade sind wir in der übernatürlichen Ordnung unfähig, etwas Gutes zu tun. Stützen wir uns aber auf J esus, so erhalten wir Anteil an der Kraft Gottes selbst und werden unbesiegbar." Quz' manet z'n me et ego z'n eo, hic fert fructum multum." I " Omnz'a POSSU11t in eo qui me coltfortat. " 2 Aus diesem Grunde sind ja gerade die Demütigen so stark. Zum Bewusstsein ihrer Schwäche tritt bei ihnen das Gottvertrauen hinzu. Diese beiden Gesinnungen müssen also in den Seelen gepflegt werden. Bei hochmütigen und eingebildeten Menschen lege man das HC!-.uptgewicht auf das Misstrauen gegen sich selbst. Angstlichen oder pessimistisch angelegten Seelen gegenüber betone man das Vertrauen auf Gott. Ihnen gelten die trostreichen Worte des hl. Paulus : "Injirma 11tultdi elegÜ Deus ut confundat fortz·a ... et ea quce non sunt, ut ea quce sunt destrueret. Das vor der Welt Schwache hat Gott auserwählt, um das Starke zu Schanden zu machen ... das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu nichte zu machen. " 3

1096. 2 ... Diese doppelte Gesinnung muss sich !TIit tiefen Uberzeugungen und der Gewohnheit, aus Uberzeugung zu handeln, verbinden.

A) Überzeugungen, die sich auf die grossen Wahrheiten gründen, besonders auf Ziel und Ende des Menschen und des Christen und auf die N otwendigkeit, alles zur Erreichung dieses Zieles zu opfern. Auf den Abscheu, den uns die Sünde, das einzige Hindernis zu diesem Ziele, einflösst. Ferner auf die Notwendigkeit, zur Vermeidung der Sünde und Erreichung des Zieles, unseren Willen d~mjenigen Gottes zu unterwerfen u. s. w. Solche Uberzeugungen sind nämlich Leitgrundsätze für unser

'loh. XV, 5. - • Phit. IV, 13. - 3 I. Kor. I, 27-28.

764

ZWEITES KAPITEL.

Leben. Sie geben uns die Energie, die den zur Überwindung der Hindernisse nötigen Schwung verleiht.

B) Ebendeshalb ist ~:> wichtig, sich daran zu gewöhneI!, nach solchen Uberzeugungen zu handeln. Man lasse sich daher nicht durch Augenblicksstimmung, plötzliche, leidenschaftliche Aufwallung, alltägliche Gewohnheit oder persönliches Interesse hinreissen, sondern ehe man etwas unternimmt, frage man sich:" Quid hoc ad I2ternz"tatem?" Bringt die bevorstehende Handlung mich Gott und meiner ewigen Seligkeit näher?" Ist es der Fall, so vollziehe ich sie, andernfalls unterlasse ich sie. Führt man so alles auf das letzte Ziel zurück, so lebt man nach seinen Überzeugungen und ist stark.

1097·3. Zur)eichteren Überwindung der Schwierigkeiten ist es gut, letztere vorauszusehen, sie ins Auge zu fassen und sich gegen sie mit Mut zu wappnen. Man darf sie jedoch nicht übertreiben. Alles muss im Vertrauen auf den Beistand Gottes geschehen, der auch zur richtigen Zeit nicht ausbleiben wird. Eine vorausgesehene Schwierigkeit ist schon halb überwunden.

1098. 4. Endlich vergesse man nicht, die Liebe zu Gott ist es, die vor allem uns Mut verleiht. "Fortis ut mors dilectio. "r Macht die Liebe schon eine Mutter mutig und unerschrocken, wenn es sich darum handelt, ihre Kinder zu verteidigen, was wird dann nicht erst die Liebe zu Gott vollbringen, hat sie in der Seele tiefe Wurzel gefasst? Ist sie es nicht, die Märtyrer, Jungfrauen, Missionäre und Heilige hervorgebracht hat? Erzählt der hl. Paulus von den Prüfungen, die er durchzumachen hatte, von den Verfolgungen und Leiden, die er ertragen, so fragt man sich, was seinen Mut in so vielen

, Cant. VIII, 6.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 765

Widerwärtigkeiten aufrecht erhielt. Er selbst sagt es uns : "Die Liebe zu Christus." " Caritas enim Chrz'stz" urget nos. "I Und darum ist er ohl1e Sorge für die Zukunft. Was nämlich könnte ihn von der Liebe zu Christus trennen? " Quz"s nos separabit a caritate Christi?" Er zählt die verschiedenen Bedrängnisse auf, die er voraussieht, und fügt hinzu, "weder Tod noch Leben, weder Engel... noch Gegenwärtiges, noch Zukünftiges, noch Macht. .. noch irgend ein Geschöpf wird imstande sein, uns von der Liebe zu Gott zu trennen, die da in Christus, unserem Herrn, ist." 2 Was der hl. Paulus sagte, kann jeder Christ sagen, vorausgesetzt, dass seine Liebe zu Gott ehrlich gemeint ist, und dann wird er an der göttlichen Kraft selbst teilhaben. " Quz'a tu es Deus, fortitudo mea. " 3

4. ABSCHNITT. DIE TUGEND DER MÄSSIGKEIT."

Ist der Starkmut nötig, um die Furcht zu bannen, so bedarf es nicht minder der Mässigkeit, um die Neigung zur Lust einzuschränken, die uns so leicht von Gott abzieht.

1099. Die Mässigkeit ist eine übernatürliche, sittliche Tugend, die den Hang zu sz'nnlz"cher Lust, besonders der des Geschmackes und des Tastsinnes, mässzgt und ihn z'n den Grenzen der Ehrbarkez"t hält.

Ihr Zz'et ist, jede sinnliche Lust zu mässigen, besonders die mit den zwei grossen Lebensvorgängen des organischen Lebens verbundene : Essen und Trinken, wodurch das Leben des Einzelwesens erhalten wird, und die auf Fortpflanzung des Menschengeschlechtes hinzielenden Handlungen. Mittels der Mässigkeit gebrauchen wir die Lust zu

, 11. Kor. V, 14. -' Rönt. VIII, 38-39. - 3 Ps. XLII, 2 .

• S. THOM. Ila IIre, q. 141-17°. SCARAMELLI, Guide ascttique, 3. Tr., art. 4. RIBET, Vertus, Kap. XLIII-XLVIII. - CH. DE SMEDT, t. Il. S. 268-342. - P. JANVIER, Fastenpredigten 1921 und 1922.

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ZWEITES KAPITEL.

ehrsamen und übernatürlichen Zwecken, schränken daher den Gebrauch nach den Vorschriften der Vernunft und des Glaubens ein. Weil nun diese Lust etwas Anziehendes hat und uns leicht über die erlaubten Grenzen fortreisst, führt uns Mässigkeit zu Abtötung, auch in erlaubten Dingen, um der Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaft sicher zu sein.

Mithilfe dieser Grundsätze werden wir die Einzelfragen lösen.

Die zu befolgenden Regeln betreffs der mit der Ernährung verbundenen Lust haben wir bereits eingehend behandelt (N. 864). Hier werden wir uns mit der Keuschheit beschäftigen, die dem Fortpflanzungstrieb die einzuhaltendeIi Schranken weist. Dann sprechen wir von den zwei mit der Mässigkeit verwandten Tugenden, der Demut und der Sanftlllut.

§ 1. Die Keuschheit. I

1100. 1. Begriffsbestimmung. Ziel der Keuschheit ist, alles Ungeordnete der wollüstigen GenÜsse zu unterdrücken. Diese Genüsse haben den einzigen Zweck, das Menschengeschlecht zu erhalten. Das geschieht durch Fortpflanzung des Lebens im rechtmässigen Gebrauch der Ehe. Abgesehen davon, ist jegliche Wollust strengstens untersagt.

Mit Recht wird die Keuschheit die englisclle Tugend genannt, denn sie macht uns den ihrer Natur nach reinen Engeln ähnlich. Sie ist eine strenl{"e Tugend, weil man sie nur üben kann durch Abtötung, d. h. Zügelung und Unterjochung des Leibes und der Sinne. Sie ist eine zarte Tugend, die durch die geringsten freiwilligen Fehltritte getrübt wird.

, KAsslAN, Conf. XII. - Hl. JOH. KLIMACHUS, Ecllelle, Stufe XV. - S. THOMAS, IIa IIre, q. 151-156. - RODRIGUEZ, P. III, Tr. IV, Von der Keuschheit. - Hl. FRANz V. SALES, Philotllea, 3. B., 12.-13. Kap. - J.-J. OLlER, fntroduction, 12. Kap. - Hl. LIGUORI, Se/va, 2. T., 3. Instruktion, Keuschheit des Priesters. - MGR GAY, Vie et vertltS, tr. X. - V ALUY, Vertus religieusts, Chastete. - P. DEsURMONT, Charitt sacerdotate, § 77-79. - MGR. LELONG, Le Saint Pretre, 12. Conf.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 767

Somit ist 8ie eine schwierige Tugend, denn nur durch grossmütiges, fortdauerndes Kämpfen kann sie sich gegen die furchtbarste aller Leidenschaften behaupten.

1101. 2. Grade. I) Sie hat mehrere Grade. Der erste besteht in sorgfältiger Vermeidung irgendwelcher Bz"llz"gung eines Gedankens, einer Vorstellung, einer Empfindung oder einer Tat, die dieser Tugend zuwider wären.

2) Der zweite sucht sofort und energisch alle Gedanken, Bilder oder Eindrücke abzuwez"sen, wodurch dieser Tugend der Glanz benommen werden könnte.

3) De.~ dritte, der meist erst nach langem Mühen in der Ubung der Liebe zu Gott gewonnen wird, besteht in vollständiger Beherrschung der Sinne und Gedanken. Hat man sich mit Fragen bezüglich der Keuschheit pflichtgemäss zu beschäftigen, so geschieht dies mit ebensolcher Gemütsruhe, als ob es sich um irgend etwas anderes handele.

4) Endlich gibt es besonders begnadete Seelen, die so weit gelangen, dass sie keine ungeordnete Regung verspüren. Dieses wird vom hl. Thomas berichtet, nachdem er in einer gefährlichen Lage den Sieg davon getragen hatte.

1102. 3. Arten. Es gibt zweierlei Arten von Keuschheit. Die eheliche Keuschheit, die den in rechtmässiger Ehe Lebenden zusteht, und die Enthaltsamkeit, die sich für die Unverheirateten geziemt. Zunächst werden wir kurz von der ersteren sprechen, dann bei der letzteren verweilen, besonders insofern sie den im klösterlichen oder kirchlichen Zölibat Lebenden zusteht.

1. Die ehelz"che Keusclzheit.

1103. 1. Grundsatz. Christliche Eheleute mögen nie vergessen, dass nach der Lehre des h1. Paulus die christliche Ehe das Sinnbild der heiligen Verei-

768

ZWEITES KAPITEL.

nigung ist zwischen Christus und seiner Kirche. "Ihr Männer! liebet eure Frauen, so wie auch Christus die Kirche geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat, um sie zu heiligen." I Sie sollen sich also gegenseitig lieben, achten, heiligen (N. 591). Erste Wirkung dieser Liebe ist die unlösliche Herzensvereinigung, folglich unverletzliche Treue zu einander.

1104. 2. Gegenseitige Treue. a) Hier lassen wir den hl. Franz von Sales sprechen oder fassen vielmehr seinen Gedanken kurz zusammen 2 :

"Bewahret also, ihr Ehemänner, eine herzliche, zärtliche und dauernde Liebe zu euren Frauen ... Wollt ihr, dass eure Frauen euch treu seien, so mögen sie es an eurem Beispiele lernen. Wie wollt ih res wagen, sagt der hl. Gregor v. N azianz, ZÜchtigkeit von euren Frauen zu verlangen, wenn ihr selbst in Unehrbarkeit lebt?" 3 - Ihr aber, 0 Frauen, deren Ehre mit Züchtigkeit und Ehrbarkeit unzertrennlich verbunden ist, bewahret euren Ruf mit eifersüchtiger Sorgfalt und gestattet nicht, dass irgend eine Art Ausgelassenheit die Fleckenlosigkeit eures Rufes trübe. Fürchtet auch die kleinsten Angriffe clarauf und erlaubt in keiner Weise, dass man euch den Hof mache. Haltet für verdächtig, wer immer eure Schönheit und Anmut lobt ... FÜgt aber jemand zu dem euch gespendeten Lobe Verachtung eures Gatten, so beleidigt er euch schwer, denn augenscheinlich will er nicht euch verderben, sondern hält euch schon fÜr halb verloren, weil man den Handel mit dem zweiten Händler schon halb geschlossen hat, wenn man des ersten überdrÜssig ist. "

b) Nichts sichert diese gegenseitige Treue besser als Übung der wahren Friimmzgkez"t, namentlich das in Gemeinschaft verrichtete Gebet.

" Daher sollen die Frauen wÜnschen, dass ihre Männer in Frömmigkeit verzuckert seien,denn ein Mann ohne Frömmigkeit ist einem rÜcksichtslosen, rohen und harten Tier vergleichbar. Die Männer sollen sich fromme Frauen wünschen, denn ohne Frömmigkeit ist die Frau sehr hinfällig und dem Verlust oder der Verminderung ihrer Tugend ausgesetzt."

c) Im Übrigen soll ihr gegenseitz"ges Ertragen so gross sein, dass sie nie gegenseitig Zorn im Herzen tragen oder gar

'Ephes. V, 25. -,Phitothea, 3. BliCh, 38. Kap. -30rat. XXXV[[. 7.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 769

toben, sondern jegliche Uneinigkeit oder Streiterei ausgeschlossen sei." Gerät daher einer von bei den in Aufregung, so bleibe der andere ruhig, damit die Eintracht bald wieder hergesteHt werde.

1105.3. Eheliche Pflicht. Durch Reinheit in z'hren Absicltten und Ehrbarkeit in ihrem Verkehr sollen Eheleute die Heiligkeit des Ehebettes hochhalten.

A) Ihre Absz'cht sei die des jungen Tobias, als er sich mit Sara vermählte. " Du weisst, 0 Herr, dass ich nicht zur Befriedigung meiner Leidenschaft meine Schwester als Gattin heimführe, sondern aus dem einzigen Verlangen, Kinder zu hinterlassen, die deinen Namen in alle Ewigkeit preisen." r Das ist, in der Tat, der allererste Zweck der christlichen Ehe: Kinder zu bekommen, sie in der Furcht und Liebe des Herrn zu erziehen, sie zu einem frommen und christlichen Lebenswandel heranzubilden, damit sie einstens Himmelsbewohner werden. Der zweite Zweck besteht darin, sich gegenseitig im Ertragen der Mühen des Lebens zu unterstützen und die Leidenschaften zu beherrschen, indem die Lust der Pflicht dienstbar gemacht wird.

1106. B) Man erfülle also treu und ehrlich die eheliche Pflicht. 2 Alles, was die Fortpflanzung des Lebens begünstigt, ist nicht nur erlaubt, sondern ehrbar. Aber jede Handlung, durch die diesem ursprünglichen Zwecke absichtlich ein Hindernis gesetzt würde, wäre ein schweres Vergehen, denn sie würde dem eigentlichen Zwecke widersprechen. - Man beachte die Mahnung des hl. Paulus :

"Entziehet euch einander nicht, es sei denn mit gegenseitiger Einwilligung auf einige Zeit, um euch dem Gebet zu widmen. Dann kommet wiederum zusammen, damit euch der Satan nicht versuche, eurer Unenthaltsamkeit wegen. 3

, Tob. VIII, 9 .

• Hl. FRANZ V. SALES, Philothea, 3. B., 39. Kap. -3/. Kor. VII, 5.

N° 683. - 25

770 ZWEITES KAPITEL.

C) In der Erfüllung dieser Pflicht heisst es aber Mass halten, ebenso wie im Gebrauch der Nahrung. Es gibt sogar Fälle, in denen Gesundheit und Schicklichkeit für eine Zeit Enthaltsamkeit gebieten. Das kann man dann nur, wenn man gewohnheitsmässig stets die Lust der Pflicht unterordnet und im häufigen Empfang der hl. Sakramente ein Gegengewicht gegen die heftigen Regungen der Begierlichkeit sucht. Doch bedenke man, nichts sei unmöglich und durch Gebet erlange man stets die Gnade, selbst die strengsten Tugenden üben zu können.

I1. Dz'e E ntltaltsamkeit oder der Z iilz"bat.

1107. Unbedingte Enthaltsamkeit ist Pflicht für alle jene, die nicht durch die Bande einer rechtmässigen Ehe vereinigt sind. Sie muss daher von allen Menschen vor der Ehe beobachtet werden, wie auch von denen, die verwitwet sind. 1 Ausserdem gibt es jedoch noch auserwählte Seelen, die berufen sind, ihr ganzes Leben hindurch Enthaltsamkeit zu üben, sei es im Ordensstande, sei es im Priesterstande, sei es in der Welt. Man tut gut, diesen Seelen besondere Richtlinien zur Bewahrung vollkommener Reinheit anzugeben.

Keuschheit ist aber eine zarte, leicht gebrechliche Tugend, die nur unter dem Schutze anderer Tugenden erhalten bleibt. Sie ist eine Festung, die zu ihrer Verteidigung vorgeschobener Schanzen bedarf. Solcher Schanzen gibt es vier : 1. Demut zur Erzeugung des Misstrauens gegen sich selbst und der Flucht vor gefährlichen Gelegenheiten. 2. Abtiitung zur Bekämpfung der Liebe zur Lust, der Wurzel des ganzen Übels. 3. Eifer in Erfüllung der Standespßicltten, wodurch die Gefahren des M üssigganges abgewendet werden. 4. Lz'ebe zu Gott,

, Man beachte die ausgezeichneten Ratschläge, die der hl. FRANZ

V. SALES den Witwen gibt. Pltilotlua, 3. B., 11. Kap.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 771

die das Herz erfüllt und es dadurch abhält, sich gefährlichen Neigungen hinzugeben. In der Mitte dieses Festungsvierecles gelingt es der Seele, nicht nur die Angriffe des bösen Feindes abzuschlagen, sondern auch sich in der Reinheit zu vervollkommnen.

1. DIE DEMUT ALS HÜTERIN DER KEUSCHHEIT.

1108. Diese Tugend bringt drei Hauptgesinnungen hervor, die uns gegen viele Gefahren Sicherheit gewähren. Misstrauen gegen sich selbst und Vertrauen auf Gott. Flucht vor gefährlichen Gelegenheiten. Aufrichtigkeit in der Beichte.

A) Misstrauen gegen sich selbst, verbunden mit dem Vertrauen auf Gott. Viele Seelen nämlich fallen aus Hochmut und Vermessenheit in das Laster der Unkeuschheit. Der hl. Paulus urteilt in diesem Sinne über die heidnischen Philosophen, die sich mit ihrer Weisheit brüsteten, dabei aber allerlei Lastern fröhnten. "Propterea tradidit illos Deus in passiones zgnominia:. " I

Das erklärt Olier in folgender Weise: " Den Stolz kann Gott in einer Seele nicht ertragen. Er demÜtigt sie deshalb bis zum äussersten. Auf jede Weise will er sie erkennen lassen, wie schwach und hilflos sie aus sich sei, um dem Bösen zu widerstehen und sich im Guten zu erhalten ... Er lässt zu, dass sie von abscheulichen Versuchungen geplagt wird, ja, manchmal sogar, dass sie ihnen ganz erliegt, weil es unter allen Versuchungen die schmachvollsten sind ·und tieferes Schamgefühl hinterlassen." Ist man hingegen überzeugt, dass man aus sich selbst die Keuschheit nicht zu wahren vermag, so betet man oft demÜtig wie der hl. Philipp Neri : " 0 mein Gott, nimm dich vor Philipp in acht, sonst verrät er dich! "

1109. a) Dieses Misstrauen muss allgemein sein.

I) Jene brauchen es notwendig, die schon schwere SÜnden begangen haben. Die Gefahr nämlich kehrt wieder zurück, und ohne den Beistand der Gnade

'Röm. 1,26.

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ZWEITES KAPITEL.

könnten sie abermals unterliegen. Es ist jenen nicht minder vonnöten, die ihre Unschuld bewahrten, denn früher oder später kommt der gefährliche Augenblick, der um so mehr zu fürchten ist, als man im Kampfe noch wenig erfahren ist. 2) Dieses Misstrauen darf nz'e aufhören. Salomon war nicht mehr jung, als er sich der Liebe zum Weibe hingab. Greise waren es, die der keuschen Susanna nachstellten. Greift der Teufel den Menschen in der Altersreife an, so ist er um so furchtbarer, da man ihn längst für besiegt hielt. Die Erfahrung lehrt, dass, solange noch etwas Lebenswärme in uns ist, das unter der Asche verborgene Feuer der Begierlichkeit zuweilen lichterloh zu brennen beginnt. 3) Es darf auch bei den heiligsten Seelen nicht fehlen. Mehr noch als bei den gewöhnlichen Seelen gelüstet es den Teufel, sie zu Falle zu bringen. Ihnen namentlich legt er die hinterlistigsten Schlingen. Der hl. Hieronymus I betont dieses ausdrücklich und schliesst daraus, weder ein langes, in Keuschheit verbrachtes Leben, noch Heiligkeit noch Weisheit biete Sicherheit. 2

1110. b) Immerhin muss diese Wachsamkeit mit unbedingtem Vertrauen auf Gott gepaart sein. Gott nämlich erlaubt nicht, dass wir über unsere Kräfte versucht werden. Er verlangt nichts Unmögliches von uns. Bald verleiht er sofort die Gnade, den Versuchungen zu widerstehen, bald jene des Gebetes um eine wirksamere Gnade. 3

" Man muss daher ", sagt Olier, 4 "sich innerlich in J esus Christus zurückziehen, um in ihm Widerstandskraft gegen die Versuchung zu finden ... Er will, dass wir versucht werden,

, Epistota XXII ad Eustochium, P. L.. XXII, 396 .

• Ep. LII ad Nepotianum, P. L., XXII, 531-532 ... Nec in prGeterita, castitate confidas : nec David sanctior, nec Salomolle potes esse sapientior. Memento sem per quod paradisi colonum de possessione sua mulier ejecerit. ..

3 .. Nam Deus impossibilia non jubet, sed jl1bendo monet et facere guod possis, et petere guod non possis, et adjuvat l1t possis ... Trident. sess. VI, cap. 11. Denz. 804. - 4 lntroduction, 12. Kap.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 773

damit wir so unsere Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit erkennen; zu ihm zurückkehren und aus ihm die fehlende Kraft schöpfen." Wird die Versuchung heftiger, so werfe man sich auf die Knie und flehe mit zum Himmel erhobenen Händen Gottes Beistand an. "Ich sage ", fährt Olier- fort, " man muss die Hände zum Himmel erheben, nicht nur, weil diese Haltung an und für sich eine Bitte ausdrÜckt, sondern, weil man sich als Busse auflegen soll, sich in jenen Augenblicken nie zu berühren. Man ertrage daher lieber alle inneren Qualen und alle Unbequemlichkeiten des Leibes, ja selbst Angriffe des Teufels, als dass man sich berühre."

Bei Beachtung aller dieser Vorsichtsmassregeln kann man unfehlbar auf die Hilfe Gottes rechnen : " Fz'delz"s est Deus qui non patietur vos tentari supra z'd quod potestz's, sed ladet etz'am cum tentatione proventum." - Man fürchte also die Versuchung nicht zu sehr, noch ehe sie da ist. Es wäre das ein Mittel, sie gerade heraufzubeschwören. Ebenso darf man bei ihrem Angriff nicht zu grosse Angst haben, denn, auf Gott gestützt, sind wir unbesiegbar.

1111. B) Flucht vor gefährlichen Gelegenheiten. a) Die zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechtes bestehende gegenseitige Sympathie schafft gefahrvolle Gelegenheiten für die dem Zölibat Geweihten. Man vermeide daher jeden überflüssigen Verkehr und beseitige die Gefahren bei notwendigen Begegnungen. I Aus diesem Grunde soll, wie bereits gesagt (N. 546), die geistliche Leitung weiblicher Personen nur im Beichtstuhle stattfinden. - Zwei Dinge haben wir sorgsam zu wahren: unsere Tugend und unseren Ru.f. Das eine wie das andere verlangt grosse Zurückhaltung.

b) Kinder von angenehmem Äusseren, heiterem und liebenswürdigem Wesen, können auch zu

, Das war die Anempfehlung des h1. Hieronymus an seinen lieben Nepotianus : "Hospitiolum tuum ant rara aut numquam rnulierulll pe des terant ... Si pfopter officium clericatus aut vidua a te vi si tat ur, aut virgo, numquam solus introeas. Tales habeto socios quorum contubernio non infameris ... Solus cum soja, secreto et absque arbitro vel teste non sedeas ... Caveto omnes suspiciones, et quidquid probabiliter fingi potest, ne fingatur, ante devita. (h.pist. LII, P. L., XXII, 531' 532.)

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ZWEITES KAPITEL.

gefährlicher Gelegenheit werden. Man blickt sie gern an, streichelt sie gern, und ehe tn'an sich versieht, lässt man sich zu Vertrautheiten hinreissen, die die Sinne verwirren. Es ist das eine Mahnung, die nicht überhört werden darf, eine Art Warnung von Gott, durch die er uns zu verstehen geben will, es sei Zeit, damit aufzuhören, da man schon zu weit gegangen sei. - Bedenken wir, die Schutzengel dieser Kinder schauen das Angesicht Gottes, erinnern wir uns daran, dass diese Kinder lebendige Tempel der Allerheiligsten Dreifaltigkeit und Glieder Christi sind. So wird es uns leichter fallen, sie mit heiliger Ehrfurcht zu behandeln, während wir uns gleichzeitig ganz für sie aufopfern können .

. 1112. c) Im allgemeinen bewirkt die Demut, dass wir nicht den Wunsch haben, zu gefallen, denn dieser ist leider der Vorbote so vieler Fehltritte. ;Dieses Verlangen, das sowohl aus der Eitelkeit als auch aus dem Bedürfnis, geliebt zu werden, hervorgeht, offenbart sich durch übertriebene Pflege der eigenen Person und deren äusserer Erscheinung, durch leichtfertige und affektierte Haltung, gezierte Sprache, durch zärtliche Blicke und durch die Gewohnheit, bestimmte Personen mit Schmeicheleien wegen ihrer äusseren Vorzüge zu überschütten. I Bei einem jungen Kleriker, einem Priester oder Ordensmanne fällt ein solches Benehmen besonders schnell auf. Sein guter Ruf ist dann gar bald in Gefahr. Er möge sein Benehmen ändern, noch ehe seine Reinheit dahin ist!

1113. C) Endlich verleiht uns die Demut die zur Vermeidung der Schlingen des Feindes so notwendige OJfenherzigkeÜ dem Seelen führer gegenüber.

'Der hl. Hieronymus schildert vortrefflich diese Verkehrtheit : .. Omnis his cura de vestibus, si bene oleant, oi pes, laxa pelle, non folIeat. Crines calamistro vestigio rotantur. Digiti de annulis radiant. Et ne plantas humidior via aspergat, vix imprimunt summa vestigia.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 775

In der I3. Regel über die Unte~scheidung der Geister sagt uns der hl. Ignatius mit Recht, dass, "wenn der Feind des Menschengeschlechtes eine gerechte Seele mittels seiner List und seinen Schlichen täuschen will, ist es sein sehnlichster Wunsch, dass sie ihm Gehör schenke und alles geheim halte. Offenbart jedoch diese Seele alles ihrem Beichtvater oder einer anderen geistlichen Person, welche die Vorspiegelungen und die Schliche des Feindes kennt, so missfällt ihm das gar sehr. Er weiss nämlich, all seine Bosheit sei machtlos, sobald seine VersLlche aufgedeckt und ans Licht gezogen werden.'" Dieser weise Rat ist vor allem auf die Keuschheit anzuwenden. Offenbart man dem Seelenführer die Versuchungen in aller Einfalt und Demut, so wird den Gefahren zeitig vorgebeugt; man wendet die von ihm vorgeschlagenen Mittel an. Eine geoffenbarte Versuchung ist eine Überstandene Versuchung. Verlässt man sich aber auf sich, sagt man nichts, weil man vorgibt, es handele sich nicht um Sünde, so gerät man leicht in die Schlingen des VerfÜhrers.

2. DIE ABTÖTUNG ALS HÜTERIN DER KEUSCHHEIT.

Über die Notwendigkeit und die Hauptübungen der Abtötungen wurde bereits (N. 755-790) gesprochen. Hier nur noch das, was sich direkt auf unseren Gegenstand bezieht. Da das Gift der Unkeuschheit sich selbst durch die kleinsten Öffnungen einschleicht, müssen die äusseren Sz'nne, die inneren Sinne und die Neigungen des Herzens abgetötet werden.

1114. A) Wie wir sagten (N. 771), bedarf der Leib der ZÜgelung und nötigenfalls der Züchtigung, damit er der Seele gegenüber gefügig bleibe. "Ca:stigo corpus meum et z'n servitutem redigo, ne torte cum alz"is prmdicaverim ipse reprobus efficiar. "

Aus diesem Grundsatze geht die Notwendigkeit der Mässigkeit, des zeitweiligen Fastens oder einiger äusserer BussÜbungen hervor. Auch bei gewissen Gelegenheiten, namentlich im FrÜhling, die Notwendigkeit besänftigender Ernährungsweise, um die Wallungen des Blutes und die Glut der Begier-

Tales cum videris, sponsos magis restimato quam clericos ... (Epist. XXII. P. L. XXII, 414).

, Exercitia spiritualia.

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ZWEITES KAPITEL.

jichkeit zu mässigen. M~ versäume nichts, wodurch die Herrschaft der Seele über den Leib gesichert werden kann. - Nicht zu langer Schlaf. Im allgemeinen bleibe man des Morgens nicht liegen, wenn man wach ist und nicht wieder einschlafen kann.

Jeder Sinn des Leibes bedarf der Abtötung.

1115. a) Der gerechte Job hatte mit seinen Augen einen Vertrag geschlossen, um sie nicht auf Personen ruhen zu lassen, deren Anblick in ihm Versuchungen hätte herbeiführen können. "Pepigi ja:dus cum oculis mez's, ut ne cogitarem quz'de11l de virgine. " I Der Ekklesiastikus empfiehlt nachdrücklich, die Blicke nicht auf ein junges Mädchen zu heften, sie von der zierlichen Frau abzulenken : "denn viele wurden durch sie verführt, und die Leidenschaft entzündet sich an ihr wie an einem Feuer. "2 Alle diese Ratschläge sind psychologisch fest begründet. Der Blick erregt die Phantasie, weckt das Verlangen. Dieses nun wirkt auf den Willen. Stimmt er zu, dringt die Sünde in die Seele ein.

1116. b) Zunge und Gehör werden durch Zurückhaltung beim Gespräche abgetötet. Diese Zurückhaltung wird leider nicht immer beobachtet, selbst nicht von sonst christlichen Personen. Infolge der Gewohnheit, Romane zu lesen und Theater zu besuchen, wird mit zu grosser Freiheit von vielen Dingen gesprochen, über die man schweigend hinweggehen sollte. Man lässt sich auch gern über die kleinen weltlichen Skandalgeschichten auf dem Laufenden halten. Dann wieder wird leichthin über mehr oder minder zweideutige Dinge gescherzt. Gewisse ungesunde Neugier bewirkt, dass man an solchen Geschichten und Scherzen Gefallen findet.

,Job. XXXI, 1.

• Eedi. IX, E, 8, 9 ... Virginem ne consplclas, ne forte scandalizeris in decore ilHus ... Averte faciem tuam a muliere compta et ne circumspicias speciem alienam. Propter speciem mulieris multi perierunt et ex hoc concupiscentia quasi ignis exardescit. ..

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 777

Die Phantasie wird damit gefüttert, malt sich im einzelnen die geschilderten Szenen aus, die Sinne werden aufgepeitscht, und oft findet zuletzt der Wille schuldbares Wohlgefallen daran. Mit Recht rügt daher der hl. Paulus die schlechten Gesellschaften als eine Quelle der Verderbtheit: " Corrumpunt mores bonos colloquz'a prava. "I Und er fügt hinzu :

"Kein schandbares Wesen, keine törichten oder leichtfertigen Reden, was ungeziemend ist." 2 Die Erfahrung lehrt in der Tat, dass reine Seelen durch die von unvorsichtigen Reden hervorgerufene ungesunde Neugier verdorben worden sind.

1117. c) Der Tastsz'nn ist ganz besonders gefährlich (N. 879).

Abbe Perreyve hatte das wohl verstanden, als er schrieb 3 : " Mehr als je, 0 Herr, weihe ich dir meine Hände. Ich weihe sie dir bis zu skrupelhafter Treue. Diese Hände werden in drei Tagen die priesterliche Weihe erhalten. In vier Tagen werden sie deinen hl. Leib und dein hl. Blut berÜhrt, gehalten und getragen haben. Ich will sie achten, sie verehren als heilige Werkzeuge deines Dienstes und qeiner Altäre" ... Wahrlich, wenn man bedenkt, dass man den Gott aller Heiligkeit am Morgen in den Händen hielt, ist man geneigter, sich alles dessen zu enthalten, was deren Reinheit beflecken könnte. Also grosse ZurÜckhaltung sich selbst gegenÜber! Man tue, was zur Höflichkeit gehört, aber man hÜte sich wohl, dabei irgend welches leidenschaftliche Gefühl zu bekunden, das ungeordnete Neigung verriete. - Einem Priester, welcher ihn fragte, ob es angebracht sei, einer Sterbenden den Puls zu fühlen, antwortete der hl. Vinzenz v. Paul : " Man nehme sich davor in acht, denn der böse Feind könnte sich dieses Vorwandes bedienen, u)TI selbst die sterbende Person zu versuchen." ... " Beim Ubergang vom Leben zum Tode ist dem Teufel jedes Holz gut genug, um daraus todbringende Pfeile fÜr die Seele zu schnitzen ... Erkühnen Sie sich nie, unter welchem Vorwande es auch sei, ein Mädchen oder eine Frau zu berühren. " 4

1118. B) Die inneren Sinne sind nicht weniger gefährlich als die äusseren. Selbst, wenn wir zur

, f. Kor. XV, 33. - • l!.phes. V, 4.

3 Meditations sur les SS. Ordres, S. !OS, Ausg. 1874-

4 MEYNARD, Vertus de S. VinceIlt de Paut, 19. Kap. S. 306.

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ZWEITES KAPITEL.

Erde blicken, verfolgen uns unaufhörlich lästige Erinnerungen und nicht loszuwerdende V orstellungen. Der hl. Hieronymus klagt darüber in seiner Einsamkeit. Trotz der Sonnenglut und der Armut seiner Zelle glaubte er sich durch die Phantasie in das schwelg-erische Leben Roms versetzt. I Daher mahnt er eindringlich, solche Bilder sofort zu verdrängen : "Nolo sinas cogitationes crescere ... Dum pa1'vus est lIOStZ'S, z"nterjice. Nequz"tz"a, ne zizania crescant, elz"datur in semz·ne." 2 Der Feind muss erstickt werden, ehe er grass ist. Das Unkraut muss vor dem Wachsen ausgerottet werden, sorJst dringt die Versuchung in die Seele ein, erfÜllt sie ganz und gar, und der Tempel des Hl. Geistes wird eine Höhle der bösen Feinde. "Ne post Trinz"tatis hospitz"um, z'bi da:mones saltent et sz'rena: nidijicent. " 3

1119. Um diese gefährlichen Vorstellungen zu vermeiden, ist es von Wichtigkeit, nie Romane und Bühnenwerke zu lesen, in denen die menschlichen Leidenschaften, besonders die der Liebe, in lebhafter, realistischer Weise dargestellt werden. Derartige Schilderungen sind nur zu sehr geeignet, Phantasie und Sinne ZU verwirren. In den Träumereien treten sie immer wieder vor den Geist, durch sie wird die Versuchung stärker und verfÜhrerischer und zuweilen ziehen sie die Einwilligung nach sich. Der hl. Hieronyml1,s bemerkt ausdrücklich, die Jungfräulichkeit gehe nicht nur durch äussere Akte verloren, sondern auch durch innere: " Perit ergo et mente virginitas. " 4

Ausserdem ermahnen uns die Heiligen, nutzlose Phantasiebilder und Träumereien von uns zu weisen. Erfahrungsgemäss folgen nämlich auf diese bald sinnliche und gefährliche. Will man also den letzteren ausweichen, so darf man sich nicht freiwillig bei den ersteren aufhalten. Nach und nach gelingt es dann, die Phantasie in den Dienst des Willens zu stellen .

. ' " 0 quoties ego ipse in eremo constitutl1S et in illa vasta. solitudine qure exusta solis ardoribus horridum monachis prrestitt habitaculum, putabam me Romanis interesse de/iciis. "

• Epist. XXII, n. 7. P. L. XXIl, 398.

3 S. HIERONYMI Epist. XXII, n. 6. P. L. XXII, 398.

• Ibidem, n. 5.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN, 779

Dahin muss es notwendigerweise besonders der Priester bringen, denn kraft seines Amtes werden ihm mancherlei heikle Dinge im Vertrauen mitgeteilt. Wohl ist er im. Besitze der Standesgnade, um keinen Gefallen daran zu finden, doch wird ihm diese Gnade nur unter der Bedingung zuteil, dass er nach Verlassen des Beichtstuhles nicht freiwillig auf das Gehörte zurückkommt. Sonst hätte seine Tugend eine schwere PrÜfung zu bestehen, und Gott hat sich nicht verpflichtet, jenen beizustehen, die sich unvorsichtig in Gefahr begeben: " Qui amat periculum, in iUo peribit.'"

1120. C) Ebenso wie die Phantasie bedarf auch das Herz der Abtötung. Es ist der Sitz einer der edelsten, aber auch der gefährlichsten Fähigkeiten. Durch die Gelübde oder die Priesterweihe wird das Herz Gott geweiht, und wir entsagen den Freuden des häuslichen Herdes. Aber dieses Herz bleibt der Liebe zugänglich. Werden uns auch zu seiner Zügelung besondere Gnaden verliehen, so sind das jedoch Gnaden für den Kampf, die unsererseits gros se Wachsamkeit und viel Mühe verlangen.

N eben den gewöhnlichen Gefahren treten dem Priester noch weitere in der AusÜbung seines Amtes entgegen. Unbewussthängt man an jenen, denen man Gutes erweist, und diese, ihrerseits, fÜhlen sich geneigt, ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen. Daher entsteht gegenseitige Zuneigung, die zunächst zwar Übernatürlich ist, jedoch bei Unvorsichtigkeit leicht natÜrlich, gefühlsbetont und vorherrschend werden kann. N ur gar zu leicht gibt man sich Täuschungen hin:" Oft", sagt der hl. Franz v. Sales, " glauben wir, jemand wegen Gott zu lieben und dabei tun wir es unsertwegen. Wir behaupten zwar, es sei eine auf Gott gegründete Liebe, aber in Wirklichkeit finden wir in dieser Liebe Trost f1urch den gemeinsamen Verkehr." Ein berühmter dem hl. Augustinus zugeschriebeller Ausspruch zeigt die aufeinander folgenden Grade beim Ubergange von geistlicher zu fleischlicher Liebe:

" A lIlor spiritualis genera! affictuosum, affictuosus obsequio sum, obsequiosus familiarem, familiaris carnalem. "

1121. Zur Vermeidung eines solchen UnglÜcks frage man sich von Zeit zu Zeit, ob man nicht in sich einige der charakteristischen Merkmale einer zu natÜrlichen und zu sinnlichen

'Eccl. lII, 27.

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ZWEITES KAPITEL.

·Freundschaft wahrnehme. P. de Valuy fasst diese Merkmale auf folgende Art zusammen : "Wenn das Gesicht einer Person die Augen zu fesseln beginnt oder ihr sympathisches Wesen das Herz gefangen nimmt und lauter schlag·en lässt. - Zärtlichkeit im Grusse, im Blicke, in Worten, häufige kleine Geschenke ... ein Mienenspiel, das mehr sagt als Worte, ein gewisses Sichgehenlassen, das nach und nach zu Vertrautheit wird, Gefälligkeiten und genau berechnete Aufmerksamkeiten, Anbieten von Diensten u. s. w. Sich geheime, von keinem Auge und Ohr belauschte Gespräche verschaffen. Sie endlos verlängern, ohne Grund in die Länge ziehen. Wenig von göttlichen Dingen sprechen, aber viel von sich und von der gegenseitigen Sympathie. - Sich gegenseitig loben, schmeicheln, entschuldigen. Sich bitter über Mahnung der Oberen beklagen, wie auch über die Hindernisse, die sie dem Verkehr in den Weg stellen,über den Argwohn,den sie zu hegen scheinen... - Bei Abwesenheit der betreffenden Person Traurigkeit und Unruhe fühlen. - Während des Gebetes durch den Gedanken an sie zerstreut sein, mit aussergewöhnlichem Eifer sie zuweilen Gott anempfehlen, ihr Bild tief im Herzen tragen, fortwährend an sie denken, Tag und Nacht, selbst im Traume. - Sich genau erkundigen, wo sie sich aufhält, was sie tut, wann sie zurückkehrt und ob sie niemand anderen vorzieht. - Bei ihrer Rückkehr sich ungewöhnlicher, überschwenglicher Freude überlassen. Eine Art Martyrium leiden, wenn man sich wieder trennen muss. Tausend Auswege suchen, um eine abermalige Gelegenheit der Annäherung herbeizuführen. ",

Man wiege sich ja nicht in Sicherheit wegen der Frömmigkeit der Personen, mit denen man so intim verkehrt, denn je heiliger, desto anziehender sind sie. " Quo sanctiores sunt, eo 11lagis alliciunt." Ausserdem glauben solche Personen, die Neigung zu einem Priester habe nichts Gefährliches an sich. Und so überlassen sie sich ihr ohne Furcht. Der Priester muss daher verstehen, sie in ehrfurchtsvoller Entfernung' zu halten.

3· EIFER IM STUDIUM UND IN D~:R ERFÜLLUNG DER STANDESPFLICHTEN.

1122. Eine der nützlichsten Abtötungen ist die Vermeidung des Müssigganges durch Fleiss und Eifer

, VertttS religieuses, S. 73-74.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 781

in den kirchlichen Studien und in treuer Erfüllung der Standespflichten. Dadurch beseitigt man die Gefahren des Müssigganges. " lWultam malitiam docuit otiositas. "1 V ersucht ein Teufel einen beschäftigten Menschen, so versuchen deren hundert einen müssigen. Was tut man auch wohl, wenn man sich nicht auf nützliche Weise beschäftigt? Man gibt sich Träumereien hin, liest seichte Literatur, macht lange Besuche, führt mehr oder minder gefährliche Gespräche, und so füllt sich die Phantasie mit eitlen Vorstellungen, das Herz gibt sich sinnlichen Freundschaften hin, und die allen Versuchungen zugängliche Seele kommt schliesslich zu Falle. Betreibt man aber eifrig das Studium oder befasst man sich ausschliesslich mit seinen Berufspflichten, so ist der Geist mit guten und heilsamen Gedanken voll 2, das Herz schlägt dann nur für Edles und Reines, man denkt nur immer an die unsterblichen Seelen, und schon die Menge der Beschäftigungen verhindert uns glücklicherweise, mit dieser oder jener Person in nähere Bekanntschaft zu treten. Tritt dann zu einer gewissen Zeit die Versuchung an uns heran, so gewährt die durch dauernde Anstrengung erworbene Selbstbeherrschung viel leichter die Möglichkeit, sich darüber hinwegzusetzen. Studium und Amtsangelegenheiten nehmen uns so in Anspruch, dass wir uns schnell von den Träumereien losreissen und uns mit den Wirklichkeiten beschäftigen, die unsere ganze Lebenskraft beanspruchen.

1123. Man leistet daher Alumnen und Priestern einen grossen Dienst, bringt man ihnen Liebe zum Studium und Scheu vor dem Müssiggange bei, lehrt man sie, jeden Augenblick des Lebens ausnützen. Kann man ihnen bezüglich eines Studien planes rur ihre seelsorgliche Tätigkeit oder für

, Eccli. XXXIII, 29.

2" Ama scientiam Scripturarum, et carnis vitia non amabis ...

Facito aliquid operis, ut te sem per diabolus inveniat occupatum." (S. HIERONYMUS, Epist. CXXV. P. L. XXII, 1078.)

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ZWEITES KAPITEL.

die Ausarbeitung katechetischer Kurse wie auch für irgend ein Fachstudium 'behilflich sein, so ist man ihnen sehr nützlich. Entwirft man nicht schon vorher ein regelrechtes Programm, so besteht Gefahr, dass man seine Zeit vergeudet. Mit einem gen auen Plan gibt man sich mit grösserem Eifer ans Werk und arbeitet mit mehr Ausdauer.

4. INNIGE LIEBE ZU JESUS UND SEINER HEILIGEN MUTTER.

1124. Arbeit bewahrt den Geist vor gefährlichen Gedanken. Liebe zu Gott schützt das Herz vor sinnlichen Neigungen und bewahrt uns vor vielen Versuchungen.

Das Herz des Menschen ist zum Lieben geschaften. Priestertum oder Ordensstand nimmt uns nicht diese affektive Seite unseres Wesens, sondern hilft uns, sie übernatürlich gestalten. Lieben wir Gott aus ganzer Seele, lieben wir J esus über alles, so werden wir ein viel geringeres Verlangen haben, unseren Trost in den Geschöpfen zu suchen. Diesbezüglich bemerkt der hl. Klimachus:" Derjenige ist tugendhaft, der die himmlischen Schönheiten so tief seinem Geiste eingeprägt hat, dass er es verachtet, einen Blick auf die Schönheiten der Erde zu werfen und er spürt deshalb auch nicht die Glut jenes Feuers, das das Herz der anderen verzehrt. "I

1125. Um aber zu diesem Ergebnis zu kommen, muss die Liebe zu J esus innig, grossmütig und ungeteilt sein. Dann bringt sie einen dreifachen Vorteil : I) Sie erftillt derartig Herz und Sinn, dass wenig Raum für menschliche Liebe bleibt. Schleicht sich diese hie und da ein, so verabschiedet man sie mit den Worten der hl. Agnes : "Ipsi sum desponsata cui Angeli serviunt, cujus pukhritudinem sol et luna mirantur." Angesichts dessen, der die Fülle der Schönheit, Güte und Macht besitz.t, verblassen alle Geschöpfe und verlieren ihren Reiz. 2) Uberdies wird Jesus, der in unserem Herzen keinen Götzen dulden kann, uns Vorwürfe wegen der natürlichen Zuneigungen machen, falls wir ihnen unglücklicherweise nachgeben, und unter der Wucht seiner Vorwürfe werden wir besser kämpfen. 3) Endlich wacht er selbst

• L'Echelle, Degn! XV, 7.

eifersüchtig über das Herz jener, die sich ihm hingeben. Zur Zeit der Versuchung steht er uns deshalb bei und wappnet uns gegen die Verführungskünste der Geschöpfe.

Diese grossmütige Liebe zu J esus gewinnt man durch Betrachtung, eifrige Kommunion, Besuchungen des Allerheiligsten. Sie wird uns Gewohnheit und bleibt durch das innige Leben der Vereinigung mit dem lieben Heiland, das wir bereits beschrieben (N. 153), beharrlich.

1126. Ausserdem befleissige man sich einer grossen Andacht zur Unbefleckten. Ihr Name atmet Reinheit. Sie vertrauensvoll anrufen, heisst eigeritlieh schon die Versuchung vertreiben. Weiht man sich aber gänzlich dieser guten Mutter (N. 170-176), so wacht sie über uns wie über ihr Gut und Eigentum und hilft uns, auch die schlimmsten Versuchungen siegreich abweisen. Verrichten wir daher gern das Gebet : ,,0 Domina ... ", das gegen unreine Einflüsterungen besonders wirksam ist, ferner das Ave 11zarz's stella, besonders folgende Strophe:

Vz'rgo sz'ngularis Inter o1lZnes lJlZÜS Nos culpz's solutos Mz'tes jac et castos.

Und sollten wir auch einmal im Kampfe unterlegen sein, vergessen wir nicht, das Unbefleckte Herz Mariens ist gleichzeitig die sichere Zuflucht der Sünder. Rufen wir es an und wir werden die Gnade der Reue erlangen, gefolgt von der Gnade der Lossprechung. Niemand kann besser unsere Beharrlichkeit sicherstellen als die getreue Jungfrau.

§ Ir. Die Demut. 1

In mancher Hinsicht könnte diese Tugend der Gerechtigkeit angeschlossen werden, denn sie be-

, KASSIAN, conf. XVIII, Kap. XI. - S, J. KLlMACHus, Eclulle, XXV. - S. BERNARDUS, De .fradibus lwmilitatis et superbi,z. S. THoMAs, II' Ua:, q. 161. - RODRIGUEZ, P. II, Tr. IB, Von der

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ZWEITES KAPITEL.

wirkt, dass wir uns nach Verdienst behandeln. Man teilt sie jedoch im allgemeinen der Tugend der Mässigkeit zu, weil sie das uns anhaftende Bewusstsein der eigenen Vorzüglichkeit mässigt. Wir veranschaulichen r. das Wesen, 2. die (irade, 3. die Vorzüglichkeit und 4. die Mittel zur Ubung dieser Tugend.

I. IJtr Wesen.

1127. r. Demut ist eine Tugend, die den Heiden unbekannt war. Für sie bezeichnete Demut etwas Niedriges, Verwerfliches, Gemeines und Unedles. Bei den Juden war das nicht so. Vom Glauben erleuchtet, nahmen die Besten unter ihnen, die ihres Elendes und Nichts bewussten Gerechten, die Prüfung als Mittel zur Sühne geduldig an. Dann neigte sich ihnen Gott mit seinem Beistande zu. Die Gebete der Demütigen erhörte er bereitwillig und dem reuigen und gedemütigten Sünder gewährte er Verzeihung. Die Juden konnten also die Ausdrucksweise des lieben Heilandes erfassen, als er kam, um Demut und Sanftmut zu lehren. Wir verstehen sie freilich noch besser, da wir die Beispiele der Demut betrachten können, die er uns während seines verborgenen, öffentlichen und Leidenslebens gab und die er uns in seinem eucharistischen Leben noch immer vor Augen stellt.

Definition der Demut: Eine übernatÜrlz'che Tugend, die durch die Kenntnis, die sie uns von uns selbst gibt, uns zu richtiger Einschätzung unserer selbst führt und in uns den Wunsch wachruft, übersehen und verachtet zu werden. Kürzer noch definiert sie

Demut. - S. FR. OE SALES, Vie devote, III. T., IV.-VII. Kap. J.-J. OLlER, /ntroduction, 5. Kap. - L. TRaNsoN, Tr. de l'humilitt. - SCARAMELLI, Guide asdtique, tr. III, art. XI. - S. LIGUORI, l.a veritable tpouse, XI. Kap. - MGR GAY, Vie et vertus, Ir. VI. V. LIBERMANN, Ecrits spirit. De l'humilite. - BEAUOENOM, Formation a l'humilite. - eH. OE SMEOT. Notre vie surnaturelle, t. II, S. 305-3F. - D. COL. MARMION, l.e Christ, ideal du moine, XI, S. 277-333.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 785

der hl. Bernhard I : Virtus qua homo, verissz'ma suz' agnitione, sibz' zjJSZ' vz'lesdt." Diese Definition wird man besser verstehen, nachdem wir über die Grundlage der Demut gesprochen haben werden.

1128. 2. Grundlage. Die Demut hat eine doppelte Grundlage: Die Wahrheit und die Gerechtigkeit. Die Wahrhez't, durch die wir uns selbst als das erkennen, was wir sind. Die Gerechtz'gkez't, die uns geneigt macht, uns dieser Erkenntnis entsprechend zu behandeln.

A) Um sich selbst zu erkennen, sagt der hl. Thomas, untersuche man, was in uns Gott gehört und was uns selbst zu eigen ist. Nun kommt alles Gute von Gott und gehört ihm an, alles Böse oder Fehlerhafte kommt von uns. "In h011lz'ne duo possunt consz'derari, scilz'cet id quod est Dei et id quod est hominis. Homz'nis autem est quz'dquz'd pertz'net ad difectum, sed Dei est quidquz'd pe1~tz'net ad salutem et peifedz·onem. " 2

Gebieterisch verlangt daher die Gerechtzgkeit, dass Gott, und zwar Gott allein, alle Ehre und aller Ruhm geleistet werde. "Regi sceculorum immortalz', z'nvz'sibzli, solz' Deo llOnor et gloria." 3 " Benedzdz'o et daritas et sapientia et gratiarum actio, honor et virtus et fortitudo Deo nostro. " 4

Zweifellos ist manches Gute in uns, unser natürliches Sein und vor allem unsere übernatürlichen Vorzüge. Die Demut verhindert uns nicht, sie wahrzunehmen und zu bewundern. Jedoch, ebenso wie man bei Betrachtung eines Gemäldes dem Künstler, der es malte, und nicht der Leinwand, Bewunderung zollt, so soll auch bei der Erkenntnis der Gaben und Gnaden Gottes in uns Gott allein bewundert werden.

1129. B) Im übrigen verlangt unsere Eigenschaft als SÜnder VerdemÜtzgung. In gewissem Sinne sind

r De gradibus hmnil. c. I, n. 2. - 2 IIa IIre, q. 161, a. 3· 3 I. Tim, I, 17. - 4 Apoc. VII, 12.

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ZWEITES KAPITEL.

wir aus uns selbst nur Sünde, weil wir, in der SÜnde geboren, die zur Sünde führende, böse Begierlichkeit in uns bewahren.

a) Bei unserem Eintritt in die Welt sind wir schon durch die ErbsÜnde befleckt, von der allein die göttliche Barmherzigkeit uns reinigen kann. b) Und wieviele wirkliche Sünden begingen wir seit dem ersten Erwachen unserer Vernunft! Begingen wir selbst auch nur eine einzige TodsÜnde, so verdienen wir schon deshalb ewig dauernde Verdemütigungen. Aber selbst bei lässlichen Sünden müssen wir bedenken, dass die geringste aus ihnen eine Beleidigung Gottes ist, ein freiwilliger Ungehorsam gegen sein Gesetz, ein Akt der Empörung, wodurch wir unseren \Villen dem seinigen vorzogen : Zu dessen Sühne würde ein in Busse und Verdemütigung verbrachtes ganzes Leben nicht genügen! c) Ausserdem bewahren wir in uns, sogar nach unserer Wiedergeburt, so tief eingewurzelte Neigungen zur Sünde, ja zu allerlei Sünden, dass wir es nach dem Zeugnisse des hl. Augustinus nur der Gnade Gottes verdanken, wenn wir nicht alle Sünden der Welt begingen. I

Gerechterweise sollen wir daher die Verdemütigungen lieben, alle Vorwürfe gut annehmen. Sagt man uns, wir seien geizig, unredlich, stolz, so stimmen wir ruhig bei, denn wir tragen die Neigung zu allen diesen Fehlern in uns. " Deshalb ", folgert Olier,2 stellen wir uns bei Krankheit, Verfolgung, Verachtung und anderen Trübsalen stets auf die Seite Gottes gegen uns und sagen wir uns, wir hätten dieses, ja, noch mehr verdient und mit Recht. Gott kann sich eines jeden Geschöpfes bedienen, um uns zu strafen. Beten wir die grosse Barmherzigkeit an, die er uns zuteil werden lässt, da wir sehr gut wissen, dass er zur Zeit des Gerichtes strenger mit uns verfahren wird. "

, " Grati", tu", deputo et qu",eumque non feei mala : quid enim nOIl facere potui, qui etian1 gratuitum facinus amavi? Et omnia mihi dimissa esse fateor; et qua: mea sponte feei mala, et qu", te duee non feei. " (CoJljess" liQ. II, e. 7. P. L. XXXII, 681.)

2 Cattell. chrlftien, I. Part., lee. XVIII.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 787

Das ist also die zweifache Grundlage der Demut:

Da wir aus uns selbst ein Nichts sind, sollen wir es lieben, vergessen zu werden und unbeachtet zu bleiben. Nesciri, pro nihilo reputari. Als Sünder verdienen wir alle Verachtung und alle Verdemütigungen.

11. Die verschiedenen Grade der Demut.

Es gibt verschiedene Arten von Abstufungen, je nach den verschiedenen Gesichtspunkten, die man einnimmt. Wir nennen nur die hauptsächlichsten, die sich auf drei zurückführen lassen : die des hl. Benedikt, des hl. 19natius und Olier's.

1130. 1. Die zwölf Grade des hl. Benedikt.

Kassian hatte in der Übung der Demut zehn Grade unterschieden. Durch Hinzufügung zweier Grade vervollständigte der hl. Benedikt diese Einteilung. Zum Verständnis dieser Ordnung muss man sich erinnern, dass nach Ansicht des hl. Benedikt diese Tugend " eine gewohnte Verfassung der Seele ist, durch die alle Beziehungen des Mönches zu Gott nach der Wahrheit geregelt werden, derzufolge der Mensch sowohl ein sündiges Geschöpf als auch ein angenommenes Kind ist. " I Sie gründet sich auf die Ehrfurcht gegen Gott und umfasst, ausser der eigentlichen Demut, Gehorsam, Geduld und Bescheidenheit. Unter den zwölf Graden beziehen sich sieben auf z'nnere Akte und fÜnf auf äussere.

1131. Zu den z'nneren Akten rechnet er :

I) Die Gottesfurcht, die wir immer vor Augen haben und uns zum Halten der Gebote antreibt. Zunächst die Furcht vor Strafe, dann die Ehrfurcht, _ die in der Anbetung ihre Vollendung findet." Tz'-

??tor Domz'/Zz' sanctus, permanens z'n sa:culum sa:culz'. " 2

, D. COLUMBA MARMJON, Le Christ, ideal du 11loine, 1922, S. 299. 2 Ps. XVIII, 10.

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ZWEITES KAPITEL.

2) Den Gehorsam oder die Unterwürfigkeit unseres \iVillens unter Gottes Willen. Verehren und fürchten wir Gott, so werden wir auch in allem seinen Willen tun. Als Ausdruck unserer Abhängigkeit ist ein solcher Gehorsam sicher ein Akt der Demut.

3) Den Gehorsam gegen die Oberen aus Liebe zu Gott, pro amore Dei. Es ist schwerer, sich den Oberen, als Gott selbst zu unterwerfen. Um Gott in den Oberen zu sehen, bedarf es eines lebendigeren Glaubens und grösserer Selbstverleugnung, weil dieser Gehorsam sich auf viel mehr Dinge erstreckt.

4) Den geduldigen Gehorsam, auch in den schwierigsten Dingen, indem man Beleidigungen erträgt, ohne sich darüber zu beklagen, tacita conscientia, selbst wenn diese Verdemütigungen von den Oberen ausgehen, ja, gerade dann besonders. Um das fertig zu bringen, denkt man an das Leiden und die Verdemütigungen J esu Christi.

5) Bekenntnis der geheimen FeMer, auch der Gedanken, beim Oberen I, ausserhalb der sakramentalen Beichte. Das ist ein mächtig zügelnder Akt der Demut. Der Gedanke, seine geheimsten Fehler offenbaren zu müssen, hält oft vor dem abschüssigen Abgrund zurück.

6) Die bereitwillige Annahme aller Entbehrungen, niedriger Beschäftigungen, sich als unfähig zu allem betrachtend.

7) Sich aufrichtig, und zwar vom Grunde des Herzens aus, als den letzten aller Menschen ansehen. " Si omnibu.s se inferiorem et viliorem intimo cordis credat affectu. " Dieser Grad ist selten.

, Nach dem kirchlichen Gesetzbuch, Kanon 530, dürfen Ordensobere gegenwärtig in keiner Weise ihre Untergebenen zur Gewissensrechenschaft drängen. "Aber", heisst es ebendaselbst, " es ist den Ordensleuten nützlich. sich mit kindlichem Vertrauen an ihre Oberen zu wenden und ihnen auch, falls sie Priester sind, ihre Gewissenszweifel und Unruhen zu offenbaren. "

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 789

Heilige erreichen ihn. Sie sagen sich : " Hätten andere ebensoviele Gnaden erhalten als wir, so wären sie bessere Menschen als wir. "

1132. Diese inneren Akte bekunden sich selbstverständlich durch äussere Akte. Die hauptsächlichsten derselben sind:

8) Man scheut sich, irgendwie Ausnallllle zu machen. Man will nichts Aussergewöhnliches tun, sonde!')) begnügt sich mit dem nach der Regel, dem Beispiele der Alteren und den berechtigten Gebräuchen Erlaubten. Hochmut und Eitelkeit ist es nämlich, eine Sonderstellung einnehmen zu wollen.

9) Stillschweig'en, d. h. zu schweigen verstehen, solange man nicht gefragt wird oder kein wirklicher Grund zum Sprechen vorliegt. Anderen Gelegenheit zum Sprechen geben. In der grossen Bereitwilligkeit, das Wort zu führen, liegt, in der Tat, viel Eitelkeit.

10) Zuriicklzaltull/{ im Lacltm. Der hl. Benedikt verurteilt nicht das Lachen, insofern <:!s der Ausdruck geistiger Freude ist, sondern nur das unpassende Lacllen, lärmendes oder spöttisches Gelächter. Auch die gewohnheitsmässige Neigung, sofort und laut zu lachen, was wenig Ehrfurcht vor der Gegenwart Gottes und wenig Demllt bedeutet.

r r) Zuriickltaltun;: in f/Vortm. Spricht man, so geschehe es auf sanfte und demütige Weise, und zwar ohne vVortschwall, mit dem Ernst und der Masshaltung des Weisen.

12) Bescheidn!lleit in Haltung und Bewepmg. Bescheiden gehen, sich setzen, oder stehen. Bescheiden in Blicken. Nichts Gesuchtes im ganzen Wesen. Den Kopf geneigt halten bei dem Gedanken an Gott, und, die Augen zum Himmel erhebend, sich seiner Sünclhaftigkeit erinnern und sich dabei sagen : " D07llille, 11011 SU1IZ dljrJZUS ego peccator levare oculos meos ad CC7!lU7lZ. "

N ach Erklärung der verschiedenen Grade der Demut fügt der hl. Benedikt hinzu, sie führen zur Liebe Gottes, und zwar zu jener vollkommenen Liebe, die keiner Furcht Raum gibt. "Ergo Ju's omnl'bus humilitatis gradibus ascensis, 1lZonachus mOA: ad caritatem Dei perveniet illam quer. pel:fecta foris mittit timorem. " Die Liebe zu Gott, das ist das Ziel, zu dem Demut führt. Der vVeg ist zwar beschwerlich, aber die Gipfel, auf die er führt, sind die Höhen der göttlichen Liebe.

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ZWEITES KAPITEL.

1133.2. Die drei Grade des hl. Ignatius. Gegen Ende der zweiten Woche der Geistlichen Übungen, noch vor den Regeln über die Standeswahl, legt der hl. Ignatius dem, der die Exerzitien macht, drei Grade der Demut vor, die eigentlich drei Grade der Selbstverleugnung sind.

I) Der erste" besteht darin, dass ich mich soviel als möglich und soweit es zum Gehorsam gegen das Gesetz Gottes, unseres Herrn, notwendig ist, erniedrige und verdemütige, und zwar so, dass ich nicht einmal erst überlegen würde, ob es möglich sei, ein mich unter Todsünde verpflichtendes Gebot Gottes oder der Menschen zu übertreten, selbst nicht um der Herrschaft über die ganze vVelt oder der Erhaltung des Lebens willen." Dieser Grad ist erforderlich für jeden Christen, der im Stande der Gnade bleiben will.

2) Der zwez'te Grad der Demut ist vollkommener als der erste. " Er besteht darin, dass ich mich dem Willen und den Neigungen nach in vollständiger Indifferenz (Gleichmütigkeit) halte in bezug auf Reichtum und Armut, Ehre und Schmach, den Wunsch eines langen oder kurzen Lebens, wenn nur die Ehre Gottes und der Vorteil für das Heil meiner Seele gefördert werden. Ja, noch mehr. Würde es sich darum handeln, die ganze Welt zu gewinnen oder mein eignes Leben zu retten, ich würde keinen Augenblick zögern, dieses nicht zu tun, wenn es nicht geschehen könnte, ohne dabei wenn auch nur eine einzige lässliche Sünde zu begehen. " Das ist bereits eine viel vollkommenere Verfassung, zu der sehr wenige Seelen gelangen.

3) Der dritte Grad der Demut ist sehr vollkommen. Er umfasst die ersten zwei und verlangt ausserdern, dass "ich um der vollkommeneren Nachfolge ] esu Christi, unseres Herrn, willen, und um ihm ähnlicher zu werden, bei sonst gleichem Lob und Ruhm für die göttliche Majestät vorziehe,

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 791

statt des Reichtums lieber die Armut mit dem armen J esus zu umfangen, statt der Ehren lieber Schmach mit dem mit Schmach gesättigten Heiland anzunehmen. Statt in den Augen der Welt für weise und klug zu gelten, lieber den Wunsch zu hegen, für unnütz und töricht gehalten zu werden, alles aus Liebe zu J esus Christus, der als erster dafÜr gehalten werden wollte." Das ist der Grad der Vollkommenen. Das ist die Liebe zum Kreuze und zu Verdemütigungen, in Vereinigung mit Jesus Christus und aus Liebe zu ihm. Erreicht man diese Höhe, so ist man auf dem Wege zur Heiligkeit.

1134. 3. Die drei Grade der Demut nach Olier. In seinem" Catechisme chretien" legt Olier die Notwendigkeit der Demut und die Kampfweise gegen den Hochmut dar. In der" Introduction " (Einleitung) erklärt er die drei Grade innerer Demut, die den bereits eifrigen Seelen entsprechen.

a) Der erste verlangt, dass man sich gefalle, sich selbst in der ganzen Schlechtigkeit und Niedrigkeit, mit allen Fehlern und Sünden zu erkennen. Die Erkenntnis allein des eigenen Elendes ist nicht Demut. Es gibt Menschen, die zwar ihre Fehler einsehen, sich aber darüber grämen und in sich irgend eine Vollkommenheit suchen, durch die sie gegen die sich ihnen fühlbar machende Beschämung geschützt seien. Das ist die Wirkung des Stolzes. Gefällt man sich aber in der Erkenntnis seines Elendes, liebt man die eigene Wertlosigkeit und Niedrigkeit, so ist man wahrhaft demütig.

Hatte man das Unglück, eine Sünde zu begehen, so muss man freilich dieselbe verabscheuen, aber gleichzeitig auch die Niedrigkeit lieben, in die man durch die Sünde versetzt wurde. Um sich im eigenen Elende zu gefallen, bedenke man, dass diese Gesinnung Gott ehrt, ebendeshalb, weil unsere Kleinbeit seine Grösse, unsere Sünden seine Heiligkeit hervortreten lassen. So beteuert die Seele ihre Wertlosigkeit, ihre Unfähigkeit, aus sich selbst Gutes zu tun und erklärt, alles käme von Gott, alles hänge von ihm ab und alles müsse durch ihn bewirkt werden.

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ZWEITES KAPITEL.

b) Der zweite Grad besteht in der Freude darüber, dass man als niedrig, als verabscheuungswert, als Nichts und Sünde gzlt, und zwar bei allen Menschen. Würden wir nämlich, trotz der Erkenntnis und Liebe unseres Elendes, von den Menschen geachtet werden wollen, so wären wir Heuchler, die bekanntlich besser scheinen möchten, als sie in Wirklichkeit sind.

Dazu neigen wir leider nur zu sehr. Daher der Kummer, den wir bei Wahrnehmung unserer Unvollkommenheiten seitens der anderen empfinden; ferner die Sorge betreffs des Erfolges bei unseren Arbeiten und die Bemühungen, die Hochschätzung der Menschen zu erwerben. Diese Hochschätzung herbeisehnen, he isst aber, ein Dieb und Räuber sein, denn man wünscht sich anzueignen, was allein dem höchsten Wesen gebührt. Eine demütige Seele hingegen kÜmmert sich nicht um das, was man von ihr denkt, ja, sie leidet unter dem Lobe und möchte lieber tausend Beleidigungen als ein einziges Lob, weil jene auf Wahrheit beruhen, dieses aber sich auf Lüge gründet.

e) Beim dritten Grade will man nicht nur als gering, niedrig und verächtlich angesehen, sondern auch dementsprechend behandelt werden, d. h. alle möglichen Verdemütigungen freudig annehmen, kurz, verlangen, nach Verdienst behandelt zu werden. Denn welche Verachtung gebührt nicht dem Nichts, das in sich nichts Empfehlenswertes besitzt! Welche Verachtung gebührt nicht der Sünde, die uns von Gott, d~m wahren Gute, entfernt!

Schickt uns daher Gott Geistesdürre, innere Verlassenheit und ZurÜcksetzungen, so sollten wir eigentlich für Gott gegen uns Partei nehmen, ihm Recht geben, dass er unsere Person und unsere Werke verwirft. Ebenso sollen wir uns bei schlechter Behandlung seitens der Vorgesetzten, der Gleichgestellten und sogar der Untergebenen uns freuen wie über die gerechteste, für uns vorteilhafteste und dem Wunsche J esu Christi am meisten entsprechende Sache. Nicht einmal einen recht schönen Platz im Himmel soll man aus Hochmut anstreben. Gewiss soll man Gott so lieben wollen, wie er es wünscht und durch Treue die uns von ihm bereitete Glorie und ewige Seligkeit zu erreichen suchen. Wegen des Platzes im Himmel jedoch muss man sich ganz den Händen Gottes überlassen.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 793

" Dann ist man in der wahren Vernichtung und besitzt in sich nur noch den lebendigen und herrschenden Gott."

1135. Schluss. Jeder der von uns nach dem hl. Benedikt, dem hl. Ignatius und nach Olier dargelegten Gesichtspunkte hat seine Berechtigung. Dem Seelen führer steht es zu, seinem Beichtkinde jenen anzuraten, der dem Seelenzustand desselben am besten entspricht.

I I 1. VOl'züglz'cltkeit der Demut.

Um die Sprache der Heiligen über diesen Gegenstand zu verstehen, ist zwischen der Demut an sielt und der Demut als Grundlage der anderen Tugenden zu unterscheiden.

1136. 1. An sich betrachtet, ist die Demut nach dem hl. Thomas I den theologischen Tugenden untergeordnet. Diese nämlich haben Gott zum unmittelbaren Ziel. Sie steht sogar tiefer als gewisse sittliche Tugenden, wie Klugheit, Gottesverehrung und die das Gemeinwohl angehende, gesetzliche Gerechtigkeit. Den anderen sittlichen Tugenden (abgesehen vielleicht vom Gehorsam) ist sie aber ihrer Allgemeinheit wegen und weil sie uns der göttlichen Ordnung in allen Dingen unterstellt, übergeordnet.

1137. 2. Betrachtet man jedoch die Demut als den Sclzlüssel zu allen Gnadenschätzen und als Grundlage der Tugenden, so ist sie nach den Aussprüchen der Heiligen eine der ausgezeichnetsten Tugenden.

A) Sie ist der Schlüssel, der alle Gnadenschätze erschliesst. "Humilz'bus autem dat gratiam." 2 a) Gott weiss, die demütige Seele gefällt sich nicht selbst in den ihr verliehenen Gnaden oder bildet

, IIa IIae, q. 161, a. 4. - 2 I. Petr. V, 5.

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ZWEITES KAPITEL.

sich nichts darauf ein. Im Gegenteil, sie gibt Gott allein alle Ehre. Gott kann ihr somit die Fülle seiner Gaben zuwenden, weil er dadurch selbst mehr verherrlicht wird. Hingegen sieht er sich gezwungen, den Hochmütigen seine Gnade zu entziehen, " Deus superbis resistit" X, weil diese sie eigennÜtzig an sich reissen und sich daraüf etwas einbilden. Das aber kann Gott nicht ertragen. "Gloriam meam alteri non dabo. "2

b) Übrigens entleert die Demut unsere Seele von Eigenliebe und eitler Ruhmsucht und bereitet so für die Gnade weiteren Raum, den Gott bereitwilligst ausfÜllt. "Denn ", sagt der h1. Bernhard, "zwischen Gnade und Demut besteht enge Verwandtschaft. " Sem per solet esse gratice divince ja miliaris virtus humilitas. " 3

1138. B) Sie ist die Grundlage aller Tugenden, wenn auch nicht deren Mutter, so doch deren Amme. Und das in einem zweifachen Sinne: ohne sie gibt es nämlich keine gründliche Tugend. Mit ihr werden alle Tugenden solider uud vollkommener.

I) Gleichwie Hochmut das grosse Hindernis für elen Glauben ist, so sicher verleiht Demut unserem Glauben Bereitwilligkeit, Leichtigkeit und Festigkeit, ja macht ihn sogar erleuchteter: "Abscondisti heec a sajJientibus et revelasti ea parvulis." Wievielleichter kommt es dem Verstande an, sich von der Glaubensgewalt fesseln zu lassen, ist man sich der Abhängigkeit bewusst, in der man sich Gott gegenüber befindet. " In cajJtivitatem redigentes omnem intellec/um ill obsequium Christi." Andererseits befestigt uns der Glaube in eier Demut, da er uns über Gottes unendliche Vollkommenheit und unser Nichts erleuchtet.

2) So verhält es sich auch mit der Ho/fnun,![. Der Hochmütige vertraut auf sich selb"t und überschätzt seine Kräfte. Kaum je denkt er daran, den göttlichen Beistand anzurufen. Der Demütige hingegen setzt all sein Vertrauen auf Gott, weil er sich selbst misstraut. Andererseits werden wir durch die Hoffnung zur Demut gestimmt, elenn die himmlischen Güter gehen so über unsere eigenen Kräfte,

, I. Petr. V. 5. - 211. Kor. X, 5. - 3 Super Missus est, homi!. IV, 90

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 795

dass wir sie ohne den allmächtigen Beistand der Gnade nicht erlangen könnten.

3) Der Liebe Feindin ist die Selbstsucht. In der Leere seiner selbst nimmt die Gottesliebe zu. Diese, ihrerseits, vertieft die Demut, weil wir glücklich sind, uns vor dem, den wir lieben, zu vernichten. Daher sagt mit Recht der hl. Augustinus, nichts sei erhabener als die Liebe, nur die DemÜtigen üben sie aus. "Ni/lil excelsius via caritatis, et non in z'lla ambulant nisi humiles.)) I Auch um Nächstenliebe zu üben, gibt es kein sichereres Mittel als Demut. Diese verhüllt des Nächsten Fehler und bewirkt, dass wir Mitleid mit seinem Elend haben, statt uns darüber zu entrüsten.

1139.4) Der Gottesverehrung wird man sich umso inniger hingeben, je klarer man einsieht, für Gott müsse alles vernichtet und geopfert werden.

s) Klug/leit verlangt Demut. Demütige Überlegen gern und holen sich Rat, bevor sie handeln.

6) Gerechtigkeit kann ohne Demut nicht bestehen, denn der Hochmütige Übertreibt seine Rechte zum Nachteil derjenigen seines Mitmenschen.

7) Da der Starkmut des Christen nicht von ihm, sondern von Gott kommt, findet er sich in Wahrheit nur bei jenen, die im Bewusstsein ihrer Schwäche sich auf den stützen, der sie stärkt.

8) Miissigkeit und Keusc/lheit haben, wie wir sahen, die Demut zur Voraussetzung. Auch Sanftmut und Geduld übt man nur dann recht, wenn man Verdemütigungen anzunehmen weiss.

Somit kann man also sagen, ohne Demut gebe es keine gründliche und standhafte Tugend. Durch sie wachsen alle Tugenden und fassen tiefere Wurzeln in der Seele. Schliessen wir darum mit den Worten des hl. Augustinus:" Willst du dich erheben? Beginne, dich zu erniedrigen. Du träumst davon, einen bis hoch in den Himmel ragenden Bau auszufÜhren? Lege zuerst die Grundmauern der Demut. Je höher das Gebäude sich erheben soll, desto tiefer muss das Fundament sein. "Mag1lus esse vz's ? A 11tZ'nimo incipe. Cogitas nzagnam fabyz'cam construere celsz'tudillis? De funda11lento prius cog"ita lzumilitatis. )) 2

• Enarrat. in Ps. CXLI. c. 7. - 2 Serlllo IO de Verbis Domilli.

796

ZWEITES KAPITEL.

IV. Übung der Demut.

1140. Anfänger bekämpfen besonders den Hochmut, wie wir es N. 838-841 erwähnten. F01,tsclzreitende Seelen bemühen sich, die Demut unseres Heilandes nachzuahmen.

1141. 1. Sie bemühen sich, die Gesinnungen des demütigen Jesus sz'ch zu eigen zu machen. Das ist es ja, was der hl. Paulus lehrt:" Hoc enim sentite z'n vobis quod et in Christo Jesu : qui, cum in forma Dez' esset ... exinanz'vz't semetz'psum." I Man betrachte daher oft und bewundere und suche nachzuahmen die Beispiele der Demut, die J esus uns in seinem verborgenen Leben, seinem öffent!z"chetl und in seinem Leidensleben gab und in seinem eucharistischen Leben zu geben nicht aufhört.

A) In seinem verborgenen Leben Übt er besonders die Demut der Unschez·nbarkez't. a) Er Übt sie vor seiner Geburt, da er neun Monate im jungfräulichen Leibe Mariens verborgen bleibt und seine göttlichen Eigenschaften ganz und gar verhüllt. " Exinanz'vit semetz'psum." Ferner, da er sich dem Erlass des Kaisers unterwirft. "Exz'z't edzdum a Ccesare." 2 Ohne Klage leidet er die seiner Mutter zugefÜgten Zurücksetzungen.,. Non erat eis locus in dz'versorio." 3 Er zeigt diese Demut besonders aber im Ertragen des Undankes der Menschen, die nicht daran denken, ihm einen Platz in ihrem Herzen einzuräumen. "In P1'oprz'a venit et sui eum non receperztnt. "4 b) Er übt sie bei seiner Geburt, da er als armes Kindlein erscheint, das, in Windeln gewickelt, auf ein wenig Stroh in einer Krippe liegt. "Invenietis z'nfmztem, pannis involutum,positum in prcesepio. " 5 Und dieses Kindlein ist der Sohn Gottes, dem Vater gleich, die unerschaffene Weisheit!

'Pl,ilip. II, 5-7. - 2 Luk, IT, I. - 3 Luk. II, 7 . • loll. 1,2, - 5 Luk. II, 12.

1)1.1:<.. ::'lllLH ... rit.l'll i uu~l'\jlJ~l'. lvi

c) Er übt sie auch in den Umstiinden, die auf diese Gebuh folgen. Wie ein gewöhnliches Kind wird er beschnitten und um den Preis zweier Turteltauben losgekauft. Um der Verf9lgung des Herodes zu entgehen, ist er gezwungen, nach Agypten zu fliehen, er, der doch mit einem v,Tort den grausamen Wüterich zu Staub vernichten konnte! d) Und welche Verborgenheit im Leben zu N azareth! In einem kleinen Dorfe in Galiläa verborgen, hilft er seiner Mutter im Haushalte, ist Lehrling und Arbeiter. Dreissig Jahre bringt er, der Herr der Welt, im Gehorsam zu. "Et erat subditus illis.'" Da beg reift man den Ausruf Bossuet 's 2 : ,,0 Gott, wieder erfasst mich Erstaunen! Stolz, geh zugrunde bei diesem Schauspiel! J esus, der Sohn eines Zimmermanns, selbst ein Zimmermann, als solcher allgemein bekannt, ohne dass man von irgend einem anderen Amte, irgend einer anderen Tätigkeit spricht. "

1142. B) In seinem offentlichen Leben hört Jesus nicht auf, Selbstvergessenheit zu üben, soweit es mit seiner Aufgabe vereinbar' ist. Wohl muss er durch Worte und Handlungen seine Würde als Sohn Gottes verkünden, aber er tut es in bescheidener, massvoller Weise, verständlich genug für Menschen guten Willens, ohne jedoch durch äusseren Glanz Zustimmung zu erzwingen. Seine Demut erscheint in seiner ganzen Lebensführung.

a) Er umgibt sich mit unwissenden, ungebildeten und daher wenig geschätzten Aposteln, mit Fischersleuten und einem Zöllner! Auffallende Liebe zeigt er für die von der Welt Geächteten: Für die Armen, die Sünder, die Betrübten, die Kinder und die Enterbten dieser Welt. Er lebt von Almosen und hat kein eigenes Heim. b) Seine LehrmetItode ist einfach, allen verständlich. Seine Vergleiche, wie auch seine Parabeln sind dem gewöhnlichen Leben entlehnt. Er sucht nicht Bewunderung hervorzurufen, sondern zu belehren uncl die Herzen zu rühren. c) Selten nur wirkt er Wunder. Oft verlangt er von den Geheilten, dass sie niemand etwas davon sagen. Keine affektierte Strengheit. Er nimmt seine Mahlzeiten ein wie jedermann, wohnt der Hochzeit zu Kana bei und auch einigen Gastmählern, zu denen er geladen war. Der Popularität geht er aus dem Wege, scheut sich nicht, seinen Jüngern zu missfallen. "Durus est Me serlllo." 3 Als

, Luk. II. SI. - 2 Elivations, XX. Semaine, 8, Elev. 3 foll. VI, 61.

798

ZWEITES KAPITEL.

man ihn zum Köniß'e machen will, ergreift er die Flucht. d) Dringen wir nun in seine innersten Gesinnungen ein, so sehen wir, in welcher Abhängigkeit von seinem Vater und den Menschen er leben wollte. Er urteilt nicht aus sich selbst, sondern nach der Ansicht seines Vaters: "Ego 110n judico quemquam. " , Er spricht nur, um die Lehre dessen kundzutun, der ihn gesandt hat: "A meipso non loquor." 2 " Mea doctrina non est mea, sed ejus qzd misit me. " 3 Er vollbringt nichts aus sich, sondern einzig und allein im Auftrage seines Vaters. "iVon POSSU11Z a mezpso jacere quidquam ... Pater autem in me mmzens ipse facit opera. " 4 Daher sucht er auch nicht seinen eigenen Ruhm, sondern den des Vaters. Er lebt nur zur Verherrlichung desselben auf Erden: "Ego ... non qucero gloriam meam. " 5 "Ego te clan'jicavi super terram." 6 Ja, noch mehr. Er, der Herr der Welt, erniedrigt sich und macht sich zum Diener der Menschen. "Non venit ministrari, sed ministrare. "7 Mit einem Wort, sich selbst vergessend, opfert er sich fortwährend für Gott und für die Menschen.

1143. C) Das tritt noch mehr in seinem Leidenslebm hervor, da er die Demut der Erniedrigung übt.

Er, die Heiligkeit selbst, wollte die Last unserer Sünden und deren Strafe auf sich nehmen, als wäre er der Schuldige:

"Eum, qui non n07lera~ peccatum, pro nobis peccatum fecit. " 8 a) Daher die im Olgarten empfundene Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Schwermut, als er sich mit unseren Sünden bedeckt sah: " Dxpit pavere, tcedere, mrestus esse ... " " Trisiis est anima mea usque ad mortem. " 9

b) Deshalb die Beschimpfungen, mit denen er überhäuft wurde. Für den Verräter Judas hat er noch Freundschaftsworte : "Amice, ad quid huc venisti.2" W Von seinen Aposteln im Stiche gelassen, hört er doch nicht auf, sie zu lieben. Wie ein Bösewicht gefangen genommen und gebunden, heilt er noch den von Petrus verwundeten Ma\chus. Der Dienerschaft ausgeliefert, erduldet er deren grobe Beleidigungen, ohne zu klagen. Ungerecht verleumdet, rechtfertigt er sich nicht und öffnet erst den Mund auf die Beschwörung des Hohenpriesters hin, in dem er den Stellvertreter Gottes erblickt. Er weiss zwar, auf seine Antwort stehe der Tod, aber dennoch spricht er die Wahrheit. Von Herodes als Narr behandelt, sagt er kein Wort und verteidigt durch kein Wunder seine

'lok VIII, 15. - 2 lo/z. XIV, 10. - 3 lok VII. 16.

4 lo/z, V, 30; XIV, 10. - 5 lo/z. V!lJ, 50. - 6 loh. XVII. 4- 7 Matt/z. XX, 28. - 8 11. Kor. V, 12.

9 Mark. XIV, 33, 34. - '0 ilJatt/z. XXVI, 50.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 799

Ehre. Das Volk, dem er soviel Gutes erwiesen, setzt ihn dem Barabbas nach, aber er leidet weiter, damit es sich bekehre! Von Pilatus ungerecht zum Tode verurteilt, schweigt er, lässt sich geisseIn, mit Dornen krönen, sich als Scheinkönig verspotten. Ohne Murren nimmt er das schwere Kreuz an, das auf seine Schultern gelegt wird. Er lässt sich kreuzigen, ohne ein Wort zu sagen, betet fLir seine Feinde, die ihn verhöhnen und verspotten und entschuldigt sie bei seinem Vater. Aller himmlischen Tröstungen beraubt, von seinen Jüngern verlassen, in seiner Menschenwürde aufs tiefste verletzt, an seinem Rufe, an seiner Ehre geschädigt, hat er wirklich alle nur denkbaren Arten von Verdemütigungen erlitten und mit grösserem Recht als der Psalmist kann er von sich sagen : " Sum verJltis et non lL01llo, opprobriulIl hominulll et abjeetio plebis. ", Und zwar ertrug er alle diese Beleidigungen 50 heroisch, ohne ein Wort der Klage:" Qui eum maledieeretur, non maledieebat. CU1ll pateretur, non eomminabatur, tradebat autemjudieanti se illjuste." 2 Und alles fÜr uns Sünder, alles an unserer Statt. Dürfen wir da noch klagen, wir, die wir so schuldig sind, selbst wenn wir einmal ungerechterweise angeklagt werden?

1144.D) In seinem eucharistischen Leben finden wir die verschiedenen Beispiele seiner Demut wieder.

a) J esus ist da in seiner Verborgenheit, mehr als in der Krippe, mehr als auf dem Kalvarienberge. "In eruee latebat sola deitas, at hie latet simul et llttmanitas." 3 Und dennoch, aus der Stille des Tabernakels, ist er die erste und hauptsächlichste Ursache alles Guten, das in der Welt geschieht. Er ist es, der die Missionäre, die Jungfrauen anregt, stärkt und tröstet. Und er will verborgen bleiben, neseiri, pro nihilo reputari.

b) Und welchen Beschimpfungen, welchen Beleidigungen ist er nicht in 5einem Sakrament der Liebe ausgesetzt! Und zwar nicht nur von seiten der Ungläubigen, die sich weigern, an seine Gegenwart zu glauben, nicht nur von seiten der Gottlosen, die seinen hl. Leib entehren, sondern auch von seiten der Christen, die aus Schwäche oder Feigheit unwürdig kommunizieren. Ja, sogar von seiten der ihm geweihten Seelen, die ihn manchmal vergessen und im Tabernakel allein lassen. " lVon jJotuistis ulla hora vigilare meeu1lZ.?" 4 Statt sich zu beklagen, ruft er uns unaufhörlich zu : " Venite ad me olJmes qui laboratis ef onerafi estis et ego reficiam vos!" 5

, Ps. XXI, 7. - 2 f. Petr. II, 23.

3 Hymnus" Adoro te" des hl. Thomas. 4 Matth. XXVI, 40. - 5 Matth. XI, 28.

soo

ZWEITES KAPITEL.

Ja, wahrlich, da sind uns alle Beispiele gegeben, deren wir bedürfen, um uns in allen Arten von Demut zu erhalten und zu stärken. 'Wenn wir bedenken, dass er uns zugleich die Gnade der Nachahmung erwarb, wie könnten wir mit der Nachfolge zögern ?

1145. 2. Sehen wir nun einmal, wie wir nach seinem Beispiele Demut üben können gegen Gott, gegen den Nächsten und gegen uns selbst.

A) Gegen Gott. Sie bekundet sich besonders auf dreierlei Weise.

a) Durch den Geist der Gottesverehrung, der in Gott die Fülle des Seins und der Vollkommenheiten ehrt. Es geschieht dadurch, dass wir in liebender und freudiger Gesinnung unser Nichts und unsere Sünde anerkennen und glücklich sind, auf diese Weise die Fülle und Heiligkeit des göttlichen \Vesens zu preisen. Daraus ergeben sich Gesinnungen der Anbetung, des Lobes, der kindlichen Ehrfurcht und Liebe, und aus dem Herzen erklingt der Ruf: " Tu solus Sanctus, tu solus Domi1lus, tu solus Altissimusl" Nicht nur während des Gebetes werden solche Gefühle im Herzen aufwallen, sondern auch bei der Betrachtung der Werke Gottes, sowohl, in der Natur, die die Vollkommenheiten des Schöpfers widerspiegelt, als auch in der Übernatur, i.l). der wir mit dem Auge des Glaubens wirkliche Ahnlichkeit mit Gott, wirkliche Teilnahme am göttlichen Leben finden.

1146. b) Durch den Geist der Dankbarleeit, der in Gott den Urquell aller natürlichen und übernatürlichen Gaben sieht, die wir in uns und anderen bewundern. Dem Beispiele der demütigen Jungfrau folgend, preisen wir mit ihr Gott wegen all des Guten, das er in uns legte: " Magnijicat anima IIzea Dominum. Fecit milu' magna qui potens est, et sanctum nomen ,,/us." Anstatt auf die verliehenen

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 801

Gaben in Hochmut zu verfallen, geben wir Gott die Ehre und gestehen, diese Gaben oft schlecht benutzt zu haben.

1147. c) Durch den Geist der Abhängigkeit, wodurch wir die Unfähigkeit eingest~hen, aus uns selbst etwas Gutes zu tun. In dieser Uberzeugung stellen wir uns vor jeder Handlung unter den Einfluss und die Leitung des Hl. Geistes und erflehen seine Gnade, die allein unsere Unfähigkeit beseitigen kann. Das tun namentlich die Seelenführer. Statt sich des ihnen von den Beichtkindern bewiesenen Vertrauens wegen zu überheben, gestehen sie mit aller Einfachheit ihre Unfähigkeit ein und holen sich erst bei Gott Rat, ehe sie ihn anderen erteilen.

1148. B) Im Verkehr mit dem Nächsten, soll folgender Grundsatz uns leiten: Vorn natürlichen und übernatürlichen Gesichtspunkt aus sehen wir das Gute, das Gott in den Nächsten gelegt hat. Bewundern es ohne Neid und ohne Eifersucht. Verdecken im Gegenteil seine Fehler und entschuldigen sie nach Möglichkeit, wenigstens solange die Standespflicht nicht deren Rüge fordert.

Kraft dieses Grundsatzes a) freut man sich über die Tugenden und die Erfolge des Nächsten, weil alles das zur Verherrlichung Gottes gereicht, "dum omni modo... Christus annuntietur." I Man kann seine Tugenden zwar für sich wünschen, aber dafür wendet man sich an den Heiligen Geist, auf dass er uns Anteil daran gewähre. So entsteht edler Wetteifer " consideremus invicem z'n provocationem caritatz's et bonoru1l'l operum. " 2

b) Wird man gewahr, dass der Nächste einen Fehltritt begeht, so betet man für seine Bekehrung, an statt sich zu entrüsten. Man sagt sich ganz offen

1 Phi!. I, I8. - 2 Hebr. X, 24.

N° 683. - 26

802

ZWEITES KAPITEL.

und ehrlich, dass nur die Gnade Gottes uns vor noch schwereren Entgleisungen bewahrte (N. II29).

1149. c) Somit kann man sich fÜr geringer als die anderen halten:" z'n Izumz'lz'tate superz'ores sibi invicem arbz'trantes." I Man sollte, in der Tat, besonders, wenn nicht ausschliesslich, in den anderen Menschen das Gute, in sich selbst aber das Böse ins Auge fassen.

Der hl. Vinzenz v, Paul gab seinen SchÜlern folgenden Rat 2:" BemÜhen wir uns, uns recht gut kennen zu lernen, so werden wir finden, dass wir in all unserem Denken, Reden und Handeln, entweder in der Sache selbst oder in den Begleitumständen reichlich Grund zur eigenen Beschämung und Verachtung haben. Wollen wir also ehrlich sein, so kommen wir uns nicht nur schlechter als die anderen Menschen vor, sondern gewissermassen schlimmer als die Teufel in der Hölle, Hätten nämlich diese UnglÜcklichen über die Gnaden und Hilfsmittel verfügen dÜrfen, die uns zum Besserwerden zu Gebote standen, sie hätten tausendmal besseren Gebrauch davon gemacht."

, Es wurde die Frage aufgeworfen, wie man zu einer solchen Überzeugung gelangen kann, die, an und fÜr sich, objektiv beurteilt, nicht immer der Wahrheit entspricht. Zunächst ist es bezeichnend, dass sie sich bei allen Heiligen findet, dass sie also ihre gute Begründung haben muss. Die Grundlage dafÜr ist diese: Sich selbst gegenÜber ist der Mensch sein eigener Ridtter, und bei gründlicher Selbstkenntnis sieht er klar ein, er sei sehr strafbar und ausserdem gebe es in ihm viele schlechte Neigungen. Daraus schliesst er, dass er Verachtung verdiene, Betreffs der anderen ist er aber nicht Richter und kann es nicht sein, da er ihre Absichten,einen der wesentlichsten Bestandteile zur Beurteilung ihrer Handlungen, nicht kennt. Ebensowenig kennt er das von Gott ihnen verliehene Gnadenmass, das jedoch bei der Abschätzung der Handlungen berücksichtigt werden muss. Bei strenger Beurteilung seiner selbst und sehr wohlwollender Beurteil':1ng der anderen gelangt man auf praktische Weise zur Uberzeugung, man mÜsse sich, alles in allem genommen, für geringer als alle anderen halten.

1150. C) Sz'dt selbst gegenübe1' gelte folgender Grundsatz: Das Gute in sich erkenne man zwar an,

1 Phil, II, 3,

2 MAYNARD, Vertus et doct, spi,.it, de S, Vincent, S, 207.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 803

um Gott dafür zu danken, aber vor allem lenke man sein Augenmerk auf das Fehlerhafte, sein Nichts, seine Unfähigkeit, seine SÜnde, um sich für gewöhnlich in den Gesinnungen der Verdemütigung und

Beschämung zu erhalten. ..

Mittels dieses Grundsatzes wird die Ubung der Demut leichter fallen. Diese muss sich auf den ganzen Menschen erstrecken, auf seinen Geist, sein Herz, sein Ausseres.

a) Die Demut des Geistes umfasst hauptsächlich vier Dinge:

I) Gerechtes Misstrauen gegen sich. Man überschätzt dann nicht seine Talente, sondern demütigt sich, weil man die von Gott verliehenen Gaben so schlecht benutzt hat, So rät der Weise: " Trachte nicht nach dem, was zu hoch für dich ist und suche nicht zu ergründen, was über deine Kräfte geht, " " Altiora te 12e qucesien's et jortiora te ne scrutatus (ueds, '" Das war auch die Weisung des hl. Paulus an die Römer:

"Denn ich sage, vermöge der Gnade, die mir gegeben ist, allen, die unter euch sind, nicht höher von sich zu denken, als sich geziemt, sondern gerecht von sich zu denken, nach dem Masse des Glaubens, das Gott einem jeden zugeteilt hat, " Non plus sapere quam oportet, sed sapere ad sobrietatem. " 2

2) Bei der Verwendung der Talente nicht zu glänzen suchen, nicht verlangen, geschätzt zu werden, sondern nützlich zu sein, Gutes zu tun,

Das empfahl der hl. Vinzenz v, Paul seinen Missionären an und fügte bei. 3" Sie anders zu gebrauchen, heisst, sich selbst, nicht aber J esus Christus verkünden. Wer predigt, um Beifall, Lob und Hochschätzung zu gewinnen, von sich reden zu machen, was tut ein solcher? Er begeht einen Gottesraub, ja, einen Gottesraub, Wie, sich des Wortes Gottes und göttlicher Dinge bedienen, um sich Ehre und Berühmtheit zu verschaffen, sollte kein Gottesraub sein?"

1151. 3) Übung der Gelehrigkeit des. Geistes. Man unterwirft sich den amtlichen Entscheidungen der Kirche und nimmt Überdies bereitwillig die päpstlichen Weisungen an, selbst, wenn sie auch nicht unter die Unfehlbarkeit fallen, indem man sich sagt, in diesen Entscheidungen sei mehr Weisheit enthalten als im eigenen Urteil.

1 Eccli, III, 22, - 2 Röm, XII, 3,

3 MAYNARD, Vertus et doctrine, S, 2I4,

804

ZWEITES KAPITEL.

4) Solche Gelehrigkeit verwahrt gegen Hartnäckigkeit betreffs der eigenen Ansicht in strittigen Punkten. In frei besprochenen Dingen haben wir zweifellos das Recht, dem unserer Ansicht nach scheinbar bestbegründeten System zu folgen. Sollten denn da die anderen nicht das Recht zu gleicher Freiheit haben?

1152. b) Herzensdemut verlangt Zufriedenheit mit der Lage in der man - hic et nunc - sich befindet. Statt des WÜnschens und Anstrebens von ~uhm und Ehren, zieht man hervorragenden Amtern das verborgene Leben vor: "Ama nesciri et pro nihilo reputari." Sie geht nQch weiter. Sie verbirgt, was Liebe und Hochschätzung erwerben könnte und wÜnscht sich die letzte Stelle, nicht nur dem Range, sondern auch dem Urteil der Welt nach. "Recumbe in novissimo loco. " I. Ja, sie wünscht sich sogar, auf Erden ganz der Vergessenheit anheimzufallen.

Hören wir, was der hl. Vinzenz v, Paul über diesen Punkt sagt 2 : "Niemals sollen wir die Blicke auf das Gute in uns werfen, noch sie daran heften lassen, Forschen wir vielmehr nach dem Bösen und Fehlerhaften in uns, denn das ist ein vorzügliches Mittel zur Bewahrung der Demut. Weder die Gabe, Seelen zu bekehren, noch irgend andere äussere Talente, die wir besitzen, sind für uns da, Wir sind nur deren Träger und können mitsamt dieser ganzen BÜrde trotzdem ewig wgrunde gehen.,. Daher rühme sich und gefalle sich selbst niemand, noch erhöhe sich jemand in eigenen Augen, wenn er wahrnimmt, dass Gott durch ihn Grosses wirkt. Er demÜtige sich, im Gegenteil, und sehe sich als schwaches Werkzeug im Dienste Gottes an,"

1153. c) Aussere Demut soll nur Offenbarung der inneren Gesinnung sein. Es lässt sich jedoch behaupten, die äusseren Akte der Demut haben ihre Rückwirkung auf unsere Gesinnungen, um diese zu festigen und zu vertiefen. Man vernachlässige sie also nicht, vollziehe sie aber mit wahrer,

1 Luk. XIV, IO, - 2 MAYNARD, Vertus et docl1~i"e, S. 2I8.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN.

805

demütiger Gesinnung, erniedrige daher seine Seele zugleich mit dem Körper.

I) Ärmlich eingerichtete Wohnung, bescheidene Kleidung; die, ist sie auch abgetragen und geflickt, jedoch reinlich, zur Demut verhelfen kann, Reiche Kleidung und Wohnung flössen leicht Gesinnungen ein, die dieser Tugend entgegengesetzt sind.

2) Haltung, Gang, Gesichtsausdruck, bescheidenes und demütiges Benehmen verhelfen zur Demut. ' Niedrige Beschäftigungen, wie knechtliehe Arbeiten, Kleiderflicken

u. a. erfüllen den gleichen Zweck.

3) Dasselbe gilt von der Anpassung anderen gegenÜber, von Beweisen der Achtung und Höflichkeit.

4) Bei Unterhaltungen bewirkt die Demut, dass wir gern die anderen von dem sprechen lassen, was sie interessiert, Selbst aber spricht man nur wenig. Besonders wehrt sie sich dagegen, dass man von sich selbst oder von Dingen, die sich auf die eigene Persönlichkeit beziehen, rede, Nur ein Heiliger kann ohne Hintergedanken Böses von sich aussagen 2, und von sich selbst vorteilhaft sprechen, ist eitle Ruhmreclerei. - Auch enthalte man sich aller Absonderlichkeiten, die unter dem Vorwande der Demut geschehen, Wie der hl. Franz v, Sales sagt 3, haben sich einige grosse Diener Gottes wie Toren gebärdet, um vor der Welt verächtlicher zu scheinen. Man bewundere sie, ohne sie nachzuahmen. Sie hatten zweifellos bei diesen eigenen und aussergewöhnlichen Uber-

1 MGR GAY, Vie et vertzts, t. 1. De l'humilite, S, 357-358, erklärt das sehr treffend : "Es gibt eine äussere Demutsgewohnheit. in der die wahrhaft demütige Seele den Leib stets erhält. Es ist etwas Verhaltenes, Zurückhaltendes und Ruhiges, das dem ganzen Gesichtsausdruck und allen Bewegungen jene unaussprechliche Schönheit, jenes Ebenmass und jene Anmut verleiht, die das Wort Bescheidenheit ausdrückt, Bescheiden der Blick, die Stimme, das Lachen, bescheiden alle Bewegungen ... Nichts ist weniger gekünstelt als wahre Bescheidenheit. Der hl. Panlus sagte (Phil, IV, 5) : " Euer freundliches Wesen werde allen Menschen kund. Der Herr ist nahe! " Darin liegt näml!!,h tatsächlich das Geheimnis dieses bezaubernden und heiligmässigen Ausseren, Gott ist dieser Seele nahe und sie vergisst das nie, Sie lebt in seiner Gegenwart und wirkt unter seinen Augen in Gemeinschaft mit den Engeln ...

2 " Wir sagen so oft, wir seien nichts, wir seien elend und der Auswurf der Welt. Würde man uns aber beim Worte nehmen und von uns sagen, was wir selbst von uns behaupteten, so wären wir darüber betrübt. Wir scheinen, im Gegenteil, zu fliehen und uns zu verbergen, damit man uns nachlaufe und uns suche. Wir geben zwar vor, die letzten zu sein und am Ende des Tisches sitzen zu wollen, aber nur, um mit Ehren höher zu kommen. Echte Demut gibt sich keinen ausseren Schein und spricht nie Worte der Demut", (DER HL. FRANZ V. SALES, Philothea, 3, B., 5, Kap.) - 3 Ebendaselbst.

806

ZWEITES KAPITEL.

treibungen ihre Gründe, niemand jedoch ziehe daraus Folgerungen fÜr sich selbst,

Die Demut ist daher 'eine sehr praktische und sehr zu unserer Heiligung beitragende Tugend. Sie erfasst den ganzen Menschen und hilft, die anderen Tugenden, namentlich die Sanftmut, üben.

§ III. Die Sanftmut '.

1154. Mit Recht reiht J esus die Sanftmut der Demut an, denn ohne sie kann man die erstere gar nicht üben. Wir besprechen hier,!. das ,Wesen, 2. die Vorzüglichkeit und, 3. die praktische Ubung dieser Tugend.

1. Wesen der Tugend der Sanftmut.

1155. 1. Ihre Bestandteile. Sanftmut ist eine Tugend, die mehrere Dinge in sich fasst, und zwar drei Hauptbestandteile : a) eine gewisse Selbstbeherrschung, wodurch die Regungen des Zornes aufgehalten und gemässigt werden, In dieser Beziehung gehört sie zur Tugend der Mässigkeit; b) das Ert1'agen der Fehler des Nächsten, was Geduld und Starkmut voraussetzt; c) Vergeben der Beleidigungen und Wohlwollen gegen alle, selbst gegen die Feinde. In dieser Beziehung enthält sie Nächstenliebe. Wie man sieht, ist sie eher eine Gesamtheit von Tugenden, als eine einzelne,

1156. 2. Ihre Definition wird also lauten: eine Übernatürliche, sittliche Tugend, dz'e den Zorn aufhält und mässigt, und den Nächsten, ungeachtet seiner Fehler, mit Güte be/tandelt.

Sanftmut ist also ni,<:ht jene Charakterschwäche, die unter süsslichem Ausseren tiefgehenden Groll vertuscht. Sie ist eine innere Tugend, an der sowohl

, HL, lOH. KLlMACHUS, L'Echelle, XXIV, - HL, FRANZ v, SALES, Vie devote, 3, T" 8, Kap. u. 9 Kap, - J. J, OLlER, fntroduction, [0, Kap, - CARD, BONA, Manuductio, 32, Kap. - RIBET, Asdtique, 50, Kap, - EHRW, A" CHEVRIER, Le vt!ritable disciple, S, 345-354.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 807

der Wille als auch das GefÜhl beteiligt sind, Im Innern bewirkt sie Ruhe und Frieden, nach aussen bekundet sie sich durch freundliches Wesen, in Worten und im Benehmen I. - Geübt wird sie gegen den Nächsten, aber auch gegen sich selbst, wie auch gegen lebende und leblose Wesen.

11. Ihre VorzÜglicltkeit.

Sanftmut ist in sich und in ihren TlVirkungm eine hervorragende Tugend.

1157. 1. In sielt ist sie, wie Olier 2 sagt, "die Vollendung des Christen, weil sie in ihm die Vernichtung alles Eigenen und den Tod alles Selbstischen voraussetzt ".

" Daher ", fügt er bei, " findet sich wahre Sanftmut eigentlich nur in den unschuldigen Seelen, in denen J esus seit ihrer Wiedergeburt unaufhörlich sich aufhält." Bei den bussfertigen Seelen findet man sie selten in ihrer Vollkommenheit, denn sehr wenige bemühen sich energisch und standhaft genug, die Fehler, die sie sich angeeignet haben, auszurotten, Deshalb ist nach Bossuet " das wahre Kennzeichen bewahrter oder wiedergewonnener Unschuld die Sanftmut." 3

1158. 2. Der grosse Vorzug der Sanftmut liegt darin, dass durch sie Frieden in der Seele herrscht, Frieden mit Gott, mit dem Näcllsten und mit sich selbst.

a) Mit Gott, weil man durch sie alle, auch die unangenehmsten Ereignisse mit Ruhe und Gleichmut als Mittel aufnimmt, in den Tugenden, besonders in der Liebe zu Gott, Fortschritte zu machen.

1 Der hl. Hieronymus schildert sie sehr gut in seinem Kommentar zu den Galatern, V, 22 : " Milde" t sagt er, " ist eine liebenswürdige, stille Tugend, sanft beim Reden, leutselig im Umgange, eine glückliche Verschmelzung aller guten Eigenschaften, Güte steht ihr sehr nahe, denn sie sucht auch Freude zu bereiten, Aber sie unterscheidet sich durch weniger Zuvorkommenheit und strengeres Äussere. Sie ist bereit, Gutes zu tun und Dienste zu leisten, jedoch ohne jene herzgewinnende Anmut und Lieblichkeit ",

2 /ntroduclion, 10. Ka p.

3 iV/Mit. sur I'Evaugile, Sermon, 3, Tag,

808

ZWEITES KAPITEL.

" Denn wir wissen, sagt der Paulus, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten gereichen." " Diligentibus Deum omnia cooperantur in bonu11l. " I

b) Mit dem Nächsten. Da wir nämlich durch sie die Ausbrüche des Zornes aufhalten und unterdrÜcken, ertragen wir die Fehler des Nächsten und bleiben mit ihm in guten Beziehungen oder vermögen wenigstens innerlich die Ruhe zu bewahren, wenn andere gegen uns aufgebracht sind.

c) Mit sich selbst, Nach einern Fehltritt oder einern Versehen, die man begangen, wird man nicht ungeduldig und nicht ärgerlich. Man fasst sich wieder mit Ruhe und Mitleid, ohne sich Über seine Fehler zu wundern und benÜtzt die erworbene Erfahrung zu grösserer Wachsamkeit. Man entgeht so dem Irrtum jener, die " nachdem sie zornig waren, sich erzürnen, weil sie zornig waren, sich grämen, weil sie sich gegrämt hatten, sich ärgern, weil sie ärgerlich gewesen waren. " 2 So bewahrt man den Frieden, der eines der kostbarsten Güter ist.

III. Übung der Tugend der Sanftmut.

1159. 1. Anfänger Üben sie durch Bekämpfung des Zornes und der Rachsucht, sowie der leidenschaftlichen Seelenregungen. (N. 86r-863).

1160.2. Fortgeschrittene Seelen streben danach, die Sanftmut J esu sich anzueignen, eine Sanftmut, wie er sie durch Wort und Beispiel wunderbar lehrte. 3

A) Er legte so grossen Wert auf diese Tugend, dass er sie als eines der Merkmale des Messias von den Propheten verkÜnden liess und dass die ErfÜllung dieser Prophezeiung von den Evangelisten aufgezeichnet wurde. 4

1 Röm, VIII, 28, - 2 Philothea, 3, B., 9. Kap. 3 P. CHEVRTER, Le disciple, S. 345-354-

4 ISA lAS, XLII, I-4- - Matth, XII, 17-2I.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 809

1161. B) Er bietet sich uns als Vorbild jener Sanftmut dar und fordert uns auf, seine Jünger zu werden, weil er sanftmütig und demütig von Herzen sei, I

a) Er verwirklicht in seiner Vollkommenheit das von den Propheten geschilderte Ideal der Sanftmut. Nicht mit Streitsucht, Feindseligkeit oder Bitterkeit verkÜndet er das Evangelium, sondern mit Ruhe und Gleichmut.

Keine schallende Stimme, kein unnötiges Geschrei, keine zornigen Worte. Lärm geht vorüber und stiftet nichts Gutes. Seine Art und Weise ist so milde, dass er das geknickte Rohr nicht zerbricht und den noch rauchenden Docht nicht auslöscht, d. h. den kleinen Funken von Glauben und Liebe, der in der Seele des Sünders zurÜckblieb. Um die Menschen an sich zu ziehen, ist er weder traurig noch ungestÜm. Alles in ihm atmet Liebenswürdigkeit. Jene, die mÜhselig beladen sind, ladet er ein, Ruhe bei ihm zu suchen.

1162. b) Gegen die Apostel: I) seine Führung- ist voller Milde. Er erträgt ihre Fehler, ihre U nwissenheit, ihr rauhes Benehmen_ Er belehrt sie mit Vorsicht, offenbart ihnen die Wahrheit erst nach und nach, in dem Masse ihrer Erfassungskraft und lässt den Hl. Geist sein Werk an ihnen zur Vollendung bringen.

Er verteidigt sie gegen die ungerechten Beschuldigungen der Pharisäer, die ihnen vorwerfen, nicht zu fasten. Er weist sie zurecht, als sie die Kinder, die sich um ihn drängen, schroff zurtickweisen oder als sie das Feuer des Himmels auf den Flecken in Samaria herabwünschen. Als Petrus sein Schwert gegen Malchus zieht, erhält er von J esus einen Verweis, aber gleich darauf verzeiht er ihm seine dreifache Verleugnung, die er ihn durch eine dreifache Liebesbeteuerung sÜhnen lässt.

2) Ausserdem rät er den apostolischen Arbeitern Sanftmut, Sie sollen einfältig wie die Tauben und nicht hinterlistig wie die Schlangen sein, Sie sollen wie Lämmer mitten unter Wölfen sein, dem Bösen nicht widerstehen, sondern dem, der sie auf die rechte Wange schlägt, die linke darbieten. Sie sollen lieber ihren Mantel und ihr Untergewand hingeben,

, Matth. XI, 29.

810

ZWEITES KAPITEL.

als bei Gericht ihr Recht fordern und sollen fÜr ihre Verfolger beten.

1163. c) Sündern, auch den grössten, verzeiht er gern, sobald er in ihnen Zeichen von Reue findet.

Mit grossem Taktgefühl bewirkt er das Geständnis der Samariterin und ihre Bekehrung, verzeiht der Sünderin und dem guten Schächer, denn er kam, nicht die Gerechten, sondern die Sünder zur Busse zu berufen. Wie ein guter Hirt sucht er das verirrte Schaf und bringt es auf seinen Schultern zum Schafstall zurÜck. Er gibt sogar sein Leben für seine Schafe, Zu den Pharisäern und Schriftgelehrten spricht er zuweilen mit Strenge, weil sie den anderen ein unerträgliches Joch auferlegen und sie so hindern, des Reiches Gottes teilhaftig zu werden,

d) Sogar seinen Feinden begegnet er mit Sanftmut und Milde, Dem Verräter Judas gibt er noch den süssen Namen " Freund," Am Kreuze betet er für seine Henker und bittet seinen Vater, ihnen die Sünde zu verzeihen, weil sie nicht wüssten, was sie tun,

1164. C) Um dem Heiland nachzufolgen: a) vermeiden wir Streitigkeiten, vorlautes Sprechen, verletzende oder barsche \Vorte oder Handlungen, um Furchtsame nicht zu verscheuchen. BemÜhen wir uns, niemals Böses mit Bösem vu vergelten. Nichts durch barsches \lVesen zu zerbrechen oder zu zertrümmern. Nie im Zorn zu sprechen.

b) Im Gegenteil, versuchen wir alle, die uns nahen, mit Rücksicht zu behandeln, allen ein heiteres und freundliches Gesicht zu zeigen, auch wenn sie uns ermüden und zur Last fallen; mit besonderer Güte die Armen zu empfangen, wie auch Betrübte, Kranke, Sünder, scheue Menschen und Kinder. Durch einige gute \Vorte Verweise, die wir erteilen müssen, zu mildern, Mit heiliger Bereitwilligkeit Dienste zu leisten, manchmal sogar mehr zu tun, als verlangt wird, besonders aber es mit Gefälligkeit zu tun. Seien wir gegebenenfalls bereit, einen Schlag zu ertragen, ohne ihn zurückzugeben und dem, der uns auf die rechte Wange schlägt, die linke darzubieten,

1165. 3. Die Vollkommenen bemühen sich, Gott selbst in seiner Milde nachzuahmen, von dem Olier I

1 /1ltroduction, 10, Kap.

DIE SITTLICHEN TUGENDEN. 811

bemerkt : "Er ist Milde seinem Wesen nach und will er eine Seele an dieser Eigenschaft teilnehmen lassen, so erfÜllt er sie solchermassen, dass nichts Fleischliches, nichts Eigenes mehr in ihr ist, Sie ist vielmehr ganz in Gott versunken, in Gottes Sein, Leben, Wesen und Vollkommenheiten, so dass all ihr Wirken in Milde vor sich geht. Selbst bei eifriger Tätigkeit geschieht alles mi,t Sanftmut, und zwar deshalb, weil Bitterkeit und Arger keinen Teil mehr an ihr haben, ebensowenig wie sie sich in Gott finden können.

1166. Schluss. Um nicht weitschweifig zu werden, beenden wir hiermit unsere Darlegung der Kardinaltugenden. a) Sie zÜgeln alle unsere Fähigkeiten, machen sie geschmeidig und vervollkommnen sie, denn sie unterwerfen sie der Herrschaft der Vernunft und des ·Willens. So wird nach und nach in der Seele die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt. Der Leib wird der Seele, die niederen Fähigkeiten werden dem Willen untergeordnet.

b) Sie tun noch mehr. Sie entfernen nicht nur die Hindernisse fÜr die Vereinigung mit Gott, sondern leiten diese Vereinigung schon ein. Denn durch die Kluglteit erlangen wir bereits Teilnahme an der Weisheit Gottes, unsere Gerechtigleeit ist Teilnahme an Gottes Gerechtigkeit. Unser Starkmut kommt von Gott und vereinigt uns mit ihm. Unsere Mässigkeit lässt uns am schönen Gleichgewicht, an dem in Gott sich findenden Gleichrnass teilhaben. Im Gehorsam gegen die Oberen gehorchen wir ihm. Keuschheit vermittelt die Annäherung an seine vollkommene Reinheit. Demut schafft Leere in der Seele, damit Gott sie erfülle, und unsere Sanftmut ist nur eine Teilnahme an der göttlichen.

Diese durch die sittlichen Tugenden auf diese Weise vorbereitete Vereinigung mit Gott wird durch die göttlichen Tugenden vervollständigt, da diese Gott selbst zum Gegenstand haben.

812

DRITTES KAPITEL.

DRITTES KAPITEL.

Die göttlichen Tugenden.

1167. I. Der hl. Paulus erwähnt die drei göttlichen Tugenden, stellt sie alle drei als die wesentlichen Bestandteile oder Elemente des christlichen Lebens zusammen und lässt sie als den sittlichen Tugenden übergeordnet erscheinen, I So ermahnt er die Thessalonicher, mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helme der Hoffnung des Heils angetan zu sein 2 und lobt sie wegen ihres Glaubenswerkes und ihrer Mit/te und Liebe und Standhaftigkeit in der Hoffnung. 3 Im Gegensatz zu den Charismen, die vergehen, bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe. 4

1168.2. Ihre Aufgabe besteht darin, uns durch J eSllS Christus mit Gott zu vereinigen, um uns am göttlichen Leben teilnehmen zu lassen. Sie sind daher gleichzeitig vereinigend und verwandelnd.

a) So vereinigt uns der Glaube mit Gott, der unendlichen Wahrheit, bewirkt, dass wir a1n Gedanken Gottes teilnehmen, denn durch den Glauben erkennen wir Gott, so wie er sich selbst -geoffenbart hat. Dadurch bereitet er uns auf die beseligende Anschauung vor.

b) Die Hoffnung vereinigt uns mit Gott als der Izb'chsten Seligkeit und lässt uns ihn lieben wegen seiner Güte gegen uns. Auf sie grÜndet sich fest und sicher unsere Erwartung der himmlischen Glückseligkeit, sowie der nötigen Mittel, sie zu erlangen. Sie bereitet uns somit auf den vollen Besitz der ewigen Seligkeit vor.

1 p, PRAT, La Thtfolwrie de S, Paul, t, II, S, 40I-402,

2 /, TI"ss, V, 8, - 3 Ebendaselbst, I, 3, - 4 I. Kor, XIII, I3,

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 813

c) Die Liebe vereint uns mit Gott, der unendlichen GÜte, und macht, dass wir ihn lieben, weil er unendlich gut und liebenswürdig in sich ist. Sie schafft zwischen ihm und uns eine heilige Freundschaft, so dass wir bereits von seinem Leben zu leben anfangen, da wir beginnen, ihn zu lieben, wie er sich selbst liebt.

Diese Tugend begreift hienieden stets die bei den anderen göttlichen Tugenden. Sie ist, sozusagen, deren Seele, Form oder Leben, und zwar so, dass Glaube und Hoffnung ohne die Liebe unvollkommen, ungestalt, ja, tot sind, So ist nach dem Zeugnis des hl. Paulus der Glaube erst dann vollständig, wenn er sich durch Liebe und Werke offenbart: "jides qua per caritatem operatur, " 1 Die Hoffnung ist erst vollkommen, wenn sie uns durch Besitz der heiligmachenden Gnade und der Liebe einen Vorgeschmack des Himmels gibt.

1. ABSCHN. DIE TUGEND DES GLAUBENS. 2

Drei Dinge sind darzulegen : 1. W~sen, 2. heiligende Aufgabe und 3,fortschreitende Ubung dieser Tugend.

1. Tfesen des Glaubens.

Wir können hier nur kurz wiederholen, was wir in unserer" Theologia dogmatica et moralis" sagten.

1169.1. Bedeutung in der HI. Schrift. Das Wort Glauben bedeutet zwar meistens der Wahrheit mit dem Verstande zustimmen, jedoch beruht das Zustimmen auf Vertrauen, Übrigens, um jemandem zu glauben, muss man Vertrauen zu ihm haben,

• Gal, V, 6,

2 S, AUGUSTlNUS, Enchiridion de Fide, SPe et Caritate. - S. THOMAS, IJa Ha:, q, I-I6, - ]OANNES A S, THOMA, De jide. - SUAREZ, Defide, -], DE LUGo, De virtute fidei divina;, - SALMANTlCENSES, Defide,

- SCARAMELLI, Guide asdtique, t. IV, art. 1. - BILLOT, De virtuti-

bus infusis, thesis IX-XXIV. - BAINVEL, La Joi et l'acte de foi, HUGON, La {umiere et la foi. - MGR GAY, Vie et vertus, t. I, tr, III, - eH, DE SMEDT, Not,-e vie surnat., t. I, S, I70-27I. - MGR D'HuLST, Carhne I892, - p, ]ANVIER, Careme I9II u, I9I2, - P. GARRIGOULAGRANGE, De Reve!atione, t. I, I4,-I5. K'Ip. - S, HARENT, Die!, de Tlu!ol" (beim Worte Foi),

814

DRITTES KAPITEL.

A) Im Alten Testament erscheint der Glaube als wesentliche Tugend, von der Heil oder Verderben des Volkes abhängt. "Glaubet Jahve, unserem Gotte, und es wird euch zum Heile gereichen." [ "Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht bestehen." 2 Dieses Glauben ist ein Zustimmen dem Worte Gottes, aber im Geleit von Vertrauen, Hingabe und Liebe,

B) Im Neuen Testament ist glauben von so wesentlicher Bedeutung, dass es ßem Bekennen zum Christentum gleichkommt, und nicht glauben, nicht Christ sein heisst. " Qzd crediderit et baptizatus fuerit salvus erit. Qui vero non crediderit condemnabitur." 3 Glaube ist Annahme des von J esus Christus seinen Aposteln verkündeten Evangeliums. Glauben setzt daher predigen voraus. Fides ex auditu, 4 Solcher Glaube setzt also nicht ein Erfassen des Herzens, auch kein unmittelbares Schauen voraus " Videmus 11unc per speculum, in Clmigmate. "5 Glauben heisst, einem göttlichen Zeugnis zustimmen. Es ist eine freie und erleuchtete Zustimmung, denn einerseits kann der Mensch den Glauben verweigern, andererseits glaubt er nicht ohne Gründe, ohne die tiefe Überzeugung von Gottes Offenbarung. 6 Solches Glauben ist vom Hoffen begleitet und erfüllt sich im Lieben: "Fides qU(E per caritatem opel'atur. " 7

1170. 2. Definition. Der Glaube ist eine göttliche Tugend, die, unter Einfluss des Willens und der Gnade, unseren Verstand geneigt macht, den geoffenbarten Wahrheiten wegen der Autorität Gottes fest zuzustimmen.

A) Glauben ist daher vor allem ein Verstandesakt, denn es handelt sich um Erkenntnis einer Wahrheit Da aber diese letztere aus sich selbst nicht einleuchtend ist, kann unsere Zustimmung nicht ohne Einfluss des Willens geschehen, der dem Verstande befiehlt; die Glaubensgründe zu untersuchen und, falls sie überzeugend sind, seine Zustimmung zu geben. Da es sich um einen übernatürlichen Akt handelt, muss die Gnade vermittelnd eintreten, sei es zur Erleuchtung des Verstandes, sei es zur U nterstÜtzung des Willens. Auf diese Weise wird der

1 II Paral, XX, 20. - 2 Isa. VII, 9, - 3 Matth. XVI, 16. 4 Röm. X, I7. - 5 I. Kor, XIII, I2.

6 Phil. III,8-ro; I. Petr. III, I5, - 7 Gal, V, 6,

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 815

Glaube ein freier, übernatürlicher und verdienstlicher Akt.

B) Wesentlicher Gegenstand (Materialobjekt) des Glaubens ist die Gesamtheit der geoffenbarten Wahrheiten, sowohl die von der Vernunft in keiner VJeise erfassbaren, als auch die ihr zugänglichen, die sie jedoch durch den Glauben besser erkennt.

Alle diese Wahrheiten beziehen sich auf Gott und J esus Christus, Auf Gott, der in Einheit seines \Vesens und Dreifaltigkeit seiner Personen unser erster Ursprung und letztes Ziel ist. Auf Jesus Christus, unseren Erlöser und Vermittler, der niemand anders ist als der zu unserer Rettung menschgewordene, ewige Sohn Gottes. Folglich auf das Erlösungswerk und alles darauf Bezügliche, Mit anderen Worten, wir glauben, was wir eines Tages im Himmel sehen werden, " H(ec est autem vita a:terna, ut cognoscant te solum Deulll verum et quent misisti JesU1n Christum." 1

1171. C) Formalobjekt oder, was man gemeiniglich den Beweggrund unseres Glaubens nennt, ist die durch die Offenbarung bekundetegöttliche Autorität, die uns einige Geheimnisse Gottes mitteilt. So ist der Glaube dem Gegenstande und dem Beweggrunde nach eine gänzlich übernatÜrliche Tugend, die uns am Gedanken Gottes Anteil haben lässt.

D) Die geoffenbarte Wahrheit wird uns oft authentisch durch die von J esus Christus als rechtmässige Verkünderin seiner Lehre gestiftete Kirche vorgelegt. Dann gehört diese Wahrheit zum Wesen des katholischen Glaubens als solchen (de fide). Liegt keine authentische Entscheidung der Kirche vor, so ist sie nur gijttlichen Glaubens (de fide divina).

E) Nichts ist fester begründet als die Glaubenszustimmung. Mehr als auf unsere eigenen Erleuchtungen setzen wir auf das Wort Gottes unser ganzes Vertrauen, glauben daher die geoffenbarte Wahrheit aus ganzer Seele. Und das tun wir mit um so grösserer Sicherheit, als unsere Zustimmung

'loh, XVIl, 3.

816

DRITTES KAPITEL.

durch die göttliche Gnade erleichtert und verstärkt wird. Auf diese Weise ist die Glaubenszustimmung lebendiger und fester als jene, die wir den Vernunftwahrheiten geben.

11. Heiligende Aufgabe der T ugena des Glaubens.

1172. Dem so verstandenen Glauben muss begreiflicherweise ein bedeutender Anteil an unserer Heiligung zufallen. Als Teilnahme an den Gedanken Gottes ist er die Grundlage des übernatürlichen Lebens und vereinigt uns aufs innigste mit Gott.

1173. I. Er ist die Grundlage unseres übernatÜrlichen Lebens. Wie wir sagten, gilt Demut als Grundlage der Tugenden. In welchem Sinne, haben wir erklärt (N. I 138). Der Glaube ist nun, seinerseits, die Grundlage der Demut, die, wie wir bereits sagten, den Heiden unbekannt war_ Folglich ist er, noch tiefer gehend, die Grundlage aller Tugenden.

Zur Vermittlung noch besseren Verständnisses brauchen wir nur die Worte des Konzils von Trient auszulegen. Es bestätigt, der Glaube sei der Anfang., die Grundlage und die Wurzel der Rechtfertigung und somit der Heiligung. " Humana: salutis initium, fundamentum et radix totius justijicationis. "

A) Er ist deren Anfang, weil er das von Gott gebrauchte, geheimnisvolle Mittel zur EinfÜhrung in das göttliche Leben ist, in die Art und Weise, auf die Gott sich selbst kennt. Unsererseits ist er die erste übernatürliche Verfassung, ohne die wir weder hoffen noch lieben können. Er ist sozusagen die Besitzergreifung Gottes u~~ göttlicher Dinge. Tatsächlich muss man das UbernatÜrliche erst kennen, ehe man es erfasst und davon lebt. "Nil volitum quin pra:cognitum." Wir erkennen es durch den Glauben, ein dem Lichte der Vernunft hinzugefÜgtes, neues Licht, durch das wir in eine neue

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 817

Welt, nämlich in die ÜbernatÜrliche Welt, eindringen. Er ist wie ein Teleskop, das uns die mit bIossem Auge nicht wahrnehmbaren, entfernten Dinge zeigt. Und doch ist dieser Vergleich sehr hinkend, denn das Teleskop ist ein äusserlich vorhandenes Instrument, während der Glaube in das Innerste unseres Verstandes eindringt, dessen Schärfe er erhöht und dessen Wirkungsfeld er erweitert.

1174. B) Er ist auch die Grundlage des inneren Lebens. Dieser Vergleich zeigt uns, dass die Heiligkeit ein sehr umfangreicher, hoher Bau ist, dessen Grundstein der Glaube bildet. Je tiefer und breiter nun die Grundmauern eines Gebäudes gelegt werden, desto mehr kann es, ohne Gefahr für seine Festigkeit, sich nach oben erheben. Aus diesem Grunde ist es so wichtig, dass der Glaube bei frommen Menschen, besonders bei Theologiestudierenden und Priestern gefestigt werde, damit sich auf dieser unerschütterlichen Grundlage der Tempel der christlichen Vollkommenheit erhebe.

C) Endlich ist er die Wurzel der Heiligkeit. Die Wurzeln holen sich aus dem Erdboden die zur Ernäh,rung und zum Wachstum eines Baumes notwendigen Säfte, Ahnlieh macht es der Glaube, der seine Wurzeln bis ins Innerste der Seele senkt, sich dort von den göttlichen Wahrheiten nährt und der Vollkommenheit reichliche Speisung gewährt. Sind die Wurzeln recht tief, so geben sie auch dem Baum, den sie tragen, Festigkeit. Ebenso widersteht die im Glauben gefestigte Seele allen inneren Stürmen. Zur Erlangung hoher Vollkommenheit gibt es daher nichts Wichtigeres, als tiefeingewurzelten Glauben zu besitzen.

1175. 2. Der Glaube vereinigt uns mit Gott und lässt uns an seinen Gedanken und seinem Leben teilhaben. Die Erkenntnis, mit der Gott sich selbst erkennt, wird dem Menschen teilweise verliehen. " Durch ihn ", sagt Mgr Gay I, "wird das Licht Gottes unser Licht, sein Weisheit unsere Weisheit,

1 De la vie et des vertus, .. , t. I, S, ISO.

818

DRITTES KAPITEL.

seine Wissenschaft unsere Wissenschaft, sein Geist unser Geist, sein Leben unser Leben."

Unseren Vertsand vereinigt er unmittelbar mit der göttlichen Weisheit. Weil aber der Glaubensakt nicht ohne Mitwirkung des Willens zustande kommt, ist dieser ebenfalls an den glücklichen Wirkungen beteiligt, die der Glaube in der Seele hervorbringt. Daher kann man behaupten, der Glaube sei die Lichtquelle für den Verstand, Kraft und Trost für den Willen, Grundlage von Verdiensten für die ganze Seele.

1176. A) Er ist das Licht zur Erleuchtung des Verstandes und unterscheidet den Christen vorn natürlich Weisen, wie die Vernunft den Menschen vorn Tier unterscheidet. Wir besitzen ein dreifaches Erkenntnisvermögen: das sinnliche, das sich durch die Sinne betätigt, das vernünftige, das durch den Verstand ermöglicht wird, das geistliche oder Übernatürliche, das der Glaube verleiht. Dieses letztere ist viel kostbarer als die beiden anderen.

a) Er erweitert den Kreis unserer Kenntnisse von Gott und göttlichen Dingen. Durch die Vernunft kennen wir so wenig von Gottes Wesen und innerem Leben. Durch den Glauben erfahren wir vieles. Er sagt uns, dass es einen lebendigen Gott gibt, der von Ewigkeit her einen Sohn erzeugt und dass aus der gegenseitigen Liebe zwischen Vater und Sohn die dritte Person, der Hl. Geist, hervorgeht. Ferner, dass der Sohn Mensch geworden ist, um uns zu erlösen. Die an ihn glauben, werden die angenommenen Kinder Gottes. Der I-Il. Geist nimmt Wohnung in unserer Seele, heiligt sie und schenkt ihr einen übernatürlichen Organismus, so dass wir gottähnliche und verdienstliche Akte vollziehen können. Und das ist nur ein Teil der uns gewordenen Offenbarungen.

b) Er verhilft zur Vertiefung der von der Vernunft bereits erkannten Wahrheiten. Wieviel

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 819

genauer und vollkommener ist z. B. die Sittlichkeitslehre des Evangeliums im Vergleiche zur natÜrlichen!

Man beachte die Bergpredigt: Gleich bei Beginn wagt es der Heiland, die Armen, Sanftmütigen und die Verfolgten selig zu preisen. Von seinen Jüngern verlangt er, die Feinde zu lieben, für sie zu beten und ihnen Gutes zu tun. Die von ihm verkündete Heiligkeit ist nicht die gesetzliche oder äussere Heiligkeit, es ist die innere, die auf der Liebe zu Gott und zum Nächsten beruht. Zu unserer Aneiferung stellt er uns das vollkommenste Ideal, Gott und seine Vollkommenheiten, vor Augen. Da aber Gott fern von uns zu sein scheint, steigt sein Sohn vom Himmel herab, wird Mensch, lebt unser Leben und bietet uns so ein leichtfassliches Beispiel des vollkommenen Lebens, das wir auf Erden führen sollen. Um uns die zu einem solchen Unternehmen nötige Kraft und Ausdauer zu verleihen, begnügt er sich nicht damit, uns voranzugehen, er kommt selbst in uns, um mit seinen Gnaden und Tugenden in uns zu leben, Wir können also keine Entschuldigungen für unsere Schwäche vorbringen. Er selbst ist unsere Kraft, ebenso unser Licht.

1177. B) Der Glaube ist die Urquelle der Kraft.

Das beweist der Verfasser des Briefes an die Hebräer I in vorzÜglicher Weise.

Die durch den Glauben vermittelten tiefen Überzeugungen stärken nämlich den \Villen in besonderer Weise: a) Er zeigt uns, was Gott für uns getan hat und nicht zu tun aufhört Wie Gott in unserer Seele lebt, und zwar zu deren Heiligung, und darin wirkt, Wie J esus uns sich einverleibt und uns an seinem Leben teilnehmen lässt (N. 188-189). Sind dann unsere Augen auf den Urheber unseres Glaubens gerichtet, der dem Erfolg und der Freude das Kreuz und die Verdemütigungen vorzog, "jJrO/Josito sibi gaudio, sustinuit crucem, confu.iione contempta" 2, so fassen wir Mut, um unser Kreuz in J esu Nachfolge tapfer zu tragen.

b) Fortwährend stellt der Glaube uns als Frucht vorÜbergehender Leiden den ewigen Lohn vor Augen. " M011lentaneum et leve tribulationis nostrce (lJternum glori(lJ pondus operatur in nobis,' " 3 und wir sagen wie der hl. Paulus :" Ich halte dafür, dass die Leiden dieser Zeit nicht zu vergleichen sind mit der künf-

1 Hebr. XI. _ 2 Hebr. XII, 2. - 3 Kor. 1\', I7.

820

DRITTES KAPITEL.

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J: b, __ Oswald (Diskussion) 14:23, 25. Jul. 2022 (CEST)Jj. ~ Oswald (Diskussion) 14:23, 25. Jul. 2022 (CEST), Oswald (Diskussion)/ /".~ .I/"J~: e~

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der Anschauung und Liebe Gottes verschafft.

e) Fühlen wir auch zuweilen unsere Schwäche, so erinnert uns der Glaube daran, dass Gott selbst unsere Kraft und unsere Stütze ist, dass wir demnach nichts zu befürchten haben, selbst wenn die ganze Welt und der Satan sich gegen uns verbinden würden. "Et Juzc est victoria qua; vincit mundum, jides nostra. " 3

Das zeigt sich deutlich in der wunderbaren Verwandlung, die durch den HI. Geist in den Seelen der Apostel bewirkt wurde. Vorher ängstlich und feige, sind sie von nun an von der Kraft Gottes durchdrungen und gehen mutig mannigfaltigen Prüfungen entgegen, Geisselungen, Einkerkerungen, sogar dem Tode, ja, sie schätzen sich glücklich, um des Namens J esu willen zu leiden. "Ibant g-audentes quoniam digni Itabiti sunt pro l10mine Jesu contumeliam patz'. "

1178. C) Der Glaube ist auch eine Quelle des Trostes, nicht nur inmitten von Trübsalen und Verdemütigungen, sondern auch wenn der Tod unsere Angehörigen und unsere Freunde von uns reisst. Wir sind nicht wie jene, die ohne jegliche Hoffnung in Trauer ganz versinken. Wir wissen, der Tod ist nur ein Schlummer, auf den bald die Auferstehung folgt, und unsere vorläufige \Vohnung tauschen wir dann gegen eine bleibende Stätte ein.

Besonders tröstlich ist fÜr uns der Glaubenssatz von der Gemeinschaft der Heiligen. Bis zur Wiedervereinigung mit denen, die uns verlassen haben, bleiben wir in Christo J esu innigst vereint. Wir beten, dass ihre Läuterungszeit abgekürzt werde und ihr Einzug in den Himmel bald vor sich gehen möge. Sie aber, ihrerseits, deren Heil nun gesichert ist, flehen inbrünstig, damit wir sie eines Tages wiederfinden.

1179. D) Endlich ist der Glaube die Quelle vieler Verdimste : a) der AI;:t des Glaubens selbst ist

, Röm. VIII, 18. - 2 Röm. V, 3-5. - 3 I. Jo". V, 4.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 821

schon sehr verdienstlich, denn das Beste an uns, Verstand und Willen, unterwirft er der göttlichen Autorität. Und zwar ist solcher Glaube um so verdienstlicher, als er gegenwärtig zahlreicheren Angriffen ausgesetzt ist und die Glaubensbekenner in gewissen Ländern mehr Verspottungen und Verfol-

gun gen ertragen müssen. .

b) Der Glaube macht ausserdem unsere al1deren Akte verdienstlich, denn Verdienst rührt nur von der Übernatürlichen Meinung her, die mittels der Gnade entsteht (N. 126-239). Der Glaube nun, der die Seele auf Gott und unseren Herrn J esus Christus einstellt, bewirkt, dass wir in allem nach Übernatürlichen Gesichtspunkten handeln. Durch ihn auch erkennen wir die eigene Unfähigkeit und die göttliche Allmacht. Er veranlasst uns somit, eifrig um Erlangung der Gnade zu beten.

III. ÜbUl1g der Tugend des Glaubms.

1180. Da der Glaube eine Gabe Gottes und zugleich eine freie Zustimmung unserer Seele ist, müssen Gebet und eigme Anstrengungen zusammenwirken, um darin Fortschritte zu machen. Unter diesem doppelten Einflusse wird der Glaube erleuchteter, einfacher, fester und werktätiger.

Wenden wir diesen Grundsatz auf die verschiedenen Grade des geistlichen Lebens an.

1181. I. Anfänger sollen sich im Glauben zu festigen suchen.

A) Sie sollen Gott aus ganzer Seele für diese grosse Gabe, die die Grundlage aller anderen ist, danken und das Wort des hl. Paulus wiederholen: " Gratias Deo super inenarrabili dono f!ius. " I Um so inniger sollen sie ihm danken, je grösser die Zahl der Ungläubigen ist, die sie um sich sehen. Daher sollen sie um die Gnade bitten, diese Gabe trotz aller Gefahren, die sie umgeben, zu bewahren. Sie sollen auch den Beistand Gottes für die Bekeh-

, 1I. Kor. IX, I5.

822

DRITTES KAPITEL.

rung der Ungläubigen, Ketzer und Apostaten anrufen.

)}~~: ~) }}) ?~ü.'t)Be'( U1\tel, ... e~{\\\\~ \\\\d mi.t ~""'" Ü~'l""~'-'~ ~ "'~ ~\-t- <k~ J\,~."te"~ sagen: "Adauge nobis Fidem." I An das Gebet

reihe sich aber auch das Studium oder die Lesung geeigneter Bücher an, damit ihr Glaube erleuchtet und bestärkt werde. In der gegenwärtigen Zeit wird viel gelesen. Wie wenige jedoch, selbst unter den gebildeten Christen, lesen ernste Bücher über Religion und Frömmigkeit! Ist das nicht eine Verirrung? Alles will man wissen, nur das Eine, Notwendige nicht!

1183. C) Sie sollen alles vermeiden, was unnötigerweise ihren Glauben beunruhigen könnte a) unvorsichtige Lesung von Büchern, in denen die Glaubenswahrheiten angegriffen, verhöhnt oder angezweifelt werden.

Die meisten heutzutage erscheinenden Büchel', nicht nur Lehrbücher, sondern auch Romane, Theaterstücke, enthalten bald offene, bald versteckte Angriffe auf unseren Glauben. Nimmt man sich nicht in acht, so schleicht sich nach und nach das Gift des Unglaubens in die Seele, der Glaube verliert zum mindesten den Hauch der Jungfräulichkeit, und dann kommt der Augenblick, wo er, durch Zagen und Zweifeln erschüttert, sich nicht mehr zu helfen weiss. Beachten wir diesbezüglich die weisen Vorschriften der Kirche, die ein Verzeichnis der schlechten oder gefährlichen Bücher aufstellt. Setzen wir uns nicht etwa unter dem Vorwande von Unverwundbarbeit darüber hinweg. In \Virklichkeit ist man nie gegen die Gefahr gesichert. Ein so tiefer und abgeklärter Geist wie Balmes, der die Kirche so geschickt verteidigte, sagte zu seinen Freunden, als er zur Widerlegung heretische Büchel' lesen musste.2 "Sie wissen, wie sehr die rechtgläubigen Gesinnungen und Lehren mir eingeprägt sind und dennoch benütze ich nie ein verbotenes Buch, ohne zu fühlen, dass ich mich immer wieder und wieder von den Gedanken der Bibel, der Nachfolge Christi oder des Ludwig von Granada durchdringen lassen muss. Wie wird es erst dann jenen törichten, jungen Leuten ergehen,· die ohne Gegenmittel und ohne

'Luk. XVII, 5. - 2 A. DE BLANCHE-RAFFIN, J. BalmeslS. 44.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 823

Erfahrung alles zu lesen wagen! Der Gedanke daran erfÜllt mich schon mit Schrecken. " Aus demselben Grunde müssen wir natürlich den Verkehr mit Ungläubigen und deren Vorträge meiden.

b) Auch dem geistigen .Hochmut sollen sie aus dem Wege gehen. Er will alles auf seinen niedrigen Standpunkt heruntersetzen und nur annehmen, was er versteht. Über uns waltet ein unendlich weiser Geist, dessen Erkenntnis unsere schwache Vernunft bei weitem übersteigt und der uns grosse Ehre bereitet, wenn er uns seine Gedanken offenbart, das bedenke man. Haben wir daher seine Stimme erkannt, so ist die einzig vernünftige Haltung ihm gegenüber, diese Vermehrung an Licht dankbar anzunehmen. Vor einem geistvollen Menschen, der uns einige seiner Kenntnisse mitzuteilen geruht, beugt man sich_ Sollten wir da der unendlichen vVeisheit nicht viel grösseres Vertrauen entgegenbringen?

1184. D) Betreffs der Versuchunffen gegen den Glauben unterscheide man zwischen denen, die unbestimmt bleiben und denen, die sich auf einen bestimmten Gegenstand beziehen.

a) Sind sie unbestimmt, wie z. B. " Wer weiss, ob das alles wahr ist?" so vertreibe man sie wie lästige Mücken.

r) Wir sind im Besitz der Wahrheit, die uns in allerbester und rechtmässiger Form Übertragen wurde. Das genÜgt uns.

2) Übrigens haben wir zu anderen Zeiten die feste Grundlage unseres Glaubens klar erkannt. Das genügt uns. Man kann doch nicht jeden Tag die schon bewiesenen Dinge aufs neue bezweifeln! In Dingen des gewöhnlichen Lebens hält man sich nicht bei solchen Zweifeln, solch törichten Hirngespinsten auf. Man gehe daher stracks weiter, die Gewissheit kommt schon wieder.

3) Schliesslich haben klügere Köpfe als ich diese Wahrheiten geglaubt und als genügend bewiesen erachtet. Ich unterwerfe mich ihrem Urteile und bin somit weiser als jene exzentrischen Menschen, deren Vergnügen im Absonderlichen besteht und die jegliche Grundlage von Gewissheit zu untergraben suchen. Diesen Gxünden des gesunden Men-

824

DRITTES KAPITEL.

schenverstandes füge man das Gebet bei: " Credo, Domille, adjuva incredulitatem meam. " ,

1185. b) Nehmen die Zweifel eine bestimmte Form an und richten sie sich auf einen besonderen Punkt, so lasse man sich vom festen Glauben nicht abbringen, da man ja im Besitz der Wahrheit ist. Man benutze jedoch die erste, beste Gelegenheit, die Schwierigkeit zu beseitigen, sei es durch persönliches Studium, wenn man die nötige Befähigung dazu hat und die dafür erforderlichen Dokumente zur Verfügung stehen, sei es, dass man sich bei einem Fachmann Rat holt, der bei der Lösung der betreffenden Schwierigkeit behilflich sein kann. Dem Studium füge man das Gebet bei, der ehrlichen Nachforschung die Gelehrigkeit, dann wird man gewöhnlich auch bald die Lösung finden.

Dennoch soll man sich merken, dass mit dieser Lösung nicht immer die ganze Schwierigkeit beseitigt sein wird. Es sind hie und da historische, kritische und exegetische Einwände, die erst nach langjährigem Studium widerlegt werden können. In solchen Fällen vergesse man nicht, dass einer durch gute und ernste Gründe bewiesenen Wahrheit auch ferner zuzustimmen klug sei, solange nicht helleres Licht die "Wolken vertreibe. Die Schwierigkeit hebt die Beweise nicht auf, sondern zeigt nur die Schwäche unseres Geistes.

1186.2. Fortgesehrittene Seelen üben nicht nur den Glauben, sondern auch den Glaubensgeist oder das Glaubensleben. "Justus autem ex jide vivit." 2

A) Voller Liebe lesen sie das hl. Evangelium, sind glücklich, dem Heilande Schritt für Schritt zu folgen, seine Lehre zu verkosten, seine Beispiele zu bewundern und sie nachzuahmen. J esus wird allmählich der Mittelpunkt ihrer Gedanken. Sie suchen ihn in Lektüre und Arbeit und sind begierig, ihn immer besser kennen zu lernen, um ihn noch mehr zu lieben.

1187. B) Alles im Lichte des Glaubens zu betrachten und zu beurteilen, wird ihnen zur Ge-

, Mark, IX, 23. _. Röm. I, 17.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 825

wohnheit : Dinge, Menschen, Ereignisse. I) Die Hand des Schöpfers nehmen sie in allen göltliclzen Werken wahr. Hören diese stets sagen : " Ipse fecit nos et non z'psi nos. " I Er ist es daher, den sie überall bewundern. 2) Die Menschen ihrer Umgebung sind in ihren Augen Abbilder Gottes, Kinder des gleichen himmlischen Vaters, Brüder in Jesus Christus. 3) Die für Ungläubige zuweilen so unbegreiflichen Ereignisse werden von ihnen im Lichte des erhabenen Grundsatzes gedeutet, alles gereiche zum Heile der Auserwählten, Gutes und Böses geschehe im Hinblick auf unser Heil und unsere Vollkommenheit.

1188. C) Besonders streben sie danach, ihr Leben nach den Grundsätzen des Glaubens einzurichten " I) im Urteilen folgen sie den Lehren des Evangeliums, nicht aber denen der Welt; 2) ihre Worte atmen christlichen Geist, nicht den der Welt, denn, frei von aller Menschenfurcht, sprechen sie so, wie sie urteilen. 3) In ihren Handlungen suchen sie sich möglichst denen des göttlichen Heilandes, ihres Vorbildes, anzupassen und entgehen daher der Gefahr, sich von den Beispielen der \Veltlichgesinnten fortreissen zu lassen. Kurz, sie leben aus dem Glauben.

1189. D) Sie bemühen sich auch, diesen Glauben, der sie durchdringt, in ihrer Umgebung zu verbreiten " I) Durch ihre Gebete erflehen sie von Gott apostolische Arbeiter, damit diese den Ungläubigen und Ketzern das wahre Evangelium predigen. " Rogate ergo dominum messis ut mittat operarios in messem suam." 2 2) Durch ihr Beispiel in der Erfüllung ihrer Standespflichten fühlen sich die Zeugen ihrer Lebensweise zur Nachahmung angeregt. 3) Durch ihre Worte, denn sie bekennen einfach und furchtlos, dass sie in ihrem Glauben

, Ps. XCIX, 3. - • Matth. IX, 38.

826

DRITTES KAPITEL.

J(raft finden, gute Werke zu verrichten und dass ihr Glaube sie mitten in Trübsalen tröstet. 4) Durch ihre Werke, denn durch ihre Freigebigkeit, Opferwilligkeit und persönliches Wirken tragen sie zur sittlichen und religiösen Belehrung und Erziehung des Mitmenschen bei.

3. Die Vollkommenen verstärken ihr Glaubensleben noch durch die Pflege der Gaben des Verstandes und der Wissenschaft, wie wir bei der Abhandlung Über den Einigungsweg darlegen werden.

2. ABSCHN. DIE TUGEND DER HOFFNUNG. Wir beschreiben: 1. ihr Wesen, 2. ihre heiligende Aufgabe und 3. die Art und Weise, sie zu üben.

I. Wesen der Hoffnung. I

1190. 1. Versehiedenartige Bedeutung. A) In der natÜrlichen Ordnung bezeichnet Hoffnung zwei Dinge : eine Leidenschaft und eine Gesinnung.

a) Hoffnung ist eine der elf Leidenschaften (N. 787). In diesem Sinne ist sie eine Regung des GefÜhlslebens, die sich auf ein abwesendes, nicht olme Schwierigkeit erreichbares, jedoch mögliches, sinnliches Gut richtet. b) Sie ist auch eine der edelsten Gesinnungen des menschlichen Herzens, die trotz widersetzlicher Schwierigkeiten ein abwesendes ehrbares Gut anstrebt. Diese Gesinnung spielt eine grosse Rolle im menschlichen Leben. Sie gibt dem Menschen Kraft und ist ihm eine Stütze bei schwierigen Unternehmen, so dem Ackersmann beim Säen, dem Seemann bei Beginn einer weiten Fahrt, dem Kaufmann und Fabrikanten beim Abschliessen von neuen Geschäften.

B) Aber es gibt auch eine Übernatürliche Hoffnung, die den Christen inmitten der seinem Heile und seiner V ervollkomIDn ung widerstrebenden Schwierigkeiten stützt. Ihr Gegenstand sind alle

, S. THOMAS, Ila II"', q. XVII-XXII und seine Ausleger, bes. Cajetan und J oan. a S. Thoma. - HI. FRANZ V. SALES, A 1nour de Dielt, 1. II, Kap. XV-XVII. - SCARAMELLI, op. ci!. art. 11. - L. BILLOT, op. ci!. th. XXV-XXX. - MGR GAY, t. I, tr. V. - CH. DE SMEDT, op. ci!. t. I, S. 272-364. - MGR D'HuLST, Careme I892. - P .JANVIER, Carenze I9I3.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 827

geoffenbarten Wahrheiten, die sich auf das ewige Leben und auf die Mittel, es zu erlangen, beziehen. Da ihre Grundlage die Macht und Güte Gottes ist, steht sie unerschütterlich fest.

1191. 2. Wesentliehe Bestandteile. Bei näherer Untersuchung dieser Tugend erkennen wir in ihr drei Hauptbestandteile :

a) Liebe zum übernatürlichen Gute und Verlangen danach, d. h. zu Gott, unserer höchsten Seligkeit.

Diese Gesinnung entsteht auf folgende Weise: Das Verlangen, glÜcklich zu sein, ist allgemein. Der Glaube zeigt uns nun, Gott allein mache das Glück aus. Wir lieben ihn daher als die Quelle unserer Seligkeit. Das ist zwar keil1e selbstlose, wohl aber eine übernatürliche Liebe, denn sie ist auf Gott gerichtet, den wir im Glauben erkannt haben. Da dieses Gut schwer zugänglich ist, fürchten wir instinktiv, es nicht zu erreichen. Um diese Furcht zu Überwinden, kommt ein Zweites hinzu: die begründete Hoffnung, es zu erhalten.

b) Selbstverständlich beruht diese Hoffnung nicht auf unseren eigenen Kräften, die zur Erlangung dieses Gutes durchaus ungenügend wären, sondern auf Gott, auf seiner hilfreichen Allmacht. Von ihm also erwarten wir alle Gnaden, die zur Erwerbung der Vollkommenheit in diesem Leben und zum Heile im jenseitigen notwendig sind.

e) Aber die Gnade verlangt unsere Mitwirkung: daher der dritte Bestandteil, ein gewisser Aufschwung, ein ernstes Streben zu Gott hin, unter N utzbarmachung der uns zur Verfügung gestellten Heilmittel. Diese Anstrengungen müssen um so energischer und ausdauernder sein, je höher das Ziel unserer Hoffnung ist.

1192. 3. Definition: Dem Gesagten zufolge, lässt sich die Hoffnung definieren als eine göttliche Tugend, die uns nach Gott als unserem höchsten Gute verlangen und alt:! Grund der Güte und Allmacht Gottes die ewige Seligkeit, sowie die dahinfitlz1'enden l'rfittel mit festen Vertrauen erwarten lässt.

828

DRITTES KAPITEL.

A) Erster und wesentlicher Gegenstand (Objekt) unserer Hoffnung ist Gott selbst, und zwar als unsere Seligkeit. Gottes ewiger Besitz durch klare Anschauung und ungeteilte Liebe. Wie nämlich der göttliche Meister sagt, besteht das ewige Leben inder Erkenntnis und im Schauen Gottes und dessen, den er gesandt hat. "Hcec est autem vita ceterna " ut cognoscant te, solum DeUltl verum et quem misisti Jestem Christum." I Da wir jedoch dieses Ziel nicht ohne den Beistand der Gnade erreichen können, so richtet sich unsere Hoffnung auch auf alle übernatürliche Hilfsmittel, deren wir zur Vermeidung der Sünde, zur Überwindung der Versuchungen und zur Erwerbung der christlichen Tugenden bedürfen. Ja, sogar auf die Güter zeitlicher Ordnung, insofern sie zu unserer Vervollkommnung und zu unserem Heile nützlich oder notwendig sind.

1193. B) Der Beweggrund aber, auf den sich unsere Hoffnung stützt, hängt von dem Gesichtspunkte ab, unter dem man diese Tugend betrachtet : a) erwägt man mit Scotus, dass der hauptsächlichste Akt der Hoffnung im Verlangen oder in der Liebe zu Gott besteht, da man in ihm die Glückseligkeit findet, so wird der Beweggrund Gottes GÜte gegen uns sein. b) Denkt man mit dem hl. Thomlls an die Hoffnung als wesentlich in der Erwartung des schwer zu erreichenden Gutes, des Besitzes Gottes, bestehend, so wird der Beweggrund die hilfreiche Allmacht Gottes sein, denn diese erhebt die Seele, reisst sie von den Gütern der Erde los und richtet sie auf den Himmel hin. Die göttlzden Verheissungen bestätigen übrigens die Sicherheit dieses Beistandes.

Man kann also sagen, Gottes Güte und zugleich Gottes Allmacht seien der angemessene Beweggrund.

'Jak. XVII, 3.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 829

11. Aufgabe der Hoffnung bei unserer Heiligung. Zu unserer Heiligung trägt die Hoffnung auf dreifache Weise hauptsächlich bei: I. sie vereinigt uns mit Gott; 2. sie verleiht unseren Gebeten Wirksamkeit und 3. sie ist die Grundlage zu fruchtbarer Tätigkeit.

1194. I. Sie vereinigt uns mit Gott durch Loslösung von den irdischen Gütern. Sinnliche Freuden, Befriedigungen des Stolzes, Verlockungen des Reichtums üben auf uns eine gewisse Anziehungskraft aus. Auch die reineren, twtürlichen Freuden des Geistes und des Herzens halten uns, sozusagen, im Banne. Die auf lebendigem Glauben beruhende Hoffnung zeigt uns nun, allen diesen irdischen Freuden fehlen zwei zum Glücke wesentliche Bestand teile: Vollkommenheit und Dauer.

A) Keines dieser Güter ist vollkommen genug, um uns zufrieden zustellen. Nach einigen Augenblicken des Genusses erzeugen sie bald Übersättigung und Langweile. Unser Herz ist zu gross, in seinen Strebungen zu weitgehend und zu erhaben, als dass materielle Güter, die nur Mittel zu einem edleren Ziele sind, es befriedigen könnten. Auch die natürlichen Geistes- und Herzensgüter genügen ebensowenig. Unseren Verstand kann nur die Erkenntnis des Urgrundes aller Dinge befriedigen. Unser Herz findet den vollkommenen Freund, den es sucht, nur in Gott. Er allein ist die Fülle des Seins, die Fülle der Schönheit, der Güte, der Macht. Er, der sich selbst genügt, kann offenbar auch unserem Glücksbedürfnisse genügen. Alles liegt daran, ihn zu erreichen. Gerade die Hoffnung zeigt ihn uns, wie er sich zu uns hinabneigt, um sich uns zu geben. Haben wir das erfasst, so lösen sich unsere Herzen von den irdischen Gütern los, um sich ihm zuzuwenden, genau so, wie Eisen vom Magneten angezogen wird.

830 DRITTES KAPITEL.

1195. B) Gesetzt den Fall, die irdischen Güter würden uns genügen, so währen sie doch nur kurze Zeit und entrinnen bald. Wir wissen es, und dieser Gedanke stört unsere Freude, selbst im Besitze dieser Güter. Gott hingegen bleibt für immer. Der uns von allem trennende Tod führt nur zu innigerer Vereinigung mit Gott. Deshalb sehen wir dem Tode mit Verb"auen entgegen, trotz der natürlichen Scheu, die er uns einftösst. Wir hoffen nämlich, auf immer mit dem vereint zu werden, der allein uns beglücken kann.

1196.2. Hoffnung, mit Demut verbunden, verleiht unseren Gebeten Wirksamkeit. Sie erlangt uns somit alle Gnaden, deren wir bedürfen.

A) Es gibt wohl nichts Rührenderes als die dringenden Aufforderungen der Hl. Schrift zum Vertrauen auf Gott. Der Ekklesiastikus fasst die Lehre des Alten Testamentes wie folgt zusammen: " Wer hat je auf den Herrn gehofft und ist zuschanden geworden? Wer blieb in der Treue seiner Gebote und wurde verlassen? Wer rief ihn an und wurde verschmäht? Denn der Herr ist mitfühlend und von grosser Erbarmung." "Scitote quz'a nullus speravz't i1l Domino et con/usus est. Quis enim permansit in mandatis I!jus et derelz'ctus est? A ut quis invocavit eu1lZ et despezit illu1n? Quoniam pius et misericors est Deus, et remittet in die tribulationis peccata. " I

B) Besonders jedoch im Neuen Testament tritt die Wirksamkeit des Vertrauens deutlich hervor.

J esus wirkt seine Wunder zugunsten jener, die auf ihn vertrauen. Man denke nur an sein Verhalten gegen den Hauptmann 2, gegen den Lahmgeborenen, der sich vom Dache aus hinunterschaffen liess, um zum göttlichen Meister zu kommen.3 Ferner gegen die Blinden von Jericho., gegen das Kananäische Weib 5, das, dreimal zurückgewiesen, seine Bitte immer wiederholt. Gegen die Sünderin 6, gegen den Aussätzi-

I Eccli. II, II-12. - 2 Matth. VIII, 10, 13. - 3 Malth. IX, 2. 4 Matt!,. IX, 29. - 5 Matth. XV, 28. - 6 Luk. VII, 50.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 831

gen, der aus Dankbarkeit zurückkehrt '. vVie könnte man nicht auf J esus vertrauen, der autoritätsvoll erklärt, uns werde alles gewährt werden, worum wir den Vater in seinem Namen bitten werden. " Amen, amen dico vobis, si quz'd petieritis Patrem in llomine meo, dabit vobis. "2 Da liegt das Geheimnis unserer Kraft: beim Gebete im Namen Jesu, d. h. im Vertrauen auf seine Verdienste und seine Genugtuung, spricht sein Blut beredter fÜr uns, als unsere armseligen Gebete es vermöchten.

C) Übrigens ehrt nichts Gott so sehr wie das Vertrauen. Wir verkünden dadurch seine Macht und seine Güte, und er, der sich an Grossmut und Freigebigkeit nicht übertreffen lässt, beantwortet dieses Vertrauen durch reichliche Gnadenergüsse. Folgern wir also mit dem Konzil von Trient, dass wir in Gott unerschütterliches Vertrauen setzen sollen. " In Dei auxilio jirmz'ssimam spem collowre et reponere omnes debent. " 3

1197. 3. Endlich ist die Hoffnung die Grundlage zu fruchtbarer Tätigkez't. a) Sie erzeugt nämlich hez'liges WÜnschen, insbesondere Verlangen nach dem Himmel, nach Gottes Besitz. Das Verlangen aber verleiht der Seele den nötigen Aufschwung und die Bewegungskraft, spornt sie zur Erlangung des angestrebten Gutes an und unterstützt unsere Bemühungen, bis wir das ersehnte Ziel erreicht haben.

b) Durch Aussicht auf eine Belohnung, die unsere Anstrengungen weit Übertrifft, erhiJht sie unsere Kräfte. Die Menschen in der Welt arbeiten so fleissig, um schnöde Reichtümer zu erw~rben, Ringkämpfer unterziehen sich so mühsamen Ubungen und machen oft verzweifelte Anstrengungen, um eine vergängliche Krone zu gewinnen, wieviel mehr sollen da nicht wir um eines unsterblichen Ruhmes willen uns abmühen und abplagen! " Omnz's autem qui z'n agone contendz't ab omnibus se abstinet.

1 Luk. XVII, 19. - 2 loh. XVI, 23. - 3 Trident. sess. VI, Cap. 13.

832

DRITTES KAPITEL.

Et z'lli quidem ut corruptibilem coronam accipiant, nos autem i1Zcorruptam. " 1

1198. e) Die Hoffnung verleiht uns jenen Mut, jene Ausdauer, wie sie die Gewissheit des Erfolges mit sich bringt. Ist nichts entmutigender, als ohne Hoffnung auf Sieg zu kämpfen, so stärkt uns aber auch nichts so sehr wie die Gewissheit des Triumphes. Und eben diese Gewissheit verleiht die Hoffnung. Aus uns selbst sind wir zwar schwach, haben jedoch mächtige Verbündete :. Gott, J esus Christus, die allerseligste Jungfrau und die Heiligen (N. 188-189).

Ist aber Gott mit uns, wer wird gegen uns sein? Si Deus pro 1Zobis, quis contra nos? 2 Lebt J esus, der Besieger des Teufels und der Welt, in uns und teilt er uns seine göttliche Kraft mit, werden wir dann nicht auch sicher mit ihm siegen? UnterstÜtzt die Unbefleckte, die die teuflische Schlange zertrat, uns durch ihre mächtige FÜrsprache, sollten wir dann nicht die notwendige Hilfe erlangen? Beten die Freunde Gottes für uns, werden soviele Fürbitten nicht unbedingte Sicherheit geben? Sind wir aber auf diese Weise des Sieges gewiss, wie könnten wir vor den wenigen, zur Erwerbung des ewigen Besitzes Gottes nötigen Anstrengungen noch zurückschrecken?

II 1. Fortschreitende Übung der Hoffnung.

1199. 1. Allgemeiner Grundsatz. Zum Fortschritte in dieser Tugend, muss diese in ihren Stützen fester und in ihren Ergebnissen fl'uchtbarer gemacht werden.

A) Zur Festigung ihrer Stützen betrachte man oft über die Beweggründe, auf denen sie beruht, nämlich die Macht Gottes, verbunden mit der Güte Gottes und den herrlichen Verheissungen, die uns zuteil geworden (N. 1193). Sollte noch etwas anderes nötig sein, um unser Vertrauen zu stärken, so denken wir an die Worte des hl. Paulus 3: " Er, der sogar seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern

I I Kor. IX, 25. - 2 Röm. VIII, 31. - 3 Röm. VIII, 32-34-

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 833

ihn für uns dahingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer wird gegen die Auserwählten Gottes Anklage erheben? Gott ist es, der freispricht. Wer sollte sie verurteilen? Christus J esus, der gestorben ist, ja, der auch auferstanden ist, der zur rechten Hand Gottes sitzt, der auch Fürbitte für uns einlegt? " Also von seiten Gottes ist unsere Hoffnung durchaus gesichert. \Vas uns anbetrifft, so mögen wir freilich fÜrchten, weil wir weit entfernt davon sind, immer und vollkommen der Gnade Gottes zu entsprechen. Streben wir daher ernstlich danach, unsere Hoffnung dadurch zu festigen, dass wir sie fruchtbarer machen.

1200. B) Dazu bedarf es unserer Mitwirkung am Werke unserer Heiligung." Dei enim sumus at{futores. " I Durch Gewährung seiner Gnade will Gott nicht unsere Tätigkeit durch die seinige ersetzen. Er will nur unser Ungenügen ergänzen. Wohl ist er der Ur- und Hauptgrund, aber weit davon entfernt, unsere Tätigkeit ausschalten zu wollen, will er sie vielmehr anregen, antreiben, wirksamer gestalten.

Das hatte der hl. Paulus sehr wohl verstanden : " Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, sagte er, aber seine Gnade ist in mir nicht unwirksam gewesen, sondern ich habe mehr als die anderen gearbeitet, doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir ist. " Gratia Dei sum id, quod sumo Sed /(ratia ejus in me vacua non fuit, sed abundantius illis omnibus laboravi.»2 Was er selbst tat, dazu ermahnte er auch die anderen. "Adjuvantes autem exhortamur ne in vacuum gratiam Dei recipiatis." 3 Besonders an seinen geliebten JÜnger Timotheus richtete er folgende dringende Mahnung : "Labora sicut bonus mi/es Christi Jesu. » 4 Er sollte nämlich nicht nur an seiner eigenen Heiligung, sondern auch an der der anderen arbeiten. Der hl. Petrus fÜhrt die gleiche Sprache. Obgleich er seine Jünger als zum Heile berufen erachtet, mahnt er sie doch, sich ihre Berufung durch Vollbringen guter Werke zu sichern. " Quapropter, fratres, lIlagis satagile, ut per bona opera certam vestram vocationem et electionem facialis. " 5

'/. Kor .. III, 9. - 2/. Kor., XV, 10; Phi!., III, 13, 14. 3/1. Kor., VI,!. - 4 fl. Tim., II, 3. - 5 fl. Petr., I, 10.

N° 683. - 27

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DRITTES KAPITEL.

Seien wir deshalb fest überzeugt, dass beim Werke unserer Heiligung zwar alles von Gott abhängt, dass man jedoch handeln muss, als hinge alles von uns allein ab. Gott verweigert nämlich nie seine Gnade. Folglich brauchen wir, praktisch genommen, nur für unsere persönliche Anstrengung zu sorgen.

1201. 2. Anwendungen auf die verschiedenen Grade des geistlichen Lebens. Es lässt sich leicht erkennen, wie der erwähnte Grundsatz auf die verschiedenen Stadien des christlichen Lebens anzuwenden sei.

A) An.fäng-er mögen zunächst die beiden der Hoffnung entgegengesetzten Ubertreibungen zu vermeiden suchen: Vermessenheit und Verzweiflung.

a) Vermessen hoffen, heisst von Gott den Himmel und die zu dessen Erlangung notwendigen Gnaden erwarten, ohne die dafÜr gebotenen Mittel gebrauchen zu wollen. Bald baut man auf Gottes Güte: Gott ist zu gut, um mich zu verdammen. Und man hält nicht seine Gebote. Das aber heisst vergessen, dass Gott zwar gut, aber auch gerecht und heilig und voll Hass gegen die Sünde ist. Iniquitatem odio habui.'" Bald mutet man sich aus Stolz zuviel eigene Kraft zu und stÜrzt sich mitten in Gefahren und Gelegenheiten zur Sünde. Man vergisst, dass der, welcher sich der Gefahr aussetzt, darin zugrunde geht. J esus verspricht den Sieg, der jedoch durch V,Tachen und Beten errungen werden muss. " V(r;ilate et orate ut non intretis in tentationem. "2 Der auf die Gnade Gottes so vertrauende hl. Paulus mahnt uns dennoch, unser Heil mit Furcht und Zittern zu wirken. "Cum metu et tremore 7/estram salutem operalllini. " 3

b) Andere wieder neigen zu Entmutigung und manchmal zu Verzweiflung. Sie wurden oft versucht, zuweilen besiegt oder durch Skrupel gepeinigt. Nun entmutigen sie sich, meinen, sich nicht bessern zu können und beginnen, an ihrem Heile zu verzweifeln. Das ist eine gefährliche Verfassung, gegen die man sich schützen muss. Man bedenke also, wie der h1. Paulus sich voll Vertrauen der Gnade Gottes hingab, als auch er versucht war und wusste, allein nicht widerstehen zu können." Gratia Dei per jesulll

, Ps. CXVIII, 163. - 2 J[ark, XIV, 38. - 3 Phil., II, 12.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 835

Christum!'" Man bete nach dem Beispiel des Apostels und man wird befreit werden.

1202. B) Nach Umgehung dieser Klippen bleibt noch die Losliisung von den irdischen GÜtern, um oft an den Himmel zu denken und nach ihm zu verlangen. Das empfiehlt uns der hl. Paulus : " Si consurrexistis CU11Z Christo, qua; surSUlll sunt qua;rite, ubi CHristus est in dextera Dei sedens. Qua; sursum sunt sapite, non qua; super terram." 2 Auferstanden mit Christus, unserem Haupte, sollen wir jetzt nicht mehr die Dinge dieser Welt suchen, noch Geschmack an ihnen finden, sondern nach jenen des Himmels streben, wo uns Jesus erwartet. Der Himmel ist die eigenlliche Heimat, die Erde ist nur ein Verbal!nungsort. Der Himmel ist unser Ziel, unsere wahre Glückseligkeit. Die Erde kann uns nur vergängliche Freuden bieten.

1203. 3. Die Fortsehreitenden üben sich nicht nur in der Hoffnung, sondern auch im kindlichC1Z Gottvertrauen, das sich auf J esus Christus stützt, der bereits der Mittelpunkt ihres Lebens geworden ist.

A) Wegen ihrer Einverleibung in dieses göttliche Haupt erwarten sie mit unbesiegbarem VertrauC1Z den Himmel, wo J esus ihren Platz bereit hält. " Quia vado parare vobis locum" 3 und wo sie durch die Hoffnung schon sind, und ;;war in der Person ihres Erlösers. "Spe enim salvi facti sumus." 4 a) Sie erwarten ihn selbst inmitten der Widerwärtigkeiten und Prüfungen dieses Lebens. Mit dem Psalmisten sagen sie : "Non timebo mala, quoniam tu meCUNl es. " 5 Und wirklich, der in ihnen lebende göttliche Meister tröstet sie. Wie einst zu den Aposteln, sagt er zu ihnen : "Pax vobis, ego sumo No!ite timere. 6

., Röm., VII, 24-25. - 2 Kot., In, 1-2. - 3 loh., XIV, 2. 4 Röm., VIII, 24. - 5 Ps. XXII, 4. - 6 Luk., XXIV, 36.

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DRITTES KAPITEL.

Werden sie durch Ränke und Verfolgungen beunruhigt, so erinnern sie sich an das, was der hl. Vinzenz v. Paul den Seinigen sagte: " Würde sich auch die ganze Welt zu unserem Verderben erheben, es geschieht doch nur, was Gott gefällt, auf den wir unser Vertrauen gesetzt haben.'" Sind es zeitliche Verluste, so sprechen sie mit demselben Heiligen:

"Alles, was Gott tut, ist wohlgetan. Da dieser Verlust von Gott kommt, müssen wir hoffen, dass er zu unserem Nutzen sein wird." 2 Sind es physische oder moralische Leiden, so betrachten sie dieselben als göttliche Segnungen, deren Bestimmung es ist, uns um den Preis einiger vorübergehender Leiden den Himmel zu erkaufen .

. 1204. b) Vermöge dieses Vertrauens gelingt es ihnen, sich aus der Umklammerung der Lüste und El10lge zu bifreien, die noch viel gefährlicher ist als die des Leidens." Scheint das Leben unseren irdischen Hoffnungen zuzulächeln, so fällt es schwer, jene schmeichlerischen Verheissungen zu verschmähen, die sich an unsere Sinnlichkeit wenden. Es fällt schwer, sich den Schlingen der Lust zu entreissen und zu dem sich uns darbietenden Glücke zu sagen: Du kannst mir nicht genügen." 3 Aber der Christ weiss, wie trügerisch die weltlichen Freuden sind, wie sehr sie den Aufschwung zu Gott hemmen. Um sich aus ihrer Umklammerung zu befreien, übt er positive A btötung. Vor allem sucht er in inniger~r Vertrautheit mit J esus reinere und heiligendere Freuden. "Esse cum Jesu dulcis paradisus. " 4

e) Beunruhigt sie das Gefühl ihres Elendes und ihrer Unvolll;:ommenheiten, so erwägen sie die Worte des hl. Vinzenz v. Paul :

"Sie schildern mir Ihr Elend. Ach, wer ist nicht ganz davon erfüllt? Wichtig ist vor allem, es zu erkennen und die daraus sich ergebende Erniedrigung zu lieben, wie Sie es tun. Doch halte man sich dabei nur auf, um auf diese Weise eine recht feste Grundlage für das Gottvertrauen zu gewinnen. Dann nämlich erhebt sich das Gebäude auf einem Felsen

'MAYNARD, Vertus et doctrine ... , S. 10. - 2 Ebendaselbst. 3 MGR D'HuLST, Fastenpredigten I892 .

• Nach! Ckr. 2. B., 8. Kap.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 837

und im Sturme bleibt es bestehen.'" Unser Elend zieht die Barmherzigkeit Gottes auf uns herab, sobald wir sie demütig anrufen und nur Sorge tragen, uns in die bestmögliche Verfassung fiir den Empfang der göttlichen Gnaden zu bringen. Hat Gott angefangen, einem Geschöpfe Gutes zu erweisen, sagt weiter der hl. Vinzenz, so hört er damit nicht mehr auf, es sei denn, es mache sich dessen unwürdig. So ist früheres Erbarmen ein Unterpfand fÜr neues.

1205. B) Die Hoffnung bewirkt, dass wir geistigerweise unverwandt im Himmel und fÜr den Himmel leben. Dem schönen Kirchengebete am Feste Christi Himmelfahrt entsprechend, sollen wir jetzt schon dem Geiste nach iin Himmel leben " ipsi quoque Hunte in ca;lestibus habitemus. " Das soll heissen, für den Himmel soll man jetzt tätig sein und leiden. Dorthin sollen sich unsere Wünsche und unsere Herzen richten : "ut z'nter mundanas varietates ibi nostra jixa sint corda, ubz' 'l'era sunt gaudia. "Und, weil das Glück der hl. Kommunion ein Vorgeschmack des himmlischen Glückes ist, sollen wir unterdessen in ihr den wahren Trost suchen, den unser Herz so notwendig braucht.

1206. C) In diesem Sinne sollen wir auch oft vertrauensvoll um die Gabe der Beharrlichkeit bis a1lS Ende, die kostbarste aller Gnaden, beten. Freilich können wir sie nicht verdienen, es steht aber in unseren Kräften, sie von Gottes Barmherzigkeit zu erlangen. Dazu brauchen wir uns übrigens nur den Gebeten der Kirche anzuschliessen, in denen sie um einen guten Tod bittet, z. B. im "Ave Maria ", das wir so oft wiederholen und worin wir für die Sterbestunde den besonderen Schutz der M uttergottes erflehen : " et in hora mortis nostra;. "

4. Die Vollkommenen üben das Gottvertrauen durch die völlige Hingabe an Gott, worüber wir in der Erörterung Über den Einigungsweg sprechen werden.

'MAYNARD, Vie et doctrille .... S. II.

838

DRITTES KAPITEL.

3. ABSCHNITT. DIE TUGEND DER LIEBE. I

1207. Durch die Tugend der Liebe wird das Gefühl der Liebe zu Gott und dem Nächsten Übernatürlich gemacht und geheiligt. Nach einigen V orbemerkungen über die Liebe behandeln wir : 1. die Liebe zu Gott/ 2. die Liebe zum Nächsten und 3. das heiligste Herz Jesu, Vorbild der einen und der anderen.

Vorbemerkungen.

1208. I. Liebe im allgemeinen ist eine Regung, ein Streben der Seele nach einem Gute. Ist dieses Gut sinnlich wahrnel111lbar und von der Phantasie als angenehm empfunden, so ist die Liebe selbst sinnlich fülzlbar. Ist das Gut ehrbar und von der Vernunft als schätzenswert erkannt, so ist die Liebe vernunftgemäss. Ist das Gut übernatürlich und durch den Glauben wahrgenommen, so ist die Liebe christlich.

Wie man sieht, setzt Liebe Erkenntnis voraus.

Sie steht jedoch nicht immer im richtigen Verhältnisse zu dieser Erkenntnis. Davon werden wir an anderer Stelle sprechen.

In jeder Art von Liebe lassen sich vier Hauptbestandteile unterscheiden: I) eine gewisse Sympathie für den geliebten Gegenstand. Sie ergibt sich aus der Beobachtung, dass ein gewisses Verhältnis zwischen dem geliebten Gegenstand und I:'.ns vorhanden ist. Es braucht dasselbe nicht vollständige Ahnlichkeit zwischen den bei den Freunden zu sein, aber doch eine solche, dass der eine den andern ergänzt. 2) eine Regung oder ein Trieb der Seele zu dem geliebten Gegenstand, wodurch Annäherung und Freude an seiner Anwesenheit gesucht wird. 3) eine gewisse Vereinigung oder gegenseitige

, S. BERNAROUS, De diligendo Deo. - S. THoMAs, IIa II", q. 23-44. - SALMANTICENSES, tr. XIX, De caritate tlieologica. - S. FRANC;:OIS OE SALES, De l'amOUI' de Dieu. - MASSOULI(,; T,·. de l'amour de Dieu. - SCARAMELLI, op. eil. art. JII. - L. BILLOT, op. cit. th. XXXI-XXXV. - MGR GAY, op. eil. t. lI, Tr. XII. - CH. OE SMEOT, op. eil. t. I., S. 365-493. - MGR O'HULST, Car,,"e I892- P. J ANVIER, Careme I9I5 u. I9I6. - P. GARRIGOu-LAGRANGE, Perfcet. clll'ltienne, t. l., Ka p. 3.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 839

Mitteilung der Seelen und Herzen zum Austausche der beiderseitigen Güter. 4) ein Gefühl der Freude, der Lust oder des Glückes über den Besitz des geliebten Gegenstandes.

1209. 2. Cllristliclte Liebe ist die bezÜglich ihrer Grundlage, .!hres Beweggrundes und ihres Gegenstandes ins Ubernatürliche übertragene Liebe.

a) Sie wird übernatürlich ihrer Grundlage nach durch die eingegossene Tugend der Liebe, die ihren Sitz im Willen hat. Diese durch die wirkliche Gnade (gratia actualis) angeregte Tugend verwandelt die ehrbare Liebe und erhebt sie zu einer höheren Stufe.

b) Der Glaube liefert uns dann einen übernatÜrlichen Beweggrund zur Heiligung unserer Neigungen. Er richtet sie zunächst auf Gott, zeigt uns in ihm das höchste, unendliche Gut, das allein unseren berechtigten Strebungen genügen kann. Dann auf die Gescllopfe als Abglanz der göttlichen Vollkom- 1nenheiten, so dass wir in der Liebe zu ihnen Gott selbst lieben.

e) So wird das Objekt oder der Gegenstand unserer Liebe Übernatürlich: Gott, den wir iieben, ist nicht der begriffliche (abstrakte) Gott der Vernunft, sondern der lebendige Gott des Glaubens. Es ist der Vater, der von Ewigkeit her seinen Sohn erzeugt und uns zu Kindern annimmt. Der Sohn, der durch die Menschwerdung unser Bruder wird. Der Heilige Geist, die gegenseitige Liebe von Vater und Sohn, der die göttliche Liebe in unsere Herzen ergiesst. Auch die Geschöpfe erscheinen uns nicht ihrem natürlichen Wesen nach, sondern so, wie die Offenbarung sie uns zeigt : Die Menschen als Kinder Gottes, unseres gemeinsamen Vaters, Brüder J esu Christi, lebendige Tempel des Hl. Geistes. In der christlichen Liebe ist demnach alles übernatürlich.

N ach dem hl. Thomas 1 verleiht die christliche Liebe der natürlichen eine gewisse Vollkommen-

, Sumo theot. 1a nre, q. 31, a. 3.

840

DRITTES KAPITEL.

heit,die aus der Hochachtung des geliebten Gegenstandes entspringt. Jede christliche Liebe ist somit natürliche Liebe. Jede natürliche ist jedoch nicht christliche Liebe.

1210. 3. Die christliche Liebe lässt sich definieren als eine gijftliclte Tugend, die uns Gott lieben lehrt, wie er sich selbst liebt, über alles, um seiner selbst willen, und den Nächsten aus Liebe zu Gott.

Der Gegenstand dieser Tugend ist demnach zweifach: Gott und der Nächste. Sie machen jedoch zusammen nur ein Objekt aus, weil wir die Geschöpfe nur insofern lieben, als sie Ausdruck, Abglanz der göttlichen Vollkommenheiten sind. Gott ist es, den wir in ihnen lieben. "Auf diese Weise ", fügt der hl. Thomas I bei, "lieben wir den Nächsten, weil Gott in ihm z'st, oder wenigstens, damit er z'n ihm sei." Deshalb gibt es nur eine Tugend der Liebe.

§ 1. Die Liebe zu Gott.

Wir erörtern hier: 1. ihr Wesen, 2. ihre lzeilig-ende Wz'rkung und 3. die fortsclwez'tende Weise, sz'e zu üben.

I. Ihr WeseJZ.

1211. Erster Gegenstand der christlichen Liebe ist Gott: als Fülle des Seins, der Schönheit und der Güte ist er unendlich liebenswürdig. Es wird hier Gott in der ganzen unendlichen Wirklichkeit seiner Vollkommenheiten angesehen, nicht aber eine ganz bestimmte göttlil:he Eigenschaft. Jedoch führt uns die Erwägung einer einzigen Eigenschaft, wie der Barmherzigkeit, leicht zur Betrachtung aller Vollkommenheiten. Man braucht sie auch nicht notwendigerweise im einzelnen zu kennen. Einfache

, " Sie enim proximus earitate diligitur, ql1ia in eo Deus est vel ut in eo Deus sit. " (qq. disp. de Caritate a. 4).

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 841

Seelen lieben Gott so, wie der Glaube ihn kennen lehrt, ohne erst seine Eigenschaften zu untersuchen.

Um den Begriff der Gottesliebe zu erklären, werden wir das uns zu dieser Liebe verpflichtende Gebot, den sie stützenden Beweggrund und die verschiedenen Grade, wodurch wir zur reinen Liebe gelangen, näher behandeln.

1212. I. Das Gebot. A) Schon im Alten Testament ausgesprochen, wurde es vom göttlichen Meister erneuert und von ihm als der Inbegriff des Gesetzes und der Propheten verkündet: " Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, mit allen deinen Kräften und aus deinem ganzen Gemüte." Das heisst, wir sollen Gott über alle Dinge lieben und mit allen Kräften der Seele.

Das erklärt der hl. Franz. v. Sales sehr gut' : "Die christliche Liebe muss jeder anderen Liebe vorgezogen werden und über alle Leidenschaften herrschen. Das ist, was Gott von uns verlangt: vor aller anderen Liebe muss die Liebe zu ihm die erste Stelle in unserem Herzen behaupten, ja, sie muss unser ganzes Herz einnehmen. Sie muss die innigste sein und die ganze Seele erfüllen. Sie muss ferner die umfas~ sendste sein, die sich auf alle unsere Fähigkeiten erstreckt. Die edelste, die unser ganzes Sinnen und Trachten in Ansprucht nimmt, die unerschütterlichste, die unsere. ganze Kraft und Stärke aufwendet. " Er schliesst mit einer herrlichen Liebeserhebung :" Dir gehöre ich an, 0 Herr. Nur dir darf ich gehören. Meine Seele ist dein. Sie darf nllr für dich leben. Mein Wille ist dein. Er darf nur deinetwegen lieben .. Meine Liebe ist dein. Sie darf nur dich begehren. Ich muss' dich als meinen ersten Ursprung lieben, weil ich von dir bin.:

Ich muss dich als mein Ziel und Ende und meine Ruhe lieben weil ich fÜr dich erschaffen wurde. Mehr als mein eigenes Wesen muss ich dich lieben, denn es besteht ja nur durch, dich. Ich muss dich mehr als mich ·selbst lieben, weil ich ganz dein bin und ganz in dir lebe. "

1213. B) Das Gebot der Liebe erstreckt sich somit auf ein weites Gebiet. An sich ist es unbe-' grenzt, denn das M ass, Gott zu lieben, t'st, z'hn lJzasslos-

'Amour de Dielt, 1. X, Kap. VI, X.

842

DRITTES KAPITEL.

zu lieben. Daher müssen wir fortwä/zrend naclt Vervollkommnung streben (N. 353-36r) und unsere Liebe muss bis zu unserem Tode immer stärker werden. Nach der Lehre des hl. Thomas I wird die Vollkommenheit der Liebe als Ziel geboten. Man muss sie demnach erreichen wollen. Kajetan sagt:

"Eben, weil sie das Ziel ist, genügt man dem Gebote, sobald man sich in einer Verfassung erhält, die eines Tages zu dieser Vollkommenheit führt, wäre es auch erst in der Ewigkeit. \Ver auch nur in geringstem Masse die Liebe besitzt und so zum Himmel wandert, ist auf dem Wege der vollkommenen Liebe und beobachtet somit das zum Heile notwendige Gebot. "

Immerhin begnügen sich die nach Vollkommenheit strebenden Seelen nicht mit diesem ersten Grade. Sie steigen immer höher hinauf und bemühen sich, Gott nicht nur aus ganzer Seele, sondern auch aus allen ihren Kräften zu lieben. Dazu führt uns übrigens der Beweggrund der Liebe.

1214. 2. Der Beweggrund der christlichen Liebe ist nicht das von Gott erhaltene oder von ihm zu erwartende Gute, sondern die unendliche Vollko17Z- 1ItC1lheit Gottes. Wenigstens ist das schliesslich der vorwiegende Beweggrund. Es können also zu diesem andere Gründe hinzutreten, GrÜnde heilsamer Furcht, der Hoffnung, der Dankbarkeit, wenn nur der oben genannte Beweggrund wirklich vorherrschend ist. Folglich verträgt sich auch die Eigenliebe mit der christlichen Liebe, insofern sie der Gottesliebe untergeordnet ist. Verwerfen die Heiligen unbedingt die Selbstliebe oder die Eigenliebe, so meinen sie damit die ungeordnete Selbstliebe.

1215. A) Man kann jedoch die Ansicht Bolgeni's nicht billigen. Er behauptet, die einzig mögliche und verpflichtende,

, Sumo theol. IIa IIre , q. 184, a. 3. Kommentar Cajetans zu diesem Art. - KARD. MERCIER, Vie inttriezn-e, 1919, S. 98. - P. GARRIGOULAGRANGE, Per(. chn!tienne, t. 1., S. 217-227.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 843

christliche Liebe sei jene, deren Beweggrund die Gitte Gottes gegen uns ist. Denn, sagt er, wir können nur lieben, was wir als unseren Bedürfnisse'n und Strebungen entsprechend erachten. Bolgeni verwechselt da~, was nur vorausgehende Bedingung ist, mit dem wahren Beweggrund der Liebe. Wahr ist allerdings, dass in der Liebe, als solcher, Einklang zwischen dem geliebten Gegenstand und unserer. Natur samt ihren StrebLmgen vorausg"esetzt wird, aber jene Ubereinstimmung ist nicht der Beweggrund unserer Liebe. Dieser nämlich ist die um ihrer selbst willen geliebte, unendliche Vollkommenheit Gottes.

Wieder ist es der hl. Franz v. Sales, der diese Lehre vorzüglich veranschaulicht. ' " Gesetzt den unmöglichen Fall, es gäbe eine unendliche GÜte, an der wir in keiner Weise Ant<=il hätten und mit der wir keinerlei Verbindung haben könnten, so würden wir sie gewiss höher schätzen als uns selbst ... aber lieben würden wir sie eigentlich nicht, weil Liebe Vereinigung anstrebt. Noch weniger könnte zwischen ihr und uns die christliche Liebe bestehen, da diese Freundschaft ist und Freundschaft nur gegenseitig sein kann, deren Grundlage gegenseitige Mitteilung und deren Ziel Vereinigung ist. "

1216. B) Es wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht Dankbarkeit als Beweggrund zur vollkommenen christlichen Liebe genüge. Hier muss man unterscheiden. Erhebt sich die Dankbarkeit nicht über die empfangene Wohltat hinaus, nämlich zum Wohltäter selbst, so genügt sie nicht als Beweggrund der Liebe, weil sie egoistisch bleibt. Geht sie jedoch von der Liebe der Wohltat zur Liebe des Wohltäters selbst über und liebt sie ihn wegen seiner unendlichen Güte, so fällt dieser Beweggrund mit dem der christlichen Liebe zusammen.

Tatsächlich führt Dankbarkeit sehr leicht zur reinen Liebe, weil sie eine sehr edle Gesinnung ist. Daher sprechen die Heilige Schrift und die Heiligen so oft von den \Vohltaten Gottes, um dadurch uns zur christlichen Liebe anzueifern. So z. B. der hl. J ohannes. Vollkommene Liebe verbannt alle Furcht, sagt er. Dann ermahnt er uns zur Gottesliebe, weil Gott uns zuerst geliebt habe. " Quoniam Deus prior dilexz't 11OS. " 2 Wievielen Seelen ist doch der Gedanke an die Liebe, die Gott uns seit Ewigkeit her bewies, und die Betrachtung

, Amour de Dielt, I. X, Kap. X. - 2 1. /01 •. IV, 19.

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DRITTES KAPITEL.

der Liebe Jesu zu uns, und zwar in seinem Leiden und in der hl. Eucharistie, ein Antrieb zur reinsten Gottesliebe geworden I

Ein Merkmal zur Unterscheidung der 1'einen ;Liebe von der selbstsüchtigen findet sich wohl darin, dass wir bei jener Gott lieben, weil er gut ist und wir ihm wohlwollen, während wir bei der letzteren Gott lieben, weil er gegen uns gut ist und wir uns selbst wohlwollen.

1217. 3. An Gradm der Liebe unterscheidet der hl. Bernhard vier I: I) Der Mensch liebt zuerst sich selbst um seiner selbst willen, denn er ist Fleisch und unfähig, an anderem Geschmack zu finden. 2) Dann fühlt er sein Ungenügen und fängt an, Gott durch den Glauben zu suchen und ihn als notwendige Hilfe zu lieben. Auf dieser zweiten Stufe liebt er Gott noch nicht um Gottes, sondern um seiner selbst willen. 3) Durch die Pflege des Verkehrs mit Gott als notwendigem Helfer jedoch erkennt er allmählich wie sÜss Gott ist und fängt an, ihn um seiner selbst willen zu lieben. 4) Endlich auf der letzten Stufe, die wenige hienieden erreichen, liebt man sich selbst nur wegen Gott und folglich Gott ausschliesslich um seiner selbst willen.

Lassen wir den ersten Grad, der nur Selbstliebe ist, unberücksichtigt, so bleiben drei Grade von Gottesliebe, die den drei bereits N. 340, 624-626 dargelegten Graden der Vollkommenheit entsprechen.

I1. Heiligende Aufgabe der Gotteslz'ebe.

1218. 1. Die Liebe ist an sich die vorzüglichste und daher zur Heiligung am meisten beitragende Tugend. Wir haben das bereits bewiesen, als wir sie als das eigentliChe Wesen der Vollkommenheit und als den Inbegriff aller Tugenden zeigten, denen sie µur.ch "Hinwendung der Akte auf den über alles

, De dilig-endo D.eo, 'pp. xy, Epist. 2(,r, n. 8.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 845

geliebten Gott besondere Vollkommenheit verleiht (N.31O-3I9)·

In erhabener Sprache verkündet das der hl. Paulus : " Wenn ich mit den Zungen der Menschen und Engel rede, aber die Liebe nicht habe, so bin ich wie ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle geworden. Und wenn ich die Gabe der Weissagung habe und kenne alle Geheimnisse und alle Wissenschaft, und wenn ich allen Glauben habe, so dass ich Berge versetzen könnte, die Liebe aber nicht habe, so bin ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe zur Speisung der Armen austeile, und wenn ich mein Leben dahingebe, dass ich verbrannt werde, die Liebe aber nicht habe, so nützt es mir nichts.

Die Liebe ist langmütig, ist gütig. Die Liebe eifert nicht, sie hanGelt nicht unbesch.eiden, sie bläht sich nicht auf, sie ist nicht ehrsüchtig, sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht an, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber mit der Wahrheit. Alles erträgt sie, alles glaubt sie, alles hofft sie, alles überstehet sie.

Die Liebe hört nie auf ... Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, das grösste aber unter diesen ist die Liebe. " ,

1219. Wirklich ist die Liebe mehr als die anderen Tugenden vereinigend und verzfJandelnd.

a) Durch sie wird die ganze Seele samt allen ihren Fähigkeiten mit Gott vereint: der Gez'st durch Hochschätzung Gottes und häufiges Denken an ihn. Der Wille durch vollkommene Unterwerfung unter den Willen Gottes. Das Herz durch Unterordnung aller seiner Neigungen unter die Gottesliebe. Unsere Kräfte durch deren Hingabe im Dienste Gottes und der Seelen.

b) Ist die Seele ungeteilt mit Gott vereinigt, so geht eine Verwandlung in ihr vor sich. Die Liebe bewirkt das Heraustreten aus sich selbst. Sie erhebt uns zu Gott und führt uns zur Nachahmung, zur Verwirklichung seiner göttlichen Vollkommenheiten. Man will dem gleichen, den man liebt, weil

• 1. Kor. XIII, I-13. - Vgl. PRAT,op. ci!., t. II. S. 404-408 ..

846

DRITTES KAPITEL.

man ihn als Vorbild hochschätzt und durch grössere Verähnlichung mit ihm tiefer in sein Innerstes dringen will.

1220.2. In ihren Wz'rkungen trägt die Liebe sehr zu unserer J-Iezligung bei.

a) Zwischen unserer Seele und Gott entsteht eine gewisse Sympathie oder Wesensältnlzdzkez't (connaturalit<~), wodurch wir Gott und göttliche Dinge besser verstehen und geniessen. Aus diesem gegenseitigen Mitfühlen ergibt sich zwischen Freunden ein immer innigeres Verstehen, Erraten, Einssein. Viele unwissende, aber von der Liebe zu Gott erfasste Seelen verkosten und wenden die grossen christlichen Wahrheiten besser an als manche Gelehrte:

Das ist eine der Wirkungen der christlichen Liebe.

1221. b) Sie verhunderifacltt unsere Kräfte fÜr das Gute, denn sie verleiht uns unbeugsame Energie für die Beseitigung der Hindernisse und flösst uns die vorzüglichsten Tugendakte ein. Die Liebe nämlich ist" stark wie der Tod, fortis est ut mors dileäio. "I Welch' unerschrockenen Mut verleiht nicht der Mutter die Liebe zu ihrem Kinde!

Niemand hat wohl die wunderbaren Wirkungen der göttlichen Liebe besser geschildert als der Verfasser der Naclifolge C/zristi.2 Sie vermindert unsere Schmerzen und Lasten. " lVam 01tUS sine onere portat et O7ll1le amarum duke ac sapidUlll eflicit. " Sie erhebt uns zu Gott, weil sie aus Gott geboren ist. " Quia alllor ex Deo natus est, lIec potest nisi in Deo ... fJuiescere." Sie verleiht uns Flügel, um freudig die herrlichsten Taten zu vollbringen, zur vollständigen Hingabe unserer selbst. "Amalls 7Jolat, currit et /cetatur ... dat olJZnia pro ol/lllibus. " Deshalb treibt sie uns zu grossen Dingen an und zum Streben nach dem Höchsten: " Amor Jeslt 1Zobilis ad mag"lZa operanda impcllit et ad desideranda sem per perjectiora excitat. " Sie wacht unaufhörlich, klagt nie über ihre MÜhen und lässt sich nicht von Furcht beeinflussen. Gleich einer lebendigen Flamme erhebt sie sich immer höher und höher und wandelt sicher inmitten von Schwierigkeiten. "Amor

'Cant. VIII, 6. - 2 Nachfolge ... , 3. B., 5. Kap.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN.

vigilat ... fatigatus non lassatur, territus non conturbatur, sed sicut vivax jiamma ... sursum erumpit semreque pertransit. "

1222. c) Sie erzeugt auch hohe Freude und Erweiterung des Herzens, denn sie ist Einführung in den Besitz des höchsten Gutes, inchoatio vitce ceternce in nobis. Dieser Besitz erfüllt die Seele mit Freude : " dans vera cordis gaudia. " I

Daher, sagt weiter die Nachfolge Christi, gibt es im Himmel und auf Erden nichts Süsseres, nichts Angenehmeres, nichts Besseres: Nihil dulcius est allZore ... nillil jucundius, nihil plenius ac melzus in ca:lo et in terra." Hauptgrund dieser Freude ist das beginnende, lebendigere Bewusstwerden der Gegenwart J esu und der Gegenwart Gottes in uns: " Esse cum Jesu dulcis paradisus ... 2 Te quidem prasente, jucunda szmt omnia, te autem absente fastidiunt ,'uncta. " 3

1223. d) Dieser Freude folgt tiefer Friede: ist man überzeugt, dass Gott in uns ist und sein väterlich sorgendes Wirken über uns waltet, so überlässt man sich ihm in herzlichem Vertrauen, Übergibt ihm in grösster Zuversicht die Sorge für alle persönlichen Anliegen und bleibt vollkommen ruhig und heiter. " Tu facis cor tranquillu11Z et pacem magna1Jl lcetitiamquefestivam." 4 Für den inneren Fortschritt gibt es nun aber keine günstigere Verfassung als den inneren Frieden: ,. In silentio et quiete projicit anima devota. "

Von welcher Seite also man die christliche Liebe betrachten möge, an sich oder in ihren 'Nirkungen, ist sie unter allen Tugenden diejenige, die am meisten zur Vereinigung und Heiligung beiträgt. Sie ist tatsächlich das Band der Vollkommenheit. \Vir wollen nun sehen, wie sie zu üben ist.

I II. Fortschreitende Übung der Gottesliebe. 1224. Allgemeiner Grundsatz. Da die Liebe in der Hingabe seiner selbst besteht, wird unsere Liebe

, Hymnus am Feste des süssell Namens Jesu.-2 Nachj. 2, B, ,8, Kap. 3 Ebend. 3. B., 34. Kap. - 4 Ebend. 3. B., 31. Kap.

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DRITTES KAPITEL.

zu Gott um so vollkommener sein, je vollständiger, vorbehaltloser und unwiderruflicher wir uns ihm hingeben. Ex tota anima, ex toto corde, ex totis viribus. Da man sich nun aber auf Erden nicht, ohne sich zu opfern, hingeben kann, wird unsere Liebe um so vollkommener sein, je grossmÜtiger wir nun aus Liebe zu Gott den Opfergeist üben (N. 743-745)·

1225. I. Anfänger üben die Gottesliebe durch ihre Bemühungen, die Sünde, besonders aber die Todsünde und deren Ursachen zu meiden.

a) Sie Üben daher die reuige Liebe, da sie bitter bereuen, Gott beleidigf und ihn seiner Ehre beraubt zu haben (N. 743-745).

Diese LIebe hat eine zweifache \Virkung : r) Sie trennt uns immer mehr von der SÜnde und von dem Geschöpf, an das die Lust uns fesselte. 2) Sie versöhnt und vereint uns mit -Gott, nicht nur durch Beseitigung der Sünde, des gros sen Hindernisses dieser Vereinigung, sondern auch durch Erwekkung von Gesinnungen der Reue und Verdemütigung, die bereits ein Anfang der Liebe sind und sich zuweilen unter Einwirkung der Gnade in vollkommene Liebe verwandeln. " Denn ", sagt der hl. Franz v. Sales, " unvollkommene Liebe verlangt nach Gott und bedarf seiner, die Busse aber sucht ihn und findet ihn. Vollkommene Liebe hält ihn fest umklammert." Jedenfalls werden uns die Sünden um so vollkommener nachgelassen, je inniger unsere Liebe ist.

1226. b) Bei ihnen findet sich auch die Liebe der Glezdt/iirmigkeit mit dem Willen Gottes, und zwar in ihrem ersten Grade. Sie gehorchen den Geboten Gottes und der Kirche und ertragen tapfer die ihnen von der Vorsehung zur Reinigung ihrer Seele gesandten PrÜfungen (N. 747).

c) Sehr bald entsteht dann dankbare Liebe. Trotz ihrer SÜnden, fährt Gott fort, sie mit \Vohltaten zu überhäufen, gewährt ihnen gern Verzeihung, sobald sie Anzeichen von Reue geben. Bei dieser \Vahrnehmung empfinden sie gegen Gott aufrichtige und lebhafte Dankbarkeit, preisen seine Güte und bemühen sich, seine Gnaden besser zu verwerten. Das ist schon eine edle Gesinnung, eine vorzügliche Vorbereitung auf die reine Liebe: Von der empfangenen \Vohltat ausgehend, ist es leicht, sich zur Liebe des Wohltäters zu

DIE GÖTTLICHEN, TUGENDEN. 849

erheben. Es entsteht der Wunsch, seine GÜte möge auf der ganzen Welt erkannt und gepriesen werden. Das ist bereits die christliche Liebe.

1227. 2. Die Fortschreitenden üben die Liebe des Wohlgefallens, des Wohlwollens, der Gleichfb'rmigkeit mit dem Willen Gottes und gelangen so zur Liebe der Freundschaft.

A) Liebe des Woftlgefallens I entsteht durch Glauben und Nachdenken. a) Durch den Glauben wissen wir und durch Betrachtung gewinnen wir die Überzeugung, dass Gott die FÜlle des Seins und der Vollkommenheit, der Weisheit, der Macht und der Güte ist. Bei einigermassen gutem Willen müssen wir an solch unendlicher Vollkommenheit Wohlgefallen finden. Wir freuen uns, Gott so reich an Gütern zu sehen. Die Freude Gottes beglückt uns mehr als die eigene, und wir geben durch Akte der Bewunderung, des BeifalJs und der Beglückwünschung dieser unserer Freude Ausdruck.

b) Auf diese Weise ziehen wir die Vollkommenheiten der Gottheit auf uns herab. Gott wird unser Gott. Wir schöpfen Nahrung aus seinen Voll kommenheiten, aus seiner GÜte, seiner Milde, seinem göttlichen Leben. Das Herz nämlich nährt sich von Dingen, die ihm gefallen. Und so bereichern wir uns durch die göttlichen Vollkommenheiten, da sie durch die Liebe, die sich darin gefällt, unser werden.

1228. c) Durch das Herabziehen der göttlichen Vollkommenheiten auf uns ziehen wir Gott selbst in uns und wir schenket! uns ihm ganz, was der hl. Franz v. Sales 2 mit folgenden Worten schildert:

"Durch diese heilige Liebe des Wohlgefallens erfreuen wir uns an den Gütern in Gott, als wären es unsere eigenen. Da aber seine göttlichen Vollkommenheiten ,stärker sind als unser Geist, dringen sie in diesen ein und bewirken gegen-

, S. FR. DE SALES, Amour de Dieu, 5, B. 1. - 5, Kap. 2 Ebend. 5. B. 3. Kap.

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DRITTES KAPITEL.

seitiges Besitzen, so dass wir nicht nur sagen, durch dieses Wohlgefallen sei Gott unser, sondern auch wir seien sein geworden." Daher ruft die Seele unaufhörlich in ihrem heiligen Schweigen: " Mir genügt, dass Gott Gott ist, dass seine Güte unendlich, seine Vollkommenheit unermesslich ist. Möge ich sterben oder leben, daran liegt mir wenig, denn mein teurer Geliebter lebt ewig LInd zwar ein Leben herrlichen Triumphes ... Der liebenden Seele ist es genug, dass der, den sie mehr als sich selbst liebt, mit ewigen Gütern überschüttet sei, denn sie lebt mehr in dem, den sie liebt, als in dem, den sie belebt."

1229. d) Bei Betrachtung des leidenden Heilandes verwandelt sich diese Liebe in Mitleid und Trauer. Vor den Blicken der andächtigen Seele öffnet sich ein Abgrund von Angst und Bangigkeit, worin sie ihren göttlichen Geliebten versenkt sieht. Da kann sie nicht anders, als sein heilig liebedurchglÜhtes Leiden mit ihm zu teilen. Dadurch erhielt ein heiliger Franz von Assisi die Stigmata und ebenso eine heilige Katharina von Siena, denn das Wohlgefallen erzeugt Mitleiden, und dieses wieder verursacht eine derjenigen des geliebten Gegenstandes ähnliche \Vunde.

1230. B) Aus der Liebe des Wohlgefallens entspringt die Liebe des T17ohlwollens, d. h. ein glühendes Verlangen, den Geliebten zu verherriichen und verherrlicht zu wissen. In bezug auf Gott kann das auf zweierlei Weise geschehen.

a) Betreffs seiner inneren Vollk01lZ1IZenlieit kann man Gott nur auf hypothetische Weise verherrlichen, z. D., \\'enn ich sage : Könnte ich durch eine undenkbare Möglichkeit dir irgend ein Gut verschaffen, so wÜrde ich, selbst um den Preis meines Lebens, nicht aufhören, es anzustreben. Wäre es dir als dem, der du bist, möglich, irgend einen Zuwachs durch ein Gut zu erhalten, ich wÜrde es dir von Herzen wünschen.

1231. b) Seinen äusseren Ruhm jedoch wÜnschen wir unbedingt in uns und in anderen zu vermehren und darum, ihn besser zu kennen und zu lieben, um ihn besser kennen und lieben zu lehren. Damit

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 851

diese Liebe nicht rein theoretisch sei, bemÜhen wir uns im einzelnen, die göttlichen Schönheiten und V ollkommenheiten zu erforschen, um sie loben und preisen zu lassen, und opfern zu diesem Zwecke Studien und Beschäftigungen, die uns mehr zusagen.

Von Hochschätzung und Bewunderung Gottes erftillt, wünschen wir, dass sein heiliger Name Überall auf Erden gepriesen, verherrlicht, gelobt, geehrt und angebetet werde. Unfähig dies aus uns vollkommen zu tun, fordern wir alle Geschöpfe auf, ihren Schöpfer zu 10Len und zu preisen: Benedicite o1lZnia opera Domini Domino. ' Im Geiste steigen wir zum Himmel empor, vereinigen uns mit den Chören der Engel und Heiligen und singen mit ihnen : " Sanctus, Sanctus, Sanctus Dominus" ... Wir vereinigen uns auch mit Maria, die über aUe Engel erhaben, Gott mehr lobt als alle Geschöpfe insgesamt. Mit ihr wiederholen wir: "Magnificat anima mea Domimul1. Besonders aber vereinigen wir uns mit dem menschgewordenen Sohne Gottes, dem grossen Verehrer des Vaters, der als Gottmensch der heiligsten Dreifaltigkeit unendliche Lobpreisungen darbringt.

Endlich vereinigen wir uns mit Gott selbst, d. h. mit den drei, sich gegenseitig lobpreisenden, göttlichen Personen. Dann rufen wir aus: Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geist. Und zum Beweise, dass es nicht geschöpfliche Lobpreisungen sind, womit wir Gott zu ehren wÜnschen, sondern der wesentliche, ewige Ruhmespreis, den er in sich, durch sich und aus sich geniesst, fügen wir bei:

Wie es war im Anfang und jetzt und zu allen Zeiten ... als sprächen wir den Wunsch aus, Gott möge stets mit jener Ruhmesehre gepriesen werden, die er in seiner unendlichen Ewigkeit und ewigen Unendlichkeit vor aUen Geschöpfen besass.2

Ordensleute und Priester vor allen fühlen sich durch ihre Gelübde oder durch die Priesterweihe verpflichtet, auf diese Weise die Ehre Gottes zu fördern. Von dem Wunsche beseelt, Gott zu verherrlichen, hören sie selbst bei ihren Arbeiten nicht auf, ihn zu preisen und zu loben. In der Einsamkeit des Klosters haben sie keinen anderen Ehrgeiz, als das Reich Gottes zu verbreiten und auf ewig das

, Dan., III, 57. - 2 S. FR. DE SALES, A moltr de Dielt, 5. B. 12. Kap.

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DRITTES KAPITEL.

Lob dessen überall verkünden zu lassen, dem einzig und allein sie ihre Liebe geweiht haben.

1232. C) Die Liebe des Wohlwollens offenbart sich in der Liebe der Gleichförmigkeit. Nichts ist wirksamer, um die Ausbreitung des Reiches Gottes möglichst zu fördern, als die Erfüllung seines heiligsten \Nillens : Fiat voluntas tua sicut z'n ccelo et z'n terra. Liebe ist nämlich vor allem Vereinigung, Verschmelzen zweier Willen zu einem einzigen, unum velle, unum nolle. Da Gottes Wille allein gut und weise ist, erscheint es selbstverständlich, dass wir unser Wollen dem seinen anpassen müssen. " Non lIlea voluntas, sed tua fiat. " I

Diese Gleichförmigkeit umfasst, wie wir es N. 480-492 zeig-ten, Gehorsam gegen die Gebote, Räte, Einsprechungen der Gnade und demütige, liebende Unterwürfigkeit bei den von der Vorsehung angeordneten Ereignissen. Mögen diese glücklich oder unglücklich sein, mögen es Misserfolge, Verdemütigungen oder allerlei PrÜfungen sein, die zu unserer Heiligung und Gottes Ehre Über uns verhängt werden. Ihrerseits erzeugt die Gleichförmigkeit heiligen Gleiclt/JlUt (Indiffer(!nz) für alles, was nicht zum Dienste Gottes gehört. In der Uberzeugung, Gott sei alles, das Geschöpf nichts, wollen wir nur Gott, seine Liebe und seine Ehre. Dem Willen nach lässt uns alles andere kalt. Das ist nicht stoische Gefühllosigkeit, denn wir fühlen uns weiterhin zu den gefälligen Dingen hingezogen, sondern Indifferenz der Wertschätzung und des Willens. Man darf es auch nicht mit dem Gehenlassen der Quietisten vergleichen, denn wir stehen nicht gleichgiltig unserem Heil gegenüber, wir streben es an, und zwar mit Eifer, jedoch nur in Ubereinstimmung mit dem Willen Gottes.

Diese Hingabe an Gott bringt tiefen Fn'eden mit sich. Wir leben in dem Bewusstsein, es kann uns nichts begegnen, was nicht zu unserer Heiligung beitragen könnte. "DiNgentibus DeulIl omnia couperantur in bommz". 2 Deshalb umfassen wir freudig aus Liebe zu] esus, dem Gekreuzigten, und um ihm ähnlicher zu werden, jedes Kreuz und jegliches Leid .

. Durch die völlige Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes bleiben wir, wie Bossuet 3 sagt, genau so unbesorgt im Leiden

'Luk" XXII, 42. - 2 Röm .. VIII, 28 .

. ' BOSSUET, Eltvations, XIII. Sem., 7. Elev.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 853

wie in der Freude. Möge Gott nach seinem Gefallen handeln, denn er weiss, was uns heilsam ist. Die Gleichförmigkeit bewirkt, dass wir nicht in unserem eigenen Genügen, sondern in dem Gottes Ruhe finden. Wir bitten ihn nämlich, sich zu genügen und mit uns stets zu tun, was ihm wohlgefällig sei. "

1233. D) Diese Gleichförmigkeit führt uns zur Freundschaft mit Gott. Ausser dem Wohlwollen fordert Freundschaft auch Gegenlez'stung oder gegenseitige Hingabe der beiden Freunde. Das nun trifft tatsächlich bei der christlichen Liebe zu.

" Es handelt sich um wahre Freundschaft bei ihr", sagt der hl. Franz v. Sales " "denn sie ist gegenseitig; Gott hat von Ewigkeit her jeden geliebt, der ihn in der Zeit liebte, liebt oder lieben wird. Sie \\"ird gegenseitig betont und anerkannt. Gott weiss von der Liebe, die wir zu ihm haben, denn er selbst schenkt sie uns, und auch wir wissen von seiner Liebe zu uns, weil er sie oft genug geoffenbart hat... wir sind auch in fortwährendem Verkehr mit ihm. Unauthörlich nämlich spricht er durch Eingebungen, Gnadenantriebe und heilige Regungen zu unserem Herzen." Dann fügt der Heilige bei; "Diese Freundschaft ist nicht eine einfache Freundschaft, sondern eine Waltl- und Liebesfreundschaft, da wir Gott auserwählen, um ihm in besonderer Liebe zugetan zu sein. "

1234. Diese Freundschaft besteht in der Hingabe Gottes an uns und in der Hingabe unserer Person an Gott. Sehen wir nun einmal, wie weit Gottes Liebe zu uns geht, um daraus zu erkennen, wie unsere Liebe zu ihm beschaffen sein soll.

a) Seine Liebe zu uns ist; 1) e.~lJig " " In caritate perpetua dilexi je." 2 2) selbstlos, denn er genügt sich selbst vollständig und liebt uns nur, um uns Gutes zu erweisen. 3) grossmidig " er schenkt sich uns ganz und gar, nimmt selbst freundschaftlich Wohnung in unserer Seele (N. 92-97). 4) zuvorkommend, denn nicht nur liebt er uns zuerst, sondern drängt, ja, er bettelt um unsere Liebe, als bedürfte er ihrer. "Meine Wonne ist es, mit den Menschenkindern zu sein" ... "mein Sohn, gib mir dein Herz" ; "Delidce mece esse cum filiis ~o1l1iJluJll " .,. prcebe, fili, cor tuum mihi" 3 Hätte man je auch

, Amour de Dieu, 2. B., 22. Kap .

• leremias, XXXI, 3. - 3 Spricllw. VIII, 31.

854

DRITTES KAPITEL.

nur im entferntesten an solch zartfÜhlende Liebe Gottes zu uns Menschen gedacht?

1235. b) Wir müssen diese Liebe mit möglichst vollkommener Gegenliebe erwidern : " Sic nos alllantem quis non redamaret?"

I) Unsere Liebe muss stCindzjr grösser werden. Da wir Gott nicht von Ewigkeit her lieben konnten und ibn niemals nach Verdienst lieben können, sollen wir ihn wenigstens täglich mehr und mehr lieben, unserer Liebe zu ihm keine Grenzen setzen, ihm keines der verlangten Opfer verweigern und stets suchen, ihm zu gefallen. "Qua: jllacita Slozl ei jacio semper. ", 2) Sie sei grossmÜtig, sie äussere sich zwar auch in frommen Erhebungen des Herzens, häufigen Stossgebeten, sehr einfachen Akten der Liebe, wie z. B. " Ich liebe dich von ganzem Herzen! ", aber besonders in Taten, namentlich in der rückhaltlosen Hingabe unserer selbst. Gott muss der Mittel- und Zielpunkt unseres ganzen Wesens sein: des Verstandes durch häufigen Aufblick zu ihm, des Willens durch demütiges Erfüllen seiner geringsten Wünsche, des GemÜtslebens, damit das Herz sich nicht in Neigungen verirre, die ein Hindernis für die Gottesliebe bilden könnten. Ferner aller unserer HandlunKen, durch das Bemühen, sie ihm zuliebe zu verrichten. 3) Sie sei selbstlos, d. h. wir sollen mehr ihn als seine Gaben lieben. Deshalb soll sowohl zur Zeit der inneren Trockenheit als auch zur Zeit des Trostes unsere Liebe stets die gleiche sein. Oft sollen wir ihm beteuern, ihn und zwar um seiner selbst 7villen lieben zu wollen. Auf diese '-"eise wollen wir trotz unseres Unvermögens es versuchen, seine Freundschaft zu erwidern.

§ Ir. Die christliche Nächstenliebe.

N ach Darlegung des Wesens und der heiligenden Aufgabe dieser Tugend, werden wir angeben, wie sie zu üben sei.

I. Wesen der brÜderlichen Liebe.

1236. Die brüderliche Liebe ist, wie wir sagten, eine giittliclze Tugend, vorausgesetzt, man liebt Gott selbst im Nächsten, oder, mit anderen Worten, man liebt den Nächsten aus Liebe zu Gott. Liebten wir elen Nächsten einzig und allein um seiner selbst

'IGI,. VIII, 29-

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 855

willen oder wegen der Dienste, die er uns ,leisten kann, so wäre das keine christliche Liebe.

A) Man muss daher Gott im Nächsten sehen. Er offenbart sich in ihm durch die natÜrlichen Gaben, die eine Teilnahme seines Seins und seiner Eigenschaften sind, und durch die übernatürlichen Gaben, die ein Ausfluss seines V!esens und Lebens sind (N. 445). Da die Tugend der Liebe übernatÜrlich ist, müssen wir als Beweggrund zur christlichen Liebe die Übernatürlichen Eigenschaften des Nächsten ins Auge fassen. Beachten wir auch seine natürlichen, so geschehe es mit dem Auge des Glaubens, insofern sie nämlich durch die Gnade übernatÜrlich geworden sind.

1237. B) Um den wahren Beweggrund der brüderlichen Liebe besser zu erfassen, können wir ihn analysieren und die Menschen in ihren Beziehungen zu Gott betrachten. Dann erscheinen sie uns als Kinder Gottes, Glieder Jesu Christi, als Miterben des gleichen ltimmlischen Reiches (N. 93, I42-I49)·

Selbst die nicht im Stande der Gnade leben oder glaubenslos sind, sind berufen, diese Übernatürlichen Gaben zu besitzen, und es ist unsere Pflicht, wenigstens durch Gebet und gutes Beispiel an ihrer Bekehrung mitzuwirken. Welch' mächtiger Beweggrund für uns, sie als unsere Brüder zu lieben, und wie unbedeutend erscheinen die uns trennenden Meinungsverschiedenheiten im Vergleich zu allem, was uns mit ihnen verbindet!

I I. Heiligung-saufgabe der brüderlichen Liebe.

1238. 1. Da die übernatürliche Liebe zum Nächsten nur eine Art der Gottesliebe ist, müsste man hier alles wiederholen, was wir über die wunderbaren Wirkungen der Liebe zu Gott gesagt haben.

Es genÜge, einige SchriftsteUen aus den Briefen des hl. J ohannes anzufÜhren: " \Ver seinen Bruder liebt, bleibt im Lichte und ihm ist kein Anstoss. Wer aber seinen Bruder hasst, ist in der Finsternis." , Im Lichte bleiben heisst aber

, 1. loh. I, 10-11.

856

DRITTES KAPITEL.

in der Sprache des hl. ]ohannes, in Gott, dem Urquell alles Lichtes, bleiben, und in der Finsternis sein, heisst, im Zustande der Sünde sich befinden. Und er sagt weiter:" Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben Übergegangen sind, 'weil wir die Brüder lieben" ... "Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Mörder.'" Zum Schluss sagt er : " Geliebte! Lasset uns einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist die Liebe ... Wenn wir einander lieben, so bleibt Gott in uns und seine Liebe ist in uns vollkommen ... Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm ... Wenn jemand sagt : "Ich liebe Gott ", und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn, wer seinen Bruder, den er sieht, nicht liebt, wie vermag der Gott zu lieben, den er nicht sieht? Und dieses Gebot haben wir von Gott, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder lieben soll. " 2 Deutlicher kann man wohl nicht bestätigen, dass den Nächsten lieben, Gott lieben heisst und sich aller an Gottesliebe geknüpften Vorrechte erfreuen bedeutet.

1239. 2. Übrigens sagt uns Jesus, jeden Dienst, der dem geringsten der Seinen geleistet würde, erachte er, als ihm selbst erwiesen. "Amen dico vobis, quamdiu fecistis uni ex his fratribus meis minimis, mihifecistis." 3 Gewiss lässt sich J esus nicht an Freigebigkeit übertreffen und wird durch mannigfaltige Gnaden hundertfach den geringsten, ihm in der Person seiner Brüder geleisteten Dienst vergelten.

Wie trostreich ist dieser Gedanke fÜr jene, die sich der brüderlichen Liebe befleissen und ihrem Nächsten leibliches und geistliches Almosen schenken! Wieviel trostvoller noch für jene, deren ganzes Leben Werken der christlichen Liebe oder dem Apostolat geweiht ist! In der Person ihrer Brüder leisten sie dem Heiland Dienste. Darum arbeitet auch J esus an der Verschönerung und Heiligung ihrer Seele.

I II. Übung der brÜderlichen Liebe.

1240. " Im Nächsten Gott oder Jesus sehen ", ist der Grundsatz, der uns beständig leiten soll. 4 " In

'1. loh. III, 14-15. - 2 I. loh. IV, 7,8, 12, 16, 20, 21. 3 Matth. XXV, 40.

4 Das erklärt sehr gut der hl. EUOES in" Le Royaume de leslts, 2. T., § 35, s. 259 ... " Betrachte deinen Nächsten in Gott und Gott in ihm,

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 857

omnz'bus Christus." Auf diese Weise machen wir unsere Nächstenliebe Übel'natürlicher in ihren Beweggründen und Betätigungsmitteln, allg-emeiner bezüglich ihrer Ausdehnung und gross1lZÜtiger und tatkräftiger in ihrer AusÜbung.

1241. I. Anfänger streben hauptsächlich nach V.ermeidung von Felzlern gegen die Liebe und nach Ubung von Akten, die durch das Gebot uns auferlegt sind.

A) Um daher Jesus und den Nächsten nicht zu betrÜben, mögen sie sorgfältig meiden:

a) Freventliche Urteile, Üble Nachreden und Verleumdungen, da diese der Gerechtigkeit und christlichen Liebe zuwider sind (N. I043). b) Natürliche Abneigll1~[;-en, die, wenn man in sie einwilligt, oft Verfehlungen gegen die Nächstenliebe herbeiführen. c) Bittere, spöttische, verächtliche Worte, die Feindschaft stiften oder zuspitzen. Auch selbst geistreiche Wortspiele auf Kosten des Nächsten, denn sie verletzen oft tief. d) Streitereien und scharfe, hochmÜtige Diskussionen, bei denen jeder recht haben und den Nächsten verdemütigen will. e) Nebenbuhlerschaft, Z~lJietracht, unwahre Berichte, die unter den Mitgliedern der grossen, christlichen Familie nur Zwiespalt hervorrufen können.

1242. Zur energischen Beseitigung aller dieser der christlichen Liebe so sehr widerstrebenden Fehler ist nichts so wirksam wie die Betrachtung der rührenden \Vorte des hl. Paulus an die ersten Christen: " Ich ermahne euch daher, ich, der Gefesselte im Herrn, wandelt würdig des Berufes, zu dem ihr auserwählt seiel. .. einander in Liebe ertragend, eifrig bemÜht, die Einheit des Geistes zu wahren durch das Band des Friedens. Ein Leib nur und ein Geist, wie ihr ja auch berufen seid zu nur einer Hoffnung eures Berufes. Ein Herr, ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alles und in uns allen ... die \Vahrheit üben in Liebe und wachsen in allen Stücken in ihm, der da das Haupt ist, Christus.'" Und er fährt fort: " Wenn es also irgend einen

d, h. betrachte ihn als etwas aus dem Herzen und der Güte Gottes Hervorgegangenes, als Gottes Anteil, geschaffen, um in das Innere Gottes zurückzukehren, eines Tages im Schosse Gottes Wohnung zu erhalten, Gott ewig zu verherrlichen und in dem Gott wirklich ewig verherrlicht wird, nämlich wegen seiner Barmherzigkeit oder seiner Gerechtigkeit. ..

, Bplles. IV, 1-16.

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DRITTES KAPITEL.

Zuspruch gibt, wenn irgend einen Trost der Liebe... so machet meine Freude voll, dass ihr gleichgesinnt seid, indem ihr gleiche Liebe habt, einmütig, eines Sinnes, dass ihr nichts ans Streitsucht, noch aus eitler Ehrsucht tuet, sondern in Demut einer den andern höher achtend als sich selbst; dass nicht jeder auf das seinige sehe, sondern auf das, was der andern ist. " ,

Wer sollte nicht beim Anhören dieser flehentlichen Bitten des Apostels ergriffen werden? Der hl. Paulus vergisst die Ketten, mit denen er beladen, denkt nur daran, aus der christlichen Gemeinde die Zwietracht zu verbannen. Er erinnert sie an die vielen Bande, die sie vereinen und derentwegen alles Trennende ausgeschlossen werden muss. Ist nicht tatsächlich nach zwanzig Jahrhunderten des Christentums diese dringende Aufforderung noch sehr zeitgemäss für uns alle?

1243. Ein Übel "besonders ist um jeden Preis zu vermeiden, das A rgernis, d. h. alles, was dem Nächsten mit einiger Wahrscheinlichkeit Anlass zur Sünde werden könnte. So sehr ist das vonnöten, dass man sich sorgfältig auch des an sich Gleichgiltigen oder selbst Erlaubten enthalten soll, falls die Sache, der Umstände wegen, anderen Gelegenheit zu Fehltritten werden kann. Der hl. Paulus schärfte diesen Grundsatz ein, als es sich um das den Götzen geopferte Fleisch handelte. Da die Götzenbilder nichts sind, war das Fleisch an sich nicht verboten. Da aber mehrere Christen Überzeugt waren, es sei verboten, so bittet der Apostel die besser Unterrichteten, den Bedenken ihrer Brüder Rechnung zu tragen : " So wird durch deine Erkenntnis der schwache Bruder verloren gehen, um dessentwillen Christus gestorben ist. Wenn ihr euch aber so gegen die Brüder versÜndigt und ihr schwaches Gewissen verletzt, sÜndigt ihr gegen Christus. Darum werde ich, wenn eine Speise

, Phil. II, 1-4.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 859

meinem Bruder Anstoss gibt, kein Fleisch essen in Ewigkeit, damit ich meinem Bruder nicht Anstoss gebe! " I

Diese Worte soll man sich auch heute noch zu Herzen nehmen. Christen und Christinnen gestatten sich mehr oder minder unpassende LektÜre, Schauspiele, mehr oder weniger unanständige Tänze, und zwar unter dem Vorwande, fÜr sie sei das alles nicht gefährlich. Das lies se sich denn doch sehr bezweifeln. Leider nämlich täuschen sich viele, die so spreche\l. Jedenfalls aber kann man sie fragen, ob sie dabei an das Argernis denken, das sie, dadurch ihrem Dienstpersonal geben, ebenso wie der Offentlichkeit. Diese nimmt daraus Anlass zum Genusse noch viel gefährlicherer Vergnügen.

1244. B) Anfänger vermeiden nicht nur obengenannte Fehler, sondern üben sielt auch t'n der Beobachtung jeglt'clten Gebotes, namentlich im Ertragen des Nächsten und t'm Verzeilte1z der Beleidigungen.

a) Sie ertrag"en den Nächsten, trotz seiner Fehler. Haben wir nicht auch unsere Fehler, die der Nächste ertragen muss? Übrigens Übertreibt man leicht die Fehler des anderen, besonders, wenn es sich um Personen handelt, denen wir abgeneigt sind. Sollten wir nicht lieber milder urteilen und uns fragen, ob wir wohl den Splitter im Auge des Nächsten bemerken dürfen, da vielleicht ein Balken in unserem eigenen Auge ist? Statt die Fehler des anderen zu rügen, fragen wir uns daher lieber, ob wir nicht ähnliche oder noch schlimmere haben und seien wir zunächst darauf bedacht, uns selbst zu bessern" medice, cura te ipsum.

1245. b) Pflicht ist es auch, Beletdigungen zu verzeihen und sich mit seinen Feinden auszusiihnen, d. h. mit denen, die uns oder die wir gekränkt haben. Diese Pflicht ist so dringend, dass der liebe Heiland nicht Anstand nimmt, zu sagen : " Bringst du deine Gabe zum Altare und erinnerst dich daselbst, dein Bruder habe etwas gegen dich, so lass deine Gabe allda vor dem Altare und gehe hin und versöhne dich mit deinem Bruder. " 2

, I. Kor. Vln, 13. - 2 lVfattlt. V, 23-24.

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DRITTES KAPITEL.

" Denn", bemerkt Bossuet dazu, " die erste Gabe, die Gott dargebracht werden soll, ist ein von Kälte und jeglicher Feindschaft gegen den Bruder freies Herz." Er sagt weiter, man solle nicht erst den Kommuniontag abwarten, um sich wieder auszusöhnen, sondern befolgen, was del- hl. Paulus sagt : "Lasset die Sonne nicht Über eurem Zorne untergehen, denn die Finsternis vermehrt den Kummer. Unser Groll wÜrde mit uns wiederaufstehen und an Bitterkeit zunehmen. " Untersuchen wir darum nicht, ob der Gegner mehr im Unrecht sei als wir, ob er nicht den ersten Schritt zu tun habe. Bei der ersten besten Gelegenheit kläre man das Missverständnis auf. Bittet der Gegner zuerst um Entschuldigung, so verzeihe man bereitwilligst : "Denn wenn ihr den Menschen ihre Vergehen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch eure SÜnden vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure SÜnden auch nicht vergeben.'" Das ist nur gerecht, denn wir bitten Gott, uns unsere Beleidigungen zu vergeben, so wie wir unseren Beleidigern verzeihen.

1246. 2. Fortschreitende Seelen streben danach, die Gesinnungen des liebreichen Herzens Jesu in sich aufzunehmen.

A) Sie vergessen nicht, dass das Gebot der Liebe sez'n Gebot ist, und dass die Beobachtung desselben das unterscheidende Merkmal der Christen sein soll. "Ein neues Gebot gebe ich euch : Dass ihr einander liebet. Wz'e zdt euclt gelz'ebt habe so sollt auch ihr einander lieben. " Ut dz'lz'gatz's z'nvz'celll sz'cut dzlexi vos. " 2

Dieses Gebot ist neu, sagt Bossuet 3, " weil J esus Christus den wichtigen Umstand hinzufÜgt, uns gegenseitig zu lieben, wie er uns geliebt hat. Er ist uns mit seiner Liebe zuvorgekommen, als wir nicht an ihn dachten. Er kam als erster zu uns und lässt sich von unserer Untreue und unserem Undank nicht abschrecken. Selbstlos liebt er uns, um uns zu heiligen und uns zu beglÜcken, denn er bedarf weder unserer Person noch unserer Dienste." Liebe soll das unterscheidende Merkmal der Christen sein: " Daran werden alle erkennen, dass ihr meine JÜnger seid, wenn ihr Liebe zu einander habt." ,

, Matth. VI, 14-15. - 2 Joh. XIII, 34.

3 Nftditations, La Cene, I. T .. 75. Tag. - 4 Joh. XIll, 35.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 861

1247. B) Daher suchen die Fortschreitenden, sich dem Beispiele des Erlösers anzugleichen.

a) Seine Liebe ist zuvorkommend: Er hat uns zuerst geliebt zu einer Zeit, da wir noch seine Feinde waren "cum adhuc peccatores essemus. " 1 Er kam zu uns, die wir Sünder waren, weil er wusste, Kranke bedürfen des Arztes. Seine zuvorkommende Gnade war es, die die Samariterin, die Sünderin, den guten Schächer aufsuchte, um sie zu bekehren. Um unseren Leiden zuvorzukommen und sie zu heilen, richtet er die liebevolle Aufforderung an uns : " Kommet zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid und ich werde euch erquicken. " Venite ad me omnes quz' laboratis et onerati estz's et ego reficiam vos." 2

Wir sollen diese göttliche Zuvorkommenheit nachahmen, auch wir sollen unsere BrÜder aufsuchen, um ihr Elend kennen zu lern.en und zu lindern, wie jene es tun, die Arme besuchen, um ihnen beizustehen und sich mit SÜndern befassen, um sie nach und nach zu Gott zurÜckzuftihren, ohne sich durch anfänglichen Widerstand entmutigen zu lassen.

1248. b) Seine Liebe war mz'tfühlend. Beim Anblick der Menge, die ihm in die Wüste gefolgt war und vom Hunger bedroht wurde, vermehrte er die Brote und die Fische, um ihr Nahrung zu geben. Besonders jedoch erfasst ihn Mitleid beim Anblick von Seelen, die der geistlichen Nahrung entbehren und er will, dass man von Gott seeleneifrige Arbeiter erbitte, um die Ernte heimzubringen: " Rogate ergo dominum messz's ut mittat operarios in messem suam." 3 Er lässt für einen Augenblick die neunundneunzig treuen Schafe und eilt dem verirrten Schäflein nach, das er auf seinen Schultern in den Schafstall zurückträgt. Sobald ein Sünder Reue bekundet, beeilt er sich, ihm zu verzeihen. Voller Mitleid für Kranke und Bresthafte, heilt er viele aus ihnen und

'Röm. V, 8. - 2 Mallh. XI, 28. --;- 3 Mallh. IX, 38.

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DRITTES KAPITEL.

oft gewährt er ihnen zugleich Heilung der Seele durch Nachlassung ihrer Sünden.

Nach dem Beispiele Jesu sollen wir allen UnglÜcklichen inniges MitgefÜhl entgegenbringen und ihnen, soweit es in unseren Kräften steht, Hilfe bringen. Sind unsere M itrel erschöpft, so schenken wir ihnen wenigstens das Almosen unserer Zeit oder eines guten Wortes oder freundlicher Behandlung. Lassen wir uns nicht durch die Fehler der Armen abschrecken, sondern fLigen wir zum leiblichen Almosen einige gute Ratschläge. Vielleicht werden sie eines Tages FrÜchte tragen.

1249. c) Seine Liebe war gross1lZütig. Aus Liebe zu uns war er bereit, sich abzumühen, zu leiden und zu sterben: " Dzlexit nos et tradidÜ se1lletz'psu11Z pro nobis. " I

\Vir sollen daher bereit sein, selbst um den Preis der peinlichsten Opfer, unseren BrÜdern Dienste zu leisten, sie in ihren Krankheiten, auch abstossenden, zu pflegen und fÜr sie Geldopfer zu bringen. Diese Liebe muss jedoch von Herzen kommen und auf wirklicJu771 Mitleid beruhen, denn die Art des Gebens ist noch wertvoller als die Gabe selbst. Diese Liebe sei verständig d. h. man reiche den Armen nicht nur ein StÜck Brot, sondern verschaffe ihnen womöglich Gelegenheit, auf ehrliche V/eise ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie sei ferner apostolisch, d. h. den Seelen durch Gebet und Beispiel Nutzen· bringend, zuweilen in taktvoller Weise durch kluge Ratschläge. - Diese Pflicht apostolischen Eifers obliegt besonders den Priestern, Ordensleuten und allen auserwählten Seelen. Mögen sie nie vergessen, dass " der einen SÜnder von seinem Irrwege zurÜckfÜhrt, wird dessen Seele vom Tode retten und eine Menge \'on SÜnden zudecken. " 2

1250. Die Vollkommenen lieben den Nächsten bis zur vollständz'g-en Aufopferung' ihre?' selbst." J esus hat sein Leben für uns dahingegeben, so müssen auch wir für die Brüder das Leben dahingeben." 3

a) Das tun die apostolischen Arbeiter: Vergiessen sie auch nicht ihr Blut für ihre Brüder, so geben sie doch ihr Leben tropfenweise hin, arbeiten für die Seelen rastlos, opfern sich hin in ihren Gebeten,

, Epkes. V, 2. - - 2 Jak. V, 20. - 3 Jak. III, 16.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 863

ihren Studien, ja selbst in ihrer Erholungszeit, lassen sich verzehren, wie P. Chevrier sich ausdrückt, was eigentlich nur ein.~ Übertragung des VI ortes des hl. Paulus ist : "Uberaus gern will ich alles aufopfern, ja mich selbst will ich für eure Seelen opfern, obgleich ich, je mehr ich euch liebe, um so weniger geliebt werde. " 1

1251. b) Das hat heilige Priester dazu gedrängt, das GelÜbde der Dienstbarkeit den Seelen gegenÜber zu machen. Sie verpflichteten sich dadurch, im Nächsten den Oberen zu sehen, der als solcher rechtlich Dienste verlangen kann und dessen berechtigten WÜnschen sie in allem nachkommen.

c) Solche Liebe bekundet sich auch durch heilige Bereitwilligkeit, den leisesten WÜnschen des Nächsten zuvorzukommen und ihm alle möglichen Dienste zu leisten. Manchmal auch durch freundliches Annehmen eines angebotenen Dienstes. Das nämlich kann oft den beglÜcken, der ihn anbietet.

d) Schliesslich offenbart sich die christliche Nächstenliebe durch ganz besondere Liebe zu den Feinden, die man als Vollstrecker der göttlichen Strafgerichte ansieht. Als solche verehrt man sie, betet ftir sie und sucht ihnen bei jeder Gelegenheit Gutes zu erweisen. So folgt man dem Rate des göttlichen Meisters: " Liebet eure Feinde, tuet Gutes denen, die euch hassen und betet fÜr die, welche euch verfolgen und verleumden." 2 Auf diese Weise gleicht man sich jenem an, der seine Sonne den Bösen, ebenso wie den Guten, leuchten lässt.

§ III. Das heiligste Herz Jesu, Vorbild und Quelle der Liebe. 3

1252. 1. Vorbemerkungen. Das über die christliche Liebe Gesagte kann nicht besser abgeschlossen

'II. Kor. XII, 15. - 2 Matth. V, 44-

3 S. J. EUDES, Le CfEur admirable de la T. S. jlnre de Dielt, 4. u. 12 B. - J. CROISET, La devotion au S. CfEur. - STE MARGUERITEMARIE, CEuvres. Ausg. Cautltey. - P. DE GALLIFET, Excellence de la devotion au S. CfEur. - DALGAIRNs. Devotion to the Sacred Heart. MANNING, Tlie Glories oftlze Sacred Heart. - J. B. TERRIEN, La devotion alt Saae CfEur. - P. LE DORE Les Saals CfEurs et S. Jean Eudes. - Le Sacri Cantr. - J. BAINVEL, La devotIOn alt Sacrt! Cogur, doctrine, histoire. - L. GARRIGUET, Le Sacre Cogur, ex pose historique et dvglllatique.

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DRITTES KAPITEL.

werden als durch eine Aufforderung an unsere Leser, im heiligsten Herzen J esu die Quelle und das Vorbz'ld der vollkoJlZmenen, christlz'clten Lz'ebe zu suchen. In der von der Kirche amtlich genehmigten Litanei rufen wir das heiligste Herz J esu als brennenden Glutofen der Liebe, als voll von Güte und Liebe an : "Fo7'nax ardens carz'tatis... bonz'tate et amore plenum. "

In der Andacht zum heiligsten Herzen J esu sind nämlich zwei wesentliche Bestandtez'le zu unterscheiden. Etwas Sz'nnfälliges, d. i. das der Person des Logos hypostatisch vereinigte, fleischliche Herz. Etwas Gez'stiges, d. i. die durch das Herz symbolisierte Liebe des menschgewordenen Logos zu Gott und den Menschen. Diese zwei Elemente vereinigen sich zu einem, wie auch das Zeichen und das Bezeichnete ein und dasselbe sind. Nun ist zwar die durch das Herz J esu bezeichnete Liebe zweifellos menschlz'che Liebe, aber auch wirklich göttlz'c1ze Liebe, denn in J esu sind die göttlichen und menschlichen Tätigkeiten untrennbar vereinigt. Seine Liebe zu den Mensclzen : " Siehe das Herz, das die Menschen so sehr geliebt. " Zugleich aber auch seine Liebe zu Gott, denn, wie wir bereits zeigten, entspringt die Liebe zu den Menschen der Liebe zu Gott und entnimmt dieser ihren wahren Beweggrund.

Wir dürfen daher das Herz J esu als das vollkommenste Vorbild der Gottes/iebe und der N äcltstenliebe ansehen, ja, als das Vorbz'ld aller Tugenden, da die Liebe sie alle begreift und vervollkommnet. Da er uns während seines sterblichen Lebens die Gnade erwarb, seine Tugenden nachzuahmen, ist er auch die Verdz'enstursache, die Quelle der Gnaden, vermöge derer wir Gott und unsere Brüder lieben und alle anderen Tugenden üben. 1

, Ohne in dieser kurzgefassteIl Darlegung auf die unwesentlichen Unterschiede zwischen der vom hl. Eudes und der von Paray-le-Monial angegebenen Andacht näher einzugehen, versuchen wir hier, das den beiden Formen derselben Andacht Gemeinsame zu verbinden.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 865

1253. 2. Das Herz Jesu ist Quelle und Vorbild der Liebe zu Gott. Liebe besteht in der gänzlichen Hingabe seiner selbst. Ist dem so, wie vollkommen ist dann die Liebe Jesu zu seinem Vater! Vom ersten Augenblick der Menschwerdung an bietet er sich dar und gibt sich als Schlachtopfer hin, um die durch unsere Sünden verletzte Ehre Gottes wiederherzustellen.

Bei seiner Geburt, wie auch am Tage seiner Darstellung im Tempel, erneuert er diese Opfergabe. Während seines verborgenen Lebens beweist er seine Liebe zu Gott durch Gehorsam gegen Maria und J oseph, die er als Stellvertreter der göttlichen Autorität ansieht. Wer vermöchte die Akte der lautersten Liebe zu zählen, die aus dem kleinen Hause zu Nazareth ununterbrochen zur anbetungswürdigsten Dreifaltigkeit emporstiegen? In seinem ijfintlichen Leben sucht er nur das Wohlgefallen und die Ehre seines Vaters: " QUa! placita sunt ei jacio sem per " , " Ego h071orijico Patre11l_" 2 Beim letzten Abendmahle kann er sich das Zeugnis ausstellen, seinen Vater während seines ganzen Lebens verherrlicht zu haben. " Ego te clarzjicavi sujJer terram " und am folgenden Tage trieb ihn die Hingabe seiner selbst zur Hinopferung auf Kalvaria : " Factus obediens usque ad mortem, ntortem autem crucis." Wer vermöchte je die inneren Liebesakte mit Zahl anzugeben, die unaufhörlich seinem Herzen entquollen und sein Leben zu einem einzigen Akte vollkommener Liebe gestalteten?

1254. Wer aber vermöchte auch die Vollkoml1zenheit dieser Liebe zu schildern?

" Es ist", sagt der hl. J. Eudes 3, "eine eines solchen Vaters und eines solchen Sohnes wÜrdige Liebe. Eine Liebe, die voll und ganz den unaussprechlichen Vollkommenbeiten des geliebten Wesens entspricht. Es ist die Liebe eines unendlich liebenden Sohnes zu einem unendlich liebenswerten Vater. Die Liebe eines Gottes zu einem Gott ... Kurz, man betrachte das göttliche Herz Jesu seiner Gottheit oder seiner Menschheit nach, es ist unendlich mal mehr von Liebe zu seinem Vater entflammt und liebt ihn in jedem Augenblick unendlich mal mehr, als alle Chöre der Engel und Heiligen zusammen ihn während der ganzen Ewigkeit lieben könnten. "

'Joh. VIII, 29. - 2 Joh.VIII, 49.

3 Le Cteur admirable, 12. B., 2. Kap.

N° 683. - 28

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DRITTES KAPITEL.

Diese Liebe nun kann unsere werden, sobald wir uns mit dem heiligsten Herzen J esu vereinigen und es dem himmlischen Vater darbieten, etwa mit den \Vorten des hl. J. Eudes : ,,0 mein Erlöser, ich schenke mich dir, um mich mit der ewigen, unermesslichen und unendlichen Liebe zu vereinigen, die du zu deinem Vater trägst. 0 anbetungswürdiger Vater, ich opfere dir diese ewige, unermessliche, unendliche Liebe deines Sohnes J esus auf als die meinige ... Ich liebe dich wie dein Sohn dich liebt. "

1255.3. Das Herz Jesu ist die Quelle der Liebe zu den Menschen. Wir sagten (N. 1247), wie sehr J eSllS die Menschen hienieden liebte. Es bleibt uns noch übrig zu erklären, wie er sie jetzt im Himmel weiter liebt.

a) Weil er uns liebt, bewirkt er durch die heiligen Sakramente unsere Heiligung. "Das sind, in der Tat", sagt dt;:r hl. J. Eudes 1, "ebensoviele unerschöpfliche Brunnen der Gnade und Heiligkeit, die dem unermesslichen Ozean des heiligsten Erlöserherzens entquellen. Alle daraus hervorgehenden Gnaden sind ebensoviele Flammen des göttlichen Glutofens. "

1256. b) Besonders aber in der hl. Eucharistie gibt er uns den grössten Beweis seiner Liebe.

I) Seit neunzehn Jahrhunderten ist er Tag und Nacht bei uns wie ein Vater, der seine Kinder nicht verlassen will, wie ein Freund, dessen Wonne es ist, mit den Freunden zu sein, wie ein Arzt, der die Stätte des Kranken nicht verlässt. 2) Er ist da in immerwährender Tätigkeit, seinen Vater fÜr uns anbetend, lobend und verherrlichend. Unaufhörlich dankt er ihm fÜr die GÜter, die seine Freigebigkeit fortgesetzt spendet, Er liebt ihn fÜr uns, bietet seine Verdienste und seine GenugtUl1ngen zur SÜhne unserer SÜnden dar und erfleht immerwährend neue Gnaden fÜr uns : " selllper VI1/ellS ad iJ/terpellandulI1 pro 7lobis. "23) Immer wieder erneuert er auf dem Altar das Opfer von Kalvaria, millionenmal am Tage, Überali, wo ein Priester die Kon~ekrationsworte spricht. Uncl

, Ebendaselbst, 7. Kap. - 2 Hebr. VII, 25.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 867

das aus Liebe zu uns, um jedem von uns die Früchte seines Opfers zuzU\venden (N. 271-273.) Nicht genug damit, dass er sich hinopfert, schenkt er sich ganz jedem, der die hl. Kommunion empfängt, um jedem seine Gnaden, seine Gesinnungen und seine Tugenden mitzuteilen (N. 277-281).

Nun wünscht dieses göttliche Herz lebhaft, uns seine Gesinnungen der Liebe mitzuteilen: " Mein göttliches Herz ", sagte er zur hl. Margareta-Maria, ist von solch inniger Liebe zu den Menschen und besonders zu dir erfüllt, dass es die Glut seiner brennenden Liebe nicht mehr in sich verschliessen kann, sondern sie durch dich verbreiten und ihnen kundgeben muss, um sie mit deren Schätzen zu bereichern. " I Dann verlangte J esus ihr Herz, um es mit dem seinen zu vereinigen und einen Funken seiner Liebe darin zu versenken. Was er für die Heilige auf wunderbare Weise tat, das tut er für uns auf gewöhnliche vVeise in der h1. Kommunion, jedesmal auch, so oft wir unser Herz mit dem seinen vereinen. Denn er kam in diese vVelt, um das hl. Feuer der Liebe zu bringen und wünscht nichts so sehr, als es in unseren Herzen zu entzünden. "lgnem veni mittere in terram et quz'd volo nisz' ut accendatur? " 2

1257.4. Das Herz Jesu ist die Quelle und das Vorbild aller Tugenden. In der Hl. Schrift bezeichnet das Herz oft die inneren Gesinnungen des Menschen im Gegensatz zu den äusseren Handlungen: " Der Mensch sieht nur, was sich nach aussen bekundet, Gott aber sieht das Herz. " Homo vz'det ea qua: parent, Deus auton z'ntuetur cor. "3 Folgerichtig ist das Herz J esu nicht nur ein Symbol der Liebe, sondern auch aller inneren Regungen der Seele. In diesem Sinne haben denn auch die grossen Mystiker des Mittelalters und, nach ihnen, der h1. J. Eudes die Andacht zum Herzen J esu aufge-

, Erste der grosse1l Offenbarungen, 1673.

2 Luk. XII, 49. - 3 I. B. d. Könige, XVI, 7.

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DRITTES KAPITEL.

fasst. Ebenso die hl. Margareta-Maria : Wohl legt sie, und zwar mit Recht, besonderen Nachdruck auf die Liebe, die das göttliche Herz erfüllt. In ihren verschiedenen Schriften jedoch veranschaulicht sie uns dieses Herz als das Vorbild aller Tugenden. Ihr Beichtvater, P. de la Colombiere, der ihre Schriften näher erklärte, fasst ihre Gedanken in einem Weiheakt zusammen, der sich am Ende der "Retraites spirituelles" befindet. I

" Diese Aufopferung vollzieht sich zur Ehre des göttlichen Herzens, des Thrones aller Tugenden, der Quelle aller Segnungen und der Zuflucht aller heiligen Seelen. Die hauptsächlich in ihm zu verehrenden Tugenden sind : erstens, innigste Liebe zu Gott, seinem Vater. Sie ist mit tiefster Ehrfurcht verbunden und mit der grössten Demut, die sich je auf Erden fand. Zweitens, unendliche Geduld in den Leiden, äussersten Schmerz wegen der SÜnden, mit denen er sich beladen hatte, ferner Vertrauen des zärtlichsten Sohnes, verbunden mit der Beschämung des grössten SÜnders. Drittens, tiefstes Mitleid mit unserem Elend und, trotz dieser Regung-en, unerschÜtterlicher Gleichmut, der, auf vollkommene übereinstimmung mit dem göttlichen Willen begrÜndet, durch kein Ereignis verloren gehen kann. "

Da im übrigen alle Tugenden der Liebe entfliessen und dort ihre letzte Vollendung erreichen (N. 318-319), so ist das Herz Jesu als Vorbild der göttlichen Liebe auch das aller Tugenden.

1258. Somit ist die Andacht zum Herzen Jesu mit der von Olier gelehrten und in St.-Sulpice geübten Andacht zum Inneren Leben Jesu vereinigt. " Dieses innere Leben", sagt Olier, " besteht in den Gesinnungen und Verfassungen allen Dingen gegenüber, z. B. in seiner Gottesverehrung, seiner Nächstenliebe, seiner Selbstvernzdttung, seinem Abscheu vor der Sünde, seiner Verurteilung der Welt und ihrer Grundsätze. " 2

Diese Gesinnungen finden sich also im heiligsten Herzen J esu, und dort muss man sie schöpfen. Daher schreibt Olier

, CEuvres compteIes, Grenoble, 1901, VI, S. 24· 2 Caft!ch. chrttien, I Teil. 1 Lektion.

DIE GÖTTLICHEN TUGENDEN. 869

an eine innere Seele, die gern zum Herzen Jesu ihre Zuflucht nahm: " Versenken Sie sich tausendmal am Tage in dieses liebenswÜrdige Herz, zu dem Sie sich so mächtig hingezogen fÜhlen ... Das Herz des Sohnes Gottes ist in Wahrheit ein auserwählter Wohnraum ... die Schatzkammer Gottes selbst, in die er alle seine Gaben schÜttet und von der aus er alle seine Gnaden mitteilt. In diesem heiligsten Herzen und in diesem anbetungswÜrdigen Inneren war es, wo zuerst alle Geheimnisse vor sich gingen ... Erkennen Sie daran, wozu der göttliche Heiland Sie beruft, da er Ihnen sein Herz öffnet, und wie sehr Sie diese Gnade, die eine der grössten Ihres Lebens ist, ausnÜtzen sollen. Möge das Geschöpfliche Sie niemals diesem Orte der Wonne entreissen, und mögen Sie fÜr Zeit und Ewigkeit darin versenkt bleiben, samt allen heiligen Bräuten Jesu."'" Welch' ein Herz ist doch das Herz Jesu! Welch' ein Meer von Liebe ist darin, das sich über die ganze Erde ergiesst! 0 Überfliessende und unversiegbare Quelle aller Liebe! 0 tiefer und. unergrÜndlicher Abgrund aller Gottesverehrung! 0 göttlicher Mittelpunkt aller Herzen! ... o J esus, gestatte, dass ich dich in deinem Innern anbete, dass ich deine gebenedeite Seele anbete, dein Herz anbete, das ich heute morgen noch gesehen. Ich möchte es beschreiben, aber ich kann es nicht, so entzÜckend ist es. Ich sah es gleich einem Himmel voll Licht und Liebe, voll Dank und Lobpreis. Es pries Gott, es rÜhmte dessen Grösse und Herrlichkeit. " FÜr Olier ist das Innere J esu und sein heiligstes Herz ein und dasselbe: fÜr ihn ist das Herz der Mittelpunkt aller Gesinnungen und Tugenden J esu, das Heiligtum der Liebe und Gottesverehrung, wo Gott verherrlicht wird und wohin eifrige Seelen gern ihre Zuflucht nehmen.

1259. Schlussfolgerung. Soll die Andacht zum Herzen J esu diese glücklichen Wirkungen aufweisen, müssen zwei wesentliche Akte in ihr vorhanden sein: Liebe und Sühne.

1. Die Liebe ist bei dieser Andacht die erste und hauptsächlz'chste Pflicht, sowohl nach der Meinung der hl. Margareta-Maria als auch nach der des hl. J. Eudes.

Im Berichte, den sie von der zweiten grossen Erscheinung an P. Croiset richtet, schreibt sie 2 : " Er liess mich erkennen, dass sein sehnlicher Wunsch, von den Menschen geliebt zu

, Lettres, t. II, 426. Brief.

2 Esprit de M. Olier, t. I, S. 189-187, 193.

870

DRITTES KAPITEL.

werden und sie dem Pfade des Verderbens zu entreissen, ihn bewogen hatte, den Menschen sein Herz zu offenbaren, samt allen darin verborgenen Schätzen der Liebe, des Erbarmens, der Gnade, der Beseligung und des Heiles. Es sollten dann jene, die ihm nach allen ihren Kräften Ehre, Ruhm und Liebe darbrächten und verschafften, in FÜlle und Freigebigkeit aus den dem Gottesherzen entquellenden, göttlichen Schätzen bereichert werden." " Lieben wir daher diese einzige Liebe unserer Seelen", schreibt sie an die Sceur de la Barge, " denn er hat uns zuerst geliebt und liebt uns noch so innig, dass seine Liebe unausgesetzt im heiligsten Altarssakrament fortglÜht. Zum Heiligwerden bedarf es nur der Liebe zu diesem Allerheiligsten. Wer sollte uns also daran hindern, da wir ja doch Herzen zum Lieben und Leiber zum Leiden haben ... Seine reine Liebe allein kann uns veranlassen, alles ihm Wohlgefällige zu tun. Diese vollkommene Liebe allein bringt uns dazu, alles so zu vollbringen, wie es ihm gefällt. Nur diese vollkommene Liebe ist es, die uns alles tun lässt, wann es ihm gefällt. " ,

1260. 2. Der zweite Akt ist Sühne. Die Liebe Jesu wurde durch den Undank der Menschen gekränkt und verhöhnt, wie der göttliche Heiland es selbst bei der dritten grossen Erscheinung erklärt:

" Siehe dieses Herz, das die Menschen so sehr geliebt hat, das sich nichts erspart, ja sich erschöpft und verzehrt hat, um seine Liebe zu beweisen. Und als Gegengabe erllalte ich von den meisten mtr Undank, den sie in diesem Sakrament der Liebe durch Unehrerbietigkeit, Sakrilegien, Kälte und Verachtung gegen mich bekunden." Und dann "erlangt er von ihr, diesen Undank durch die Innigkeit ihrer Liebe zu sÜhnen: " Meine Tochter, ich gehe ein in das Herz, das ich dir gab, damit du durclt deinen Elfer die Beleid(fungen sÜhnest, die mir laue ul/d feige Herzen zufÜgten, als sie mir im heiligsten Sakrament die schuldige Ehre verweigerten. "

1261. Diese zwei Akte werden sehr zu unserer Heiligung beitragen : die Liebe wird uns durch innige Vereinigung mit dem heiligsten Herzen J esu an seinen Tugenden Anteil nehmen lassen und uns Mut verleihen, um sie, trotz aller Hindernisse zu üben. Die Sühne wird durch das Mitgefühl mit den

, Lettre CVIII, t. Il, S. 227.

VIERTES KAPITEL.

871

Leiden J esu unseren Eifer anspornen und uns ei'möglichen, aus Liebe mutig alle Prüfungen zu ertragen, durch die er uns in seiner Güte sich zuzugesellen geruhen wird.

Wird in diesem Sinne die Andacht zum heiligsten Herzen aufgefasst, so hat sie nichts Gesuchtes, nichts Süssliches an sich. Der wahre Geist des Christentums belebt sie, eine glückliche Mischung ,:?n Liebe und Opfer, geleitet von fortschreitender Ubung der sittlichen und göttlichen Tugenden. Sie

. wird gleichsam zur S);nthese oder ZusammenfÜgung des Erleuchtungsweges und eine günstige Einführung in den Einigungsweg.

VIERTES KAPITEL.

Erneute feindliche Angriffe.

1262. Während wir an der Erwerbung von Tugenden arbeiten, bleiben unsere geistlichen Feinde nicht untätig. Versteckterweise erneuern sie den Angriff. Sie bewirken, dass wieder die sieben Hauptsünden in uns erwachen, wenn auch in gemilderter Form und dass wir zur Lauheit versucht werden.

1. ABSCHN. WIEDERAUFLEBEN DER HAUPTSÜNDEN.

1263. Der hl. Johannes vom Kreuz schildert trefflich die Art und Weise, wie die Hauptsünden bei den von ihm" Anfänger" Genannten auftreten, d. h. bei jenen, die im Begriffe stehen, durch die Nacht der Sinne! zur Beschauung einzugehen. Wir wollen seine psychologische Analyse kurz zusammenfassen.

1 La nuit obscure, 1. B., 2,-7. Kap.

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VIERTES KAPITEL.

1. Die Neigung zu Hochmut.

1264. Diese Neigung bekundet sich hauptsächlich auf sechs fache Weise:

r) Im Hinblick auf den Eifer und die Gewissenhaftigkeit in ihren geistlichen Ubungen gefallen die Anfänger sich in ihren Werken und Überschätzen sich bedeutend. In ihrer Vermessenheit nehmen sie sich viel vor und fÜhren fast nichts aus.

2) Sprechen sie von geistlichen Dingen, so geschieht es mehr, um andere darin zu belehren, als das Gesagte selbst auszufÜhren. Scharf verurteilen sie jene, die ihre Aszese nicht billigen.

3) Einige können keine Rivalen neben sich ertragen. Begegnet ihnen ein solcher, so bekritteln sie ihn und machen ihn herunter.

4) Sie suchen sich bei ihrem SeelenfÜhrer beliebt zu machen und dessen Freundschaft zu gewinnen. Billigt der eine nicht ihre Geistesrichtung, so suchen sie sich einen andern, der ihnen gÜnstiger gesinnt ist. Zu diesem Zwecke stellen sie ihre Fehler als unbedeutend dar und fallen sie in eine grössere SÜnde, gehen sie bei einem anderen Priester, nicht aber bei ihrem gewöhnlichen Beichtvater, beichten.

5) Begehen sie eine TodsÜnde, so geraten sie in Zorn Über sich selbst und entmutigen sich, weil sie zn ihrem Erstaunen feststellen, dass sie noch keine Heiligen sind.

6) Sie treten gern durch äusserliche, besondere Frömmigkeit hervor und sprechen gern von ihren guten Werken und ihren Erfolgen.

Aus dem Hochmut entspringt der Neid. Dieser zeigt sich durch Regungen des Missfallens beim Anblick des von anderen bewirkten, übernatürlichen Guten : man leidet darunter, sie loben zu hören, man betrübt sich über ihre Tugend und gelegentlich versäumt man nicht, sie anzuschwärzen.

I I. Die 5 z·71nlz'chlcez'tssünden.

1265. A) Geistliche Naschhaftigkeit äussert sich auf zweifache Weise:

a) Durch übermässiges Haschen nach T1'ostgefühlen. Man sucht Tröstungen selbst in den körper-

ERNEUTE FEINDLICHE ANGRIFFE. 873

lichen Abtötungen, z. B. beim Gebrauch der Geissel, und belästigt den Seelen führer mit der fortwährenden Bitte um die Erlaubnis, sich noch mehr Abtötun gen aufzuerlegen, wobei man auf diese Weise sich neue Tröstungen verspricht.

b) Auf der gleichen Grundlage beruhen die Geistesanstrengungen beim inneren Gebet oder bei der hl. Kommunion, denen manche Menschen sich hingeben, um fühlbare Andacht zu erlangen. Auch der Wunsch, häufig zu beichten, ist zuweilen _ein Verlangen nach Tröstungen. Oft sind solche Anstrengungen und Wünsche umsonst. Dann befällt Mutlosigkeit diese Seelen, denen mehr an den Tröstungen als an Gott selbst lag.

1266. B) Geistliche Unzucht tritt in zwei Hauptformen auf: a) Unter dem Vorwand von Frömmigkeit findet sich das Streben nach fühlbaren oder sinnlichen Freundschaften, von denen man nicht lassen will, weil diese Beziehungen, wie man behauptet, die Frömmigkeit fördern. b) Bei zärtlich und liebebedürftig angelegten Menschen veranlasst der beim inneren Gebet oder bei der hl. Kommunion empfundene fühlbare Trost zuweilen Lusterregungen anderer Art, die eine Quelle von Versuchungen oder U muhen werden können. I

1267. C) Die Trägl,l;eit führt: a) zu Langweile bei den geistlichen Ubungen, wenn man nicht fühlbar Geschmack daran findet. Dann neigt man dazu, sie abzukürzen oder zu unterlassen; b) in eine

, Bei der hl. Theresia hatte sich ihr Bruder, Lorenzo de Cepeda, über derartige Belästigungen beklagt. Sie gab ihm folgenden, weisen Rat: " Die Armseligkeiten, über die du dich beklagst, verdienen keine Beachtung. Zwar kann ich hierüber nicht aus:persönlicher ErfahIUng sprechen, da Gott mich stets vor diesen Leidenschaften bewahrte, doch kann ich mir den Vorgang sehr gur erklären. Es ist der Wonnenrausch der Seele, der solche Regungen der Natur bewirkt. Mit Gottes Gnade wird das vorübergehen, beunruhige dich also nicht mehr deshalb." (Lettre 138, ed. Vice"le de la Fuente).

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VIERTES KAPITEL.

gedrückte Stimmung, sobald man, sei es vom Oberen, sei es vom Beichtvater, Befehle oder Ratschläge erhält, deren Befolgung mit Unbequemlichkeiten verbunden ist. Am liebsten wäre uns eine geistliche Leitung, die sich uns mehr anpasst, unser kleines, bequemes Leben mit seinen egoistischen Berechnungen nicht stört.

III. Geistliclte Habsucltt.

1268. Diese Habsucht beschreibt der hl. Joh.

v. Kreuz auf folgende \i'leise :

a) Es gibt Anfänger, die nicht mÜde werden, sich mit Ratschlägen und Vorschriften fÜr das geistliche Leben gleichsam anzufÜllen. Zahllose besondere Abhandlungen mÜssen sie besitzen und lesen. Damit verbringen sie ihre ganze Zeit und sie erÜbrigen keinen Augenblick. fÜr das Werk, das ihre erste Pflicht ist: für Abtötung und Ubung in der vollständigen inneren Losschälung des Geistes. b) Ausserdem beladen sie sich mit Heiligenbildern, Rosenkränzen, Kreuzen und allerhand teuer bezahlten Gegenständen. Dann lässt man dieses, weil man jenes vorzieht, bald wechselt man wieder. Diese Zusammenstellung hier ist besser als jene,' sagt man sich, und schliesslich richtet sich die Wahl besonders auf das, was wertvoll und selten ist. Das alles widerspricht dem Geiste der Armut und beweist gleichzeitig, welch' Übermässige Bedeutung man dem Nebensächlichen beilegt, während man die Hauptsache in der Frömmigkeit vernachlässigt.

1269. Schluss. Dass solche Unvollkommenheiten dem inneren Fortschritt sehr schaden, ist einleuchtend. Aus diesem Grunde, sagt der hl. Joh. v. Kreuz, führt Gott sie, um sie zu bessern, in die dunkle Nacltt, von der wir bald sprechen werden. Die Seelen, die nicht in dieselbe treten, sollen sich bemÜhen, ihre Fesseln abzuschÜtteln und das in N. 921-933 über die Verwertung von Trost und DÜrre Gesagte beachten und durchführen. Ebenso bezüglich des Gehorsams, des Starkmutes, der Mässigung, der Demut und Sanftmut, N. 1057, 1076, 1127, I 154.

ERNEUTE FEINDLICHE ANGRIFFE. 873

2. ABSCHN. DIE LAUHEIT. 1

Kämpft man nicht gegen die eben bezeichneten Fehler an, so verfällt man bald der Lauheit, einer sehr gefährlichen Krankheit des geistlichen Lebens. Wir legen dar: 1. ihr Wesen, 2. ihre Gefahren, 3· die Heilmz'ttel.

1. Wesen der Lauheit.

1270. 1. Begriff. Lauheit ist eine Krankheit des geistlichen Lebens, die Anfänger oder vollkomme:1e Seelen befallen kann, am meisten jedoch im Laufe des Erleuchtu1ZgsU'eges auftritt. Sie setzt nämlich voraus, dass man bereits einen gewissen Grad des Strebens erreicht hatte und sich dann allmählich in Erschlaftung gehen lässt.

Lauheit besteht in einer Art geistiger Erschlaffung, wodurch die Willenskräfte ihre Energie einbüssen. Sie bewirkt ferner Scheu vor Anstrengung und führt so zur Schwächung des christlichen Lebens. Man kann sie mit einer Erstarrung vergleichen, die zwar. noch nicht den Tod bedeutet, aber unmerklich zu ihm führt, da sie allmählich unsere sittlichen Kräfte vermindert. Sie ähnelt einem Siechtum, das ganz wie bei Schwindsucht, nach und nach die Lebensorgane aufzehrt.

1271. 2. Ihre Ursachen. Zwei Hauptursachen tragen zu ihrer Entwicklung bei : Gez'stige Unterernährung und das Eindringen von Kra1Zkheitskez·men.

A) Zum Leben und Gedeihen bedarf die Seele guter geistiger Ernährung. Ihre N ahn~!1g aber bilden die verschiedenen geistlichen Ubungen, inneres Gebet,Lesung,mündliche Gebete, Gew!~senserforschung, Erfüllung der Standespflichten, Ubung der Tugenden, die sie mit Gott, der Quelle des

, ßELLECIUS, Solid<E virtz.!is impedimenta. P. 1., cap. n. - BOURDALOUE, Retra~(e, 3e jour, Ire medit. und im aJlgemeinen aJle Verfasser von geistlichen Ubungen. - W. FABER, Le progres, 25. Kap.

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VIERTES KAPITEL.

übernatürlichen Lebens vereinigen. Entledigt man sich also dieser Übungen auf nachlässige Weise, überlässt man sich freiwillig den Zerstreuungen, wehrt man sich nicht gegen die Routine oder die Erstarrung, so beraubt man sich schon dadurch allein vieler Gnaden, man ernährt sich schlecht, schwächt sich und wird unfähig, die einigermassen schwierigeren christlichen Tugenden zu üben.

Nebenbei bemerkt, dieser Zustand ist etwas ganz anderes als DÜrre oder PrÜfung Gottes: bei diesen werden die Zerstreuungen nicht angenommen, sie verursachen vielmehr Qual und innere VerdemÜtigung, und man strebt ernstlich danach, deren Zahl zu vermindern. Bei der Lauheit hingegen findet man Freude daran, bemÜht sich wenig, sie zu vertreiben und bald geht das Gebet fast ganz in Zerstreuungen

unter.

.. Da man dann merkt, wie wenig Nutzen man aus diesen

Ubungen zieht, fängt man an, sie abzukÜrzen, und bald unterlässt man sie ganz. Ist z. B. die Gewissenserforschung langweilig, lästig geworden, so macht man sie zwar noch eine Zeitlang aus Gewohnheit, schliesslich aber unterlässt man sie. Man gibt sich nun nicht mehr Rechenschaft von Vergehen und Fehlern, und bald gewinnen diese die Oberhand. Man strengt sich nicht mehr an, um Tugenden zu erwerben, und bald werden die schlechten Triebe, die bösen Neigungen

neu aufleben und erstarken.

1272. B) Das Ergebnis dieser geistigen Empfindungslosigkeit ist zunehmende Schwächung der Seele, eine Art geistige Bluta1'11tut. So ist der Boden bereit zur Aufnahme eines Krankheitsbazillus d. h. einer der drei Begierlichkeiten oder zuweilen aller

drei zusammen.

a) Da die Zugänge zur Seele schlecht bewacht sind, erschliessen sich die äusseren und inneren Sinne leicht den ungesunden Regungen der Neugier und Sinnlichkeit, und es entstehen häufige Versuchungen, die oft nur mit halber Energie abgewiesen werden. Bisweilen lässt sich das Herz von diesen störenden Neigungen gefangen nehmen: man begeht Unvorsichtigkeiten, spielt mit der Gefahr. Die sich häufenden lässlichen SÜnden werden kaum mehr bereut, man gleitet den gefährlichen Abhang hinab, kommt am den H.and des Abgrundes, und man kann von GlÜck reden, wenn man nicht

unversehens hinabstÜrzt.

ERNEUTE FEINDLICHE ANGRIFFE. 877

b) Andererseits erneuert der nie recht ertötete Stolz seine Angriffe immer wieder: immer noch gefällt man sich selbst in seinen guten Eigenschaften, in seinen äusseren Erfolgen. Auf die eigene Erhöhung bedacht, vergleicht man sich mit anderen, die noch weniger eifrig sind, und verachtet die Pflichttreuen als enge und kleinliche Geister. Solcher Stolz fÜhrt zu Neid, Eifersucht, Regungen der Ungeduld und des Zornes, zu Härte im Verkehr mit dem Nächsten.

c) Jede Gier wird aufs neue entfacht: man braucht Geld, um sich mehr Vergnügen zu verschaffen, mit mehr Glanz aufzutreten. Daher geht man in wenig zarter, auch wenig ehrlicher Weise vor, die wohl auch die Ungerechtigkeit streift.

1.273. Es folgen zahlreiche, lässliche,j'rei gewollte Sünden, die man sich kaum vGrwirft, weil das Licht zur Beurteilung und das Zartgefühl des Gewissens nach und nach schwächer werden. So lebt man tatsächlich in gewohnheitsmässiger Zerstreutheit hin. Die schlecht gemachten Gewissenserforschungen nützen zu nichts. Au.f solche Weise wird der Abscheu vor der Todsünde geringer, Gottes Gnade seltener, und man benützt sie weniger. Kurz, der ganze innere Organismus erschlafft, und diese geistige Blutarmut ist die Einleitung zu schmachvollen Kapitulationen.

1274. 3. Ihre Grade. Aus dem Gesagten erhellt, dass es in der Lauheit sehr viele Abstufungen gibt. Praktisch genommen, genügt es jedoch, die begonnene Lauheit von der vollendeten zu unterscheiden.

a) Im ersten Falle hegt man noch Abscheu vor der TodsÜnde, trotzdem man Unvorsichtigkeiten begeht, die dazu fÜhren können. Leicht aber werden freiwillige liissliche SÜnden begangen, besonders solche, die mit dem Hauptfehler zµsammenhangen. Im Übrigen lässt man es bei den geistlichen Ubungen an Eifer fehlen und entledigt sich ihrer oft nur aus Gewohnheit. b) Auf die Dauer fLihren diese strafbaren Vernachlässigungen dazu, dass man aufhört, eine instinktive Scheu vor der TodsÜnde zu haben. Andererseits nimmt die VergnÜgungssucht so zu, dass man schliesslich bedauert, sich dieser oder jener Lust nur unter Belastung mit schwerer SÜnde hingeben zu können. Die Versuchungen werden daher nur schwach bekämpft, und es kommt der Augenblick, wo

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VIERTES KAPITEL.

man mit Recht zweifeln kann, ob man noch im Stande der Gnade sei. Das ist vollendete Lauheit.

I I. Die Gefahren der Lauheit.

1275. Was die besondere Gefahr dieses Z ustandes ausmacht, ist die zunehmende Schwächung der Seelenkräfte. Sie ist gefährlicher als eine vereinzelte Todsünde. In diesem Sinne sagt J esus zum Lauen: " Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm' bist. 0 dass du kalt oder warm wärest! So aber, weil du lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Denn du hast gesagt: " Ich bin reich und habe Reichtum erworben und bedarf nichts. Und du weisst nicht, dass du elend und erbärmlich und arm und blind und bloss bist." I Ähnlich ist ja auch der U nterschied zwischen chronischen und akuten Krankheiten. Diese lassen nach der Genesung kaum irgend welche Spuren zurück. Jene aber, die den Körper allmählich geschwächt hatten, lassen ihn noch lange im Zustande der Ermattung. Wir wollen versuchen, das im einzelnen nachzuweisen.

1276. 1. Die erste Wirkung der Lauheit ist eine Art Blindheit des Gewissens: da man immer seine Fehler entschuldigen und beschönigen will, wird schliesslich das Urteilsvermögen gefälscht, und Fehler, die an sich schwer sind, sieht man für leichte an. So bildet man sich ein laxes Gewissen, das die Schwere der U nvorsichtigkeiten oder der begangenen Fehler nicht mehr erkennt, das nicht mehr die Energie aufbringt, sie zu verabscheuen, und bald strafbaren Selbsttäuschungen verfällt: " Manch ein Weg erscheint dem Menschen gerade, aber sein Ausgang ist der Todespfad. " "Est via qua: videtul' hominijusta, novissima autem '(jus ducunt ad mortem. "2 Man glaubt, reich zu sein, weil man hoch-

" Apocal. III, 15-17. - 2 Prov., XIV, 12.

ERNEUTE FEINDLICHE ANGRIFFE. 879

mütig ist. In Wirklichkeit aber ist man in den Augen Gottes arm und elend.

1277. 2. Daraus folgt zunehmende Schwäcfte des Willens.

a) Da immer wieder in kleinen Dingen Zugeständnisse der Sinnlichkeit und dem Stolze gemacht werden, lässt man sich schliesslich auch in wichtigen Dingen von der Lust fortreissen. Denn im geistlichen Leben hängt eins von dem andern ab. Aus der HI. Schrift erfahren wir, dass, wer des Geringen nicht achtet, bald dem Verderben anheimfällt. ' Ferner, dass, wer in kleinen Dingen treu ist, sich auch in grossen bewährt, und wer in kleinen Dingen ungerecht handelt, auch in grossen Unrecht tut. 2 Je nachdem man also bei gewissen Handlungen sorgfältig oder nachlässig verfährt, wird man auch bei anderen, ähnlichen vorgehen.

b) Bald ist man jeder Anstrengung abhold: die Schwungkraft des Willens ist entspannt, man Überlässt sich den Trieben der Natur, der Fahrlässigkeit, der Liebe zur Lust. Das ist jedoch ein gefahrbergendes, abschÜssiges Gelände. Sucht man nicht wieder aufwärts zu steigen, so wird das Ende unfehlbar in schweren Vergehen bestehen.

c) Bei solcher Handlungsweise missbraucht man die Gnaden, widersteht den Einsprechungen des HI. Geistes, lässt sich daher von der verfÜhrerischen Lust betören, gibt den heftigen Versuchungen nach und begeht schliesslich TodsÜnden.

1278. Von solchem Falle erholt man sich um so schwerer, als er fast unwahrnehmbar geschieht. Man lässt sich, sozusagen, ohne heftige Erschütterung in die Tiefen des Abgrundes hz'nabgleiten. Dann versucht man, sich zu täuschen: man sucht sich die Überzeugung beizubringen, die Sünde sei nur lässlich gewesen, da man ja nicht völlig zustimmte, wenn auch die Sache, an l:l.nd für sich, wichtig war. Der Fehltritt sei durch Uberraschung geschehen, also unmöglich eine schwere Sünde.

So bildet man sich ein falsches Gewissen, legt eine gleichgiltige Beichte ab, ganz wie die frÜher abgelegten. Der Beichtvater wird getäuscht, und auf diese Weise kann eine

, Eccli. XIX, 1.

2 Luk. XVI, 10. - Im wörtlichen Sinne bezeichnen die kleinen Dinge die zeitlichen und die grossen die himmlischen GÜter.

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VIERTES KAPITEL.

ganze Reihe von Sakrilegien vor sich gehen. Fällt ein Ball aus der Höhe hinunter, so springt er wieder in die Höhe. Rollt er aber langsam einen Abgrund hinunter, so bleibt er in ihm liegen. So geht es zuweilen lauen Seelen. Es ist darum von Wichtigkeit, von den Heilmitteln zu sprechen.

III. Heilmittelfür die Lauheit.

1279. Jesus selbst weist sie uns an : "Ich rate dir, von mir Gold zu kaufen, das im Feuer geläutert ist (das Gold der Liebe und des Eifers), damit du reich und mit weissen Kleidern angetan werdest und die Schande der Blösse nicht offenbar werde (Gewissensreinheit). Und salbe deine Augen mit Augensalbe, damit du sehest (Aufrichtigkeit gegen sich selbst und den Beichtvater). Ich strafe und züchtige die, welche ich lieb habe. So werde nun eifrig und tue Busse! Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und mir die Tür öffnet, so werde ich zu ihm eingehen und mit ihm Mahl halten und er mit mir." I Man verzweifle also nie: J esus ist gern bereit, uns seine Freundschaft, ja sogar seine Vertrautheit wiederzuschenken, sobald wir uns bekehren. Zu diesem Zweck soll man:

1280. I. Sich rift an einen klugen Beichtvater wenden, ihm aufrichtig die Seele erschliessen und ihn mit aller Ehrlichkeit bitten, uns aus unserer Lauheit aufzurütteln. Seinen Rat entgegennehmen und energisch und standhaft befolgen.

2. Unter seiner Leitung neh.me man mit allem Eifer die früheren geistlichen Ubungen wieder auf, besonders jene, die zur Treue in den übrigen anregen, Betrachtung, Gewissenserforschung, öfters erneuerte Aufopferung aller Handlungen, N. 523- 528. Der Eifer, von dem hier die Rede ist, ist nicht iühlbarer Eifer, sondern Grossmut des Willens, der sich bemüht, Gott nichts zu verweigern.

, Offenbarung, III, 18-20.

ERNEUTE FEINDLICHE ANGRIFFE. 881

3. Auch die anhaltende Übung der Tugenden und Standespßicltten nehme man wieder auf, mache sie zum Gegenstande der besonderen Gewissenserforschung der Reihe nach, und zwar bezüglich der wichtigsten Punkte, und gebe in der Beichte darÜber Rechenschaft N. 265,468-476.

So wird man wieder eifrig werden. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Sünden der Vergangenheit durch Bussgeist und Busswerke gesühnt werden müssen.

ANHANG: REGELN ÜBER DIE UNTERSCHEIDUNG DER GEISTER. FÜR DEN ERLEUCHTUNGSWEG.

1281. Dem hl. Ignatius folgend, gaben wir bereits (N. 953-957) die Regeln für die Unterscheidung der Geister für Anfänger. Es wird von Nutzen sein, auch die fÜr den Erleuchtungsweg oder die zweite 'Woche der Exerzitien angegebenen Regeln kurz zusammenzufassen. Sie beziehen sich auf zwei Hauptpunkte: I. auf die geistlichen Tröstungen und

2. auf die vVÜnsche oder Absichten.

1282. I. Regeln betreffs der Tröstungen. a) Es ist dem guten Geiste eigen, in einer Seele, die guten Willens ist, bei seinem Kommen wahre geistliche Freude zu verbreiten, sowie gleichzeitig Fn'eden. Der böse Geist hingegen bekämpft diese Freude mit Scheingründen, Spitzfindigkeiten und Vorspiegelungen. Man könnte ihn mit einem listigen Advokaten vergleichen, der eine faule Sache verteidigt. - Die Begründung dieser verschiedenen Weisen des Verfahrens liegt in der Tatsache, dass Gott der Urheber des Friedens, der Teufel aber der Unruhestifter in der Seele ist, um diese zu entmutigen.

b) Gott allein kann wahren Trost schenken, ohne dass irgend eine vorherg-ehende Ursache ihn bewirkt hätte. Er allein kann nämlich in das Innerste der Seele eindringen, um sie an sich zu ziehen und sich zuzuwenden. - Wir sagen Trost ohne vorausgehende Ursache, d. h. wenn nichts da war, woraus er entstehen konnte. - Die Seele war z. B. in Trostlosigkeit ganz versunken, da plötzlich fühlt sie sich beruhigt, ja, voller Freude und Kraft und voll guten Willens. So geschah es dem hl. Franz v. Sales, nachdem heftige Skrupel ihn gequält hatten.

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VIERTES KAPITEL.

c) Ist eine Ursache vorausgegangen, so kann sowohl der gute als der böse Engel geistlichen Trost erzeugen: er kommt vom guten Engel, erhält die Seele dadurch mehr Licht und Kraft zum Guten. Vom bösen aber, wenn er zu Erschlaffung, 'Veichlichkeit, Vergnügungs- oder Ehrsucht und Vermessenheit führt. Mit anderen Worten, der Baum ist nach seinen Früchten zu beurteilen.

d) Dem bösen Engel ist es eigen, sich in einen Engel des Lichtes zu verwandeln, anfänglich mit den Gesinnungen der andächtigen Seele übereinzustimmen, schliesslich aber seine eigenen Gedanken ihr einzuflüstern. Sieht er z. B. eine der Tugend sich befleissigende Seele, so fllösst er ihr zunächst Gesinnungen ein, die mit ihren tug'endhaften Bestrebungen Übereinstimmen. Dann, auf ihre Eigenliebe sich stützend, flüstert er ihr Gedanken eitlen Selbstgefallens oder der Vermessenheit ein, treibt sie zu Exzessen in den Bussübungen, um sie in Entmutigung zu stürzen. Oder aber auch im Gegenteil, er überredet sie zu Milderung ihrer Lebensweise, und zwar unter dem Vorwande, die Gesundheit oder die Studien erfordern es. So bringt er sie allmählich zu Falle.

1283. 2. Regeln betreffs der Wünsche oder Zukunftspläne. a) Bei Wünschen und Absichten müssen wir sorgfältig untersuchen, ob Anfang, Mitte und Ende auf Gutes gerichtet sind. Denn findet sich in der Reihenfolge der Gedanken etwas Böses, Zerstreuendes oder minder Gutes als das früher Vorgenommene, oder beunruhigen, verwirren und ermatten diese Wünsche die Seele, so ist das ein Beweis, dass jene Gedanken vom bösen Geiste, dem Feinde unseres geistlichen Fortschritts und unseres ewigen Heils, herrühren. _ Die Begründung hierfÜr ist diese : Soll eine Handlung gut sein, so darf in ihr nichts dem "Villen Gottes oder dem geistlichen Wohl der Seele zuwider sein. Erkennt man also in einem der Teile irgend welchen Mangel, so bekundet sich darin das Walten des bösen Geistes.

b) Ist man erst einmal dieser Dazwischenkunft des Bösen auf die Spur gekommen, so tut man gut daran, den Gedankengang wiederaufzunehmen, um festzustellen, wie der böse Feind sich in die Seele schlich, um sie zu verwirren und zum Bösen zu verführen. Diese Einsicht liefert uns die ~1ittel, uns in Zukunft vor der List des Feindes in acht zu nehmen.

c) Eine weitere Richtlinie wird im Hinblick auf die Art des Ha1Zdellls beim guten und beim bösen Geiste gezog'en : jener wirkt milde auf die fortschreitende Seele, wie der in einen Schwamm eindringende Tropfen. Dieser jedoch wirkt geräuschvoll auf die Seele, wie ein Gewitterregen, der auf Stein niederprasselt.

ERNEUTE FEINDLICHE ANGRIFFE. 883

d) Selbst wenn die Tröstung von Gott kommt, muss die eigentliche Zeit des Trostes von der nachher folgenden Zeit wohl unterschieden werden. Zur Zeit des Trostes handelt man unter dem Einfluss der Gnade. Nachher aber fasst man Vorsätze und Entschlüsse, die nicht immer unmittelbar von Gott eingegeben werden und folglich nach den früher angegebenen Regeln sorgfältig erwogen werden sollen.

1284. 3. Diesen vom hl. Ignatius aufgestellten Regeln lassen sich noch einige andere hinzufügen,die sich aus dem im zweiten Buche Gesagten ergeben.

a) Nach unzeitiger Vollkommenheit streben, ausserhalb des gegebenen Pflichtkreises, auffallende Tugenden üben 'Und sich hervortun wollen, gehört in das Bereich des bösen Geistes. Der gute Geist nämlich regt uns zwar zu hoher Vollkommenheit an, die aber mit den Standespflichten vereinbar ist und auf Demut und Verborgenheit beruht.

b) Missachten dei' kleinen Dinge und sich durch grosse Taten heiligen wollen, sind nicht vom guten Geiste. Dieser macht uns geneigt zu unwand{!lbarer Treue in Erfüllung der Standespflichten und in der Ubung aer kleinen Tugenden: " Iota Ull2tlll aut unlts apex non prceten'bit alege, d071ec OIr.nia jiant." I

c) Wohlgefällige Blicke auf sich selbst richten nach einer scheinbar guten Handlung, Verlangen nach Hochschätzung wegen Tugendhaftigkeit und Fröi':1migkeit, widerstreben dem Geiste Christi, der vor allem Gott zu gefallen sucht : " Si adlmc /lOlIlillibus placerem, servlts Christi non essem. "2 Dem Geiste Gottes zuwider ist demnach falsche Demut, die sich schlecht macht, um ein Lob zu erhaschen, undfalsclle Sanftmut, die eigentlich nur das Wohlgefallen der Menschen erstrebt.

d) Inmitten von Prüfungen und Geistesdürre sich beklagen, ungeduldig werden, den Mut verlieren, ist ein Merkmal menschlichen Geistes. Der Geist Gottes bewirkt im Gegenteil Kreuzesliebe, Ergebung, Hingabe an Gott und Ausdauer im Gebet trotz aller Trostlosigkeit und Zerstreuung.

ZUSAMMENFASSENDER RÜCKBLICK ÜBER DAS ZWEITE BUCH.

1285. I. Das Ziel des Edeuclztungsweges ist die Nachfolge Jesu durch Nachahmung seiner Tugen-

, Mattll. V, 18. - 2 Gal. I, 10.

884

VIERTES KAPITEL.

den insoweit es unserer Schwäche möglich ist. So wandeln wir im Lichte seines Beispiels: " Qui sequituI' me, non ambulat in tenebris, sed habebit lumen vitCl!. " I Ihn zum Mittelpunkte unserer Gedanken, unserer Liebe, unseres ganzen Lebens zu machen, das ist das Ideal,dem wir täglich näherzukommen uns bemühen.

Daher wird unser inneres Gebet affektiv, und stets ha ben wir J esus vor A ugert, um ihn anzubeten, stets haben wir ihn in unserem Herzen, um ihm Liebe zu schenken und ihn immer mehr an uns zu ziehen, in unseren Händen, um in Vereinigung mit ihm die Tugenden zu üben. Diese nun sind die göttlichen und die sittlichen Tugenden. Sie sollen gleichzeitig geÜbt werden, sich gegenseitig stützen. In der Entwicklung unseres inneren Lebens sind jedoch zwei Phasen oder Erscheinungsformen zu unterscheiden: im Beginn legen wir das Hauptgewicht auf die sittlichen Tugenden, später auf die göttlichen.

1286.2. Zunächst mÜssen nämlich unsere Fähigkeiten lenksam gemacht werden, um sich mit Gott vereinigen zu können. Das vollbringen die sittlichen Tugenden.

I) Die Kluj;heit macht unseren Verstand geschmeidig. Sie gewöhnt ihn daran, vor dem Handeln erst zu überlegen, bei Gott und seinen Stellvertretern sich Rat zu holen und so an Gottes Weisheit teilzunehmen.

2) Durch die Gerechtigkeit wird der Wille gefügig gemacht, daran gewöhnt, Go~tes und des Nächsten Rechte zu achten, und zwar durch Ubung vollkommener Rechtschaffenheit, der Gottesverehrung und des Gehorsams gegen die Vorgesetzten. So nähern wir uns der Gerechtigkeit Gottes.

3) Durch den Starkmztt werden die heftigen Leidenschaften gezähmt, gemässigt, vor Verirrungen geschützt und ihre überschüssige Kraft wird auf das nur mit grosser Mühe zu verwirklichende übernatürliche Gute hingelenkt. Durch ihn üben wir Grossherzigkeit, Freigeb(t;:keit, Geduld und Beharrlichkeit und so bringt er uns Gottes eigne1ll Starkmut näher.

4) Durch die Miissigkeit wird die Liebe zur Lust abgetötet und gezügelt, und zwar die Esslust durch die Miissigung, die

'Joh. VIII, 12.

ERNEUTE FEINDLICHE ANGRIFFE. 885

Wollust durch die Keuscltheit, die Ehrsucht durch die Demut und der Zorn durch die Sanftmut. Auf diese Weise wird dann die Seele die mit Gott vereinigenden Tugenden besser üben können.

1287. 3. Dann kommt die zweite Phase des Erleuchtungsweges, während der wir uns unmittelbar mi t Gott vereinigen.

I) Der Glaube mit seinen durch manches Dunkle gemilderten Klarheiten unterwirft Gott und eint mit ihm unsern Verstand und lässt uns Gottes Gedanken i11 uns aufnehmen.

2) Einem mächtigen Hebel gleich, stützt die HoJ11zunK unseren Willen, reisst ihn vom Irdischen los, richtet seine Wünsche und Strebungen himmelwärts und vereint uns mit Gott, dem Urquell unserer Gliickseli!!keit, mit Gott, der unendlich mächtig und gut ist, von dem wir vertrauensvoll alle zur Erreichung unseres übernatürlichen Zieles notwendige Hilfe erwarten.

3) Die christliche Liebe erhebt uns noch höher, sie bewirkt, dass wir Gott um seiner selbst willen lieben, weil er in sich unendlich gut ist, und dass wir aus Liebe zu Gott den Nächsten lieben als einen Widerschein seiner göttlichen Vollkommenheiten. Durch sie wird daher unsere Seele ganz mit Gott vereint.

Diese zweifache Liebe schöpfen wir aus dem heiligsten Herzen Jesu. In enger Vereinigung mit ihm, besiegen wir unsere Selbstsucht, und dadurch, dass wir die Liebe und alle Gesinnungen J esu unser machen, leben wir für Gott, wie Jesus für seinen Vater lebte: "Ego vivo propter Patrem." I

1288.4. Wohl müssen wir im Verlauf unserer Aufstiege erneuter, .feindlicher Angriffe gewärtig sein - die sieben Hauptsünden versuchen, sich iFl gemilderter Form in das Innerste der Seele einzuschleichen und führen zu Lauheit, wenn wir nicht auf der Hut sind - aber wachsame, auf J esus sich stützende Seelen widerstehen diesen Angriffen, ja bedienen sich sogar ihrer zur Festigung in der Tugend. So bereiten sie sich auf die Freuden und die Prü.fungen des Einigungsweges vor.

, loh. VI, 58.

DRITTES BUCH.

Der Einigungsweg .

.. 1289. Ist die Seele gereinigt und durch positive Ubung der Tugenden ausgeschmÜckt, so ist sie für dauernde und innige Vereinigung mit Gott reif, anders gesagt, reif fÜr den Einz:t:;ungsweg.

VORBEMERKUNGEN. I

Ehe wir auf die einzelnen Fragen eingehen, mÜssen wir kurz darlegen: I. das für diesen Weg vorgesteckte Ziel,' 2. dessen unterscheidende Merkmale __ 3. den Allgemeinbegriff von Beschauullg, die diesem Vvege allgemein eigen ist; 4. die zu befolgende Einteilung.

I. Das v01'g'esteckte Ziel.

1290. Dieses Ziel ist schlechthin die innige und bleibende Vereinigung mit Gott durch Jesus Christus. In den \Vorten, die Olier an die Spitze seines Buches : "Pietas Seminarii" setzte, ist es vortrefflich ausgedrÜckt : "Primarius et ultimus finis Itujus lnstituti erit vivere summe Deo in Christo J esu, Domino nost1'o, ita ut interiora Filii ejus intima cordis nostri penetrent, et liceat cuilibet dicere quod Paulus fiducialiter de se prcedicabat :

Vivo, jam non ego. Vivit vero in me Christus. "2

Einzig für Gott leben, für den lebendigen Gott, für die in uns wohnende Heiligste Dreifaltigkeit, um sie zu loben, ihr zu dienen, ihr Ehrfurcht und Liebe zu erweisen, das ist das Ziel des vollkommenen Christen. Nicht ein mittelmässiges Dahinleben,

, PHIL. A, Ss. TRINITATE, op. eil. IIIa P., Tr. r., dis. I. - TH. DE VALLGORNERA, op. eil. q. IV, disp. 1. - A. SAUDREAU, Les degds, t. ll, Vie unitive. Prologue, - p, GARRIGOu-LAGRANGE, op. eil. t. I. Introduction.

2 Gal. I1, 20.

DER EINIGUNGSWEG.

887

sondern ein intensives, durch Liebeseifey getragenes Leben. Folglich nach Selbstvergessenheit streben, um nur noch an Gott zu denken, der in uns zu wohnen geruht. Ihn aus ganzer Seele lieben und ihm alle unsere Gedanken, Wünsche und Handlungen weihen. Dadurch können wir das Gebet der Prim verwirklichen mit der Bitte, Gott möge unsere Seele, unseren Leib, unsere Gesinnungen, Worte und Handlungen leiten, heiligen, fÜhren und beherrschen, um sie ganz seinem heiligen \Villen zu unterwerfen. "Dingere et sanctijicare, 1'egere et gubernare dtgnare, Domine Deus, Rex ca:li et terra:, lzodie corda et corpora nostra, sensus, sermones et actus nostros in lege tua et in operibus 11landatorulll tuorum ... "

1291. Da wir aber aus uns selbst unfähig dazu sind, wollen wir uns innigst mit J esus Christus vereinen, in Christo Jesu : ihm bereits durch die Taufe einverleibt, wollen wir uns noch enger durch den Empfang der hl. Sakramente vereinen, besonders durch die hl. Kommunion, die durch stete inner~ Sammlung in uns fortwirkt. So sollen seine inneren Gesinnungen die unseren werden, alle unsere Handlungen beeinflussen, so dass wir wie der Paulus sagen und in die Tat umsetzen können: " Ich lebe, aber nicht ich, sondern J esus lebt in mir." Damit wir dieses beglückende Ziel erreichen, sendet J esus uns durch seine Verdienste und seine Gebete seinen göttlichen Geist, jenen Geist, der in seiner eignen Seele die vollkommenen Gesinnungen hervorbrachte, die sie belebten. Lassen wir uns von diesem göttlichen Geiste fÜhren, gehorchen wir schnell und hochherzig seinen Einsprechungen, dann denken, sprechen und handeln wir tatsächlich wie J esus an unserer Stelle es tun wÜrde. Er lebt dann also in uns, er, der mit und durch uns Gott verherrlicht, uns heiligt und uns an der Heiligung unserer BrÜder mitwirken lässt. \Vird auch auf diesem

888

DRITTES BUCH.

Wege die Andacht zur heiligsten Dreifaltigkeit vorherrschend, so besteht doch die Vereinigung mit dem Gottmenschen fort und steigt durch ihn zum Vater empor: "Nemo venit ad Patrem, nisi per 1ne. "I

I I. Die unterscheidenden Merkmale des Einigungsweg-es.

Diese Merkmale kommen auf ein einziges heraus: das BedÜrfnis, alles zu verein.fachen, alles auf Einheit zurückzuführen, d. h. durch die giittliche Liebe zur z'nnigen Vereinzgung mz't Gott.

1292. I. Die Seele lebt fast beständig unter Gottes Augen. Mit Vorliebe betrachtet sie ihn als in ihrem Herzen wohnend, "A mbulare CU111 Deo z'ntus ", und löst sich daher von den Geschöpfen los, " nec aliqua affectz'one tenerz·.foris. " Aus dem gleichen Grunde sucht sie Einsamkeit und Schweigen. Allmählich errichtet sie in ihrem Herzen eine kleine Klause, wo sie Gott findet und mit ihm in inniger Vertrautheit des Herzens spricht. Zwischen Gott und der Seele entsteht alsdann wonnige Vertrautheit.

" Die Vertrautheit ", sagt Mgr Gay 2, " ist das Bewusstsein der Liebenden, dass Einklang zwischen ihnen besteht. Ein Bewusstsein voller Licht und Salbung, Freude und Fruchtbarkeit. Es ist das Empfinden und Erkennen ihres gegenseitigen Gefallens, ihrer geistigen Verwandtschaft u.1)d ihrer Zusammengehörigkeit, wenn nicht vollkommener Ahnlichkeit... Es ist Vereinigung bis zur Einheit, folglich Einheit ohne Einsamkeit. Gegenseitige Sicherheit, unbegrenztes Vertrauen, gewollte Einfalt, wodurch die Seelen durchsichtig werden. Schliesslich ergibt sich die volle Freiheit daraus, sich gegenseitig stets ganz zu durchschauen." Solch inniges Verhältnis nun gestattet Gott den inneren Seelen mit ihm einzugehen. Ja, er bietet es ihnen sogar an, wie der Verfasser der Nachfolge Christi so schön sagt: "Freque7Zs illi visitatio cum homine interno, dltlcis sermocinatio, grata consolatio, multa pax, familiaritas stupenda nimis. " 3

'Joh. XIV, 6.

2 Eltvation sur la vie .. , de N. S. J. C., 52. Elev., t. I. S. 629. 3 De Imi!. Christi, 2. B. I. Kap.

DER EINIGUNGSWEG.

1293. 2. So wird die Gottesliebe nicht nur die Haupttugend der inneren Seele, sondern, sozusagen, ihre einzige Tugend, insofern alle anderen von ihr geübten Tugenden fÜr sie nur Akte der Liebe sind.

Klugheit ist somit für sie nur ein liebender Aufblick zu den göttlichen Dingen, um in diesen die Richte ihres Urteilens zu finden. Gerechtigkeit : eine möglichst genaue N achahmungo der göttlichen Gerechtigkeit. Starkmut : vollständige Beherrschung der Leidenschaften. Mässigkeit : gänzliches Vergessen der irdischen Lüste, um nur an die himmlischen Freuden zu denken. ' Aus noch triftigerem Grunde sind die göttlichen Tugenden für sie eine Ubung in der vollkommenen Liebe: Der Glaube ist nicht mehr für sie nur ein von Zeit zu Zeit erneuerter Akt, sondern der GJaubensgeist, Glaubensleben, das durch die Liebe Gestalt erhält,' fides qua; per caritatellt opera/ur. Hoffnung ist kindliches Vertrauen, heilige Hingabe an Gott. Auf diesen Höhen verbinden sich alle Tugenden zu einer einzigen, sie sind gleichsam nur verschiedene Gestaltungen der christlichen Liebe: " Caritas patiens es!, benigna es! ... "

1294. 3. Auf ähnliche Weise geht die Vereinfachung des inneren Gebetes vor sich. Die Verstandestätigkeit geht immer mehr zurück, um frommen GemÜtserhebungen Platz zu machen, und auch diese werden, wie wir bald zeigen werden, einfacher. Sie werden zu einem langen, liebenden Aufblick zu

Gott.

1295. 4. Daraus ergibt sich Vereinfachung des ganzen inneren Lebens. FrÜher hatte die Seele ihre Betrachtungs- und Gebetszeiten, jetzt ist ihr Leben ein ununterbrochenes Gebet. Ob sie arbeitet oder sich erholt, ob sie allein ist oder mit anderen, unausgesetzt erhebt sie sich zu Gott, gleicht ihren Willen dem seinen an. " Qua: placita sunt ei.facio sem per. "2

, Das erklärt vortrefflich der hL THOMAS, Ja IIre, q. 6r. a. 5· " Qua:dam vero sunt virtutes jam assequentium divinam similitlldinern, qure vocantur virtutes jam purgati animi. Ita scilicet quod prudentia sola divina intueatur. Temperantia terrenas cupiditates nesciat, fortitudo passiones ignoret, justitia cum divina meute perpetuo fcedere societur, eam scilicet imitando ; quas quideln virtutes dicimus esse beatorum vel aliquorum in hac vita perjectissimorum. "

2 Joh. VIII, 29,

889

890

DRITTES BUCH.

Und diese Angleichung ist für sie ein Akt der Liebe, der Hingabe an Gott. Ihre Gebete, ihre gewöhnlichen Handlungen, ihre Leiden und ihre Verdemütigungen tragen alle das Sieg-el der Gottesliebe : " Deus 1fleus et omnia."

1296. Schlussfolgerung. Man kann daraus ersehen, für wen der Einigungsweg sich eignet : fÜr jene nämlich, die folgende drei Bedingungen erfüllen.

a) Grosse Herzensreinheit, d. h. nicht nur SÜhne und Genugtuung für vergangene Sünden, sondern Loslösung von allem, was nur irgendwie zur Sünde führen könnte. Abscheu vor jedem freiwilligen, lässlichen Fehltritt, ja selbst vor jedem gewollten 'Widerstande gegen die Gnade, was jedoch einige Gebrechlichkeitssünden nicht ausschliesst, namentlich, weil sie sofort bereut werden. Diese, auf dem Reinigungswege begonnene Läuterung der Seele wurde au(,dem Erleuchtungswege fortgesetzt durch positive Ubung der Tugenden und grossmütige Annahme der von der Vorsehung uns zugedachten Kreuze. Sie wird auf dem Einigungswege vollendet werden durch die passiven PrÜfungen, von denen bald die Rede sein wird.

b) Grosse Selbstbeherrsc!~ung, die durch Abtötung der Leidenschaften und Ubung der sittlichen und göttlichen Tugenden erworben wurde. Dadurch nämlich wurden die Fähigkeiten gezügelt, nach und nach dem Willen unterworfen und dieser dem göttlichen Wollen. So ist die ursprüngliche Ordnung gewisssermassen wiederhergestellt. Die ihre eigene Herrin gewordene Seele kann sich nun ganz Gott schenken.

c) Gewohnlteitsmassiges Bedürfnis, an Gott zu denken, sich mit ihm zu unterhalten, alle Handlungen um seines Wohlgefallens willen zu verrichten. Man erträgt es schwer, sich nicht immer mit ihm beschäf-

DER EINIGUNGSWEG.

891

tigen zu können. Muss man sich, der Amtspflicht wegen, weltlichen Beschäftigungen hingeben, so bemüht man sich, Gottes Gegenwart nicht aus den Augen zu verlieren. Instinktiv wendet man sich ihm zu, wie die Magnetnadel sich stets nach Norden richtet: " OcuH Jnei sem per ad Dominum. " 1

III. Allgemeinbegriff von der Beschauung. 2

Durch anhaltendes Denken an Gott bleiben die Blicke in Liebe auf Gott geheftet. Das ist die Beschauung, eines der kennzeichnenden Merkmale

dieses Weges.

1297. I. Natürliches Schauen. Anschauen heisst, im allgemeinen, etwas bewundernd ansehen. Es gibt ein natürliches Sellauen, das sinnfälliges, phantastisches oder geistiges Schauen sein kann.

I) Es ist sinnfällig, wenn etwas Schönes lange und mit Bewunderung angesehen wird, z. B. das unermessliche Meer oder eine Gebirgskette. 2) Es heisst phantastisch, wenn man sich mittels der Einbildungskraft lange und in liebender Bewunderung eine geliebte Person oder Sache vorstellt. 3) Es wi.rd /{eistiges oder philosojJhisches Schauen genannt, wenn der Verstand bewundernd und einfach betrachtend bei einer grossen philosophischen Synthese oder Begriffsordnung verweilt, z. B. bei dem absolut einfachen und unveränderlichen 'V'esen als Ursprung und Ziel aller Wesen.

1298.2. Übernatürliches Schauen; Es gibt auch ein übernatürliches Schauen, und davon wollen wir hier sprechen. Zunächst von dessen Begriff und

dessen Arten.

A) Begriff. Der Ausdruck Beschauung' (contem-

platio) bezeichnet im eigentlichen Sinne einen Akt einfachen, geistigen Sehens, ohne von den ihn begleitenden verschiedenen Gemütserregungen und Vorstellungstätigkeiten bei diesem Vorgange Erwäh-

, Ps. XXTV, 15·

, P. DE GUlBERT, R. A. M., avril 1922, Trois dijinitioilS de thloloJ{ie

mystique, S. 162-172. _ P. GARR[GOu-LAGRANGE, Per! et contemplalion, t. 1. Kap. IV, a. 2. S. 272-294. - GABR. DE STE MARlE-MADEL., La contemp/auon acquise, dans la Vie spirit .. sept. 1923, S. 277·

892

DRITTES BUCH.

nung zu tun. Ist der Gegenstand der Beschauung schön und liebenswÜrdig, so finden sich bei diesem Akte Bewunderung und Liebe ein. Im weiteren Sinne nennt man Kontemplation das innere Gebet, dessen vorwiegendes Merkmal dieses einfache Schauen ist. Ein solcher Akt braucht daher nicht während der ganzen Betrachtungszeit anzudauern. Es genÜgt, wenn er häufig und von Gemütserhebungen begleitet ist. So unterscheidet sich also das kontemplative oder beschauliche, innere Gebet von dem diskursiven (N. 667), weil die langen Erwägungen ausgeschlossen sind, und vom affektiven inneren Gebet (N. 976), da es Vielheit der Akte ausschliesst, die dem letzteren eigen ist. Somit kann man die Beschauung begrifflich auf folgende Weise bestimmen: ein ein.faches, liebendes Schauen Gottes oder göttlicher Dinge. KÜrzer gesagt : simplex intuitus veritatis, wie der hl. Thomas I lehrt.

1299. B) Arten. Drei Arten von Beschauung lassen sich unterscheiden : die erworbene, die eingegossene und die gemischte Beschauung. 2

a) Die erworbene Beschauung ist eigentlich nur ein verein.fachtes z'nneres (affektives) Gebet und kann definiert werden: eine Beschauung-, in der die Verein.fachung der intellektuellen und affektiven Akte durch unsere., von der Gnade unterstützte Tätigkeit bewirkt wird. Oft wirken auch die Gaben des Heiligen Geistes in latenter Weise mit, besonders die Gaben der Wissenscha.ft, des Verstandes und der Weisheit, um uns behilflich zu sein, unseren Blick in Liebe auf Gott zu richten. Davon werden wir später sprechen.

1300. b) Die eingegossene oder passive Beschauung ist, ihrem Wesen nach, reine Gnadengabe. Mit der gewöhnlichen Gnade und durch eigene

, Sumo theol. IIa Irre. q. 180, a. I U. 6.

2 P. G, DE STE MADELEINE. La contemplation acquise duz leJ Carmes, Vie Spirit., Sept. 1923. S. 277.

DER EINIGUNGSWEG.

893

BemÜhungen können wir sie uns nicht verschaffen. Demnach lässt sie sich so beschreiben : eine Beschauung, in der die Verein.fachung der intellektuellen und atfektive1Z Akte das Ergebnis eitler besonderen Gnade ist, einer tätigen Gnade, die uns erfasst und uns die von Gott mit unserer Zustimmunf[ in uns bewirkten Erleuclttungen und Gemütserhebungen au.fnehmen lässt.

Sie wird ei1tf!egossene genannt, nicht, weil sie aus den eingegossenen Tugenden hervorgeht, denn auch die erworbene Beschauung hat diese zum Ausgangspunkte, sondern, weil wir aus eigener Kraft nicht die ihr entsprechenden Akte hervorzubringen vermögen, selbst nicht mit der gewöhnlichen Gnadenhilfe. Dennoch ist es nicht Gott allein, der in uns wirkt. Er wirkt mit unserer Zustimmung, insofern wir frei empfangen, was er uns verleiht. Die unter der Einwirkung der tätigen Gnade stehende Seele wird zwar als passiv bezeichnet, weil sie Gottes Gaben empfängt. Aber zu diesem Empfangen gibt sie ihre Zustimmung', wie wir später erklären werden. Die hl. Therese nennt diese Beschauung übernatürlich, weil sie dies in doppeltem Sinne ist, nicht nur wie die anderen übernatürlichen Akte, sondern weil Gott in der Seele auf ganz besondere Weise tätig ist.

1301. c) Es wird ausserdem eine gemischte Beschauung unterschieden. Die eingegossene Beschauung nämlich ist, wie wir später sehen werden, zuweilen von sehr kurzer Dauer. So kann es geschehen, dass in ein und derselben Betrachtung die unter unserer Mitwirkung entstandenen Akte mit den unter besonderer Einwirkung der tätigen Gnade entstandenen abwechseln. Das kommt namentlich bei jenen vor, die bereits beginnen, in die eingegossene Beschauung zu treten. Dann ist die Beschauung gemischt, d. h. abwechselnd aktiv und passiv. Gewöhnlich aber rechnet man diese Art zur eingegossenen Beschauung, als deren erster Grad sie gelten kann.

'Von der Beschauung lässt sich also behaupten, was der hl. THOMAS.

Ia IIre, q. III, a. 2 ad 3, von der Rechtfertigung sagt: " Deus non sine nobis nos justificat; quia per motum liberi arbitrii, dum justificamnr, Dei justitire cOllsentimus. "

894 DRITTES BUCH. - DER EINIGUNGSWEG.

IV, Ez'nteilung des 3, Buches.

1302. Auf dem Einigungswege lassen sich zwei verschiedene Formen oder Entwicklungsstufen (Phasen) unterscheiden I :

I. Der ez'n.faclte oder aktive Ez'nzgungsweg,- seine Merkmale sind : dz'e Pflege der Gaben des Hf. Geistes, besonders der aktz'ven Gaben, sowie Verez'JljacJzung des inneren Gebetes, das eine Art tätige Beschauung oder uneigentliches Schauen wird.

2. Der passive oder mystz'sdte Einigungsweg im eigentlichen Sinne, dessen Merkmal die eingegossene Beschauung oder das ezgentliche Schauen ist.

3. Ausserdem treten zuweilen bei der Beschauung aussergewähnlz'che Phänomene auf, wie Erscheinungen und Offenbarungen, denen teuflische, trügerische Nachahmungen gegenüberstehen, die dauernde Anfechtung und die Besessenheit.

4. Es darf nicht wundernehmen, dass in solch schwierigen Fragen von einander abwez'chende oder umstrittene Mez'1Zung-en vorkommen, Wir werden sie in einem besonderen Kapitel untersuchen.

In abscltlz'essender \Veise werden wir dann angeben, wie sich der Seelenführer den Beschaulichen gegenüber verhalten soll.

I. KAPITEL. Der einfache oder aktive Einigungsweg.

2. KAPITEL. Der mystische oder passive Einigungsweg.

3. KAPITEL. Die aussergewöhnlichen, mystischen Phänomene.

4. KAPITEL. Umstrittene Fragen.

SCHLUSS. Die Seelen leitung von Beschaulichen.

,Diese Einteilung ist gegenwärtig unter verschiedenen Namen üblich. In einem sehr besprochenen Artikel der .. Vie spin'tuetle '

ERSTES KAPITEL.

895

ERSTES KAPITEL.

Der einfache Einigungsweg.

1303. Dieser Weg ist der Zustand eifriger Seelen, die gewohnheitsmässig in inniger Vereinigung mit Gott leben, ohne noch die Gabe der "eingegossenen Beschauung erhalten zu haben. Die Ubung der sittlichen und der göttlichen Tugenden ist ihnen schon zur Gewohnheit geworden. Nun bemühen sie sich durch Pflege der Gaben des Hl. Geistes darin fortzuschreiten. Ihre Gebetsweise verein.facM sich immer mehr und wird ein.faches inneres Beten, oder einfaches Gesammeltsein, das man uneigentliche, erworbene oder aktive (tätige) Beschauung nennt. Das ein solcher Zustand vorkommt, beweist die Elj'ahru ng, ebenso die Unterscheidung der zwei Arten von Beschauung- und der Unterschied zwischen aktiven und kontemplativen Gaben.

1304. I. Elj'ahrungsg-emäss gibt es im Kloster und in der \Velt wahrhaft eifrige Seelen, die beständig mit Gott vereinigt sind, die christlichen Tugenden grossmÜtig und beharrlich üben, zuweilen sogar in heroischer Weise, und trotzdem sich nicht der eingegossenen Beschauung erfreuen. Diese Seelen hören auf die Eingebungen des Hl. Geistes, empfangen hie und da besondere Erleuchtungen und Einsprechungen, und dennoch finden sich keine Anzeichen, die ihnen oder ihrem Seelen führer die Vermutung nahelegte, dass sie im eigentlichen passiven Zustande seien. I

März 1923. S. 645, vertritt J. MARlTAll' zwar die Einheit des Ziels für <111e, nämlich die Vereiniguug mit Gott durch die vollkommene Liebe und die Gaben des Hl. Geistes, erkennt aber tatsächlich zwei Wege an, den 'Veg jener, die unter dem Einfluss der aktiven Gaben stehen und nur die uneigentliche Beschauung geniessen, und den Weg der Beschaulichen, bei denen die Gaben des Verstandes und der Weisheit vorherrschen. Wir werden auf diese Lehre noch zuriickkommen.

'Liest man z. B. das Leben hervorragender Manner, wie der PP. Olivaint und Ginhac, eines Mollevaut oder de Courson und so

1305. 2. Das geht auch aus der Unterscheidung zwischen erworbene,- und eingegossener Beschauung hervor. Spuren von dieser Unterscheidung finden sich bis hinauf zu Klemens von Alexandrien I und Richard von St. Viktor. Seit Ende des I7· J ahrhunderts ist sie allgemein angenommen worden. Seelen, die während eines längeren Zeitabschnittes ihres Lebens bei der erworbenen Beschauung verharren, befinden sich auf dem einfachen Einigungswege.

Um jedes Missverständnis zu vermeiden, sagen wir hier nicht, dass es zwei von einander abweichende Wege gibt, im Gegenteil, wir geben zu, dass die erworbene Beschauung eine vortreffliche Vorbereitung zur eingegossenen Beschauung ist, sobald Gott uns diese verleihen will. Zahlreiche Seelen jedoch erhalten sie nicht, obschon sie innig mit Gott vereint bleiben. Sie verharren daher auf dem einfachen Eill(f{lt7lgswege, ohne dass notwendigerweise eine Verfehlung ihrerseits vorliege .•

896 ERSTES KAPITEL.

1306. 3. Diese Beweisführung wird dadurch bestätigt, dass von den Gaben des HI. Geistes die einen uns besonders für Tätigkeit, die anderen mehr für Beschauung verliehen werden. Es geschieht nun, dass gewisse, mehr tätig veranlagte Seelen, die auch durch zahlreiche Beschäftigungen in Anspruch genommen werden, die aktiven Gaben vorzugsweise pflegen und dadurch sich weniger zur eigentlichen Beschauung eignen.

vieler anderer, deren Leben veröffentlicht wurde, so kann man nicht umhin, ihre Tugenden, ihre Vereinignng mit Gott, ihre Fügsamkeit dem Hl. Geist gegenüber, zu bewundern, und doch scheinen sie nicht der eingegossenen Beschauung gepflogen zu haben.

'DOM M(;NAGER, La doetrine spirituelle de CII",. d'Alex., Vie spirit, Januar 1923, S. 424. vgl. Etudes carmelitaines, 1920-1922, wo sich eine Reihe von Aufsätzen über die erworbene Beschauung finden. _ Unser Aufsatz über die oraison de simplicitt, Vie spirit., Dez. 1920,

S. 167-174 .

• Diese Schlnssfolgerung wird von P. GARRIGOu-LAGRANGE zugegeben in der Antwort auf einen Brief von J. Maritain (Pelleetio" chrt!!. ef contempt. t. IT, S. 75.):" Daher fiel es uns durchaus nicht schwer, es des öfteren anzuerkennen: Selbst se_hr grossl1lütige Seelen können zum mystischen Leben erst nach einem Zeitraum gelangen, der die gewöhnliche Dauer des irdischen Lebens übertrifft. und zwar wegen gewissen Umständen, die nicht von ihrem \Villen abhängen. So z. B. ungünstige Umgebung, Mangel an Leitung, an physischen Vorbedingungen. "

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 897

Diese Beobachtung entging auch P. Noble' nicht:" Weder in ermüdender, harter Arbeit ", sagt er, " noch in Erledigung schwieriger, die ganze Aufmerksamkeit fesselnder Aufgaben kann der Gedanke sich innerlich ganz sammeln und der geistige Blick unverwandt auf die geistigen und ewigen Wirklichkeiten geheftet bleiben. Um sich der Beschauung hingeben zu können, darf man nicht unausgesetzt von mühevollen und anstrengenden Arbeiten geplagt werden. Zum mindesten müssten diese sich aufschieben lassen, damit sich Geist und Gemüt in Ruhe zu Gott erheben können."

Solche Seelen werden sich daher nicht der eingegossenen Beschauung erfreuen können, wenigstens nicht fÜr gewöhnlich, aber sie werden mitten in ihrer Tätigkeit innig mit Gott verbunden sein und den Eingebungen des BI. Geistes folgen : diesen Zustand nun bezeichnen wir als ein.fachen Einigungsweg-.

Seine Merkmale sind : I. Pflege der Gaben des HZ. Gez'stes, 2. das einfache, innere Gebet. Wir wollen daher beide nacheinander besprechen.

I. ABSCHN. DIE GABEN DES HL. GEISTES. 2

Der Reihe nach werden wir darlegen : I. die Gaben des HI. Geistes im allgemeinen, 2. jede i'1l besondenz, 3. ihre A u.fgabe bei der Beschattung, 4. die den Gaben entsprechenden FrÜclzte und Seligkeiten.

, Rev. des jeu1les, 25, Sept. 1923, S. 613, - Dasselbe beweist J. Maritain in dem erwähnten ArtikeL Allerdings fügt er hinzu, die Seelen, in denen die aktiven Gaben vorwiegen, seien im 1Il,ystisc/un Zustande, obgleich sie sich nicht der eingegossenen Beschauung erfreuen. Wir halten dafür, dass zur Vermeidung jeglichen Missverstandnisses wohl hinzuzufügen wäre, dass sie im uneigentlicltell 1Jz.ystisclull Zustande sind.

2 S, THOMAS, In Il/ Seilt. dist. XXXIV,XXXV. Ja nre, q, 68. Ila 11"', qq. 8, 9, I9, 45, 52, 121, 139. Seine Ausleger, besonders JOANNES A S. TIlOMA. in ImTI Ha:, q. 68.- SUAREZ, De gmtia, P. III, cap. VIII. _ DENYS LE CHARTREUX, ausgezeichnete Abhandlung de Donis Spi,'itus S. - J.-ß. OE ST. JURE, L'/wmme spirituel, 1. P. 4- Kap. Des sept dons. - L. LALLEMANT, La doctrine spirituelle, IV. Principe. La docilite a la conduite du S, Esprit. - MGR PERRIOT, L'Ami du Clerge, 1892, S. 389-393, - FROGET, De l'habitation du S. Esprit, S. 378-42+ KARO. BILLOT, De virtutibus infusis, (I901) S. 162-I90. - GAROEIL, Dons du S Esprit. Did, de Tlufol. t. IV, co!. 1728-I781. - D. JORET, Les dons du S. ESfrit, Vie spirituelle, t. I, S. 229, 289, 383. - P. GARRIGOu,LAGI1ANGE, Perfeet. el e01ltemplation, t. l. Kap. IV. a. 5-6, S. 338-417. - MGR LANORIEUX, Le divin mleonnu.

N° 683. - 29

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ERSTES KAPITEL.

§ 1. Die Gaben des Hl. Geistes im allgemeinen.

Es ist darzulegen : I. deren Wesen, 2. deren VorzÜglichkeit, 3. die Art, sie zu pflegen und 4. wie sie eingeteilt werden können.

I. Wesen der Gaben des Hl. Geistes.

1307. Wir sagten, (N. II9), der in uns wohnende HI. Geist erzeuge in unserer Seele, ausser der bleibenden Gnade, übernatürliche Gewohnheiten. Diese vervollkommnen unsere Fähigkeiten und geben ihnen die Möglichkeit, auf Antrieb der beistehenden Gnade übernatürliche Akte hervorzubringen. Solche Gewohnheiten sind die Tugenden und die Gaben. Durch gen aue Unterscheidung zwischen diesen zwei Arten von Gewohnheiten werden wir am besten das Wesen der Gaben erfassen.

1308. I. Unterschied zwischen den Gaben und den Tugenden. A) Der grundlegende Unterschied findet sich nicht im sacltfichen Gegenstand oder Wirkungsfeld, das tatsächlich das gleiche ist, sondern in der verschiedenen Wirkungsweise in unserer Seele.

Gott, sagt der hl. Thomas', kann in uns auf zweierlei Weise wirken: a) Er passt sich der menschlichen Handlungsweise unserer Fähigkeiten an : das tut er durch die Tugenden. Dadurch hilft er uns beim Denken, beim Aufsuchen der besten Mittel.zur Erreichung unseres Ziels. Damit diese Tätigkeiten ins Ubernatürliche übertragen werden, verleiht er uns beistehende Gnaden. Jedoch lässt er uns die Initiative ergreifen, und das tun wir nach den Regeln der

, S. THOMAS, III Sera., d. 34, q. 1. a. 1. "Dona a virlutibus distinguuntur in hoc quod virtutes perficiunt ad actus lllodo /z,ulIlano, sed dana ultra humanum 1llodu1ll ... In der Summa bedient er sich einer anderen Ausdrucksweise: "secnndum ea (dona) homo disponitur ut efficiatur p,'ompte 1llobilis ab illspiralione divina." (la IIa!, q, 68, a. 1.) V gl. J. DE GUlBERT, Dons du S. Esprit el mode d'agir ultra-Ilu1llai1l in Rev. d'As. et de Mystique, Okt. 1922, S. 394. Zweifellos ist darin eine leichte Abweichung, aber dennoch bleibt wahr, dass wir unter dem Einfluss der zur Vollendung gelangten Gaben mehr passiv als aktiv uns verhalten, magt:s agimur quam, agimus.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 899

Klugheit oder der vom Glauben erleuchteten Vernunft. Wir sind es daher, die auf Antrieb der Gnade hin handeln.

b) Mittels der Gaben jedoch ist es Gott, der auf eine der memcltlichen Art zu handeln Überlegene Weise wirkt. Er selbst ergreift hier die Initiative. Ehe wir noch Zeit haben, zu überlegen und die Regeln der Klugheit zu Rate zu ziehen, sendet er uns go'ttliche Aniriebe, Erleuchtungen und Eingebungen, die z~~r mit unserer Zustimmung auf uns einwirken, aber ohne Uberlegung unsererseits. Eine solche sanft anregende Gnade, die auf wirksame 'Veise unsere Zustimmung erlangt, kann als 71!irkende Gnade bezeichnet werden. D~lrch sie verhalten wir uns mehr passiv als aktiv. Unsere Tätigkeit besteht hauptsächlich in der freien Zustimmung zu Gottes Wirken, in der Hingabe an die Führung des Hl. Geistes, im schnellen und grossmütigen Folgeleisten bei seinen Einsprechungen.

1309. B) Gestützt auf diesen Grundsatz, lassen sich nun die Unterschiede zwischen Gaben und Tugenden besser erfassen :

a) Die Tugenden machen uns geneigt, der Eigenart unserer Fähz'gkeiten entspreche,:d z.u handeln. Wir forschen, überlegen, arbeIten mIt HIlfe der uns verliehenen Gnade, ganz in der Weise, wie wir es bei Handlungen der rein natÜrlichen Ordnung auch tun. Es sind also zunächst und unmittelbar

tätite (:l.ktiv~) Kr~ft~. Di~ Gabm hil1g~gen verleihen uns solche GeschmeIdigkeit, solche Au.f1taltme.fähigkez't, dass wir die Anregungen der wirkenden Gnade zu emp.fangen und ihnen zu folgen vermögen. Diese Gnade setzt nun die Fähigkeiten in Bewegung, jedoch ohne ihnen ihre Freiheit zu nehmen. Demgemäss ist die Seele, wie der hl. Thomas I sagt, mehr passiv als aktiv" non se habet ut movens sed magis ut mota. " I

b) Bei den Tugenden verfahren wir nach Grundsätzen und Regeln der Übernatürlichen Klugheit. Da ist also nachzudenken, zu Überlegen, Rat zu holen, zu wählen u. s. w. (N. I020). Unter dem Einfluss der Gaben lassen wir uns von einer gOltlichen Einge-

, Sumo theol. IIa IIre, q. 52, a. 2.

900

ERSTES KAPITEL.

bung leiten, die plötzlich und ohne unsere persönliche Denktätigkeit entsteht und uns lebhaft antreibt, diese oder jene Sache zu tun.

e) An den Gaben ist die Gnade viel mehr beteiligt als an den Tugenden. Daher sind die unter dem Einfluss der Gaben vollzogenen Akte, bei sonst gleichen Verhältnissen, für gewöhnlich vollkommener als die unter Einwirkung der Tugen~en ausgeführten. Dank der Gaben kann in der Ubung der Tugenden die dritte Stufe erreicht und können heroische Akte vollzogen werden.

1310. C) Verschiedene Vergleic!te machen diese Lehre fasslicher : a) Tugenden üben, heisst rudern, die Gaben benützen, heisst segeln. Bei letzterem geht es schneller vorwärts, und die MÜhe ist geringer. b) Das von der Mutter unterstÜtzte Kind macht einige Schritte vorwärts, so auch der Christ, der mit Hilfe der Gnade die Tugenden Übt. Das Kind, das zum schnelleren Vorwärtskommen von der Mutter auf die Arme genommen wird, ist Sinnbild des Christen, der auf die ihm verliehene wirkende Gnade eingeht und so die Gaben nutzbringend verwertet. c) Der KÜnstler, der durch sein Spiel den Saiten der Harfe wohlklingende Töne entlockt, ist das Sinnbild des die Tugenden Übenden Christen. Lässt aber der Hl. Geist mittels göttlicher Berührung die Saiten unserer Seele erklingen, so geschieht das unter dem Einfluss der Gaben. Dieses Vergleiches bedienen sich die Kirchenväter, um von dem Wirken J esu in der Seele Marias zu sprechen: " Suavissima cithara qua Christus utitur ad delicias Patris. "

1311. 2. Definition. Aus dem soeben Dargelegten lässt sich folgern : die Gaben des hl. Geistes sind ÜbernatÜrliche Gewohnheiten, die unseren Fähigkeiten eine solche Geschmeidigkeit verleihen, dass diese den Einsprechungen der Gnade schnell Folge leisten. Jedoch, wie wir bald erklären werden, ist diese Geschmeidigkeit anfangs einfache Aufnahmefähigkeit und bedarf der Pflege zu ihrer vollkommenen Entwicklung. Ausserdem tritt sie erst dann in Tätigkeit, wenn Gott uns jene beistehende Gnade schenkt, die wirkende Gnade heisst. Dann ist die Seele bei aller Passivität Gottes Wirken gegenüber doch sehr tätig in Erfüllung des göttlichen Willens.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 901

Somit lässt sich von den Gaben behaupten, dass sie gleichzeitig "Geschmeidigkeiten und Energien, Fügsamkeiten und Kr,äfte sind, die unter Gottes Hand die Seele passiver und zugleich aktiver in seinem Dienste und in der Vollziehung seiner Werke machen." I

I I. Vorzüglichkeit der Gaben.

Diese Vorzüglichkeit kann an sich und in Beziehung zu den Tugenden erwogen werden.

1312. I. An sich sind die Gaben ausgezeichnet, das ist klar. Unsere Vollkommenheit nimmt in dem Masse zu, als unsere Beziehungen zum Heiligen Geiste, dem Quell aller Heiligkeit, sich inniger und leichter gestalten. Die Gaben nun stellen uns unter den unmittelbaren Einfluss des Hl. Geistes : er lebt in unserer Seele, erleuchtet mit seinem Lichte unsern Verstand, bezeichnet deutlich, was wir zu tun haben, entzündet unser Herz und stärkt unsern Willen zur Verwirklichung' des ihm eingegebenen Guten. Es ist dies eine Vereinigung, wie sie hienieden nicht inniger sein kann.

Daraus entfliessen wertvolle Ergebnisse. Den Gaben ist es zu verdanken, dass der vollkommenste Grad in der Übung der sittlichen und göttlichen Tugenden, den wir die dritte Stufe nannten, erreicht werden kann. Sie sind es auch, die heroische Akte einflössen. Durch sie wird die Seele, sollte es Gott gefallen, zur eingegossenen Beschauung erhoben, denn die durch sie bewirkte Geschmeidigkeit und Fügsamkeit ist die nächste Vorbereitung, die zum mystischen Zustande erforderlich ist. Sie sind daher der kürzeste vVeg zur höchsten Vollkommenheit.

1313. 2. Vergleichen wir die Gaben mit den Tugenden, so erkennen wir nach der Lehre des

, MGR GAY, De la vie et des vertus chrCt., t. I. S. 45·

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ERSTES KAPITEL.

hl. Thomas I, dass sie vollkommener als die sittlichen oder geistigen Tugenden sind. Diese haben ja Gott nicht zum unmittelbaren Objekt, während die Gaben sie auf eine höhere Stufe erheben, wo sie eins mit der Liebe werden und uns mit Gott verbinden.

So erhalten wir mittels der durch die Gabe des Rates vervollkommneten Klugheit Anteil an dem Lichte Gottes selbst, und die Gabe der Stärke stellt uns die Kraft Gottes zur VerfÜgung. Die Gabef\ Üpertreffen jedoch nicht die göttlichen Tugenden, am wenigsten die Liebe. Diese nämlich ist das erste und vorzÜglichste der übernatÜrlichen GÜter, die Quelle, der die Gaben entfliessen. Immerhin lässt .~ich behaupten, dass die göttlichen Tugenden betreffs ihrer Ubung durch die' Gaben vervollkommnet werden. So wird z. B. durch die Gabe des Verstandes unser Glaube lebendiger und tiefer, da er ihm die harmonische Übereinstimmung der Glaubenssätze untereinander zeigt. Die Gabe der Weisheit gestaltet die Übung der christlichen Liebe vollkommener, weil sie uns an Gott und göttlichen Dingen Geschmack finden lässt. Die Gaben sind also Mittel, die zu den göttlichen Tugenden als zu ihrem Ziele in Beziehung stehen, ihnen jedoch grössere Vollkommenheit verleihen.

III. Die Pflege der Gaben des HI. Geistes.

1314. I. Fortsehreitende Entwieklung. Die Gaben des Hl. Geistes werden uns gleichzeitig mit dem Gnadenzustande verliehen. Es sind alsdann einfach über1ZatÜrliche Fähigkeiten. Bricht das Alter der Vernunft an und wendet sich das Herz Gott zu, so beginnt sich unter dem Einfluss der beistehenden Gnade unser ganzer übernatürlicher Organismus, einschliesslich der Gaben des Hl. Geistes, auszuwirken. Es ist nämlich nicht anzunehmen, dass diese Gaben während eines längeren Abschnittes unseres Lebens unbenutzt und unbenutzbar blieben. 2

, Sumo tlleol. IIa IIre, q. 9, a. 3 ad 3. " Dona sunt perfectiora virtutibus moralibus et intellectualibus; non sunt autem perfectiora virtutibus theologicis .. sed magis omnia ad perfectionem virtutum theologicarum ordinantur sicut ad tinern. " Cf. Ia Ilre, q. 68, a. 8.

2 Einige Theologen, wie z. B. Abbe Perriot (Ami du Clergt, 1892,

S. 391), nehmen an, dass die Gaben an jedem verdienstlichen Werke

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 903

Damit jedoch deren normale und vollständige Entwicklung erreicht werde, ist es notwendig, zunächst während längerer Zeit die sittlichen Tugenden zu üben. Diese Zeitdauer hängt von Gottes Absichten über uns und unserer Mitwirkung mit der Gnade ab. Die Tugenden sind es nämlich, wie schon bemerkt, die nach und nach die Seele geschmeidig machen und sie auf jene vollkommene Fügsamkeit vorbereiten, die zur vollen Auswirkung der Gaben erforderlich ist. Unterdessen wachsen diese als Gewohnheiten im Verein mit der bleibenden Gnade heran. Ohne dass wir es merken, verstärken sie häufig die Tugendkräfte und veranlassen uns zu übernatürlichen Akten.

In manchen Fällen sogar wird der HI. Geist durch seine wirkende Gnade vorübergehend ungewohnten Eifer hervorrufen, der einer zeitweiligen Beschauung ähnlich kommt. Welche eifrige Seele hätte wohl noch nicht zu gewissen Zeiten diese plötzlichen Eingebungen der Gnade empfunden, bei denen wir den göttlichen Antrieb nur zu empfangen und ihm nur zu folgen brauchten? War es beim Lesen des hl. Evangeliums oder eines frommen Buches, bei einer hI. Kommunion oder einer Besuchung des Allerheiligsten, bei Exerzitien, im Augenblicke einer Standeswahl, der hl. Priesterweihe oder der Einkleidung? Die Gnade Gottes schien uns sanft und doch gewaltig emporzutragen : " Satis suaviter equz'tat queJn gratia Dei portat. "

1315. 2. Mittel zur Pflege der Gaben. A) Zur Pfleg~ der Gaben ist die erste notwendige Bedingung die Ubung der sittlichen Tugt:nden. So lehrt es der hI. Thomas I : " Virtutes morales et intellectuales prePcedunt dona, quia per hoc quod homo bene se habet

beteiligt sind. Ohne so weit zu gehen, glaubt man doch allgemein, dass sie diese Akte häufig latenterweise beeinflussen, ohne dass wir uns dessen bewusst werden.

, Sumo theol. Ia IIre, q. 68, a. 8 ad 2

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ERSTES KAPITEL.

circa 1'ationem propriam, disponitur ad hoc quod se bene habeat in ordz'ne ad Deum. " U 111 jene durch die Gaben verliehene göttliche Geschmeid'igkeit tatsächlich zu erringen, müssen die Leidenschaften und Untugenden durch Gewohnheiten der Klugheit, der Demut, des Gehorsams, der Sanftmut und der Keuschheit bezwungen sein. Wie könnte auch wohl eine durch die Klugheit des Fleisches, durch Hochmut, Ungelehrigkeit, Zorn und Wollust hin und her bewegte Seele die Einsprechungen der Gnade wahrnehmen, in sich aufnehmen und ihnen willig Folge leisten? Ehe sie göttlichen Antrieb empfängt, muss sie zunächst den Regeln der christlichen Klugheit folgen. Erst, wenn der Stolz besiegt ist und die Gebote gehalten werden, kann von Gehorsam gegen die Forderungen der Gnade die Rede sein.

Daher sagt Kajetan " der genaue Ausleger des h1. Thomas, mit Recht: "Die SeelenfLihrer sollen sich das gut merken und darauf achten, dass ihre Beichtkinder sich erst im tätigen Leben bewähren, ehe ihnen die Gipfel der Beschauung gezeigt werden. Man muss in der Tat erst seine Leidenschaften dmch gewohnheitsmässige Ubung von Sanftmut, Geduld, Freigebigkeit, Demut und anderen Tugenden bezwungen haben, um sich in Ruhe dem beschaulichen Leben hingeben zu können. Aus Mangel an dieser vorausgehenden Aszese gibt es viele, die, statt zu schreiten, sich mit einem Sprung auf Gottes Wege begeben. Nachdem sie dann einen grossen Teil ihres Lebens in Beschauung zugebracht haben, finden sie sich ohne irgend welche Tugend, sind ungeduldig, jähzornig, hochmütig, sobald man sie im geringsten auf die Probe stellt. Solche Menschen führten weder ein tätiges, noch ein beschauliches Leben, noch Verbindung der beiden, sondern sie bauten auf Sand. Leider Gottes wird dieser Fehler nur zu häufig begangen t "

1316. B) Die Pflege der Gaben geschieht auch durch Bekämpfung des Weltgez'stes, der sich im strengsten Gegensatz zum Geiste Gottes befindet. Das verlangt von uns der hl. Paulus : " Wir haben nicht den Geist dieser Welt empfangen, sondern

, In lIarn Ilre, q. 182, a. I, § VII, cfr. JORET, Vie spir., 10. April 1920,

S. 45-49 und La Contemplation mystique, 1923, S. 71.

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den Geist, welcher aus Gott ist, damit wir wissen, was uns von Gott verliehen worden ist. .. Der sinnliche Mensch nimmt das nicht auf, was des Geistes Gottes ist. Denn ihm ist es Torheit und er vermag es nicht zu verstehen, weil es geistig beurteilt werden muss: "Animalis autem homo non percipit ea qua: sunt Spiritus Dei. Stultitia enim est illi,et nOlZ /Jotest intelligere, quia spiritualitel' examinatur." I Zum erfolgreicheren Kampfe gegen diesen Weltgeist lese und erwäge man die Grundsätze des Evangeliums und richte sein Leben möglichst danach ein. Dann wird man in der notwendigen Verfassung sein, um sich vom Geiste Gottes führen zu lassen.

1317. C) Dann kommen noch die positiven Mittel, die uns unmittelbar unter den Einfluss des HI. Geistes stellen.

a) Vor allem die innere Sammlung, oder die Gewohnheit oft an Gott zu denken, der nicht nur bei uns, sondern in uns wohnt (N. 92). So erreicht man es allmählich, Gottes Gegenwart nicht aus dem Auge zu verlieren, selbst nicht inmitten der den Geist ganz in Anspruch nehmenden Arbeit. Oft zieht man sich in die Klause des eigenen Herzens zurück, findet darin den Hl. Geist und leiht seiner Stimme das Ohr:" Audiam quid loquatur in me Dominus Deus. " 2 Dann verwirklicht sich, was der Verfasser der Nachfolge Christi sagt: "ßeata anima qua: Dominum in se loquentem audit, et de ort t;/us verbum consolationis accipit. " 3 Der HI. Geist spricht zum Herzen, uno seine Worte bringen Licht, Kraft und Trost. '

1318. b) Da der göttliche Geist Opfer von uns verlangt, so gewöhne man sich daran, seinen leisesten Einsprechungen schnell und grossmiitig zu folgen, namentlich, wenn sie klar und deutlich vernehmbar sind: " QUa! placita sunt ei jacio semper. ,. 4 Sonst wÜrde er seine Stimme nicht mehr, oder

, I. Kor. !I, 12-14. - 2 Ps. LXXXIV, 9. 3 De Imit. I. !Ir, c. I. - 4 Joh. VIII, 29.

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ERSTES KAPITEL.

jedenfalls viel seltener, hören lassen: " Hodie si vocem ejus audieritis, nolz'te obdurare corda vestra, sicut Üz exacerbatione secundum die1lZ tentationis in deserto, ubi tentaverunt nze patres vestri. " , Lassen wir uns nicht entmutigen, auch bei scheinbar schweren Opfern nicht, sondern folgen wir dem Beispiele des hl. Augustinus und bitten wir einfach um die Gnade, sie zu bringen: "Da, Domine, quod jubes et jube quod vis. " Wichtig ist vor allem, niemals den göttlichen Eingebungen zu widerstehen. Je mehr Fügsamkeit wir zeigen, desto bereitwilliger regt er die Seele an.

1319. c) Man muss ihm sogar entgegenkommen, ihn vertrauensvoll anrufen. Dabei vereinige man sich mit dem Gottmenschen, der uns versprach, uns seinen Geist zu senden. Ferner mit Maria, dem herrlichsten Tempel und der Braut des Hl. Geistes. So taten es die Apostel im Abendmahlssaale, als sie im Verein mit Maria beteten: "cum Man'a matre Jesu." 2

In der Liturgie bietet uns die Kirche herrliche Gebete, um den göttlichen Geist auf uns herabzuflehen : die Sequenz " Veni Sancte Spiritus ", den Hymnus" Veni O'eator spin'tus" und andere Anrufungen, die sich im Pontificale für die Weihe der Subdiakone, Diakone und Priester finden. Sie besitzen zweifellos eine besondere Wirksamkeit und ihr Inhalt ist so schön, dass man sie nicht ohne RÜhrung aussprechen kann.

Eine sehr gute Gewohnheit besteht auch darin, vor jeder unserer Handlungen das" Veni Sancte Spiritus" zu beten, wie es in den Seminarien Üblich ist. Dadurch erflehen wir die göttliche Liebe, die Grundlage aller Gaben und die Gabe der Weisheit" recta sapere ", die als die vorzüglichste alle anderen Gaben enthält. \Vird das Gebet mit Eifer und Aufmerksamkeit verrichtet, so kann es nicht ohne Wirkung bleiben.

IV. Eino1'dnung der Gaben des Heilzg'en Gez·stes. 1320. Bei Ankündigung des kommenden Messias sagt der Prophet Isaias, der Geist Gottes werde auf ihm ruhen, "der Geist der \Veisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Wissenschaft und der Furcht." 3 Infolge unserer Einverleibung in Christus durch die Taufe

, Ps. XCIV, 8., Hebr. III, 7-8. - • Apostelgesch. I, 14.

3 Isa. XI, 2-3. - Der hebräische Text erwähnt nicht die Gabe der Frömmigkeit, wohl aber die .?,eptuaginta und die Vulgata, und seit dem 3. Jahrhundert bestätigt die Uberlieferung die Siebenzahl.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 907

haben wir Anteil an diesen Gaben. Der Überlieferung nach gibt es deren sieben.

Sie können verschiedentlich eingereiht werden. A) Vom Gesichtspunkte der Vollkommettlteit aus, ist die mindest vollkommene die Furcht Gottes, die vollkommenste die Gabe der Weisheit.

B) Geht man von den Fähigkeiten aus, auf die sie einwirken, so lassen sich intellektuelle und affektive Gaben unterscheiden: jene erleuchten den Verstand, es sind die Gaben der Wissenschaft, des Verstandes, der Weisheit und des Rates. Diese stärken den Willen und sind: Frömmigkeit, Stärke und Furcht Gottes. - Unter den intellektuellen Gaben sind es besonders drei, die der eingegossenen Beschauung dienen, die Gaben der vVissettSchaft, des Verstandes und der Weis/zeit. Die anderen heissen aktive Gaben.

C) Bringt man die Gaben in Beziehung mit den Tugenden, die sie vervollkommnen, so vervollkommnet

die Gabe des Rates die Klugheit;

die Gabe der FrihnmigkeÜ die' Gottesverehrung,

die der Gerechtigkeit nahesteht ;

die Gabe der Stärke die Tugend des Starkmutes; die Gabe der Furcltt Gottes die Mässigkeit;

Die Gaben der Wissenschaft und des Ve1'standes vervollkommnen die Tugend des Glaubens,'

Die Gabe der Furcht hängt mit der Hoffnung zusammen. Die Gabe der TYeisheit mit der cltristliclzen Liebe.

Dieser Einteilung beabsichtigen wir zu folgen, weil dabei durcr. Annäherung an die entsprechende Tugend die Wesensart jeder Gabe besser hervortritt.

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ERSTES KAPITEL.

§ n. Die einzelnen Gaben im besondern.

I. Die Gabe des Rates.

-1321. I. Wesen. A) Die Gabe des Rates vervollkommnet die Tugend der Klugheit. Durch eine gewisse übernatürliche, unmittelbare, klare Erkenntnis lässt sie uns schnell und mit Sicherheit beurteilen, was, namentlich in schwierigen Fällen, zu tun das Richtige ist. Mittels der Tugend der Klugheit überlegen und untersuchen wir sorgfältig, welches zur Erreichung eines Zieles die besten Mittel sind. Wir machen uns die Lehren der Vergangenheit und unsere gegenwärtige Erkenntnis zunutze, um eine kluge Entscheidung zu treffen. Anders verhält es sich mit der Gabe des Rates. Der HI. Geist spricht zum Herzen· und macht uns in einem Augenblicke begreiflich, was zu tun sei. So erfüllt sich das vom Heiland seinen Aposteln gegebene Versprechen :

"Wenn sie euch überantworten, so seid nicht besorgt, wie oder was ihr reden sollt. Denn es wird ~uch in jener Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. " Nolite" cogitare quo1JZodo aut quid loquamini, dabitur enim vo.bis in illa hora quid loquamini. " I Das sehen wir im Vorgehen des hI. Petrus nach Pfingsten. Er war vom Sanhedrin festgenommen worden und hatte den Befehl erhalten, J esus Christus nicht mehr zu predigen. Sogleich antwortet er : " Obedire oportet Deo magis quam hominibus. " 2 Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. "

Sehr viele Heilige erfreuten sich der Gabe des Rates. Der h1. Antoninus besass sie in so hohem Masse, dass die Nachwelt ihm den Beinamen des guten Ratgebers" Antont'nus cOllst'lz'orum" gab. Tatsächlich wurde er nicht nur von einfachen Gläubigen, sondern auch von Stattsmännern um Rat gefragt, insbesondere von Cosimo dei Medici, der ihm verschiedene Male eine Gesandtschaft übertrug. Auch in der h1. Katbarina von Siena bewundern wir diese Gabe. Schon in ihrer Jugend und, ohne studiert zu haben, gab sie Fürsten,

, Mattlz. X, 19. -' Apostelgesch. V. 29.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 909

Kardinälen, ja selbst dem Papste weise Ratschläge. Ähnlich war es bei der hl. J ungfrall von Orleans, J eanne d'Arc. Durchaus unvertraut mit der Kunst des Kriegführens, entwarf sie dennoch Feldzugspläne, die von den tüchtigsten Armeeführern bewundert wurden. Sie gab auch an, WO sie ihre Weisheit schöpfte : " Ihr hieltet euren Rat, ich den meinigen. "

1322. B) Der eigentliche Gegenstand der Gabe des Rates ist die gute Durchführung der einzelnen Handlungen. Durch die Gaben der Wissenschaft und des Verstandes werden uns allgemeine Grundsätze mitgeteilt. Die Anwendung derselben jedoch auf die tausend sich darbietenden Einzelfälle geschieht durch die Gabe des Rates. Im Lichte des HI. Geistes erkennen wir, was zur bestimmten Zeit, am bestimmten Ort, unter bestimmten Umständen zu tun ist und welche Ratschläge den uns anvertrauten Seelen zu geben sind.

1323. 2. Notwendigkeit. A) Allen ist diese Gabe notwendig, und zwar in jenen wichtigeren und schwierigen Fällen, in denen es sich um das Heil der Seele oder deren Heiligung handelt, z. B. bei Berufsfragen oder bei gewissen Gelegenheiten zur Sünde, denen man bei Ausübung des Berufes begegnen kann. Die menschliche Vernunft ist fehlbar und unsicher auf ihren Wegen, kann darum nur langsam vorwärtsschreiten. Deshalb ist es von Wichtigkeit, in den entscheidenden Augenblicken unseres Lebens die Erleuchtungen des göttlichen Ratgebers zu empfangen, der mit einem einzigen Blicke alles überschaut und uns mit Sicherheit erkennen lässt, was wir in dieser oder jener schwierigen Lage zu tun haben. I "Mit der Gabe des Rates ", sagt Mgr Landrieux,,, besitzt die Seele die

, " Sed quia humana ratio non po test comprebendere singularia et contingentia qure occurrere possunt. fit quod " cogitationes mortalium sint timidre et incertre providentire nostrre. "(Sap. IX, 14). Et ideo indiget homo in inquisitione consilii dirigi a Deo qui omnia comprehendit; quod fit per donum consilii, per quod homo dirigitur quasi consilio a Deo accepto. " (S. THOMAS, Ha Ha:, q. 52. a. I ad I).

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sichere Unterscheidung der Mittel. Sie erkennt ihren Weg und wandelt auf ihm mit Sicherheit, wäre er auch rauh, öde und widerlich. Sie versteht es, die günstige Stunde abzuwarten. " I

B) Dieser Gabe bedÜrfen besonders die Oberen und die Priester, sowohl zu ihrer persönlichen Heiligung als auch zur Heiligung der anderen. a) Zuweilen fällt es schwer, das innere Leben mit dem Apostolat ins richtige Verhältnis zu bringen, ebenso die den Seelen schuldige Zuneigung mit der vollkommenen Keuschheit, die Einfalt der Tauben mit der Klugheit der Schlangen, so dass eine besondere Erleuchtung des Hl. Geistes sehr willkommen sein wirci, um uns im gegebenen Augenblick unser Verhalten anzuweisen. b) Den Oberen steht es zu, für genaue Beobachtung der Regel zu sorgen, dabei aber das Vertrauen und die Zuneigung ihrer Untergebenen zu bewahren. Sie müssen daher sehr taktvoll vorgehen, um Strenge mit Güte zu vereinigen, die Vorschriften und Ermahnungen nicht zu häufen und sie müssen Sorge tragen, dass die Regel mehr aus Liebe als aus Furcht beobachtet werde. c) Welch grosser Erleuchtung bedürfen erst die seelenjüftrer, um zu unterscheiden, was für jede der ihnen anvertrauten Seelen sich eignet, um deren Fehler festzustellen und die besten Mittel zu ihrer Besserung zu wählen. Ferner, um Berufe zu entscheiden und jede Seele zu der Stufe der Vollkommenheit oder zu der Lebensweise anzuleiten, zu der sie bestimmt ist!

1324. 3. Mittel zu ihrer Pflege. A) Zur Pflege dieser Gabe ist es vor allem notwendig, von einem tiefen Gefühl der eignen Unfähigkeit durchdrungen zu sein und oft sich an den Hl. Geist zu wenden, damit er uns seine Wege lehre:" Vias tuas, Domine, demonstra milu',' et semitas tuas edoce me." 2 Er wird dann nicht verfehlen, uns auf die eine oder andere \Veise mit seinen Erleuchtungen zu Hilfe zu kommen, weil er sich den Demutigen zuneigt. Das wird besonders der Fall sein, wenn wir darauf bedacht sind, ihn schon am Morgen für den ganzen Tag

'MGR LANDRIEUX, op. ci!. S. 163. - " Der Verlust dieser Gabe verursacht uns grosse Nachteile", sagt P. ST. JURE, 1. T., 4. Kap. § 4-, " weil er IIns in unseren Gedanken unklar, in unseren Plänen blind, in unseren Entschlüssen über:stürzt, in unseren Worten unbedacht und in unserer Art und Weise zu handeln! vermessen macht.

2 Ps. XXIV, 4.

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anzurufen, zu Beginn unserer hauptsächlichsten Handlungen und in jeder schwierigen Lage.

B) Ausserdem gewöhne man sich daran, der Stimme des HI. Geistes Gehijr zu schenken, alles in seinem Lichte zu beurteilen, ohne Rücksicht auf menschliche Erwägungen, und seinen leisesten Einsprechungen Folge zu leisten. Findet er dann in uns eine fügsame und bildsal1).e Seele, so wird er viel häufiger zum Herzen sprechen I.

11. Die Gabe der Pietät.

1325. I. Wesen. Diese Gabe vervollkommnet die der Gerechtigkeit angegliederte Tugend der Gottesverehrung. Sie bewirkt in unseren Herzen kindliche Zuneigung zu Gott und grosse Verehrung heiligen Personen oder Dingen gegenÜber, sowie heiligen Eifer in Eifüllung unserer religiösen Pflichten.

Die Tugend der Gottesverehrung wird nur mit vieler il1ülle erworben, die Gabe der Pietät vom HI. Geist mitgeteilt.

A) Durch diese erkennen wir in Gott einen sehr guten und sehr liebevollen Vater und nicht nur immer den höchsten Herrn : "Accepistis spiritu1ll adoptionis jiliorum, in quo clamamus : "A bba, Pater. "2 Sie erweitert das Herz durch Vertrauen und Liebe, ohne jedoch die Gott gebührende Ehrfurcht auszuschliessen.

Sie pflegt daher eine dreifache Gesinnung in uns: I) kindliche Ehrfurcht gegen Gott, derzufoJge wir ihn mit hl. Eifer als unseren vielgeliebten Vater anbeten. Statt eine.schwere Aufgabe zu sein, werden uns dann die geistlichen Ubungen gleichsam ein HerzensbedÜrfnis, eine Erhebung der Seele

, Darum sagte DONoso CORTES, die besten Ratgeber seien die Beschaulichen: " Unter den Menschen, die ich genau kannte, und es waren deren viele, erkannte ich unerschütterlich gesunden Menschenverstand, wahren Scharfsinn, wunderbare Fähigkeit, die schwierigsten Fragen klug und praktisch zu lösen, einzig und allein bei jenen, die ein beschauliches und zurückgezogenes Leben führten." (Essai sur le "atllOlicisme, S. 200.)

Z Römer, VIII, 15.

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zu Gott sein. 2) inn(t;e und grossmütige Liebe, ~ie uns antreibt, um Gottes Wohlgefallens willen uns fÜr 11m und seine Ehre zu opfern : " Quce placita szmt ei, facio semper. " Also keine selbstsüchtige Frömmigkeit, kein Anstreben von Tröstungen, keine leblose Frömmigkeit, die untätig bleibt, wenn sie handeln sollte, keine Gefuhlsfrömmigkeit, die nur immer auf RÜhrung bedacht ist und sich in Träumereien verliert, sondern mannhafte Frömmigkeit, die durch ErfÜllung des göttlichen Willens ihre Liebe beweist. 3) liebenden Gehorsam, der in den Geboten und Räten den allerweisesten und' väterlichsten Ausdruck der Absichten Gottes, uns betreffend, sieht. Daher völlige Hingabe an diesen überaus liebevollen Vater, der besser als wir weiss, was fur uns gut ist, und der uns prüft, um uns zu reinigen und mit sich zu vereinigen ; "Diligentibus Deum omnia cooperantur in

bonu1/l. " , .

1326. B) Aus derselben Gesinnung heraus lieben wir die Personen und Dinge, die am göttlichen Wesen und dessen VoIIkommenheiten teilhaben.

I) SO lieben und verehren wir die allerseligste Jungfrau, weil sie die Mutter Gottes und unsere Mutter ist (N. 155- 156). So Übertragen wir auf sie etwas von unserer Verehrung und Liebe zu Gott, weil sie unter allen Geschöpfen am schönsten seine Vollkommenheiten widerspiegelt. 2) Ebenso lieben und verehren wir in den Engeln und Heiligen den Widerschein der göttlichen Eigenschaften. 3) Die Heilige Schrift erscheint uns als das Wort Gottes, als ein von unserem himmlischen Vater an uns geschriebener Brief, eine Mitteilung seines Gedankens und seiner Absichten mit uns.

4) Die hl. Kirche ist für uns die aus J esu heiliger Seite hervorgegangene Braut Christi, die seine Sendung auf Erden fortsetzt und mit seiner unfehlbaren Autorität ausgestattet ist. Unsere Mutter, die uns zum Gnadenleben geboren hat und es durch ihre Sakramente nährt. Wir nehmen daher Anteil an allem, was sie nahe berÜhrt, an ihren Erfolgen wie an ihren Verdemütigungen. Wir machen ihre Sache zur unsrigen und finden unser Glück in der Förderung ihrer Interessen. Wir teilen ihre Leiden, kurz, wir bringen ihr Kindesliebe entgegen. Dazu gesellt sich von Herzen komtltender Gehorsam, weil wir wissen, dass sich ihren Vorschriften unterwerfen, Gott selbst gehorchen heisst :" Qui vos audit, 11le audit. "2 5) Das Haupt dieser Kirche, der Papst, ist fÜr uns der Statthalter, der sichtbare Stellvertreter J esu Christi auf Erden : auf ihn übertragen wir deshalb unsere

, Römer, VIII, 28. - 2 Luk. X, 16.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 913

Verehrung und unsere Liebe zum unsichtbaren Haupte der Kirche, und es ist uns süss, ihm wie Christus selbst zu gehorchen. 6) Solche Gesinnungen hegen wir auch gegen unsere Oberen, in denen wir gern J esus Christus sehen : " sujeriori meo imaginelll Christi imposui. " Sind uns von Gott Untergebene anvertraut, so behandeln wir sie mit derselben zärtlichen Liebe, die Gott uns selbst bezeugt.

1327. 2. Notwendigkeit. A) Dieser Gabe bedürfen alle Christen, um freudig und eifrig ihre Pflichten zu erfüllen. Die Pflichten der Gottesverehrung, die des ehrfurchtsvollen Gehorsams gegen ihre Vorgesetzten, die des freundlichen Entgegenkommens ihren Untergebenen gegenüber. Ohne sie würden sie mit Gott nur immer wie mit einem Gebieter verkehren: das Gebet wäre eher eine Last als ein Trost. Die Prüfungen der göttlichen Vorsehung würden als strenge, ja sogar ungerechte Strafen gelten. Unter dem Einfluss dieser Gabe jedoch erscheint uns Gott als Vater. Mit kindlicher Freude bringen wir ihm unsere Huldigungen dar. In sanfter Ergebung küssen wir die Hand, die uns schlägt, um uns zu reinigen und inniger mit ihm zu vereinigen.

1328. B) Viel notwendiger noch ist diese Gabe den Priestern, Ordenspersonen und allen jenen, die, trotz des Verweilens in der Welt, sich Gott weihen. a) Ohne sie wÜrden die das Gewebe ihres Lebens bildenden, zahlreichen geistlichen Ubungen bald als ein unerträgliches Joch erscheinen. Denn nur, wenn man Gott liebt, kann man längere Zeit an ihn denken. Die Gabe der Pietät ist es nun gerade; die im Verein mit der Liebe der Seele solche Gesinnungen kindlicl1er Zärtlichkeit gegen Gott einflösst, dass die geistlichen Ubungen iIl ein trautes Gespräch mit Gott verwandelt werden. Freilich mögen Trockenheiten zuweilen das Gespräch stören. Sie werden aber geduldig und selbst freudig hingenommen, kommen sie doch vom Vater, der sich nur verbirgt, damit man ihn suche. Man wünscht ja nur eines: ihm zu gefallen. So ist man dann auch im Leiden zufrieden. Ubi alllatur, non laboratur.

b) Ebenso notwendig ist diese Gabe, um in Güte und Sanftmut mit den uns minder sympathischen Seelen zu verkehren. Ferner, um väterliche Zuneigung jenen zu bezeu-

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ERSTES KAPITEL.

gen, die Gott uns anzuvertrauen geruht und um in die Gesinnungen des h1. paulus einzugehen, der J esus Christus in seinen Jüngern heranbilden wollte : "Filioli mei quos z'terum parturio donec formetur Christus in vobis. " •

1329. 3. Mittel zur Pflege dieser Gabe.

A) Das erste ist, häufig die schönen Worte der HI. Schrift betrachten, die uns die Vatergüte und die Barmherzigkeit Gottes gegen die Menschen, besonders gegen die Gerechten schildern (N.93-96). Gott will namentlich als Vater gekannt und geliebt werden, und zwar vor allem im Neuen Testament. Wenden wir uns also in allen Schwierigkeiten an ihn mit dem Eifer und Vertrauen eines Kindes. So werden wir unsere frommen Übungen mit Liebe verrichten und vor allem das Wohlgefallen Gottes, nicht aber unseren eigenen Trost suchen.

B) Das zweite liegt in der Uln7.l/andlung unserer gewölmlicJlen Handlungen in Akte der Gottesverelwung, in Handlungen, die wir zur Freude unseres himmlischen Vaters vollziehen (N. 527). So wird unser ganzes Leben zum Gebet, folglich ein Akt kindlicher Liebe gegen Gott und brüderlicher Liebe gegen den Nächsten. Auf diese Weise befolgen wir vollkommen das Wort des hl. Paulus : " Exerce teipsum ad pietatem ... jJietas autem ad olnnia utilis est,promissionem habens vita qua nunc est et futura: die Frömmigkeit ist zu allem nützlich, da sie die Verheissung dieses und des zukünftigen Lebens hat. " 2

III. Die Gabe der Stärke.

1330. I. Wesen. Durch diese Gabe wird die Tugend des Starkmutes vervollkommnet, denn der Wille erhält einen solchen Antrieb und eilte solche Energie, dass er befähigt wird, trotz aller Hindernisse, furchtlos undfreudig grosse Dinge zu tun oder zu leiden.

Sie unterscheidet sich von der Tugend, da sie nicht wie diese von unseren durch die Gnade unterstÜtzten Anstrengungen herrÜhrt, sondern von der Einwirkung des H1. Geistes. Durch ihn wird die Seele von oben her erfasst und ihr

, Galat. IV, 19. - 2 I. Tim. IV, 7.8.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 915

besondere Herrschaft über die niederen Fähigkeiten und die äusseren Schwierigkeiten verliehen. Mit der Tugend kann in der Seele ein gewisses Zögern, eine gewisse Furcht vor Hindernissen und Misserfolgen bestehen bleiben. Die Gabe verleiht Entschiedenheit, Sicherheit, Freude und sichere Hoffnung auf Erfolg und erzielt so bedeutendere Ergebnisse. Darum heisst es vom hL Stephan : er war voll Kraft, weil er vom HL Geiste erftillt war: " stephanus autem plenus gratia et {ortitudine ... cum autem esset p/enus Spiritu sancto." ,

1331. Handeln und leiden, selbst unter grössten Schwierigkeiten, und das um den Preis von Anstrengungen, die zuweilen heldenhaft sind, das sind die beiden Akte, zu denen uns die Gabe der Stärke befähigt.

a) Handeln, d. h. ohne Furcht und Zögern die schwierigsten Dinge unternehmen, z. B. bei sehr bewegtem Leben vollkommene Geistessammlung Üben, wie dies der hL Vinzenz v. Paul oder die hL Therese taten. In gefährlicher Umgebung die Keuschheit unversehrt bewahren wie der hl. Thomas v. Aquin und der hl. Karl Borromäus. Trotz aller Ehrungen demÜtig bleiben wie der hl. Ludwig. Den Gefahren, Widerwärtigkeiten, Mühen, ja dem Tode selbst entgegengehen wie der h1. Franz Xaver. Die Menschenfurcht mit Füssen treten und die Ehren verschmähen wie der hl. Chrysostomus, der nur eins fÜrchtete : die SÜnde. b) Nicht minderen Starkmutes bedarf es zum Ertragen langer, schmerzlicher Krankheiten, wie die h1. Lidwina sie ertrug. Ebenso innerer PrÜfungen, die gewisse Seelen bei den passiven Prüfungen durchzumachen haben. Oder nur, um während eines ganzen Lebens alle Punkte der Regel zu beobachten, ohne jemals zu versagen. Als die vorzÜglichste Gabe der Stärke gilt das Martyrium. Und das mit Recht. Gibt man doch Gott das Kostbarste, das Leben, hin. Jedoch durch vollständige Hingabe ftir die Seelen sein Blut tropfenweise vergiessen, wie dies nach dem Vorbilde des hl. Paulus so viele im Verborgenen lebende Priester und so viele fromme Laien tun, ist ein allen zugängliches und nicht minder verdienstliches Martyrium.

1332. 2. Notwendigkeit. Es ist überflüssig, von der Notwendigkeit dieser Gabe ausführlich zu sprechen, sagten wir doch bereits (N. 360), in

, Apostelgesclt. VI, 8.- VII, 55.

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ERSTES KAPITEL.

manchen Fällen sei Heroismus nötig, um den Gnadenstand zu bewahren. Da ist eben die Gabe der Stärke, die uns zur grossmütigen Voll ziehung solch schwieriger Taten befähigt.

Wieviel notwendiger noch ist diese Gabe in manchen Berufen, welche fordern, dass man sich Krankheiten, ja selbst dem Tode aussetze, wie z. B. im ärztlichen, militärischen oder priesterlichen Berufe.

1333. 3. Mittel zur Pflege. A) Da unsere Kraft nicht von uns selbst kommt, sondern von Gott, so müssen wir sie offenbar in demütiger Erkenntnis unserer Ohnmacht in ihm suchen. Die göttliche Vorsehung bedient sich tatsächlich der schwächsten \iVerkzeuge. Nur müssen sie ihrer Schwäche bewusst sein und sich auf jenen stützen, der allein sie stärken kann. Das ist der Sinn der Worte des hI. Paulus I : " Was vor der Welt töricht ist, hat Gott auserwählt, um die Weisen zu beschämen, und das vor der Welt Schwache hat Gott auserwählt, um das Starke zuschanden zu machen... um das, was etwas ist, zunichte zu machen, damit kein Mensch sich vor ihm rühme." Besonders bei der hI. Kommunion könn.<;n wir in J esus die Kraft schöpfen, deren wir zur Uberwindung aller Hindernisse bedürfen. Der hI. Chrysostomus sagt von den Christen, die von der hI. Kommunion kamen, sie seien stark wie Löwen gewesen, weil sie an der Kraft Christi selbst teilhatten. 2

1334. B) Sorgfältig benütze man auch die tausend kleinen Gelegenheiten, bei denen man durch andauerndes Bemühen sich im Starkmut und in der Geduld üben kann.

Das tun jene, die sich freudig vom frühen Morgen bis zum späten Abend einer bestimmten Tagesordnung unterziehen. Die ihre Gebete im Laufe des Tages aufmerksam und

, I. Kor. I, '27-29.

2 " Ab illa mensa recedamus tanquam leones, ignem spirantes, diabolo terribiles. " (I" loa". homil. LXI, 3. P. L' LIX, 260).

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 917

gesammelt zu verrichten trachten. Die schweigen, wenn sie gerade Lust haben, zu sprechen. Die es vermeiden, Dinge anzusehen, die ihre Neugier erregen. Die ohne Klage die Rauheiten der Jahreszeiten ertragen. Die den ihnen persönlich unsympathischen Menschen freundlich begegnen, geduldig und demÜtig VorwÜrfe, die man ihnen macht, annehmen. Die sich dem Geschmack, den WÜnschen, den Eigenheiten der anderen anpassen. Die ohne Reizbarkeit Widerspruch vertragen, kurz, die sich bemÜhen, ihre kleinen Leidenschaften zu besiegen und ihrer selbst Herr zu werden. Und das alles nicht nur einmal vorübergehend, sondern gewohnheitsmässig zu tun, nicht nur geduldig, sondern gern, das ist schon heldenhaft. Dann wird es auch nicht schwer sein, bei wichtigen, sich darbietenden Gelegenheiten heroisch zu handeln. I Wir werden dann die Kraft selbst des Hl. Geistes in uns haben: "Accipietis virtutem supervenientis Spiritus Sancti in vos et eritis mihi testes. " 2

IV. Die Gabe der Furcht.

1335. I. Wesen. Es handelt sich hier nicht um Angst vor Gott, so dass die Erinnerung an unsere Sünden uns beunruhige, betrübe oder aufrege. Auch nicht um die Furcht vor der Hölle, die wohl als Antrieb zur Bekehrung, nicht aber zur Vollendung unserer Heiligung genügen kann. Gemeint ist hier die ehrerbietz'ge, kindlz'che Furcht, die uns vor jeder Beleidigung Gottes zurückschrecken lässt.

Die Gabe der Furcht vervollkommnet gleichzeitig die Tugenden der Hoffnung und der 1/1 ässigung. Die Tugend der Hoffnung, denn wir fürchten, Gott

,Dieselbe Lehre gab eines Tages die göttliche Weisheit dem seI.

H. Suso : "Zuerst", sagte sie, "muss mein Diener die Selbstverleugnung lieben und sich und allen Geschöpfen ganz absterben. Eine solche Stufe von Vollkommenheit ist sehr selten, aber, wer sie <:rreicht, erhebt sich rasch zu GOtt ... Kann man sich da wundern, wenn KÜmmernisse und Kreuze dann nicht mehr soviel Eindruck machen wie bei jenen, deren ausgesprochener Wunsch ist, nicht zu leiden? Die Hei. ligen sind nicht mehr als andere unempfindlich für Schmerz ... aber ihre Seele ist vor jeder Anfechtung sichergestellt, weil sie ja gerade nur das Kreuz sucht und liebt... Ihr L.eib leidet zwar, aber ihre Seele wird trunken von Gott und geniesst in der VerzÜckung ein unaussprechliches Glück. .. Die Liebe, von der sie erfasst sind, bewirkt, dass Schmerz und ~etrübnis für sie aufhören. Sie kennen nur tiefen und unerschütterlichen Frieden in Gott. ..

2 Aposteigeseh. I, 8.

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ERSTES KAPITEL.

zu missfallen und von ihm getrennt zu werden. Die Tugend der Mässigung, weil sie uns von den falschen Freuden loslöst, die uns von Gott trennen könnten.

Sie lässt sich demnach beschreiben als eine Gabe, die unseren Willen zu kindlicher Ehifurcht gege1't Gott geneigt macht, von der Sünde, als ihm missfallend, entfernt und uns auf die Macht seines Beistandes hoffen lässt.

1336. Sie begreift drei Hauptakte : a) ein lebhaftes GefÜhl der Grösse Gottes, folglich äussersten Abscheu vor den geringsten SÜnden, die seine unendliche Majestät beleidigen. " Weisst du nicht ", sagte J esus zur hl. Katharina v. Siena', "dass alle Qualen, die die Seele in diesem Leben erträgt oder ertragen kann, nicht genügen, um auch nur die kleinste SÜnde zu bestrafen? Die mir, dem unendlichen Gute, zugefügte Beleidigung schreit nach unendlicher Sühne. Darum sollst du wissen, dass alle Leiden dieses Lebens nicht Strafe, sondern Züchtigung sind ... " Das hatten die Heiligen erfasst. Sie machten sich wegen ihrer leichtesten Vergehen bittere VorwÜrfe und waren der Meinung, nie genug zu deren SÜhne getan zu haben. b) Lebhafte Neue über die geringsten begangenen Fehler, weil durch sie der unendliche und Überaus gÜtige Gott beleidigt wurde. Daher entsteht der heisse und aufrichtige Wunsch, sie zu sÜhnen, und zwar durch häufige Akte der Liebe und der Aufopferung. 2

c) Wachsame Sorge in Vermeidung der Gelegenheiten zur SÜnde, gleichwie man einer Schlange ausweicht: " Quasi a facie colubri fuge peccata. "3 Folglich grosse Aufmerksamkeit, um Überall das vVohlgefallen Gottes zu erkennen und sich nach ihm zu richten.

Es leuchtet ein, dass bei solchem Tun durch Vermeidung der verbotenen Freuden die Tugend der Mässigung, und durch

, Dialogue, l. 1., 2. Kap. S. 9. Ausg. Hurtaud ..

2" Was ich will ". sagte Gott zur hl. Katharina, "sind vielfache Werke mannhaften Leidens als Wirkung der Geduld und der anderen inneren Tugenden der Seele ... Ich, der Unendliche, bin auf der Suche nach unendlichen Werken, d. h. einer unend.1.ichen Gesinnung der Liebe. Die Busswerke und anderen leiblichen Ubungen sollen daher meinem Willen gemäss als Hilfsmittel gebraucht werden und im Gemüte nicht eine HauptsteIle einnehmen ... Die Seele nämlich empfangt und erzeugt die Tugend in der Wahrheit, und durch solch innere Kraft wird das endliche Werk mit der Gesinnung der Liebe vereint und erlangt sodann meine Zustimmung und mein Wohlgefallen. " (Dialogue.

I. B. 10. Kap. S. 38-39.) 3 Eccli. XXI, 2.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 919

Erhebung der Blicke zu Gott in kindlichem Vertrauen die Tugend der Hoffnung vervollkommnet wird.

1337. 2. Notwendigkeit. A) Diese Gabe ist notwendig, damit man eine zu grosse Vertrautheit mit Gott vermeide. Manche nämlich werden versucht, Gottes Grösse und den unendlichen Abstand, der uns von ihm trennt, zu vergessen, mit Gott und heiligen Dingen ungebührliche Freiheiten zu nehmen, ihm gegenüber eine zu kühne Sprache zu führen und mit ihm wie mit ihresgleichen zu verkehren. Zwar ladet Gott selbst gewisse Seelen zu innigem Verkehr und erstaunlicher Vertrautheit ein. Dann jedoch muss er die ersten Schritte tun, nicht wir. Übrigens hindert kindliche Ehrfurcht durchaus nicht die innige Vertrautheit, wie man sie bei einigen Heiligen feststellte. I

B) Von nicht geringerem Nutzen ist diese Gabe, uns im Verkehr mit dem Nächsten, namentlich mit unseren Untergebenen, vor jenem hochfahrenden lind stolzen Wesen zu bewahren, das mehr dem heidnischen als dem christlichen Geiste entspricht. In ehrerbietiger Furcht Gottes wissen wir, dass Gott ihr Vater ebenso wie der unsrige ist. Wir werden daher von unserer Amtsvollmacht auf bescheidene Weise Gebrauch machen, wie es sich für jene ziemt, die sie nicht aus sich, sondern von Gott haben.

1338. 3. Mittel zur Pflege dieser Gabe. A) Man betrachte oft über die unendliche Grösse Gottes,

,Diese sehr richtige Bemerkung macht P. de .. Smedt (Notre vie surnat. t. I, S. 501-502) : " Haben wir von der Uherlegenheit eines Mensch~n einen hohen Begriff, so nähern wir uns ihm zunächst mit einem gewissen Gefühl von Schüchternheit oder sogar Verwirrung. Zeigt sich nun aber dieser Mensch, den wir als hoch über uns stehend betrachten, voll Güte, bekundet er lebhafte Freude, un~ zu sehen, mit uns zu sprechen. sich von uns geliebt zu wissen ... will er scheinbar mit Vps auf dem Fusse innigster Vertrautheit stehen, so wird die seiner Uterlegenheit gezollte Ehrfurcht uns nicht hindern, eine lebhafte Zuneigung zu ihm zu fassen ... Im Gegenteil. Je höheren Begriff wir von seiner Uberlegenheit haben, desto grässer ist auch unsere Liebe, desto tiefer unsere Dankbarkeit und desto lebhafter unser Wunsch, ihm diese Liebe und Dankbarkeit durch unsere innige Zuneigung und Ergebenheit zu beweisen. Andererseits dringen wir bei näherem Verkehr in sein Inneres ein und schätzen mehr die Vorzüglichkeit seiner Eigenschaften. Unsere Verehrung für ihn steigert sich, wir sind von Dankbarkeit durch-

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ERSTES KAPITEL.

seine Eigenschaften, seine Gewalt über uns und erwäge im Lichte des Glaubens, wie selbst die allerkleinste Sünde eine Beleidigung der unendlichen Majestät Gottes sei. Dann kann man nicht umhin, als von ehrerbietiger Furcht vor dem höchsten Herrn, den wir unaufhörlich beleidigen, erfasst zu werden : " Conjige timore tuo carnes meas, a judiciis enz'Jn tuis timui." I Tritt man vor ihn hin, so geschieht es mit demütigem und zerknirschtem Herzen.

B) Um sich in dieser Gesinnung zu erhalten, tut man gut daran, seine Ge2/Jissense1jorsehunl{en recht sorgfältig zu machen und sich dabei noch mehr zur inneren Zerknirschung als zum kleinlichen Aufsuchen der begangenen Fehler Mühe zu geben. " Cor eontritum et humiliatum, Deus, non despieies. "2 Und damit die Reinheit des Herzens immer vollkommener werde, sollte man sich mit dem büssenden J esus vereinigen, sich immer mehr ihm einverleiben. Je mehr wir teilhaben an seinem Hass der Sünde und an seiner Schmach, desto vollständiger werden uns die Sünden vergeben werden.

V. Die Gabe der Wissenschaft.

1339. Bemerkungen zu den drei intellektuellen Gaben. Mit der Gabe der Wissenschaft treten wir an die drei intellektuellen Gaben heran, die am unmittelbarsten an der Beschauung mitwirken. Die Gabe der Wissenschaft, wodurch wir die geschaffenen Dinge in ihrer Beziehung zu Gott richtig beurteilen. Die Gabe des Verstandes, die uns den innigen Zusammenhang der geoffenbarten Wahrheiten erkennen lässt. Die Gabe der Weisheit, wodurch wir sie beurteilen, hochschätzen und uns ihrer freuen. Gemeinsam ist allen dreien, dass sie Eifahrungskenntnis (connaissance ex perimentale) oeler eine derselben ähnliche vermitteln, weil wir durch sie die göttlichen Dinge nicht durch VernunftschlÜsse, sondern infolge eines höheren Lichtes erkennen, so

drungen und fühlen uns beschämt in Anbetracht der uns bewiesenen Zärtlichkeit, Aufopferung und Zuvorkommenheit. "

, Ps. CXVIII, 120. - 'Ps. L, 19.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 921

dass wir sie erfassen, als hätten wir sie persönlich erfahren. Dieses vom Hl. Geiste mitgeteilte Licht ist zwar das Licht des Glaubens, aber tätiger, leuchtkräftiger als gewöhnlich. Es verleiht uns eine Art unmittelbare, klare Erkenntnis (Intuition) jener Vvahrheiten, ähnlich der der ersten Prinzipien. I

1340. 1. Wesen. Die Wissenschaft, von der hier die Rede ist, ist nicht durch die Vernunft zu erwerbeneIe, philosophische Wissenschaft, auch nicht die durch Verstandesarbeit auf der Grundlage des Glau bens aufzubauende theologische Wissenschaft, sondern elie Wissenschaft der Heiligen, vermöge der wir elie geschaffenen Dinge in ihren Beziehungen zu Gott richtig beurteilen.

Zu definieren ist daher elie Gabe der Wissenschaft als eine Gabe, die unter der erleuchtenden Einwirli:ung des Hl. Geistes die Tugend des Glaubens vervollkommnet, da sie uns die geschaffenen Dinge in ihren Beziehungm zu Gott erkennen lässt.

" Denn ", sagt Olier2,,, Gott ist ein Wesen, das alles erftillt und alles ausfüllt. Unter der Oberfläche aller Dinge tritt er in Erscheinung. Am Himmelszelte und auf der Erde spricht er zu uns von seinem eigenen Wesen ... In jedem Geschöpf ist gleichsam ein sichtbares Zeichen von Gottes Vollkommenheiten. Wir sollen daher tief verehren, was es vorstellt. Es wäre uns das leicht gewesen, hätten wir die uno serem Stammvater einst verliehene Gnade bewahrt. .. Die Sünde jedoch hat sie uns entrissen. In J esus Christus wird sie der Menschheit zurückgegeben, aber nur ganz reinen Seelen. Ihnen offenbart der Glaube, die Majestät Gottes, wo immer diese ihre Spuren zurücklässt ... Dieses Glaubenslicht heisst die Wissenschaft der Heiligen im eigentlichen Sinne. Ohne den Beistand der Sinne, ohne die Erfahrung der Vernunft zeigt sie die Abhängigkeit, in der sich jedes Geschöpf in bezug auf Gott befindet. .. Ohne Anstrengung und in einem Augenblicke wird diese Erkenntnis erworben. Mit einem Blicke dringt man in den Grund aller Dinge ein und in jedem findet man Veranlassung zur Erhebung des Herzens zu Gott nnd zu immerwährender Beschauung.".

'D. JORET, Les dons du S. Esprit, in " Vie spirit." März 1920,

S. 383-393. - 2 Esprit de M. Olier, t. II, S. 346.

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1341. Gegenstand der Gabe der Wissenschaft sind demnach elie geschaffenen Dinge, insofern sie uns nämlich zu Gott fültrm.

a) Erwägen wir ihren Ursp1'ung, so sagen sie uns, dass sie von Gott kommen, eier sie erschuf und sie erhält: "lpse feclt nos et non ipsi nos. " Erforschen wir ihr Wesen, so sehen wir in ihnen ein Abbild oder einen Widerschein Gottes. Ihr Zweck ist, uns Gott zuzuführen. Sie sind gleichsam Sprossen, auf denen wir zu Gott emporsteigen sollen.

In diesem Lichte betrachteten die Heiligen die Dinge, besonders der hl. Franz v. Assisi. Bei ihm standen alle Wesen in gemeinsamer Beziehung zu dem einen Vater. Jedes war ihm wie ein Bruder in der grossen Familie des himmlischen Vaters. Die Sonne, das fliessende Wasser, die Blumen und die Vögel." Fühlte er die unerschütterliche Festigkeit und die Gewalt der Felsen, so empfand und erkannte er zugleich, wie stark Gott sei und welche Stütze er uns anbiete. Der Anblick einer Blume im Morgentau oder kleiner Schnäbel, clie geöffnet in unbefangenem Vertrauen aus einem Vogelnest herausragten, alles offenbarte ihm die Reinheit und liebenswürdige Schönheit Gottes, ebenso wie die unendliche Liebe des göttlichen Herzens, aus dem alles entsprang. Und dieses GefÜhl erfiillte Franz mit einer Art unausgesetzter Freude, so oft er Gott wahrnahm und an Gott dachte, wie es ihn auch unaufhörlich drängte, ihm Dank zu sagen. '

b) Die Gabe der Wissenschaft ist es auch, die uns schnell und sicher erkennen lässt, was unsere und der aneleren Heiligung betrifft.

So z. B. erleuchtet uns diese Gabe Über den Zustand unserer Seele, Über deren geheime Regungen, den Anfang dieser, sowie Über ihre Beweggründe und über die Wirkungen, die daraus hervorgehen können. Sie belehrt uns auch über die Art, den Nächsten im Hinblick auf sein Seelenheil zu behandeln. Dank dieser Gabe erkennt der Prediger, was er sagen soll, um seinen Zuhörern Gutes zu tun. Der Seelenfuhrer, wie er die Seelen leiten soll, eine jede nach ihren geistlichen BedÜrfnissen und dem Gnadenzuge, und zwar durch eine Erleuchtung, die es ihm ermöglicht, bis auf den Herzensgrund zu schauen. Es ist dies die eingegossene Gabe der

'J. JOERGENSEN, S. Fran(ois d'Assise, S. 463-466. - In "Iournee c1l1'ttie1l1te" von Olier finden sich dieselben Gedanken.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 923

Unterscheidung der Geister. So wussten viele Heilige, von demjenigen erleuchtet, der Herz und Nieren erforscht, die geheimsten Gedanken ihrer Beichtkinder, noch ehe diese ihre Sünden geoffenbart hatten.

1342. 2. Nutzen. Wie überaus nützlich diese Gabe den Christen im allgemeinen, besonders aber den Ordenspersonen und Priestern ist, leuchtet von selbst ein.

a) Sie löst uns vom Geschöpjlichen los, zeigt dessen Nichtigkeit, dessen Unfähigkeit, uns glücklich zu machen. Ebenso dessen Gefährlichkeit. Die Geschöpfe nämlich ziehen uns an sich und richten uns zugrunde. Sie fesseln uns, um uns von Gott abzulenken. Losgelöst von ihnen, erheben wir uns leichter zu Ihm, der allein die Wünsche unseres Herzen stillen kann, und mit dem Psalmisten rufen wir aus : " 0, hätte ich doch Taubenflügel, dass ich auffliegen und eine Ruhestätte finden könnte! Weit fort würde ich fliehen und in der Einsamkeit verweilen : Quis mz'lzi dabit penllas sieut columbae et volabo et requiescam? " ,

b) Sie verhilft uns zum reehten Gebrauch der Gescltöpfe, da wir uns ihrer als Sprossen bedienen, um zu Gott aufzusteigen. Dem natürlichen Triebe nach suchen wir Genuss in ihnen und sind geneigt, sie uns als Ziel zu setzen. Dank dieser Gabe sehen wir in ihnen nur, was Gott in sie legte. Von diesem schwachen Widerschein der göttlichen Schönheiten aus erheben wir uns zur ewigen Schönheit : " 0 jJulchritudo semjJer antiqua et semper nU'lIa, sero te eogll01Ji, sero te all'lavi/" 2

1343. 3. Mittel zu ihrer Pflege. a) Das Hauptmittel besteht darin, beim Betrachten der Geschöpfe unverwandt die Augen des Glaubens offen zu halten. Statt bei fliehenelen Schattenbildern zu verweilen, sollte man lieber in ihnen elen Urgrund sehen, eiern es gefiel, ihnen ein Abbild seiner Vollkommenheiten ~!nzuprägen, sich an ihn anklammern unel alles Ubrige verachten. So tat es der hl. Paulus, als er, von eier Liebe zu J esus hingerissen, schrieb: " ... um dessen twillen ich dieses allen verlustig gegangen bin und es für Kot erachte, damit ich Christus

'Ps. LIV, 7 .

• S. AUGUST., Conjess., I. X, C. 27.

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ERSTES KAPITEL.

gewinne ... propter quem omnia detrimentum feci et arbitror ut stercora, ut Christum lucrifaciam." I

b) In diesem Geiste werden wir alles Überflüssige zu entbehren wissen, sogar manches Nützliche, wie z. B. einen Blick, eine Lektüre, etwas Nahrung u. a. m., um es Gott zum Opfer zu bringen. So lösen wir uns nach und nach von den Geschöpfen los und sehen in ihnen nur noch, was uns zu deren Urheber führen kann.

VI. Die Gabe des Verstandes.

1344. 1. Wesen. Die Gabe des Verstandes unterscheidet sich insofern von der der Wissenschaft, als ihr Gegenstand umfassender ist. Statt sich auf die geschaffenen Dinge zu beschränken, erstreckt sie. sich auf alle geoffenbarten Wahrheiten. Sie blickt viel tiefer und lässt uns in den innersten Sinn der geoffen barten Wahrheiten eindringen ( z'ntus legere). Freilich ermöglicht sie uns nicht das Verständnis der Geheimnisse, aber sie lässt uns trotz des dunklen Sinnes deren Glaubhaftigkeit einsehen, ebenso wie deren Einklang unter einaneler und mit allem, was edel ist in der menschlichen Vernunft und bestätigt somit die Gründe der Glaubwürdigkeit.

Ihre Definition kann also lauten: eine Gabe, die unter der erleuchtenden Wirkung des Hl. Gez'stes uns tiife Erkenntnis der geoffenbarten Wahrheiten verleiht, ohne jedoch uns deren Geheimnis durchschauen zu lassen. Aus ihrer Wirkung auf unsere Seele werelen wir das besser ersehen.

1345. 2. Wirkungen. Diese Gabe ruft in uns drei Hauptwirkungen hervor:

A) Sie lässt uns in das Innere eier geoffenbarten Wahrheiten auf sechs verschiedene \Neisen eindringen, wie der hl. Thomas 2 lehrt.

I) Sie zeigt uns die unter den Akzidentien verborgene Substanz. So z. B. J esus unter den eucharistischen Gesta.lten. Das veranlasste den schlichten Landmann, den der hl. Pfarrer

1 Phil., IIl, 8. - 2 Ila !Ire, q. 8, a. 1.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 925

von Ars erwähnt, zu der Äusserung : " Ich schaue ihn an und er mich."

2) Sie erläutert den unter den Buclzstaben verborl{enen Sinn der Worte. So enthüllte der göttliche Meister den Jüngern von Emmaus den Sinn der Prophezeiungen. Und wie oft gewährt nicht der Hl. Geist den innerlichen Seelen das Verständnis für den tiefen Sinn dieser oder jener Stelle in der Hl. Schrift!

3) Sie offenbart die geheimnisvolle Bedeutung der äusseren Zeiehen. So zeigt uns der hl. Paulus in der Taufe durch Untertauchen das Sinnbild unseres der SÜnde Abgestorbenseins, unseres Begrabenseins und unseres geistigen Auferstehens mit Christus.

4) Sie bewirkt, dass wir unter dem äusseren Schein die ÜbernatÜrlichen Wirkliehkeiten erfassen, z. B. unter dem Zimmermann von Nazareth den Schöpfer der Welt.

5) Durch sie erkennen wir die in der Ursache enthaltenen Wirkungen, wie z. B. in dem auf Kalvaria vergossenen Blute J esu die Reinigung unserer Seele und unsere Versöhnung mit Gott. In der durchbohrten Seite J esu das Entstehen der Kirche und der heiligen Sakramente.

6) Durch sie endlich sehen wir die Ursaehe in den Wirkungen, wie z. B. das Wirken der Vorsehung in den äusseren Vorgängen auf Erden.

1346. B) Diese Gabe veranschaulicht uns elie Glaubenswahrheiten in so hellem Lichte, dass wir durch sie im Glauben an diese Waltrheiten bestärkt werden, obschon sie nicht bewirkt, dass wir dieselben begreifen." Cognoscitur ", sagt der hl. Thomas',,, quod ea qua; exterius apparent veritati non contrariantur '" quod non est recedendum ab iis qua; sunt jidei. " Si~ lässt uns in einem höheren Grade Gott schauen, zwar nicht durch unmittelbare, positive Erkenntnis eies göttlichen Wesens, wohl aber durch Zeigen, was Gott nicht sei, wie später erklärt werden soll. 2

, Ha II"', q. 8, a. 3.

2 " In hac etiam vita, purgato oculo per donum intellectus, Deus quodammodo videri po test ... Duplex est Dei visio : una quidem perfecta, per quam videtur Dei essentia; alia vero illlperfecta, per quam, etsi non videamlls de Deo quid est, videmlls tamen quid non est ... secunda pertinet ad donum intellectlls inchoatum, secundllm quod habetur in via ". (la II"', q. 69, a. 2, ad 3; IIa lIre, q. 8, a. 7).

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ERSTES KAPITEL.

C) Endlich erkennen wir durch diese Gabe mehr Wahrheiten, da sie uns hilft, aus geoffenbarten Grundlagen theologische Schlussfolgerungen zu ziehen, die darin enthalten sind. So z. B. wird aus den Worten" Et Verbum caro factum es! et habitavit in nobis" fast die ganze Lehre über den Gottmenschen abgeleitet, und aus dem Satze : "Ex qua natus est jesus qui vocatur Christus" fast die ganze Lehre über die allerseligste Jungfrau.

Diese allen Gläubigen so nützliche Gabe hat daher besonderen Wert für Priester und Theologen, um Verständnis für die geoffenbarten Wahrheiten zu erlangen, die sie anderen zu lehren haben.

1347. 3. Pflege der Gabe des Verstandes.

A) Die Hauptgesinnung, die zur Erlangung dieser Gabe notwendig ist, muss lebendiger und einfältiger Glaube sein. Dieser bittet inständig und demütig um göttliche Erleuchtung zum besseren Erfassen der geoffenbarten Wahrheiten : " Da mihi inte!lectum et discam mandata tua." I So verfuhr der hl. Anselmus, eier erst nach Verrichtung eines lebendigen Aktes des Glaubens elen Versuch machte, in das Verständnis unserer Geheimnisse einzuelringen. Sein Wahlspruch war : " Fides qU(1]rens z·ntellectum. " Durch Glauben nur gelangen wir zum Erfassen eier übernatürlichen Wahrheiten.

B) Nach diesem Akte des Glaubens mache man es sich zur Gewohnheit, so tief als möglich in das Innerste des Geheimnisses einzudringen, nicht, um es zu erfassen (was unmöglich ist), sondern um dessen Sinn, Tragweite und Vernünftigkeit einzusehen. Dann, nach Durchforschung einer Anzahl Geheimnisse, vergleiche man sie miteinander, da solche Vergleiche oft jedes einzelne in lebhafterem Lichte erscheinen lassen. So z. B. macht die Stellung des Ewigen Wortes in der allerheiligsten Deifaltigkeit das Geheimnis seiner Verbindung mit der menschlichen Natur und seiner Erlösungstätigkeit besser begreifbar. Und umgekehrt, werfen auch Menschwerdung und Erlösung neues Licht auf die göttlichen Eigenschaften und die Beziehungen zwischen Vater, Sohn und Hl. Geist. Um jedoch zu tieferem Eindringen in die Wahrheiten zu gelangen, muss man sie lieben, sie mehr mit dem Herzen als mit dem Geiste und besonders mit Demut

, Ps. CXVIII, 73.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 927

erforschen. Das sagt ja der göttliche Heiland in dem schönen Gebete, das er an seinen Vater richtet: " Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dieses vor Weisen und Klugen verborgen, Einfältigen aber offenbart hast." I

VII. Die Gabe der Weis/teit.2

Wir legen ihr T17esen, ihre Wirkungen unel das Mittel zu ihrer Pflege dar.

1348. r. Wesen. Diese Gabe vervollkommnet die Tugend der Liebe. Ihren Sitz hat sie im Verstande und im Willen, weil sie in unserer Seele Licht und Lz'ebe verbreitet. Mit Recht also wird sie als die vollkommenste eier Gaben bezeichnet, als jene die alle anderen umfasst, ebenso wie auch elie Liebe, alle Tugenden enthält.

A) Der hl. Bernhard nennt sie die köstliehe Erkenntnis der göttlichen Dinge. Es gibt demnach ein Zweifaches in der. Gabe der Weisheit: r) Licht, das den Verstand erleuchtet und Gott und die geschaffenen Dinge richtig beurteilen lehrt. Durch ZurückfLihrung aller Dinge auf ihren ersten Ursprung und ihr letztes Ziel verhilft dieses Licht dazu, die Dinge nach ihren erhabensten Ursachen zu beurteilen, stellt somit in umfassenderer Übersicht die Einheit in ihnen her. 2) übernatürliehen Wohll{eschmack, der auf den Willen wirkt, so dass dieser durch eine Art Wesensverwandtschaft oder Sympathie die göttlichen Dinge verkostet.

Durch einen Vergleich wird diese zweifache Wirkung leichter verständlich : Sie ähnelt dem Sonnenstrahl, erleuchtet und erfreut als Lichtstrahl die Augen der Seele, während sie als Wiirmestrahl das Herz erwärmt, mit Liebe entzündet und es mit Freude erfLillt.

1349. B) Somit lässt sich elie Gabe der Weisheit elefinieren als eine Gabe, die uns Gott und die gi/ttlichen Dinge in deren erhabensten Ursachen unterscheiden, beurteilen und verkostett lässt und dadurch die Tugend der Liebe vervollkommnet.

Zwar lässt uns auch die Gabe des Verstandes die göttlichen Wahrheiten in sich und in ihren

I Matth., XI, 25. - 2 S. THOMAs, lIa IIre, q. 45.

928

ERSTES KAPITEL.

gegenseItigen Beziehungen erkennen, aber nicht in ihren ersten Ursachen, was das UnterscheideneIe für die Gabe eier Weisheit ist. Jene lässt sie uns auch nicht unmittelbar verkosten, wohl aber lieben unel verkosten wir sie mit eier Gabe der Weisheit. " Gustate et videte quoniam suavis est Dominus." I

Dank dieser Gabe war es dem hl. Paulus möglich, mit einem einzigen Blick den göttlichen Plan der Erlösung zu erkennen, mit Gottes Ehre als höchste Endursache, dem Gottmenschen als verdienstliche und vorbildliche Ursache, der Seligkeit der Auserwählten als untergeordnete EndIJrsache, der göttlichen Gnade als formale Ursache. Seiner begeisterten Seele liess er dann den Dankeshymnus entströmen : "Benedictus Deus Pater Domini 1ZostriJesu Cilristi." 2

Vermöge dieser Gabe führt der hl. J ohannes die gesamte Gottwissenschaft auf das Geheimnis des göttlichen Daseins zurück, dem die Liebe sowohl Urgrund als Ziel ist. "Deus caritas est." Dank dieser Gabe fasst der hl. Thomas seine ganze Summa in diesem einzigen Gedanken zusammen :

Gott ist gleichzeitig der erste Urgrund, aus dem alle Geschöpfe hervorgehen, das letzte Ziel, zu dem alle zurückkehren und der Weg, dem sie folgen, um zu ihm zurÜckzukehren 3.

1350. 2. Wirkungen der Gabe der Weisheit.

Ausser der Vermehrung eier Liebe, die diese Gabe in der Seele bewirkt, werden auch alle aneleren Tugenden vervollkommnet.

a) Sie macht den Glauben unerschiitterlieh, und zwar durch die fast erfahrungsweise vermittelte Erkenntnis der geoffenbarten Wahrheiten. Hat man z. B. längere Zeit hindurch die Freuden der heiligen Kommunion verkostet, wie könnte man dann an der wirklichen Gegenwart zweifeln? b) Sie festigt unsere Hojfizunl{. Hat man den Glaubenssatz von unserer Einverleibung in Christus erfasst und verkostet, wie sollte man da nicht hoffen, da unser Haupt im Himmel ist und die mit ihm im Himmelreiche herrschenden Heiligen schon

, Ps. XXXIII, 9. - 2 l!.'plzes. I, 3.

3 Einfältige Seelen üben die Gabe der Weisheit auf ihre Art. Sie verkosten lange irgend eine göttliche Wahrheit. So tat es jene arme Kuhhirtin, die das Vaterunser nicht zu Ende brachte ... Denn ", sagte sie, "seit nahezu fünf Jahren, sobald ich das Wort Vater ausspreche und erwäge, dass jener dort oben mein Vater ist, so weine ich und verbleihe so den ganzen Tag, während ich die Kühe hÜte." (H. BREMOND, Hist. litttraire, t. II, S. 66).

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 929

unsere Brüder sind? c) Durch sie üben wir die sittlichen Tugenden in ihrer Vollkommenheit. Denn hat man einmal die Lust der göttlichen Liebe verkostet, so findet man keinen Geschmack mehr an den Freuden der Erde. Dann liebt man Kreuz und Abtötung, Mühe und Mässigung, Demut und Sanftmut als ebensoviele Mittel, dem Geliebten ähnlicher zu werden und ihm Liebe zu beweisen.

Zwischen der Gabe eier Weisheit und der Gabe des Verstandes ist also der Unterschied, elass diese ein Schauen eies Geistes, jene ein Erleben des Herzens ist. Die eine ist Licht, die andere ist Liebe. So stimmen sie zueinander unel ergänzen sich. Die vollkommenere aber ist elie Gabe der Weisheit, denn elas Herz geht weiter als der Geist. Es dringt tiefer und erfasst oder errät, was elie Vernunft nicht begreift. Bei den Heiligen besonders findet sich oft mehr Liebe als Erkenntnis.

1351. 3. Mittel, sie zu pflegen. A) Die Gabe der Weisheit muss als eine der kostbarsten Gaben sehnliehst begehrt, instänelig erbeten und mit unermüdlichem Eifer angestrebt werden.

So rät es uns nachdrücklich das Buch der Weisheit. Wir sollen sie zur Braut, zur Gefährtin unseres ganzen Lebens wählen; um sie zu erhalten, finden wir folgendes schöne Gebet: " Gott meiner Väter, Herr der Barmherzigkeit ... der du durch deine Weisheit den Menschen bestimmt hast; dass er über die Geschöpfe herrsche, welche du gemacht hast, dass er den Erdkreis mit Billigkeit und Gerechtigkeit verwalte ... gib mir die Weisheit, deines Thrones Beisitzerin, und verstosse mich nicht aus der Zahl deiner Diener. Denn ich bin dein Knecht und der Sohn deiner Magd, ein schwacher Mensch, von kurzer Lebensdauer und von zu geringer Einsicht in Recht und Gesetz ... Sende deine Weisheit hernieder von deinem heiligen Himmel und von dem Throne deiner Hoheit, dass sie mit mir sei und mit mir arbeite, damit ich wisse, was dir wohlgefällig ist. Denn sie weiss und versteht alles und wird mich in all meinem Tun verständig leiten und mich durch ihre Macht bewahren. So werden dir meine Werke wohlgefällig sein, und ich werde dein Volk gerecht regieren und des Thrones meines Vaters würdig sein." 1

, B. d. Weisheit, IX, 1-12.

N° 683. - 30

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ERSTES KAPITEL.

B) Die Weisheit fÜhrt alles auf Gott zurÜck. Wir sollen uns daher bemühen, zu erkennen, wie alle von uns erforschten vVahrheiten von ihm als erstem Anfang ausgehen und zu ihm als dem letzten Ziele zustreben. Wir müssen uns daran gewöhnen, uns nicht in Einzelheiten zu verlieren, sondern alles auf Grundsätze, alles zur Einheit zurückzuführen. Zu diesem Zwecke stellen wir einzelne Synthesen des von uns durch persönliches Studium Erreichten zusammen und bereiten so eine allgemeine Zusammenfassung aller unserer Kenntnisse vor.

1352. C) Da eliese Gabe uns elie göttlichen Dinge verkosten lässt, so sollen wir uns auch daran gewöhnen, solche Dinge zu lieben und zu geniessen, wissen wir ja doch, jede Kenntnis, die nicht zur Liebe führe, sei eitel. Wie könnte man übrigens Gott, die unenelliche Schönheit und unendliche Güte, nicht lieben? " Gustate et videte quonz'am suavis est Dominus. " I Dasselbe gilt von den göttlichen Dingen, in denen wir eine Teilnahme an der Schönheit und Güte Gottes erblicken : Gott können wir nicht lieben und geniessen, ohne dass diese Liebe auf alles übergehe, was an seinen Vollkommenheiten teilnimmt.

§ III. Anteil der Gaben am inneren Gebet und an der Beschauung.

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass durch die Pflege der Gaben uns eine grosse Hilfe für das innere Gebet zuteil wireI.

1353. 1. Sogar noch ehe die Gaben zur vollständigen Entwicklung gelangt sind, schon bei Beginn ihrer Pflege, fügt sich ihr Licht und ihr Einfluss zu dem der Tugenden, um uns elas innere Gebet zu

, Ps. XXXIII, 9.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 931

erleichtern. Sie versetzen uns zwar nicht in einen passiven oder mystischen Zustand, doch machen sie schon die Seele gefügiger und daher empfänglicher für das Wirken des Hl. Geistes.

Das ist allgemein die Lehre der Theologen, die von P. Meynard' auf folgende Weise zusammengefasst wird :

Zunächst erwähnt er die Ansicht einiger Autoren, die dahin lautete: die ausschliesslich elen heroischen Akten vorbehaltenen Gaben des Hl. Geistes bleiben untätig bei Übung der gewöhnlichen Tugenden. Dann fügt er hinzu: " Ihr Wirken erstreckt sich ebenfalls auf eine Menge von Umständen, in denen Gottes Wille von.uns gewisse Schnelligkeit und grössere Fügsamkeit in der Ubung der gewöhnlichen Tugenden des christlichen Lebens verlangt, z. B. wenn es sich darum handelt, sich von seinen Lastern loszumachen, seine Leidenschaften zu bezähmen, den Versuchungen des Fleisches zu widerstehen, ebenso denen der Welt und des Teufels, besonders, wenn die Schwäche und Gebrechlichkeit des Betreffenden ausgiebigeren und wirksameren Beistandes und folglich eines höheren Antriebes bedarf. Diese letzte Meinung, die, unserer Ansicht nach, der Wahrheit entspricht, beruht darauf, dass die Gaben nicht eigenartige, von den Tugenden verschiedene Werke hervorbringen, sondern uns einfach zur leichteren und schnelleren Übung aller Tugenden verhelfen. " Sind aber die Gaben des Hl. Geistes an cler Ubung der gewöhnlichen Tugenden be.teiligt, so erleichtern sie uns auch das innere Gebet, das ein Akt der Tugend der Gottesverehrung und eines der wirksamsten Mittel zur Ubung der Tugenden ist.

Diese Gaben sind dann latent tätig, und es ist unmöglich, ihre Wirkung von eier der Tugenden zu unterscheiden. Zuweilen aber tritt ihre Tätigkeit deutlicher hervor, indem sie uns vorübergehende Intuitionen vermitteln, elie mehr als Vernunftgründe unsere Seele erfassen. Auch wecken sie in ihr Regungen der Liebe, die den für gewöhnlich empfundenen weit überlegen sind.

, Traitt! de La vie infbieure, t. J, N. 246. Zur Bekräftigung seiner Ansicht führt er den M. An!oninus, lohannes v. M. TllOmas und Suarez an. Das ist auch die Lehre des P. GARRIGOu-LAGRANGE, op. ci!. t. I, S. 404; " Es war stets unsere Meinung, dass vor Beginn des mystischen Zustandes die Gaben auf die Seele einwirken, sei es latent und recht häufig, sei es offensicht!ich, wenn auch selten." - Vgl. P. J. DE

GUTRERT, RAM, Okt. 1923, S. 338.' .

932

ERSTES KAPITEL.

1354. 2. Aus noch triftigerem Grunde helfen uns die Gaben bei der aktiven Beschau u ng, einer Art lieberfüllten, unmittelbaren Erkenntnis (Intuition) der Wahrheit. Schon vor ihrer vollen Entfaltung ist es ja den Gaben des VerstaneIes und der Weisheit eigen, dieses einfache Schauen im Glauben dadurch zu erleichtern, dass sie den Geist durchdringeneIer und die Liebe glühender machen I. Sie versetzen uns zwar noch nicht in einen mystischen Zustand, doch ihre Wirkung auf uns ist bereits häufiger und wirksamer als beim gewöhnlichen inneren Gebete. Daraus ist ersichtlich, wie es der Seele möglich sei, ihre Blicke länger unel lieberfüllter auf eine einzige und zwar dieselbe Wahrheit zu richten.

1355. 3. Besonelers aber bei eier eingegossenen Beschauung fällt elen Gaben eine wichtige Aufgabe zu. Da sie bereits zur vollen Entfaltung gelangt sinel, verleihen sie der Seele wunelerbare Geschmeidigkeit und befähigen sie so zum mystischen oeler beschaulichen Zustanele.

. A) Drei von ihnen, die Gaben der Wissenschaft, des VerstaneIes und der Weisheit, tragen in hervorragender Weise zur Beschauung bei.

Unser Gedankengang ist dieser: a) eigentlich finden sich die Wurzelprinzipien der Beschauung in den höheren Fähigkeiten selbst, im Verstande und im Willen, insofern sie durch die göttlichen Tugenden und die Gaben vervollkommnet und verwandelt und durch die beistehende, wirkende Gnade in Tätigkeit gesetzt werden. Die Gaben werden nämlich unseren Fähigkeiten gleichsam aufgepfropft. Fähigkeiten und Gaben sind daher am gleichen Akte untrennbar beteiligt. Diese so verwandelten Fähigkeiten sind die Wurzelprinzipien der Beschauung, d. h. die eigentliche Quelle, der unter dem Einfluss der wirkenden Gnade die Akte der Beschauung entfliessen, wie der durch die Tugend des Glaubens vervollkommnete Verstand das Wurzelprinzip der Glaubensakte ist.

'Das ist die Lehre P. MEYNARD'S, t. I, N. 126,128. Er stützt sich dabei auf J ohannes v. hl. 'rhomas.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 933

b) Den Gaben des Verstandes und der Weisheit erkennen alle Theologen zu, Wurzeiprz'nzipien (principes elicitifs) der Beschauung zu sein. Für die Gabe der Wissenschaft lassen jedoch einige dies nicht gelten. Mit der Mehrzahl halten wir dafür, dass sie dennoch nicht auszuschliessen sei. Zuweilen nämlich finelet sich der Ausgangspunkt für die Beschauung in den Geschöpfen, und dann verhilft die Gabe eier Wissenschaft zur Erkenntnis des göttlichen Abbildes in ihnen.

" Gott ", sagt der hl. Joh. v. Kreuz', "hat jedem seiner Geschöpfe eine Spur seines Wesens aufgedrückt, nicht nur dadurch, dass er sie ins Dasein rief, sondern auch dadurch, dass er sie mit zahllosen Gnaden und Eigenschaften ausstattete. Er erhöhte deren Schönheit noch durch die wunderbare Ordnung, die lückenlose Abhängigkeit, wodurch die einen mit den anderen verbunden sind... Die Geschöpfe behielten eine Spur des Vorbeiziehens Gottes zurück, nämlich das Merkmal seiner Grösse, seiner Macht, seiner Weisheit und anderer göttlicher Eigenschaften." Der Gabe der Wissenschaft nun ist es eigen, uns über die Geschöpfe hinaus zum Schöpfer zu erheben, uns die unter sichtbaren Wahrzeichen verborgene Schönheit Gottes zu zeigen.

1356. B) Bei ein und derselben Beschauung unterstützen sich diese drei Gaben gegenseitig und treten entweeler gleichzeitig oder nacheinander in Tätigkeit.

a) So erhebt uns die Gabe der Wissensehaft von den Geschöpfen zu Gott, um uns mit ihm zu vereinigen: I) in ihrem Geleit erhalten wir einl{egossene.< Licht, das uns die Nichtigkeit alles dessen, was die 'Welt anstrebt, Ehren, Reichtümer, Lüste, klar erkennen lässt, wie auch den Wert des Leidens und der VerdemÜtigungen als Mittel, um zu Gott zu kommen und ihn zu verherrlichen, ebenso den in den Geschöpfen verborgenen Widerschein der göttlichen Vollkommenheiten tl. s. W. 2) Zugleich mit dem Lichte erhalten wir eine auf den Willen einwirkende Gnade, damit er sich von den Geschöpfen losreisse und sich ihrer nur als Sprossen bediene, um zu Gott zu gelangen.

b) Die Gabe des Verstandes lässt uns tiefer eindringen : sie zeigt uns die geheimnisvollen Harmonien, die zwischen

, Cantique spirituel. str. V.

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ERSTES KAPITEL.

Gott und unserer Seele, zwischen den geoffenbarten Wahrheiten und unseren tiefgründigsten Strebungen bestehen, wie auch die Beziehungen der Wahrheiten unter einander. Sie heftet Geist und Herz auf das innerste Leben Gottes, auf seine immanenten Tätigkeiten, auf die Geheimnisse der heiligsten Dreifaltigkeit, der Menschwerdung oder der Gnade und lässt sie uns in sich und in ihren gegenseitigen Beziehungen bewundern, so dass es uns schwer fällt, Geist und Herz davon abzuwenden. Ruysbroek vergleicht sie mit dem Sonnenlicht' . Die Sonne erfüllt durch ihre Ausstrahlung die Luft mit einfacher Helligkeit. Sie beleuchtet jede Gestalt und jedes Gesicht und durch sie erkennt man die verschiedenen Farben. So dringt diese Gabe in den Geist ein und führt ihn zur Einfalt. Nun wird diese Einfalt von auffallend hellen Strahlen beleuchtet. Dadurch werden wir befähigt, die Kenntnis der in Gott befindlichen, erhabenen Eigenschaften, di':! der Ursprung aller seiner Werke sind, zu erhalten.

e) Da die Gabe der Weisheit uns alles in bezug auf Gott werten und die göttlichen Dinge verkosten lässt, heftet sie Geist und Herz noch lieberfüllter auf den geschauten Gegenstand und lässt uns ihm eifriger und beharrlicher anhangen. Ruysbroek 2 beschreibt auf folgende Weise den durch diese Gabe erzeugten Wohll{eschmack:" Dieser Wohlgeschmack ist so stark, dass es der Seele scheint, als müssten Himmel und Erde und alles, was sie enthalten, in diesem unergründlichen Wohlgeschmack zerfliessen und sich auflösen. Diese Wonnen sind in den höheren und in den niederen Fähigkeiten, innen und aussen, sie umfassen und durchdringen das ganze Königreich der Seele. So schaut der Verstand die Einfachheit, der alle diese Wonnen entströmen. Daraufhin gibt sich die erleuchtete Vernunft ans Erwägen. Sie weiss aber wohl, dass alle diese unbegreiflichen Freuden sich stets ihrem Erkenntnisvermögen entziehen müssen. Ihr Erwägen nämlich geschieht im Lichte einer geschaffenen Leuchte, und jene Wonnen sind unermesslich. Darum versagt die Vernunft bei solcher Betrachtung. Der Verstand aber, der dank jener unbegrenzten Klarheit verwandelt wurde, schaut in unaufhörlichem Verweilen die unfassbare Wonne der Seligkeit."

1357. C) Den anderen vier Gaben fällt zwar in der Beschauung keine solch bedeutende Aufgabe zu, elennoch nehmen sie einen gewissen Anteil daran unel zwar auf zweierlei Weise:

, L'ornement des 1lOces spirituelles, 2. B., 66.-68. Kap. 2 Royaume des amants, 33. Kap.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 935

a) Sie bereiten uns darauf vor, da auch sie dazu beitragen, die Seele fÜr die Einwirkung des Hl. Geistes geschmeidiger und empfänglicher zu machen. b) sie wirken mit, weil sie fromme Affekte im Herzen wachrufen, wodurch die Beschauung unterstützt wird. So weckt die Gabe der Fureht Gesinnungen der Zerknirschung und der Losschälung von den Geschöpfen. Die Gabe der Pietät Gesinnungen kindlicher Liebe. Die Gabe der Stärke Gesinnungen des Grossmutes und der Ausdauer. Die Gabe des Rates aber gibt uns die Möglichkeit, die vom hl. Geiste empfangenen Erleuchtungen auf uns und auf andere anzuwenden.

Man sieht daher, bei eier Beschauung hat jede der Gaben ihre Aufgabe zu erfüllen.

ANMERKUNG : DIE FÜNF GEISTIGEN SINNE

UND DIE GABEN. .

1358. Eine Anzahl von Kirchenvätern und Theologen, wie auch viele mystische Schriftsteller sprechen von fÜnf geistigen Sinnen I, ähnlich den fünf inneren Sinnen, von denen bereits (N. 99I) die Reele war.

Der hl. Augustinus schildert sie mit folgenden schönen Worten 2 : " 0 mein Gott, was liebe ich, wenn ich dich liebe? ... Ein gewisses Licht, einen gewissen Laut, einen gewissen Wohlgeruch, eine gewisse Speise, eine gewisse innige Umarmung ... alles das empfinde ich, aber nur in meinem tiefsten Innern. Meine Seele sieht ein Licht glänzen, das nicht im Raum ist, sie Itört einen Ton, der nicht mit der Zeit verklingt, sie atmet einen Wohlgeruch ein, den kein Wind verweht, sie verkostet eine Speise, die durch Gier nicht verz!O~rt wIrd, sIe haftet an einem Gegenstand, den man nie aus Uberdruss verlässt. Das ist es, was ich liebe, wenD ich meinen Gott liebe. "

\Vas ist nun unter diesen geistigen Sinnen zu verstehen? Wie uns scheint, sind elas nur Verrichtungen oder Betätigungen der Gaben des Hl. Geistes, besonders der Gaben des Verstandes und der Weisheit. So beziehen sich die geistigen Sinne des Gesichts und des GeMrs auf die Gabe des

'P. POULAIN, Graces d'oraison, 6. Kap. führt zum Beweise sehr zahlreiche Texte an.

2 Bekenntnisse, IQ. B., 6. Kap.

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ERSTES KAPITEL.

Verstandes, vermöge eleren wir Gott und die göttlichen Dinge sehen (N. 1341) unel Gott zum Herzen sprechen hören. Die drei aneleren Sinne beziehen sich auf die Gabe der Weislleit, elurch die wir Gott verkosten, elen Wohlgeruch seiner Vollkommenheiten einatmen oder einziehen, und mit Gott in Beri!.hrung kommen, und zwar durch eine Art Umfangen, geistiges Umarmen, was nichts anderes als erlebte Gottesliebe ist.

Auf diese W.~ise kann man bezüglich dieses Punktes eine Ubereinstimmung der Lehre des hl. Augustinus unel des hl. Thomas, P. Poulain's unel P. Garrigo~-Lagrange's feststellen.

§ IV. Die Früchte des Hl. Geistes und die Seligkeiten.

Mit elen Gaben hängen die FrÜchte eies Hl. Geistes unel die Se!igkeiten zusammen. Sie entsprechen ihnen und ergänzen sie, ebenso wie elie elen Gaben gewissermassen ähnlichen frei verlielzenen Gnaden. (N. 1914.)

1. Die FrÜchte des Hl. Geistes.

1359. Entspricht eine Seele treu elen beistehenelen Gnaden, welche die Tugenden unel Gaben zur Wirksamkeit anregen, so setzt sie Tugenelakte, anfangs unvollkommene und mühevolle, dann bessere unel trostreichere, die elas Herz mit heiliger Freude erfüllen. Das sind die Früchte des Hl. Geistes, deren Definition so lauten könnte: Tugendakte, dz'e eine gewisse Vo!!kommenheit erreicht Itaben und die Seele mit heiliger Freude erfÜllen.

Der hl. Paulus zählt deren neun auf: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Milde, Güte, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit. '

, Ga/at. V, 22-23. Die Vulgata zählt deren zwölf auf: " Fructus autem Spiritus est : caritas, gaudium, pax, patientia. benignitas, bonitas, lon~ ganimitas, mansuetndo, fides, modestia, continentia, castitas. " Si fügt also hinzu Langmut, Bescheidenheit und Enthaltsamkeit und nennt Keuschheit statt Mässigkeit.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 937

Doch wollte er damit nicht alle aufzählen. Der hl. Thomas hebt mit Recht die Symbolik der Zahl hervor, durch die tatsächlich alle Tugendakte, in denen die Seele geistlichen Trost findet, genannt werden. " 5ztnt jrztctus qua:eumque virtuosa opera in quibzts homo delectatur. " ,

1360. Diese Früchte unterscheiden sich von den Tugenelen und Gaben wie der Akt von der Fähigkeit. Immerhin werden nicht alle Tugendakte als Früchte bezeichnet, sondern nur jene, mit denen eine gewisse geistige, süsse Empfindung verbunden ist. Anfangs erfordern die Tugendakte oft viel MÜhe und es ist ihnen etwas Herbes eigen, ganz wie einer noch nicht reifen Frucht. Wirel aber durch lange Übung die Tugend zur Gewohnheit, so erwirbt man Leichtigkeit, deren Akte zu setzen, und zwar geschieht dieses ohne mÜhsame Anstrengung, sogar mit Freude, als Akte erworbener Gewohnheiten. Dann eben heissen sie Früchte.

Durch Pflege der Tugenden und der Gaben werden daher die Früchte erworben, und durch sie die Seligkeiten, die ein Vorgeschmack eier ewigen Glückseligkeit sind.

II. Die Seligkeiten.

1361. Die Seligkeiten sinel elie letzte Krönung des Wirkens Gottes in uns. Wie die FrÜchte sind es Akte, aber so vollkommene Akte, dass sie eher aus den Gaben als aus den Tugenden hervorzugehen scheinen. 2 Es sind Früchte, deren Reife so vollendet ist, elass sie uns einen Vorgeschmack der himmlischen Glückseligkeit geben. Daher der Name Selig kei ten.

In der Bergpredigt führt sie der göttliche Meister auf acht zurück: Armut im Geiste, Sanftmut, Tränen, Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Herzensrein-

, Sumo t1teol. Ia IIre, g. 70, a. 2.

2 " Be"titudines dicuntur SOlUlll perfecta opera, qUa=! etiam ratione sure perfectionis, magis attribuuntur donis guam virtutibus." (Sum. theol .. Ia IIre, q. 70, a. 2.

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ERSTES KAPITEL.

heit, Geduld in Verfolgungen. Aber auch diese Zahl kann symbolisch aufgefasst werden und braucht nicht ausschliessend zu sein.

Diese Seligkeiten bezeichnen nicht unbedingtes, volles Glück. Es sind vielmehr Mittel, um zur ewigen Glückseligkeit zu gelangen, und zwar sehr wirksame Mittel. Denn kann man Armut, Sanftmut, Reinheit, Verdemütigung freudig umfassen, versteht man, sich soweit zu beherrschen, dass man für seine Feinde betet und das Kreuz liebt, so besteht vollkommene Nachfolge Christi und mit beschleunigtem Schritt eilt man auf dem Wege der Vollkommenheit vorwärts ..

1362. Schlussfolgerung. Verstehen wir es, elie Gaben eies Hl. Geistes zu pflegen, so führen sie uns <l;1}f den Einigungsweg. I) Sie bewirken nämlich die Ubung aller sittliclten und g-oltliclten Tugenden im Itöc!lsten Grade, vereinigen uns auf diese Weise mit Gott und durch unsere Nachahmung der göttlichen Vollkommenheiten wandeln sie uns allmählich in ihn um. 2) Infolge der Scltmiegsamkeit und Gelehrigkeit, die sie unserer Seele verleihen, vermag der Hl. Geist sich dieser zu bemächtigen und frei darin zu walten. Schon unter dem latenten Einfluss eier Gaben unel zuweilen unter ihrer offenbaren Mitwirkung entsteht elas innere Gebet der Einfacltheit, das jetzt behandelt werden soll.

2. ABSCHN. DAS INNERLICHE GEBET DER EINFACHHEIT. I

1363. Das von Bossuet "Gebet der Einfachheit" (oraison de simplicite) genannte innerliche Gebet war lange vor ihm bekannt. Es trug verschiedene N amen, an elie hier erinnert werden soll.

I) Die hl. Therese nennt es inneres Gebet der Sammlung, worunter aktive Sammlung zu verstehen ist, im Gegensatze

, BOSSUET, Maniere COZl1'te et facile pour faire l'oraison en foi, et de simple prlsence de Dieu. - THoMfls A JESU, De contemplatione divina. - EHRW. LIBERMANN, Ecrits spirit., De l'oraison d'a/lection. - Instruction aux missionna~'res, 5. Kap., 2. Art. - P. POULAJN, Grdces d 'oraison, 2. Kap. - D. V. LEHODEY, Les voifS de l'oraison, 2. T., 8. Kap. - A. TANQUEREY, L'omison de simpliciti, Vie spirit. Dez. 1920, S. 161'174.

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zur passiven, von der im zweiten Kapitel die Rede sein wird. Die Seele sammelt ihre verschiedenen Fähigkeiten, um sie auf Gott allein zu richten, auf ihn zu hören und ihn zu lieben.

2) Mehrere bezeichnen es als inneres Gebet des einfachen Sehauens, der einfaehen Ge.genwart Gottes oder der einfachen Hin;::abe an Gott oder eines einfachen Glaubensblickes, weil die Seele, lieberfÜllt, ihren Blick auf Gott heftet, sich in seiner Gegenwart hält, sich seinen Händen Überlässt und durch einfaches Schauen im Glauben ihn betrachtet und liebt.

3) Bossuet nennt es das innerliche Gebet der Einfaehheit, weil durch dieses Gebet alles vereinfacht wird: die Vernunftschlüsse und die Affekte beim Gebet, ja, sogar das ganze Leben.

4) Die Karmeliter und mit ihnen viele Autoren seit dem 17.

Jahrhundert nennen es erworbene Beschauulll{ zum Unterschiede von der eingegossenen.

Wir legen dar: 1. das Wesen dieses innerlichen Gebetes; 2. dessen Vorteile,' 3. die Art, es zu verrichten; 4. dessen Beziehungen zur Beschauung im eigentlichen Sinne.

§ 1. Wesen des innerlichen Gebetes der Einfachheit.

1364. Bossuet hat diese Art innerlichen Gebetes vortrefflich geschilelert :

" Man gewöhne sich daran, seine Seele durch ein einfaches, lieberfUlltes .Schauen auf Gott und auf Jesus Christus, unsern Herrn, zu nähren. Zu diesem Zwecke trenne man sie auf sanfte Weise vom Folgern, Erörtern und der FÜlle von Affekten, damit sie in Einfalt, Ehrfurcht und Aufmerksamkeit verweile und Gott, ihrem ersten Anfange und ihrem letzten Ziele, immer näher komme ... Die Betrachtung ist zwar sehr gut zu ihrer Zeit und sehr nützlich zu Beginn des geistlichen Lebens, doch soll man dabei nicht verharren, da die Seele durch Treue in bezug auf Abtötung und Sammlung gewöhnlich zu reinerem und innigerem, innerlichem Gebet gelangt, das man das Gebet der Einfaehheit heissen kann. Es besteht nämlich in einem einfachen, inneren Schauen, einem Blick oder lieberfÜllten Aufmerken auf irgend einen himmlischen Gegenstand, sei es auf Gott selbst oder irgend eines seiner Geheimnisse oder auf einige andere christliche Wahrheiten. Die Seele unterlässt daher Beweisführungen, mittels süssen Schauens verweilt sie still, aufmerksam und

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ERSTES KAPITEL.

empfänglich für die durch den Hl. Geist ihr vermittelten, göttlichen Eindrücke und Tätigkeiten. Sie tut wenig und erhält viel. Ihre Mühe ist leicht und dennoch fruchtbringen. der und durch Annäherung an die Quelle allen Lichtes, aller Gnade und Tugend wird ihr auch mehr davon zuteil."

Mit diesem innerlichen Gebet sind somit zwei wesentliche Akte verbunden: schauen und lieben. Gott oder irgend einen göttlichen Gegenstand schauen, um ihn zu lieben und ihn lieben, um ihn besser zu schauen. Vergleicht man dieses innere Gebet mit der diskursiven oder affektiven Betrachtung, so ist eine dreifache Vereinfachung wahrzunehmen, die den von Bossuet gebrauchten Ausdruck rechtfertigt.

1365. I. Die erste Vereinfachung besteht in der Abnahme und dann in der Weglassung der Vernunftschliisse, die in der Betrachtung der Anfänger soviel Plat~. einnahmen. Die Anfänger mussten sich eben tiefe Uberzeugungen aneignen, waren übrigens auch fromme Herzenserhebungen wenig gewohnt, bedurften daher langen Nachdenkens über die Grundwahrheiten der Religion und deren Beziehungen zum inneren Leben, reiflicherer Erwägungen über Wesen und Notwendigkeit der hauptsächlichsten, christlic;hen Tugenden sowie über die Mittel zu deren Ubung. Dann erst entströmten dem Herzen Gesinnungen der Dankbarkeit, der Liebe, Gesinnungen der Reue und Beschämung und des festen Vorsatzes wie auch innige und beharrliche l?itten. a) Es kommt jedoch der Zeitpunkt, da diese Uberzeugungen der Seele so fest eingeprägt sind, dass sie, sozusagen, in unsere gewohnte Denkweise übergehen. Dann genügen einige Minuten, um sie sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Die erwähnten frommen Herzenserhebungen entstehen schnell und leicht, und das innere Gebet wird affektiv .

. 1366. b) Später geht eine weitere Vereinfachung vor sich. Die. wenigen Minuten des Nachdenkens

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werden durch einen z'ntuitiven Blick des Verstandes ersetzt .. Ohne Schwierigkeit und durch eine Art unmittelbare, klare Erkenntnis (Intuition) kennen wir die Grundwahrheiten. Nach langer Betrachtung werden nun auch die Prinzipien des geistlichen Lebens so vertraut und lichtvoll wie die Grundwahrheiten selbst. Wir erfassen sie mit Leichtigkeit und Wohlgefallen durch einen einzigen, übersichtlichen Blick, ohne sie erst analysieren zu müssen. So bedurfte der Begriff Vater, auf Gott angewendet, anfangs langen Nachdenkens, ehe wir seinen Inhalt ganz ergründeten, jetzt aber erscheint er uns gleich im ersten Augenblick so inhaltstief" so ergiebig, dass wir' lange und lieberfüllt dabei verweilen, um alles, was er uns sagt, zu verkosten.

c) Es kann sogar geschehen, dass die Seele nur einen unbestimmten Blick auf Gott oder göttliche Dinge wirft, der aber genügt, um sie sanft und liebend in Gottes Gegenwart zu halten und sie für die Einwirkung des Hl. Geistes immer empfäng~ licher zu machen. Ohne die Akte des Verstandes oder des Willens zu vermehren, gibt sie sich dann Gott hin, um seine Befehle auszuführen.

1367. 2. Eine ähnliche Vereinfachung erfahren die Affekte. Anfangs waren sie zahlreich,verschiedenartig und in rascher Abwechslung sich folgend :

Liebe, Dank, Freude, Mitleid, Schmerz über die Sünden, Verlangen nach Besserung, Bitte um Beistand u. s. w. a) Bald aber dauert ein und dieselbe Herzenserhebung fünf, auch zehn Minuten. Die Idee: Gott, unser Vater,' z. B. entfacht in unserem Herzen innige Liebe. Diese nun, ohne viele 'Worte zu machen, nährt einige Minuten hindurch die Seele, :durchdringt sie ganz und erweckt in ihr grossmütige Gesinnungen. Freilich wird dieser Affekt nicht die ganze Betrachtungszeit ausfüllen können. Zur Vermeidung von Zerstreuungen oder einer Art Trägheit wird man zu anderen Affekten übergehen

942

ERSTES KAPITEL.

müssen. Jeder aber wird so lange dauern, dass deren Zahl nicht so gross wie früher zu sein braucht.

1368. b) Unter diesen Affekten wird schliesslich einer vorwiegen und immer wieder Geist und Herz erfüllen : Sein Gegenstand wird wie der eines beständigen Gedankens, um den sich zwar alle anderen drehen, aber in geringer Zahl und stets dem ersteren untergeordnet. Für manche Seelen ist es das Leiden Christi, mit den dadurch hervorgerufenen Gesinnungen der Liebe und des Opfers: " Dz'lexit me et tradz'dz't semetipsum pro me." 1 Für andere wieder der in der heiligen Eucharistie weilende J esus, dem sie immer wieder und wieder sagen :

"Adoro te devote, late1Zs Dez'tas." Andere werden wieder von dem Gedanken an den in ihrer Seele gegenwärtigen Gott erfasst und sind einzig darauf bedacht, ihn tagsüber zu preisen: "Apud eum veniemus et mansionem apud eum fademus ... templullZ Dei sanctum est, quod estis vos ... glorijicate et portate Deum z'n corpore vestro. " 2

Das erklärt trefflich P. Massoulie 3" Reift in der Seele die Erwägung, ihr sei nicht nur die Ehre zuteil geworden, sich in Gottes Gegenwart zu befinden, sondern auch das GlÜck, ihn in sich zu besitzen, so wird sie dieses Bewusstsein lebhaft durchdringen und sie in Üefe Sammlung versetzen. Sie betrachtet diesen Gott der Liebe und Majestät und die ganze anbetungswürdige Dreifaltigkeit, die in sie einzugehen und dort wie in einem Tempel zu wohnen geruht. Darüber empfindet die Seele äusserstes Wohlgefallen. Sie freut sich im Genusse dieses Besitzes und findet darin unaussprechliche Ruhe, weil sie alle ihre Wünsche erftillt sieht, insoweit dies auf Erden möglich ist. Was könnte auch die Seele Grösseres verlangen und erhoffen als den Besitz Gottes?"

1369. 3. Diese Vereinfach~ng erstreckt sich bald auf das ganze Leben: "Die Ubung des innerlichen Gebetes" "sagt Bossuet, "muss gleich beim Erwachen beginnen. Man verrichte einen Akt des

t Galat. II, 20. _2 Joh. XIV, 23; I. Kor. III, 17; VI, 20. 3 TraiN de la veritable oraison, 3. T., 10. Kap.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 943

Glaubens an den allgegenwärtigen Gott und an Jesus Christus, dessen Blicke uns, selbst wenn wir im innersten Abgrund der Erde wären, stets verfolgen. " Dieser Glaubensakt wird im Laufe des Tages fortgesetzt. Während man seinen gewöhnlichen Beschäftigungen nachgeht, vereinigt man sich mit Gott, betrachtet ihn, liebt ihn. Bei den liturgischen und den mündlichen Gebeten denkt man mehr an die Gegenwart des in uns lebenden Gottes als an den besonderen Sinn der Worte, vor allem sucht man ihm Liebe zu bezeugen. Vereinfacht werden auch die Gewissenserforschungen. Mit raschem Blicke werden Fehltritte gleich nach ihrem Geschehen erkannt und unverzüglich bereut. Studium und die äusseren Werke des Seeleneifers geschehen im Gebetsgeist, unter den Augen Gottes, mit dem heissen Verlangen, ihn zu verherrlichen : ad majorem Dei gloriam. Selbst die gewöhnlichsten Handlungen werden im Geiste des Glaubens und der Liebe verrichtet und dadurch Opfergaben, die man Gott häufig darbringt : " Offerre spz'rituales hostias, acceptabiles Deo. " r

§ II. Vorteile des innerlichen Gebetes der Einfachheit.

1370. Der Hauptvorteil dieses innerlichen Gebetes liegt in der einheitlichen Gestaltung des ganzen Lebens, das sich zur grösseren Ehre Gottes und zum Hez'l der Seele dem göttlichen Leben ·angleicht.

I. Den ganzen Tag über wird Gott verherrlicht.

Durch den gewohnten Aufblick zu Gott lernt die Seele Gott besser erkennen und lieben als durch alle Erwägungen. Man vergisst sich selbst und noch mehr die Geschöpfe oder achtet unter dem Einfluss der Gabe der 'Wissenschaft ihrer wenigstens nur in ihren Beziehungen zu Gott (N. 1341). So wird das

<r/ t I. Petr. II, 5.

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ERSTES KAPITEL,

Leben ein andauernder Akt der Tugend der Gottesverehrung, ein Akt der Dankbarkeit und Liebe, so dass wir mit Maria wiederholen: "Magnificat anima mea Domz·num. "

1371. 2. Ebendadurch wird die Seele geheiligt. a) Während beträchtlicher Zeit haftet ihre Aufmerksamkeit an einer Wahrheit, sie lernt Gott besser erkennen und, da jener Aufblick von Liebe erfüllt ist, liebt sie ihn inniger. Sie vereinigt sich mit Gott enger und zieht dadurch die göttlichen Vollkommenheiten und die Tugenden Christi auf sich herab.

b) Dann fällt die' Losschälung leichter. Denkt man gewöhnlich an Gott, so erscheinen uns die Geschöpfe nur noch als Sprossen, die uns zum Schöpfer führen. Voll Unvollkommenheiten und Armseligkeiten, haben sie nur insofern Wert, als sie die göttlichen Vollkommenheiten widerstrahlen und uns zurufen, zur Quelle alles Guten aufzusteigen.

c) Die Demut wird leichter : vom göttlichen Licht erleuchtet, erkennen wir klar unser Nichts und unsere Sünden und freuen uns, durch demütiges Bekenntnis unserer Verfehlungen jenen verherrlichen zu können, dem allein alle Ehre und aller Ruhm gebührt: Soli Deo honor et gloria, mihi autem ig1to11linia et confusio. Anstatt sich dem Nächsten vorzuziehen, sieht man sich als den letzten der Sünder an und ist bereit, in Liebe alle Prüfungen und Schmach 'zu erdulden.

In aller Wahrheit lässt sich also behaupten, das innerliche Gebet der Einfachheit trage in hervorragender Weise zur Verherrlichung Gottes und zur Heiligung unserer Seele bei.

1372. Lösung von Schwierigkeiten. a) Dieser Art innerlichen Gebetes wird zuweilen vorgeworfen, es begünstige die Trägheit. Auf diesen Einwand antwortet die hl. Therese t

t Vie, 13. Kap., S. 171. - Vgl. P. DUPONT, Vie du P. Baltlwzar Alnlrez, .p. Kap.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 945

" Auf jene zurückkommend, die diskursiv betrachten, sage i<;h ihnen, dass sie auf diese übrigens noch so verdienstliche Ubung nicht die ganze Betrachtungszeit verwenden sollen. Mögen sie auch Freude daran haben, so dürfen sie sich doch nicht einbilden, es gäbe für sie keine Ruhetage und alle Augenblic~~ gehörten der Arbeit. Ihrer Ansicht nach nämlich wäre alles Ubrige nur Zeitverlust. Nun wohl, ich sehe solchen Verlust als wahren Gewinn an. Sie sollten es nur versuchen, sich in der früher angegebenen Weise innerlich in die Gegenwart Jesu Christi zu versetzen. Dort sollten sie ohne Anstrengung des Geistes verweilen, mit ihm sprechen, sich seiner Gesellschaft erfreuen. Statt sich im Aufbau einer Rede zu ermüden, sollten sie si~h damit begnügen, dem Heiland ihre Bedürfnisse vorzustellen sowie die GrÜnde, die er hätte, sie nicht in seiner Gegenwart zu dulden. Doch tun sie gut, abzuwechseln, um der Gefahr der Ermüdung vorzubeugen, die in der andauernden Gleichförmigkeit der~elben Speise bestehen könnte. Die von mir genannten Ubungen sind äusserst schmackhaft und nutzbringend. Hat die Seele erst einmal davon gekostet, so gewähren sie ihr nebst anderen sehr grossen Vorteilen, reichhaltige und belebende Nahrung." Die Seele bleibt in der Tat nicht müssig. Sie zieht zwar keine Vernunftschlüsse mehr, aber sie schaut, liebt und lobt Gott. Sie schenkt sich ihm, und verharrt sie einen Augenblick im Schweigen, so geschieht es, um auf ihn zu hören. Verstummt Gott, so nimmt sie ihre frommen Herzenserhebungen wieder auf und ist daher nie müssig.

1373. b) Andere wenden ein, die auf eine beständige Idee vereinigte Aufmerksamkeit ermÜde den Geist und verursache Spannunj{. Diese Gefahr läge wirklich vor, würde man sich dieser Gebetsart ohne geeignete Vorbereitung hingeben und sich durch geistige Anstrengung darin erhalten wollen. Das aber ist ja gerade zu vermeiden, sagt Bossuet. t "Man hüte sich, den Kopf dabei zu sehr anzustrengen oder auch das Herz zu se/Ir aufzuregen. Was sich den Augen der Seele darbietet, nehme man in Demut und Einfalt, ohne jede gewaltsame Anstrengung an, die mehr auf Einbildung als auf Wahrheit und Wirklichkeit beruht. Sich sanft zu Gott hinziehen lassen, seinem Geiste sich überlassen." Es handelt sich also darum, keine gewaltsamen Anstrengungen zu machen, sondern dem Zuge der Gnade sanft zu folgen. Ist ein Gedanke erschöpft, so gehe man zu einem anderen über und verweile nicht eigensinnig beim ersten. Dann wird das innerliche Gebet der Einfachheit nicht ermÜdend wirken, sondern Ruhe

t Opuscule de la meilleure manÜre de faire oraison, t. VII, Ausg.

Vives, S. S0l.

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ERSTES KAPITEL.

für die dem. Einfluss des hl. Geistes sich hingebende Seele bedeuten. Ubrigens wird das noch verständlicher werden, kennt man erst die Art und Weise, wie dieses Gebet zu verrichten ist.

§ III. Wie man das innerliche Gebet der Einfachheit zu verrichten hat.

1374. I. Berufung zu diesem Gebete. Um das Gebet der Einfachheit sich zur Gewolznltdt machen zu können, müssen erst die für den Einzgungsweg angegebenen Bedingungen (N. 1296) erfüllt werden. Handelt es sich aber darum, sich von Zeit zu Zeit dieser Art innerlichen Gebetes zu bedienen, so genügt es, sich durch den Zug der göttlichen Gnade angetrieben zu fühlen.

Im übrigen lassen sich die Kennzdclten einer göttlichen Berufung zu dieser Gebetsweise auf zwei zurückführen: a) ein gewisser Widerwillen gegen die diskursive Betrachtung oder die Häufung der verschiedenen Affekte nebst dem geringen Nutzen, den man daraus erzielt. Selbstverständlich sprechen wir von einer eifrigen Seele, die sich Mühe gibt, gut zu betrachten, nicht aber von einer lauen, die in der Mittelmässigkeit leben will. b) Eine gewisse Nezgung zur Vereinfachung des innerlichen Gebetes, damit der Blick auf Gott gerichtet bleibe und man sich in seiner Gegenwa~t halte, nebst dem Nutzen, den man aus dieser Ubung zieht.

Praktisch angewendet : Stellt der Seelen führer fest, einer eifrigen Seele falle es sehr schwer, Erwägungen oder vielfache Affekte zustande zu bringen, so ist es ratsam, ihr in grossen Zügen diese Art innerlichen Gebetes darzulegen, sie zu einem Versuche darin zu ermuntern und über die erlangten Ergebnisse Rechenschaft zu verlangen. Sind .. diese gut, so fordere man sie zu dessen weiterer Ubung auf.

1375.2. Das innerliche Gebet selbst. Im eigentlichen Sinne gibt es keine Methode für diese Art

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 947

innerlichen Gebetes, besteht es ja doch nur aus Schauen und Lieben. Immerhin lassen sich den dazu berufenen Seelen einige RatscJtläge geben, um sich leichter unter den Augen Gottes zu halten. Diese Ratschläge müssen dem Charakter, der inneren Verfassung und dem Zuge der Gnade der betreffenden Seele entsprechend angepasst sein.

a) Jenen, die eines frommen Gegenstandes bedürfen, auf den sie z'hre Sz'nne beständig heften, rate man, die Augen auf das Kruzifix, den Tabernakel oder ein frommes Bild zu richten, das ihre Gedanken an Gott festhalte. " Um gut zu beten ", sagte der hl. Pfarrer von Ars,,, braucht man nicht soviel zu sprechen ... Man weiss, der liebe Gott ist da im Tabernakel. Man öffnet ihm sein Herz. Man ist gern in seiner heiligen Gegenwart. Das ist das beste Gebet. " I

b) Jene mit lebendiger Phantasie könnten sich eine Szene aus dem Evangelium vorstellen, nicht bis in die Einzelheiten wie früher, sondern im Gesamtbilde, z. B. J esus im Ölgarten oder auf dem Kalvarienberge. Dann ihn in Liebe schauen, wie er für uns leidet, und sich sagen : "Er hat mich geliebt und sich für mich hingegeben." "Dz'lexz't me et tradz'dit semetipsum pro me. " 2

1376. c) Es gibt Seelen, die mit Vorliebe ein Wort der Hl. Schrift oder ein frommes Gebet langsam überdenken, es verkosten, sich davon nähren.

t Leben des Heiligen, von MONNIN, 5. B., 4. Kap.

2 Galat. II, 20. - In ihrem Leben (Kap. XII!.) gibt die hl. Therese ein Beispiel von solchem Gebet. Nach der Aufforderung an ihre Schwestern, über Jesus an der Geisselsäule zu betrachten, fügt sie hinzu:

"Jedoch ermüde man sich nicht durch fortwährendes Nachdenken über den Gegenstand. Auch im Schweigen des Geistes verweile man bei Jesus. Die Seele suche sich von dem Gedanken zu -durchdringen, er schaue sie an. Sie leiste ibm Gesellschaft, spreche mit ihm, richte ihre Bitten an ihn. Sie verdemütige sich zu seinen Füssen, finde ihre Freude bei ihm, erkenne sich als unwürdig, in seiner Gegenwart zu verweilen. Kann sie das schon zu Anfang der Betrachtung erreichen, so wird es ihr grossen Nutzen bringen ... "

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ERSTES KAPITEL.

Der hl. Ignatius rät dieses in seiner zweiten Art und Weise zu beten an (N. 993). Die Erfahrung lehrt, viele Seelen werden mittels dieser Gebetsweise zum innerlichen Gebet der Einfachheit geführt. Man rate ihnen dann, sich die schönsten Texte zusammenzustellen, solche, an denen sie bereits beim Lesen I Geschmack fanden, und sie je nach dem Zuge der Gnade nutzbar zu machen.

1377. d) GemÜtvollen Seelen rate man, begründete Akte der GottesHebe zu erwecken, z. B. "Ich liebe dich aus ganzem Herzen, 0 mein Gott, weil du die Güte selbst bist... Deus caritas est ... die unendliche Schönheit ... " Und diese wenigen Gedanken verkoste man lange. Oder man wendet sich an J esus. und denke an das, was ihm Anspruch auf unsere Liebe gibt:" Ich liebe dich, 0 J esus, der du die Liebenswürdigkeit selbst bist. Du bist mein Herr, dir will ich gehorchen. Mein Hirt, dir will ich folgen und mich von dir weiden lassen. Mein Lehrer, ich glaube an dich. Mein Erlöser, ich preise dich und ich halte zu dir. Mein Haupt, ich gliedere mich dir an. Mein treuster Freund, ich liebe dich über alles und will dich immer lieben. " - Auch die von Olier seinen Schülern hinterlassene, ursprüngliche Methode für das innerliche Gebet kann man dabei verwenden: Jesus vor Aug~n : " Halten wir uns in Verehrung und Ehrfurcht einem so heiligen und göttlichen Gegenstand gegenüber, und nachdem unser Herz sich in Liebe, Lob und anderen Pflichtgesinnungen ergossen hat, verweilen wir einige Zeit im Schweigen vor ihm ... " Jesus im Herzen : wir flehen dann den Geist J esu an, in unsere Seele zu kommen, um sie dem göttlichen Vorbilde ähnlich zu machen. " Wir werden uns ihm hingeben, damit er uns besitze und durch seine Kraft belebe. Darauf-

t P. S. JURE hat eine solche Sammlung herausgegeben: " Le MaUre !esus Christ e1lseiglZant les Iwmmes ... Auch das Buch" Le discipte" von V. P. CHEVRIER kann Anregung geben.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. !;l49

hin verweilen wir wieder eine Zeitlang schweigend bei ihm, um uns von seinem milden Geiste durchdringen zu lassen ... " Jesus z'n den Händen, dabei " wünschen wir, sein göttlicher Wille erfülle sich an uns, seinen Gliedern. Wir sollen unserem Haupte unterworfen sein und dürfen keine anderen Regungen in uns haben, als die uns von J esus Christus, unserem Leben und unserem Allem, verliehenen. Er erfülle unsere Seele mit seinem Geiste, seiner Tugend und seiner Kraft. Er wirke in uns, und durch uns geschehe alles, was er wünscht." 1

1378. e) Bei gewissen Seelen tritt mehr der Wille in den Vordergrund. Sie sind nicht mehr imstande, diskursiv zu betrachten. Andererseits aber macht es ihnen viel Mühe, fromme Herzensergüsse zuwege zu bringen, und das wegen Trockenheit und Zerstreuungen. Das für diese Seelen sich eignende, vereinfachte, innerliche Gebet schildert P. Piny 2 auf folgende Weise: " Dieses innere Gebet besteht darin, dass man die ganze für die Betrachtung bestiml'lte Zeit damit zubringen will, Gott. zu lieben, und zwar mehr als sich selbst. Gegenwärtig sein zu wollen, um im Geiste der Liebe zu Gott zu beten. Darin verharren zu wollen in völliger Hingabe an den göttlichen Willen... Man beachte dieses: Über die Akte der meisten Tugenden und über andere Arten von Vereinigung besitzt die Liebe den Vorteil, dass lieben wollen, lieben heisst, dass der Wille, sich durch wahres Wollen in Liebe mit dem Willen dessen, den wir lieben oder lieben wollen, zu vereinigen, durch diesen Akt unseres vVillens uns sogleich in den Besitz jener Vereinigung versetzt : Liebe ist nämlich nichts anderes als ein affektbetonter Akt unseres Willens."

1379. f) Bei diesem innerlichen Gebet ist man ebenso wie beim affektiven Gebete Zerstreuungen

t Illtroduction, 4. Kap. - 2 L'oraison du .cieur, I. Kap.

950

,ERSTES KAPITEL.

und Trockenheiten ausgesetzt. Da gilt es nur, sich derentwegen zu verdemütigen, Gott den darüber empfundenen Kummer aufzuopfern und sich zu bemühen, trotz allem in gänzlicher Unterwerfung unter seinen Willen in seiner Gegenwart zu verharren. Die Zerstreuungen können wohl dem Denken hinderlich sein, sich einzig auf Gott zu richten, nicht aber dem Wollm, dessen Akt, trotz der vorbeiziehenden Bilder der Phantasie, der Wirkung nach andauert.

1380. 3. Von der Vorbereitung und dem Schlusse. A) Es wurde die Frage aufgeworfen, ob für das innerliche Gebet der Einfachheit der Gegmstand vorberdtet werden muss. Im allgemeinen lautet die Antwort bejahend. Bekanntlich riet der hl. Franz v. Sales der hl. Franziska v. Chan tal, ihre BetrachtW1gen vorzubereiten : 1 " Ich will nicht sagen, man solle nicht nachgeben, fühlt man sich nach erfolgter Vorbereitung während der Betrachtung zu dieser Art innerlichen Gebetes (einfachen Schauens) hingezogen. Sich jedoch es zur Regel machen, die Vorbereitung zu unterlassen, das will mir nicht recht einleuchten. Ebensowenig wie aus dem Verkehr mit Gott zu scheiden ohne Danksagung, ohne Aufopferung, ohne ausdrückliche Bitte. Das mag wohl mit Nutzen geschehen, aber ich gestehe, es widerstrebt mir etwas, dass das die Regel sein soll." Dieser Rat ist sehr weise. Die Vorbereitung nämlich eines Gegenstandes wird den Hl. Geist nicht hindern, uns je nach seinem Willen einen anderen vor Augen zu halten. Findet er es fÜr besser, dies nicht zu tun, so bleibe man bei dem vorbereiteten Gegenstand.

1381. B) Diese Vorbereitung erstreckt sich auf den Vorsatz, der am Ende der Betrachtung gefasst wird. Es ist gewiss besser, einen solchen am V or-

t Brief v. 2. März 1610, T. XIV.

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 951

abend schon festzulegen. Möglich, dass der Hl. Geist einen andern eingibt, oder einfach die Seele beeinflusst, sich den ganzen Tag über Gott hinzugeben. J edeQfalls aber wird der Vorsatz, den sie selbst gefasst hatte, nicht nutzlos gewesen sein. Da sich aber alles vereinfacht, muss hier beigefügt werden, dass der beste Vorsatz oft derseI be sein wird, z. B. beständig unter den Augen Gottes zu leben, ihm nichts zu verweigern, alles aus Liebe zu tun. Erscheinen auch solche Vorsätze, denen, die diese Gebetsart nicht üben, allzu unbestimmt, so sind sie es jedoch durchaus nicht für die von Gott dazu angeregten Seelen, weil Gott selbst es übernimmt, diese Vorsätze durch häufige Einsprechungen während des Tages ausführbar zu gestalten.

§ IV. Beziehung des innerlichen Gebetes der Einfachheit zur eingegossenen Beschauung.

Um die allgemeine Lehre in bezug auf diesen Gegenstand genau wiederzugeben, beweisen wir, I. dass das innerliche Gebet der Einfachheit, im Grunde genommen, in seinen Anfängen nur erworbene Beschallung ist; 2. dass es vortrefflich auf die eingegossene Beschauung 'l'orbereitet und bisweilen sogar in ihr seinen Abschluss findet.

1382. I. Es ist Beschauung. a) Dieses war zweifellos die Ansicht Bossuet's. Nach der Beschreibung dieser Gebetsweise fügt er hinzu: " Die Seele unterlässt daher Vernunftfolgerung und gibt sich süsser Beschauung hin, wodurch sie sich für die ihr vom Hl. Geiste vermittelten göttlichen Eindrücke und Einwirkungen empfänglicher macht und in Frieden und gespannter Aufmerksamkeit bleibt." Die gleiche Schlussfolgerung ergibt sich auch schon aus dem Wesen dieser Gebetsart im Vergleiche mit dem der

Beschauung. Letztere wird, wie bereits (N. 1298) gesagt, als einfache, unmittelbare Erkenntnis der WahrheÜ erklärt. Nun aber besteht das innere Gebet

952

ERSTES KAPITEL.

der Einfachheit, wie Bossuet sagt, "in einem an sich einfachen Blicke, einem Schauen, einem liebenden Aufmerken auf einen göttlichen Gegenstand". Mit Recht wird es also Beschauung genannt ..

b) Es ist erworbene Beschauung, keine eingegossene, wenigstens nicht anfangs, solange sie noch schwach und mit Unterbrechungen auftritt. Dann nämlich dauert sie nur einige Minuten, und an ihre Stelle treten andere Gedanken und Affekte. Erst allmählich gewöhnt sich die Seele daran, Gott vermöge eines einfachen Blickes des Glaubens zu schauen und zu lieben, dies während längerer Zeit und in synthetischer Weise zu tun. Der Vorgang ist ähnlich wie bei einem Künstler, der ein Meisterwerk in Augenschein nimmt, dessen Einzelheiten er vorher eingehend zum Gegenstand seines Studiums gemacht hat. Höchst wahrscheinlich handelt es sich hierbei um einen gewöhnlichen, psychologischen Vorgang, der zwar lebendigen Glauben und auch latentes Wirken der Gaben des BI. Geistes voraussetzt, jedoch kein besonderes Eingreifen Gottes, keine wirkende Gnade.

1383. 2. Das innerliche Gebet der Einfachheit ist eine gÜnstige Veifassung für die eingegossene Beschauung. Es versetzt tatsächlich die Seele in einen Zustand gespannter Aufmerksamkeit und sehr grosser Fügsamkeit den Gnadenantrieben gegenüber, facile mobz'lis a Spiritu Sancto. Liegt es im Willen Gottes, sich ihrer zu bemächtigen, um in ihr tiefere Sammlung, einfacheres Schauen, stärkere Liebe zu bewirken, so tritt sie in die zweite Phase des innerlichen G~betes der Einfachheit ein, so wie Bossuet sie in N r. V. der schon erwähnten, kleinen Schrift beschreibt:

" Dann darf man sich nicht vervielfältigen durch Erwecken mehrerer anderer Akte oder Hervorrufen verschiedener Stimmungen, sondern achte nur auf jene Gegenwart Gottes, bleibe seinen Blicken ausgesetzt und verharre in die~em

DER EINFACHE EINIGUNGSWEG. 953

andächtigen Aufmerken oder Ausgesetztsein solange der Heiland seine Gnade dazu verleiht. Auch beeile man sich nicht, sich mit anderen Dingen zu befassen, sondern bleibe bei der Sache. Denn solches innerliches Beten ist ein Gebet mit Gott allein und eine Vereinigung, die in hervorragender Weise alle anderen besonderen Verfassungen enthält und die Seele auf die Passivität vorbereitet, d. h. Gott wird der alleinige Herr ihres Innern und wirkt mehr als sonst in i/ir. Je weni/{er das Geschöpf arbeitet, um so mächtiger wirkt Gott in ihr. Und da Gottes Wirken Ruhe beteutet, wird somit die Seele bei diesem innerlichen Gebet ihm gewissermassen ähnlich und empfängt dabei auch wunderbare EindrÜcke. " ...

Man beachte die hervorgehobenen Ausdrücke. Sie bezeichnen sehr genau die mächtige, besondere Tätigkeit Gottes und die Passivität der Seele. Hier handelt es sich unzweifelhaft um die ez'ngegossene Beschauung, und das durch einen liebenden Blick auf Gott mit gewisser Tätigkeit begonnene innerliche Gebet schliesst mit der Ruhe oder Untätigkeit, in der Gott viel mächtiger auf die Seele einwirkt.

1384. Es besteht somit ein gewisser Zusammenhang· zwischen dem vereinfachten, affektiven, innerlichen Gebet, das durch Glaubensgeist erworben werden kann, und der Ruhe in Gott, der unter Mitwirkung der Seele durch die Gaben des hl. Geistes erzeugten, eingegossenen Beschauung. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden ist, dass das eine erworben, die andere ez'ngegossen ist. Aber das Bindeglied zwischen beiden, die Brücke, die von einem zur andern führt, ist das innerliche Gebet der Einfachheit, das mit einfachem Schauen im Glauben beginnt und, wenn es Gott gefällt, mit der Besitzergreifung der Seele abschliesst. Freilich ist der Hl. Geist nicht verpflichtet, nachdem man zum innerlichen Gebet der Einfachheit gelangt ist, dieses in eingegossene Beschauung umzuwandeln, weil wir selbst uns nicht zur Höhe einer solchen ganz freien Gabe emporzuschwingen vermögen; aber, ist die Seele gut vorb'ereitet, so wird er es oft tun. Wünscht er ja doch nichts so sehr, als gross-

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ERSTES KAPITEL.

mütige Seelen, die ihm nichts verweigern wollen, in immer vollkommenerer Weise mit sich zu vereinigen.

SCHLUSS DES ERSTEN KAPITELS.

1385. Diese erste Gestaltung des Einigungslebens ist schon sehr vollkommen. I) Die mit Gott andauernd in Liebe vereinigte Seele bemüht sich, die Tugenden in erhabenster Weise zu üben. Sie vollbringt es mit Hilfe der Gaben des Hl. Geistes, die bald latent, bald offenbar auf sie einwirken. Die in ihr vorherrschenden Gaben sind auf Grund ihrer natürlichen Anlagen, ihrer Beschäftigungen und des göttlichen Gnadenzuges mehr die auf Tätigkeit gerichtet. Jedoch inmitten der Tätigkeit verbleibt sie in Vereinigung mit Gott : für ihn, mit ihm und unter Einwirkung seiner Gnade arbeitet und leidet sie. 2) Ist die Zeit zum Gebet gekommen, so ist ihr innerlz'ches Gebet sehr einfaclt. Mit den Augen des Glaubens schaut sie Gott, ihren Vater, der in ihr wohnt, mit ihr arbeitet und, während sie ihn schaut, liebt sie ihn. Zuweilen bekundet sich diese Liebe durch grossmütigen Aufschwung, zuweilen durch reine Willensakte. Auch sie nämlich erfährt Trockenheiten und PrÜfungen und kann dann nur sagen : "Mein Gott, ich liebe dich, oder wenigstens ich will dich lieben, will aus Liebe um jeden Preis deinen Willen tun. " 3) Die Gaben der Wissenschaft, des Verstandes und der Weisheit, die für gewöhnlich nur latenterweise in ihr wirken, leuchten zu manchen Zeiten wie ein Blitz auf und versetzen die Seele für einen Augenblick in süsse Ruhe.

Es ist das eine Art Einfiiltrung in die eingegossene BescJwuung.


ZWEITES KAPITEL.

955

ZWEITES KAPITEL.

Die eingegossene Beschauung. I

N ach Darlegung der Allgemeinbegriffe von der eingegossenen Beschauung werden wir deren verschiedene Stufen durchgehen.

I. ABSCHN. ALLGEMEINBEGRIFFE VON DER EINGEGOSSENEN BESCHAUUNG.

Um Einblick in die eingegossene Beschauung zu gewähren, legen wir dar : I. ihr Wesen / 2. ihre Vortez'le / 3. die Anzeichen der näheren Berufung zur eingegossenen Beschauung.

§ I. Wesen der eingegossenen Beschauung.

Wir geben die Definition und erörtern dann den Anteil Gottes und den der Seele an der Beschauung.

1. Definition.

1386. A) Die älteren Autoren machen keinen ausdrücklichen Unterschied zwischen der erwor-

t S. THOMAS, IIa II"', q. 180-182. - S. BONAVENTURA, De triplici via. Itinerarium mentis ad Deum. - H. Suso, Le livre de la Sagesse, le livre de la verite. - Sei. J. RUYSBROEK, L'ornement des noces spirituelles. - GERSON, La montagne de la contemplation. La theologie mystique spt!culative et pratique. - DENYS LE CHARTREUX, De fonte lucis et seJnitis vitai. De contemplatione. - L. DE BLOIS, Institutio' spiritualis. - D. A. BAKER, Sancta Sophia. - Ste THERESE, Vie par elle-meme. Chemin de la peifection. Le Chateau de l'ame. - S. JOH. V. KREUZ, La montee du Carmel. La nuit obscltre. La vive flamme d'amour. - S. FR. DE SALES, De l'Amour de Dielt, I. YI-VIL ALVAREZ DE PAZ, De vita spirituali, t. IlI, lib. V. - M. GODINEZ, Praxis theologiai mysticee. - P. LALLEMANT, Doctrine spirituelle, VII. Principe. - SCARAMELLl, Direttorio mistico. - RIBET, La 11fystique divine. - P. DE MAUMIGNY, Pratique de l'oraison mentale, t. 11. - P. POULAIN, Les graces d'oraison. - D. V. LEHODEY, Les voies de l'oraison, 3. T. - A. SAUDREAU, Les degrtfs, t. II. L'ltat mystique. - A. MEYNARD, Tr. de la vie inli!rieure, t. 11. P. LAMBALLE, La contemplation. - MGR. F ARGES, Les PhblOmenes mystiques. - F. D. J ORET, La contemplation mystique d'apres S. Thomas. - R. GARRIGOu-LAGRANGE, Per/ection chrltienne et contemplation.

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ZWEITES KAPITEL.

benen und der eingegossenen Beschauung, geben also auch im allgemeinen nicht den Artunterschied zwischen beiden an. Aus verschiedenen Stellen des hl. Thomas über diesen Gegenstand lässt sich folgern, die Beschauung sei ein einfaches, unmittelbares, klares Schauen Gottes und göttlicher Dinge, das der Liebe entspringt und zur Liebe hinstrebt I. Der hl. Franz v. Sales definiert sie so : "eine liebende, einfache und andauernde Aufmerksamkeit des Geistes auf göttliche Dinge. " 2

B) Die neueren Schriftsteller heben allgemein den Unterschied zwischeri den beiden Arten von Beschauung hervor und definieren oder beschreiben die eingegossene Beschauung wie Benedikt XIV. als "ein einfaches, geistiges Schauen, verbunden mit inniger Liebe zu göttlichen Dingen, das von Gott ausgeht. Durch die Gaben des Hl. Geistes, nämlich des Verstandes und der Weisheit, wird der menschliche Verstand von hellem Lichte erleuchtet und der menschliche Wille von Liebe entzündet, und so werden Verstand und Wille von Gott in besonderer Weise auf Erkenntnis und Liebe göttlicher Dinge hingewiesen." Hier haben wir eine ausführliche Erklärung, die den Anteil Gottes und der Gaben des Hl. Geistes wie auch den unserer Fähigkeiten zeigt. Diese werden zwar von Gott auf Erkenntnis und Liebe hingewz'esen, wirken aber bei diesem göttlichen Antrieb frei mit. Zu beachten ist jedoch, dass in dieser Definition nur von der die Seele labenden Beschauung die Rede ist, nicht von der trockenen. Soll darum die Definition beide Arten umfassen, so kann man sagen, die eingegossene Beschauung sei einfaches,

t Sumo theol., IIa rr"" q. 180, a. 3, ° et ad I : " Contemplatio pertinet ad ipsum simplicem intuitum veritatis ... principium habet in affectu, in quantum videlicet aliquis ex caritate ad Dei contemplationem incitatur; et quia finis respondet principio, inde est quod etiam terminus et finis vit", contemplativ", habet esse in affectu, dum sc. aliquis in visione rei amat", delectatur, et ipsa delectatio rei vis", amplius excitat amorem. "

2 Amour de Dieu, I. VI, C. 3.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 957

lz'ebendes, andauerndes Scltauen Gottes und göttlicher Dinge, das unter Einfluss der Gaben des Hl. Geistes in ez'ner besonderen, uns eifassenden, beisteltenden Gnade geschieht und uns mehr passz'v als aktiv ltandeIn lässt.

Zum richtigen Verständnis dieser Definition bleibt uns noch übrig, den Anteil Gottes und den des Menschen an der Beschauung darzulegen.

11. Anteil Gottes an der Beschauung.

Gott hat den Hauptanteil daran, denn er allein kann sich unserer bemächtigen und uns in einen passiven Zustand versetzen.

1387. I. Gott ist es, der dz'e Seele zur Beschauung beruft, denn alle Mystiker geben zu, sie sei eine wesentlich frez' verlz'eltene Gnade. So lehrt die hl. Therese. Oft bezeichnet sie diese Art des innerlichen Gebetes als ÜbernatÜrlich und in ihrem zweiten Bericht an P. Rodrigue Alvarez erklärt sie dieses Wort:" Ich nenne ÜbernatÜrlz'ch, was nicht durch Fleiss, Anstrengung oder irgend eine Mühe erworben werden kann. Sich dazu disponieren, ja, das kann man, und das ist gewiss schon viel." I Noch verständlicher macht sie das Gesagte durch einen anmutigen Vergleich : "Gott gefällt sich zuerst darin, die Seele von Stufe zu Stufe zu sich aufsteigen zu lassen. Dann nimmt er die kleine Taube und setzt sie ins Nest, damit sie dort ausruhe." 2

Ähnlich ist die Lehre des hl. J oh. v. Kreuz. Er unterscheidet zwei Methoden, eine aktive und eine passive. Bei dieser, die einfach Beschauung ist, besitzt die Seele, sagt er, weder eigene Initiative noch Aktivität. Gott wirkt in ihr, während sie sich passiv verhält 3. Derselbe Heilige kommt oft auf diese Unterscheidung zurück: " Und zwischen den

t (Euvres, t. II, Relation LIV, S. 295.

, Vie, 18. Kap. - 3 MonNe du Ca1'1nel, 1. I, 13. Ke.p.

958

ZWEITES KAPITEL.

bei den Zuständen ist ein ebenso grosser Unterschied wie zwischen menschlichem und göttlichem Werke, zwischen natürlicher und übernatürlicher Handlungsweise. - Solche Seelen handeln nicht aus sich, sondern unter Einwirkung des Hl. Geistes. Er ist es, der in erster Linie handelt (l'agent principal). Er ist der Führer, der Antrieb in diesem Zustande. Unaufhörlich wachte er über sie, die einfach seine Werkzeuge sind. Durch ihn werden sie zur Vollkommenheit nach dem Glauben und dem göttlichen Gesetze, ni\ch dem Geiste, den Gott einer jeden verleiht, gefuhrt." I Ubernimmt aber Gott die ganze Initiative, bewegt er in erster Linie die Seelen, während diese nur Werkzeuge sind, so kann offenbar die Seele sich nicht selbst in diesen Zustand versetzen, noch ihn im eigentlichen Sinne, de condigno, verdienen. Denn man kann sich auf diese Weise nur das verdienen, was Gott selbst als Ziel des Verdienstes bestimmt hat, d. h. die heiligmachende Gnade und die ewige Seligkeit.

Sogar jene Schule, die dafür hält, alle Seelen seien zur Beschauung berufen, gibt dennoch zu, diese sei eine unverdiente Gabe. Saudreau sagt zunächst, die Betrachtung übersteige nicht unsere Kräfte. Dann fÜgt er bei: " Nicht ebenso verhält es sich mit dem mystischen, innerlichen Gebet. Welche Mühe man sich auch geben mag, es kann nicht erreicht werden, wurde man nicht durch göttliche Gnade in einen solch verdienstvollen Zustand erhoben." 2 Einige sind freilich der Meinung, man sei imstande, die Gnade der Beschauung de congruo zu verdienen. Das aber hindere nicht, dass sie ihrem Wesen nach eine durchaus freie

Gabe sei. .

1388. 2. Gott auch wählt den Zeitpunkt und die Wez'se der Beschauung, wie auch ihre Dauer. Er allein kanil nämlich die Seele in passiven oder mystischen Zustand versetzen, sich ihrer Fähigkeiten bemächtigen, um in ihnen und durch sie mit freier WiUenszustimmung zu wirken. Es ist eine Art Besitzergreifung von seiten Gottes, und da Gott der unumschränkte Herr seiner Gaben ist, schenkt er sie, wann er will und wie er will.

t Viveflamme, 3. Strophe, V. 3. N. 8'9.

2 L't!tat mystique, 2. Ausg. 1921, S. 19-20. - Das sagt P. ]ANVIEK (Care,ne I923, Retraite, 2. Instr.) : " Die eingegossene Beschauung ist eine hervorragende und besondere Gnade, zu der man durch eigene Anstrengung nicht gelangt, sondern die Gott verleiht, wenn es ihm gefällt und in dem Masse, wie es ihm gefällt. "

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 959

1389. 3. Bei der Beschauung wirkt Gott hauptsächlich in dem, was die Mystiker mit den Ausdrücken "Seelenfaser, äusserste Spitze der Seele, Gipfel des Willens oder tiifster Grund der Seele" bezeichnen. Darunter ist das Erhabenste in Verstand und Willen zu verstehen. Im Verstande, der zwar keine Erwägungen anstellt, wohl aber unter dem Einflusse der höheren Gaben des Verstandes und der Weisheit die Wahrheit durch einfaches Schauen erfasst. Im Willen, der seinen einfachsten Akt setzt, nämlich die göttlichen Dinge lieben und verkosten.

Der ehrw. L. de Blois t meint, dieses Innerste der Seele, wo die Beschauung bewirkt wird, sei" viel innerlicher und erhabener als die drei Hauptfähigkeiten, da es die Quelle derselben ist... In ihm, fügt er bei, sind die höheren Fähigkeiten selbst zu einer einzigen verschmolzen. Daselbst herrscht höchste Ruhe, vollkommenes Schweigen, denn kein Phantasiebild kann dorthin dringen. In diesem Mittelpunkt, in dem Gottes Bild verborgen ist, umkleiden wir uns mit Gottes Gestalt. "

1390.4. In diesem Mittelpunkt der Seele erzeugt Gott gleichzeitig Erkenntnis und Liebe. Die Erkenntnis geschieht sowohl durch Bejahung als durch Verneinung.

a) Die erstere, die deutlich, obwohl dunkel bleibend, ist, macht tiefen Eindruck auf die Seele, weil sie ganz oder fast ganz auf Erfahrung beruht (experimental oder quasi-experimental). Gott kann sie hauptsächlich auf vierfache Art in uns hervorbringen:

I) Vermöge des Lichtes der Gaben lenkt er unsere Aufmerksamkeit auf einen Gedanken, den wir schon hatten, der aber bis dahin uns nicht aufgefallen war. So wussten wir z. B., Gott sei Liebe. Plötzlich jedoch bewirkt göttliches Licht, dass wir diesen Gedanken verstehen und verkosten, so dass wir davon ganz durchdrungen und erschüttert sind.

t L'institutiolZspirit. 12, Kap.,B. 11. (ffiuvres) S. 101-103. Ausg. 1913.

960

ZWEITES KAPITEL.

2) Aus zwei Ideen, die wir schon hatten, lässt er uns eine Folgerung ziehen, die durch dieselbe Erleuchtung ergreifend auf uns einwirkt. Aus der Tatsache, dass Gott alles ist und wir nichts, lässt uns der Hl. Geist einsehen, welch gebieterische Pflicht die Demut für uns sei: " Ich bin, der ich bin und du bist der, der nicht ist! "

3) Er erzeugt in uns eingegossene Bilder (species), die, als von Gott kommend, die göttlichen Dinge vollkommener und ergreifender darstellen. Das findet bei gewissen Gesichten oder Offenbarungen statt.

4) Vorübergehend gewährt er einer Seele die selige Anschauung, wie der h1. Thomas in bezug auf Moses und den h1. Paulus' annimmt. Einige Kirchenväter bezüglich der allerseligsten Jungfrau 2. Die Erkenntnis, die d.~rch Verneinung geschieht, belehrt uns über die hohe Uberlegenheit Gottes und gewährt uns eine sehr hohe Meinung davon. Wir kommen N. 1398 darauf zu sprechen.

1391. b) Gott erzeugt in der Seele auch unaussprechliche Liebe. Durch eine Art Intuition lässt er sie begreifen, dass er, und zwar er allein, das höchste Gut sei. Wie der Magnet das Eisen anzieht, so zieht er stark und unwiderstehlich dadurch die Seele an sich, ohne jedoch deren Freiheit zu beeinträchtigen. Sie wendet sich dann nämlich an Gott mit demselben Eifer, mit dem sie dem Glück zustrebt. Sie tut dies aber frei, weil dieses Schauen dunkel ist, daher ihre Freiheit nicht hemmt.

Nach der Ansicht des ehrw. L. de Blois geht sie aus sich heraus, um sich ganz in Gott zu ergiessen und sich im Abgrunde seiner Liebe zu verlieren. " Und dort lebt sie in Gott, sich selbst abgestorben, nichts kennend, nichts fühlend als die Liebe, von der sie trunken ist. Sie verliert sich in der Unermesslichkeit der göttlichen Einsamkeit und Finster-

, Sumo theot .• Ha !Ire. q. 17E. a. 3. ad 1.

2 SUAREZ, in Joan. c. 30. n. 18 : .. Non sunt tarn facile hujusmodi dispensationes afferendre aut extendendre. De Beatissima autem Virgine pie credi potest, et quidem si alicui hoc privilegium concessum est, ilE maxime datum est ...

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 961

nis. Darin sich verlieren, heisst aber sich vielmehr finden. Denn die Seele entledigt sich in Wahrheit alles Menschlichem, um sich mit Gott zu umkleiden. In Gott wird sie verwandelt und ganz umgewandelt, wie das Eisen unter der Einwirkung des Feuers sich in die Glut des Feuers umwandelt und dem Feuer ähnlich erscheint. Das auf diese Weise vergöttlichte Wesen der Seele bleibt jedoch, was es war. Ebenso wie das glühende Eisen nicht authört, Eisen zu sein. Bis dahin war in der Seele nur Kälte. Von da an ist sie ganz entflammt. Aus der Finsternis ging sie zum klarsten Licht über. Früher empfindungslos, ist sie jetzt die zärtliche Liebe selbst... Von dem Feuer der göttlichen Liebe ganz verzehrt und (wie das Eisen in der Glut) flüssig geworden, ist sie in Gott übergegangen, vereinigt sich unmittelbar mit ihm, ist nur eines Geistes mit ihm: so verschmelzen Gold und Erz zu einem einzigen Metall. Die auf diese Weise in Gott verzückt und verloren sind, gelangen übrigens zu verschiedenartigen Höhenstufen. Jeder nämlich dringt um so tiefer in Gottes Unergründlichkeit, je aufrichtiger, eifriger, lieberfüllter er sich Gott zukehrt und je vollständiger er in diesem Streben nach Gott jedes Verlangen nach persönlicher Genugtuung ausschaltet." ,

III. Anteil der Seele.

N ach Empfang der zuvorkommenden Gnade Gottes, entspricht die Seele durch freien Entschluss dem göttlichen Antrieb.

1392. I. Frei lässt sie sich von Gott erfassen und antreiben, wie das Kind sich mit freier, freudiger Zustimmung auf den Armen der Mutter forttragen lässt. Sie ist also zugleich passiv und aktiv.

a) Sie ist passiv, insofern sie unfähig ist, aus eigener Initiative zu handeln, wie sie es ehedem tat. Zur Zeit der Beschauung kann sie ihre Fähigkeiten nicht mehr diskursiv gebrauchen. Ein höheres Prinzip beherrscht sie, fesselt ihren Blick, ihren Geist und ihr Herz auf den geschauten Gegenstand, lässt sie ihn lieben und verkosten, flösst ihr ein, was sie zu tun habe und gibt ihr einen starken Antrieb zum Handeln. Auf den ersten Stufen ist jedoch

, L. DE BLOIS, L'lnstitution spirituelle. Kap. XII, § 2, S. 89-90.

N° 683. - 31

962

ZWEITES KAPITEL.

nicht völlige Machtlosigkeit. Das Phänomen der Unterbindung der Fähigkeiten vollzieht sich nach und nach und besteht erst vollständig in gewissen höheren Zuständen von Beschauung, namentlich in der Verzückung. So sind im Zustande der Ruhe in Gott mündliches Gebet und Betrachtung ermüdend für die Seele, im allgemeinen aber nicht unmöglich. 1 Bei der vollen Vereinigung hemmt Gott das Begriffsvermögen teilweise so, dass es zwar aktiv bleibt, aber nicht mehr erwägen kann. Er hält die Gedanken auf, richtet sie beständig auf diesen oder jenen Gegenstand. Er bewirkt, dass das Wort auf den Lippen erstirbt, so dass man keines ohne grosse Mühe hervorbringen kann. 2

1393. b) Die Seele jedoch, die nun nicht mehr wie vordem sich in Erwägungen ergehen kann, bleibt nicht untätig. Unter dem Einflusse des göttlichen Antriebes handelt sie, Gott schauend und ihn liebend, wenn auch durch Akte, die zuweilen nur miteinbegriffen sind. Ihre Aktivität ist sogar stärker als je. Sie erhält nämlich einen Zufluss geistiger Energie, der ihre eigenen Kräfte verzehnfacht. Sie fühlt sich durch ein höheres Wesen wie umgewandelt, das, sozusagen, als Seele ihrer Seele sie erhebt und zu Gott trägt. Es ist das die Wirkung der gratia operans, der sie mit freudiger Bereitwilligkeit zustimmt.

1394. 2. In diesem Zustande erscheint Gott in einern neuen Lichte, als lebendige Wirklicltkez·t. Sie wird durch eine Art Eifahrungserkenntnis erfasst, wofür die menschliche Sprache keine Ausdrücke besitzt. Nicht mehr durch Induktion oder Deduktion geschieht diese Erkenntnis, vielmehr durch einfache Intuition, die aber dennoch keine klare Anschauung

, St. THEHESE, 2' Re/at. au P. Rodriguez, CEuvres, t. TI, S. 295-296; C/lemill de ta per/ection, 31. Kap.

2 Ste THliRESE, 2' Re/at., I. c., S. 296-297.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 963

Gottes ist. Sie bleibt dunkel und vollzieht sich durch eine Art Berührtwerden von Gott, wodurch wir uns seiner Gegenwart bewusst werden und uns seiner Gunstbezeugungen erfreuen.

Niemand hat wohl diese Erfahrungserkenntnis besser geschildert als der h1. Bernhard ' : " Das Wort ist in mich eingeg-ang-en (es ist töricht von mir, diese Dinge zu sagen) und oft habe ich sein Kommen erfahren. Dennoch ist mir keine Empfindung des Augenblicks seiner Ankunft zuteil geworden. Aber ich fühlte, dass J esus da war; dessen erinnere ich mich. Zuweilen konnte ich sein Kommen vorausahnen, niemals aber vermochte ich seinen Eingang oder Ausgang zu erspähen ... Und dennoch erkannte ich, dass wahr ist, was ich gelesen hatte, nämlich, dass wir in ihm leben, uns bewegen und sind. Glücklich derjenige, in dem er wohnt, der für ihn lebt und von ihm bewegt wird! Doch "ihr fragt mich, wie ich seine Gegenwart erkennen konnte, da ja seine Wege unerforschlich sind. Sobald er da ist mit der Fülle von Leben und Kraft, weckt er meine schlafende Seele. "Er bewegt, erweicht, verwundet mein Herz, das hart wie Stein und sehr krank ist. Nun beginnt er auszurotten und zu vernichten, aufzubauen und zu pflanzen, zu bewässern, was dürr ist, ~H erhellen, was dunkel war, zu öffnen, was verschlossen, zu wärmen, was erkaltet, gerade zu machen, was krumm war, zu ebenen, was holperig war, so dass meine Seele Gott, den Herrn, preist und alle meine Kräfte seinen N amen loben ... Also nicht durch äussere Zeichen, durch den Ton seiner Stimme oder durch das Geräusch seiner Schritte gibt mir der göttliche Bräutigam seinen Eingang in meine Seele kund. Nicllt an seinen Bewegungen erkenne ich seine Gegenwart, nicht durch meine Sinne, sondern, wie ich bereits erklärte, an der Regung meines Herzens. Ich erkenne die Macht seiner Gnade an den Empfindungen des Abscheus vor der Sünde und vor der fleischlichen Liebe. Ich bewundere die Tiefe seiner Weisheit, während ich meine verborgenen Fehler entdecke und hasse. Bei der Reform meines Lebens erfahre ich seine Güte und Milde, und die innere Erneuerung, die die Frucht dieser Lebensbesserung ist, lässt mich seine unver" gleichliche Schönheit erfassen." So fühlt die das Wort schauende Seele g-leichzeitig seine Gegen wart und seine heiligende Aktion.

Solches Erkennen ist also ein Zwischending zwischen dem gewöhnlichen Glauben und der seligen

, Serm. in Cant., LXXIV, 5-6.

964

ZWEITES KAPITEL.

Anschauung. Bei Untersuchung bis ins letzte führt es aber auf elen Glauben zurück und hat teil an dessen Dunkel.

1395.3. Oft übertrifft in der Seele das Lieben bei weitem das Erkennen. Das ist das seraphische Schauen, im Gegensatz zum cherubinischen, bei dem das Erkennen vorwiegt. Der Wille erreicht nämlich seinen Gegenstand auf andere Weise als der Verstand. Dieser erkennt nur entsprechend der Darstellung, dem Bilde, der erfassbaren Gestalt, die er von dem Gegenstand erhält. Der Wille oder das Herz zielt auf die Wirklichkeit hin, wie sie an sielt ist. Darum können wir Gott so lieben, wie er an sich ist, obgleich unser Verstand hienieden sein inneres Wesen nicht begreifen kann. Das Gott umhüllende Dunkel dient sogar dazu, unsere Liebe zu ihm neu zu beleben und lässt uns sehnlichst nach seiner Gegenwart verlangen. Der Mystiker, der Gott nicht sehen kann, durchbricht vermöge eines Herzensaufschwunges das Geheimnis, das ihm Gottes Angesicht verhüllt, und liebt Gott an sich, seinem unendlichen Wesen nach 1. Dennoch geht der Liebe stets irgend eine Erkenntnis voraus. Scheinen auch gewisse Mystiker das zu verneinen, so ist es nur, weil sie auf das ihnen besonders Auffallende mehr Nachdruck legen. Wahr bleibt dennoch, auch im mystischen Zustande kann man nicht lieben, was man gar nicht kennt. " Nil volitum quin pn:ecognitu1lZ. ".

1396. 4. Während der Beschauung entsteht ein von Freude und Angst gemischtes GifÜhl. Unaussprechliche Freude im Genusse der Gegenwart des göttlichen Gastes; Angst, ihn nicht ganz zu besitzen. Je nach den Absichten Gottes, den Phasen im mystischen Leben und den natürlichen Anlagen, herrscht bald das eine, bald das andere Gefühl vor.

']OANNES A S. THOMA, in pm !Ire, q. 68-70, disp. 18, n. II-12; JORET, Vie spirituelle, sept. 1920, S. 455-456.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 963

r

So gibt es besonders leidvolle Phasen, die man Nächte nennt, und sÜsse, liebliche Phasen. Einige Naturen erfahren und schildern im einzelnen die Prüfungen im mystischen Leben, wie der hl. J oh. v. Kreuz und die hl. Franziska Chantal. Andere verweilen mehr bei den Freuden und Berauschungen der Beschauung, wie die h1. Therese und der h1. Franz v. Sales.

1397. 5. Solches Schauen ist unaussprecltlicll, mit Worten nicht auszudrÜcken, wie einstimmig alle Mystiker zugeben.

" Es ist der Seele unmöglich ", sagt der h1. Joh. v. Kreuz', "die B.~schauung zu unterscheiden, ihr einen Namen zu geben. Ubrigens denkt die Seele gar nicht daran. Sie fände weder Art noch Weise noch Vergleich, um eine so erhabene Kenntnis, eine so geistige, so hohe Empfindung verständlich zu machen. So kommt es, dass die Seele ihr Geheimnis immer ganz bewahren würde, auch beim lebhaftesten Verlangen, alles zu erklären. Selbst, wenn sie sich noch soviel Mühe geben würde ... Sie ist in ähnlicher Lage wie jemand, der etwa~. ganz N eu es entdeckt, das mit nichts ihm bisher Bekannten Ahnlichkeit hat. Er stellt die Sache fest und weiss, dass sie ihm gefällt. Umsonst jedoch bemüht er sich, ihr einen bestimmten N amen zu geben und sie zu beschreiben, obschon es sich doch in meiner Annahme um eine Sinneswahrnehmung handelt. Muss das nicht um so eher zutreffen, wenn die Sinne gar nicht daran beteiligt waren?

Aus zwei Gründen hauptsächlich erklärt sich diese Unmöglichkeit, das Empfundene zu schildern : einerseits wird der Geist in göttliche Finsternis versenkt. Nur undeutlich und dunkel wird er sich der Gegenwart Gottes bewusst, wenn auch in sehr eindrucksvoller Weise. Andererseits ist das auffallendste Phänomen die intensive Liebe zu Gott. Man empfindet sie, kann sie aber nicht beschreiben.

1398. A) Zunächst wollen wir einmal sehen, "vas unter gö'ttliclzer Finsternis zu verstehen sei. Der Ausdruck ist dem Pseudo-Dionysius 2 entlehnt:

, Nuit, 1. II, c. 17. - 2 Tlu!ologie mystique, 1. Kap., § 3·

1:)66

ZWEITES KAPITEL.

" Der Welt der Sinne und der des Geistes entrückt, betritt die Seele das geheimnisvolle Dunkel einer heiligen Umvisse7/heit. Sie entsagt aller wissenschaftlichen Vorkenntnis und verliert sich in jenem, der weder gesehen noch erfasst werden kann. Sie liefert sich gänzlich diesem erhabenen Gegenstand aus, ohne sich oder anderen irgendwie anzugehören. Durch den edelsten Teil ihres Wesens ist sie mit dem Unbekannten verbunden, und zwar auf Grund ihres Entsagens bezüglich der Wissenschaft. Aus dieser unbedingten Unwissenheit schöpft sie aber eine Erkenntnis, die der Verstand nicht erwerben könnte." Um zu dieser Beschauung zu gelangen, muss man sich über die Sinneserkenntnis erheben, da diese offenbar Gott nicht erfassen kann. Auch über die Vernunjterkenntnis, die Gott nur durch Induktion und Abstraktion erfasst. Einzig durch die äusserste Spitze des Verstandes können wir Gott wahrnehmen. Hienieden aber vermögen wir ihn nicht unmittelbar zu schauen. Er kann daher nur auf dem Wege der Venteinung erreicht werden.

Der hl. Thomas erklärt das noch genauer : " Von Verneinung zu Verneinung erhebt sich die Seele höher als die vorzüglichsten Geschöpfe und vereinigt sich mit Gott, soweit es auf Erden möglich ist. Denn während des gegenwärtigen Lebens kommt unser Verstand niemals zum Schauen der göttlichen \iVesenheit, sondern nur zur Erkenntnis dessen, was Gott nicht ist. Die hienieden grösstmögliche Vereinigung unseres Geistes mit Gott vollzieht sich somit dann, wenn wir erkennen, Gott übertreffe die vorzüglichsten Geschöpfe. 1 Der Begriff des Seins selbst, so wie wir ihn zustande bringen, ist zu unvollkommen, als dass er sich auf Gott anwenden liesse. Erst nach Ausschluss alles ihm bekannten Seins kann unser Verstand Gott erreichen. Dann ist er in der gMtlichen Finsternis. Dort ist es, wo Gott weilt. 2

Auf die Frage, wie diese negative Intuition uns über Gott aufklären kann, lässt sich antworten, man mache sich einen hohen Begriff von ihm, zwar nicht durch die Erkenntnis dessen, was er ist, sondern

, Comment. de div. nomin. c. XIII, lect. 3. 2 S. 'fHOM. I Sen!., dist. 8, q. I, a. 1, ad 4.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 967

dessen, was er nicht ist. In den höheren Regionen der Seele entsteht dadurch ein tiefer Eindruck von Gottes alles übersteigender Vorzüglichkeit und zugleich glühende Liebe zu Gott, dessen Grösse und Güte unaussprechlich sind und der allein die Seele ausfüllen kann. Dieses unbestimmte und lieberfüllte Schauen genügt, um unter dem Einfluss der Gnade in der Seele einbegriffene Akte des Glaubens, des Vertrauens, der Liebe und der Gottseligkeit entstehen zu lassen. Sie erfüllen die Seele ganz und rufen in ihr für gewöhnlich grosse Freude hervor.

1399. B) Das zweite, was die Schilderung der Beschauung erschwert, ist die glühende Liebe, die man verkostet und die man nicht in Worten ausdrücken kann.

"Es ist ", sagt der hl. Bernhard', " das hohe Lied der Liebe. Keiner erfasst es, lehrt die innere Salbung es ihm nicht oder klärt die Erfahrung ihn nicht darüber auf. Die es empfunden haben, kennen es, und die es noch nicht an sich erfahren haben, mögen sehnlichst wünschen, nicht, es zu erkennen, sondern zu 7Jerkosten. Es ist kein Lied der Lippen, sondern des Herzens. Kein Freudenausruf des ]vlundes, . sondern innerer Jubel. Nicht Harmonie der Stimmen, sondern des Willens. Von aussen vernimmt man es nicht, öffentlich erschallt es nicht. Niemand hört es, als die es singt und der, fÜr den es erklingt, die Braut und der Bräutigam. Es ist ein Hochzeitslied, das von keuschen und wonnevollen U marmungen der Seelen spricht, von Harmonie der Gesinnungen und von gegenseitiger Liebe. Die unerfahrene Seele, die kindliche oder erst vor kurzem zu Gott zurückgekehrte, kann dieses Lied nicht singen. Es ist der fortgeschrittenen und formvollendeten Seele vorbehalten. Durch die unter göttlicher Einwirkung erzielten Fortschritte hat sie das vollkommene Alter erreicht, durch ihre erworbenen Verdienste das zur Vermählung erforderliche Alter. Durch ihre Tugenden ist sie des Bräutigams würdig geworden.

1400.6. Ist die Beschauung trocken und schwach, wie in der ersten N acht des hl. J oh. v. Kreuz, so ist

1 Senn. in Cantic., I, n. 11-12.

968

ZWEITES KAPITEL.

man sich ihrer nicht bewusst. Erst später lässt sich durch Untersuchung der in der Seele hervorgerufenen Wirkungen ihr Vorhandensein feststellen. Ist sie voller Süssigkeit, so scheint sie dennoch in ihren Anfängen, da sie noch schwach ist, nicht immer wahrnehmbar zu sein, weil es schwer fällt, sie vom inneren Gebet der Einfachheit zu unterscheiden und man zuweilen aus der einen Gebetsweise in die andere übergeht, ohne sich dessen bewusst zu werden. \Vird sie aber intensiver, so tritt sie ins Bewusstsein. Man kann wohl sagen, alle von der hl. Therese geschilderten, übernatÜrlichen Gebetsarten seien solche Beschauungen gewesen, wie wir es bei Erklärung der verschiedenen Beschauungsphasen näher zeigen werden.

1401. Schluss. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der wesentliche Bestandteil der eingegossenen Beschauung die Passivität ist, und zwar so, wie wir sie beschrieben haben : anstatt eigener Führung, Bewegung und Leitung, wird die Seele vom Hl. Geiste geführt, zum Handeln bewegt, geleitet, ohne jedoch weder ihre Freiheit noch ihre Aktivität zu verlieren.

Man sage daher nicht, der wesentliche Bestandteil der Beschauung sei das Bewusstsein der Gegenwart Gottes oder die empfundene Gegenwart Gottes r, denn manchmal fehlt ein solches Bewusstsein oder Empfinden, wie dies besonders in der vom hl. J oh. v. Kreuz beschriebenen trockenen Beschauung in der ersten Nacht der Fall ist. Immerhin ist dieses Bewusstsein ein Hauptbestandteil, denn er findet sich auf allen von der hl. Therese beschriebenen Stufen der Beschauung, von der Ruhe bis zur umwandelnden Vereinigung.

'Daher sagt auch P. POULAIN, (Grdces d'oraison, eh. V.) der die empfundene Gegenwart Gottes als grundlegenden Bestandteil der Beschattung anführt, in den niederen Graden (Ruhe) lasse Gott nur in undeutlicher Weise seine Gegenwart merken.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 969

§ 11. Vorteile der Beschauung.

Diese Vorteile übertreffen noch die des innerlichen Gebetes der Einfachheit, weil die Seele mehr mit Gott vereint ist und unter Einfluss einer wirksamen Gnade steht.

1402. I. Gott wird in z·hnnehrverherrlicht. 1 a) Die eingegossene Beschauung lässt uns Gottes unendliche Vorzüglichkeit erfahrungsgemäss erfassen, woraufhin unser ganzes Wesen sich vor seiner Majestät in den Staub wirft, seine Hoheit nicht nur im Augenblicke der Beschauung selbst lobt und preist, sondern auch im Laufe des Tages, Hat man diese Grösse Gottes erst einmal, wenn auch nur flüchtig, gesehen, so verharrt man voll Bewunderung und Verehrung vor ihr. Das ist so wahr, dass die Unmöglichkeit, jene erhabenen Gefühle in uns zu verschliessen, uns drängt, alle Geschöpfe zum Lobpreis und Dank gegen Gott aufzufordern, wie wir es später (N. 1444) darlegen werden.

b) Solche Huldigungen sind Gott um so angenehmer und ehren ihn um so mehr, als sie unter unmittelbarer Einwirkung des Hl. Geistes entstehen. Er ist es, der in uns anbetet, oder vielmehr, uns in Gesinnungen glühenden Eifers und ti.efer Demut beten lehrt. Unter seinem Einfluss beten wir Gott an als das, was er an sich ist, und begreifen, dass das eine Standespflicht ist, dass wir einzig und allein dafÜr erschaffen wurden, sein Lob zu singen. Damit dieses nun eifriger erklinge, erfüllt er die Seele mit neuen Gütern und grossem Troste.

1403.2. Die Seele wird z'n z'hr mehr geheiligt. Die Beschauung verbreitet nämlich soviel Licht, soviel Liebe und Tugenden, dass sie mit Recht ein verkürzter Weg zur Vollkommenheit genannt wird.

'S. JEAN DE LA CROIX, Viveßamme, 3. Str., v. 5. u. 6.

970

ZWEITES KAPITEL.

A) Durch sie erkennen wirGattin unaussprechlicher und Überaus heiligender Weise. "Dann teilt der im Innersten der Seele ruhende Gott dieser Weisheit und Liebeserkenntnis mit; dabei sind es keine wohl unterschiedenen Akte, obschon zuweilen solche Akte von einiger Dauer von ihm erlaubt werden." I Diese Erkenntnis ist überaus heiligend, denn so lernen wir durch Eifalzru ng', was wir früher nur aus Büchern und eignem Nachdenken wussten. Mit einem einzigen umfassenden Blz'ck schauen wir, was wir durch aufeinanderfolgende Akte erforscht hatten.

Der h1. J oh. v. Kreuz erklärt das vortrefflich 2 : "In der einen, einfachen Wesenheit Gottes sind alle Tugenden, alle Grössen seiner Eigenschaften enthalten. Er ist allmächtig, weise und gut, barmherzig, gerecht und stark. Er ist die Liebe u. s. f., abgesehen von den Eigenschaften undunendlicben Vollkommenheiten, von denen wir nichts wissen. In seinem einfachen Sein ist er dies alles. Vereinigt er sich nun mit der Seele, will er sich zur Selbstoffenbarung herablassen, so nimmt diese Seele in ihm deutlich alle Tugenden und Grössen wahr. .. Und da jedes dieser Dinge das Sein Gottes selbst in einer seiner Hypostasen ist, also der Vater oder der Sohn oder der HI. Geist, und da jede der göttlichen Eigenschaften Gott selbst ist, und Gott unendliches Licht und unendlich göttliches Feuer. .. so wird jede dieser unzähligen Eigenschaften und jede dieser Tugenden Licht und Wärme ausstrahlen wie Gott selbst." Da begreift man, was die hl. Therese sagP : " Ist Gott es, der die Verstandestätigkeit des :\lenschen unterbricht, so liefert er dem Geiste Stoff genug zur Bewunderung und Beschäftigung. Während der Dauer eines Credo erb alten wir dann ohne Erwägungen mehr Licht, als wir in vielen Jahren durch alle unsere irdischen Bemühungen hätten erlangen können".

Freilich ist in manchen Fällen das Licht nicht so deutlich, sondern bleibt dunkel oder unklar. Aber selbst dann macht es einen starken Eindruck auf die Seele, wie wir dies N. 1398 darlegten.

1404. B) Vor allem jedoch erzeugt die Beschauung eine ilberinnige Liebe, die sich, wie der hl. ] oh.

, S. ]E.'\N DE LA CROIX, Viveßamme, 3. Str., v. 3, N. 6 . • Ibidem, V. 1. - 3 Vie, XII, S. 160.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 971

v. Kreuz lehrt, durch drei Hauptvorzüge auszeichnet : a) Die Seele liebt Gott, nicht aus sich, sondern durch ihn. Das ist ein wunderbarer Vorzug, denn so liebt sie durch den Hl. Geist, wie der Vater und der Sohn sich gegenseitig lieben. Das erklärt der Sohn selbst im Evangelium des hl. J ohannes : " Damit die Liebe, mit der du mich geliebt, in ihnen sei und ich in ilmen. " 1

b) Die Seele liebt Gott zn 0ott. Bei dieser innigen Vereinigung nämlich verliert sich die Seele in der Gottesliebe, und Gott erfÜllt die Seele mit seiner starken Liebesglut.

c) Die Seele liebt Gott um dessen twillen , was er ist. Mit anderen Worten : in diesem Zustande höchster Liebe liebt sie ihn, nicht, weil er sich gegen sie freigebig, gut, ruhmwürdig zeigt, sondern sie liebt ihn viel glÜhender, weil er das alles seinem Wesen nach ist. "

Mit dem h1. Franz v. Sales 2 können wir ferner sagen, diese Liebe zu Gott sei um so inniger, weil sie auf Erfahrungskenntnis beruhe. Ebenso wie jener, der mit klaren Augen den angenehmen Glanz der schönen, aufgehenden Sonne wahrnimmt und empfindet, das Licht mehr liebt als der Blindgeborene, der es nur aus der Beschreibung kennt, ebenso wird jener, der sich Gottes durch die Beschauung erfreut, Gott viel inniger lieben als derjenige, der ihn nur durch Forschen kennt." Denn die Erfahrung bezüglich eines Gutes macht uns dieses liebenswerter als alle Wissenschaft, die wir darüber erwerben könnten." So liebte die h1. Katharina von Genua Gott mehr als der subtile Theologe Ocham. In wissenschaftlicher Hinsicht kannte dieser ihn besser, aber jene kannte ihn aus Erfahrung und vermöge dieser drang sie tiefer in die seraphische Liebe ein.

Noch ein anderes vermehrt diese Liebe: es ist die Leichtigkeit, die sie der Beschauung verleiht, während diese, ihrerseits, wieder die Liebe steigert. "Denn, nachdem die Liebe in uns die schauende Aufmerksamkeit geweckt hat, erzeugt letztere grössere und innigere Liebe, die schliesslich im Genusse des von ihr Geliebten ihre vollendete Krönung findet... Die Liebe drängt die Augen, die inniggeliebte

'loh. XVII, 26. - 2 Amour de Dieu, I. VI, Kap. 3.

972

ZWEITES KAPITEL.

Schönheit immer aufmerksamer zu schauen, und das Schauen zwingt das Herz, immer inniger zu lieben.' So erklärt sich die überaus grosse Liebe der Heiligen.

14.95. C) Im Verein mit dieser Liebe findet sich die Ubung aller sittlichen Tugenden, und zwar im höheren Grade, zumal der Demut, der Gleichförmigkeit mit dem \Villen Gottes, der Hingabe an Gott und somit der geistigen Freude und des inneren Friedens, selbst in sehr harten Prüfungen, die die Mystiker durchmachen müssen. Wir werden es bei Untersuchung der verschiedenen Beschauungsgrade (N. 1440) mehr im einzelnen wahrnehmen.

§ III. Die nähere Berufung zur Beschauung.

1406. Die umstrittene Frage der an alle Getauften ergehenden allgemeinm und entfernteren Berufung zur Beschauung lassen wir vorläufig beiseite. Wir bleiben soviel wie möglich auf dem Gebiete der Tatsachen und wollen diese zwei Fragen untersuchen: I. wem verleiht Gott im allgemeinen die Gnade der Beschauung; 2. an welchen Zeichen ist ein näherer, individueller Ruf zur Beschauung zu erkennen?

1. Wem verleiht Gott dz'e Beschauung?

1407. I. Die Beschauung ist ihrem Wesen nach eine durchaus freie Gabe. (N. 1387) Gott verleiht sie also, wem er will, wann er will und auf die Art, wie er will. Im allgemeinen jedoch und in der Regel verleiht er sie nur wohl vorbereiteten Seelen.

Als Ausnahme und auf aussergewöhnliche Weise verleiht Gott die Beschauung zuweilen Seelen, die aller Tugend bar sind. Er will sie dadurch den Händen des Teufels entreissen.

, Ibid., 3. Kap.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 973

So sagt die h1. Therese' : "Es gibt Seelen, von denen Gott weiss, er könne sie durch solche Gunstbezeugungen gewinnen. Er sieht sie grossen Verirrungen anheimgefallen ... sie sind schlechter Verfassung, aller Tugend bar, und dennoch schenkt er ihnen Geschmack an Himmlischem, er tröstet sie, verleiht ihnen zartes Empfinden, so dass sich Sehnsucht in ihnen regt. Zuweilen lässt er sie sogar in die Beschauung eingehen. Das jedoch geschieht selten und ist von kurzer Dauer. Ich wiederhole, er tut das, um zu sehen, ob diese Seelen, dank solcher Gunstbezeigung, sich zu häufigerem Genuss seiner Gegenwart geneigt machen wollen. "

1408. 2. Es gibt bevorzugte Seelen, die Gott schon in der Kindheit zur Beschauung beruft. So die hl. Rosa v. Lima und in jüngster Zeit die hl. Therese v. Kinde J esu. Andere wieder werden zu ihr geführt und machen darin sehr schnelle Fortschritte, die in keinem Verhältnis zu ihrem Tugendgrade stehen.

Die hl. Therese erzählt davon 2 : " Eben denke ich an eine solche Seele. Binnen drei Tagen bereicherte Gott sie mit so grossen Gütern, dass ich es für unmöglich hielt, würde nicht die Erfahrung vieler Jahre und der beständige Fortschritt mir die Sache glaubwürdig machen. Bei einer anderen vollzog sich dasselbe binnen drei Monaten. Alle beide waren noch sehr jung. Andere, die ich kannte, erhielten diese Gnade erst nach langer Zeit. .. Einem so grossen Meister gegenüber, der so begierig ist, Wohltaten zu spenden, lassen sich keine Grenzen setzen. "

1409. 3. Im allgemeinen aber und in der Regel erhebt Gott besonders jene Seelen zur ~~schauung, die sich durch Losschälung, durch Ubung der Tugenden und Pflege des innerlichen Gebetes, zumal des affektiven, darauf vorbereiteten.

Das ist die Lehre des hl. Thomas 3, der behauptet, zur Beschauung gelange m~n erst nach Abtötung der Leidenschaften durch Ubung der sittlichen Tugenden (V gl. N. 1315).

, ChemiJ, de la perfection. r6. Kap., S. 128.

o Pensees sur le Cantique des Calltiques, 6. Kap. 3 lIa !Ire, q. 180, a. 2.

974

ZWEITES KAPITEL.

Der hl. J oh. v. Kreuz spricht das nicht minder klar aus. Er entwickelt diese Lehre ausführlich in "Montte du Carmel" und '1 Nuit de l'dme." : Er bewe~st, man müsse sich vollständIg und unbedll1gt aller Dll1ge entäussern, um zur Beschauung zu gelangen, und fügt hinzu, es gäbe so wenig beschauliche Seelen, weil die Zahl derer gering sei, die von sich selbst und den Geschöpfen losgelöst seien. " Sehet zu," sagt er, "dass eure Seele zu reiner geistiger Entblössung gelange. Ist sie dann rein geworden und einfach, so wird sie sich in die reine und einfache göttliche Vleisheit umwandeln, die der Sohn Gottes ist.'" Die h1. Therese kommt immer wieder darauf zurück und empfiehlt besonders die Demut. " Tuet zunächst, was den Bewohnern der vorherigen Wohnungen anempfohlen wurde, und dann: seid demütig! Seid demütig! Durch unsere Demut gibt Gott allen unseren Wünschen nach ... Meiner Ansicht nach wählt er sich, um die Beschauung zu verleihen, Seelen, die den Dingen dieser Welt entsagten, wenn auch nicht äusserlich durch die Tat, weil ihr Stand sie daran hindert, so doch wenigstens dem Verlangen nach. Dann ladet er sie ein, sich eingehender mit den Dingen des inneren Lebens zu befassen. So bin ich denn auch überzeugt, dass Gott, lässt man ihn frei schalten und walten, seiner Freigebigkeit den Seelen gegenüber, die er offenbar zu Höherem berufen, keine Grenzen setzen wird. "2

1410.4. Die hauptsächlich zu übenden Tugenden sind: a) grosse Reinheit des Herzens und vollständige Loslösung von allem, was zur Sünde führen oder die Seele beunruhigen könnte.

Als Beispiele von angewöhnten Unvollkommenheiten, die der vollkommenen Vereinigung mit Gott hinderlich sind, fÜhrt der h1. J oh. v. Kreuz folgende an : Schwatzhaftigkeit, leichte Anhänglichkeit, von der freizumachen man sich nicht entschliessen kann, möge es sich dabei um eine Person, ein Kleidungsstück, ein Buch, ein Zimmer, eine Lieblingsspeise, kleine Vertrautheiten und kaum bemerkbare Neigungen zu dem, was Gefallen erregt, handeln oder um den Wunsch, alles zu wissen, was vorgeht, und andere derartige Genugtuungen. Den Grund dafÜr gIbt er auch an : " Es ist einerlei, ob der Vogel mit dünnem oder dickem Faden am Fusse festgebunden ist. Fliegen kann er doch erst, nachdem er den Faden zerrissen hat. Ebenso verhält es sich mit den Anhäng-

, MonUe du Carmel. 2. B, 13. Kap.

2 C1zdteau inttrieur lV. Dem., eh. n \1. In, S. II2, II7.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 97;:;

lichkeiten der Seele. Mag sie sich auch der Tugend befleissigen. Um zur Vereinigung zu gelangen, muss sie frei sein.'"

1411. b) Grosse Reinheit des Geistes, d. h. Abtötung der Wissbegierde, die der Seele Verwirrung und Unruhe bringt, sie, sozusagen, zersplittert und gänzlich nach aussen hin trägt. Darum sollen jene, deren Berufspflicht es ist, sich viel mit Lektüre und Studium zu befassen, oft ihre Wissbegierde abtöten und von Zeit zu Zeit ihre Absicht läutern, alles Studium Gott aufopfern. - Diese Reinheit verlangt auch, dass man zur gegebenen Zeit beim innerlichen Gebet das Beweisführen zu unterlassen und die Affekte zu vereinfachen verstehe, um allmählich zum einfachen, liebenden Schauen Gottes zu gelangen. Hierauf bezüglich tadelt der hl. J oh. v. Kreuz sehr scharf die unbesonnenen Seelenführer, die selbst nur die diskursive Betrachtung kennen und daher alle ihre Beichtkinder veranlassen wollen, ohne Unterlass ihre Fähigkeiten arbeiten zu lassen 2.

t

1412. e) Grosse Reinfteit des Willens durch Abtötung des eigenen Willens und durch Hingabe an Gott (NN. 480-497). d) Lebendigen Glauben, kraft dessen man ein Leben nach den Grundsätzen des Evangeliums flihrt (N. II 88).

e) Religiöses Stillschweif{en, so dass alle unsere Handlungen in Gebete umgewandelt werden können (N. 522-529). f) Schliesslich und vor allem innige und grossmiitig-e Liebe, die bis zur Hinopferung seiner selbst und zur freudigen Annahme aller Prüfungen geht (N. 1227-1235).

, Montte, 1. B. 11. Kap. S. 40-4L

2 .. Sie sagen darum zur Seele : Also, unterlasse solches Tun, das ist nur Müssiggang und Zeitverlust! Sei tätig, gib dich wieder ans Betrachten, erwecke innerliche Akte ... alles andere ist nur falsches Licht und Selbsttäuschung ... Seelen führer, die so handeln, begreifen daher weder die Sammlung noch die innere Einsamkeit der Seele. Sie wissen nicht, dass Gott in dieser Einsamkeit durch unaussprechliche Salbungen die Seele stärkt. Sie halten ~.s für nützlich, diesen Tröstungen die gewöhnlichen einer geistlichen Ubung aufzutragen oder beizumischen, wodurch die Seele gezwungen wird, ihre Kräfte in Tätigkeit zu setzen." (Vive flamme, 3. Strophe .. V. 3. N. 8, S. 216-217.) Die hl. Therese heklagt sich auch über Seelenführer, die sogar am Sonntage von den Fähigkeiten der Seele Arbeit fordern. (Vie, 13· Kap.)

976

ZWEITES KAPITEL.

II. Anzeiclten näheren Rufes zur Bescltattung.

1413. Hat sich eine Seele auf diese Weise, bewusst oder unbewusst, auf die Beschauung vorbereitet, so kommt der Zeitpunkt, da Gott ihr zu verstehen gibt, sie solle von der diskursiven Betrachtung ablassen.

Nun gibt es nach der Lehre des hl. J oh. v. Kreuz 1 drei Zeichen, die diesen Zeitpunkt angeben.

I. "Das Betrachten wird unmoglich. Die .f. hantasie z'st wz'e erstorben. Dz'e Freude an dieser Ubung- ist verschwunden und die Süssigkeit, deren man sich früher beim Anblick des vorgestellten Gegenstandes erfreute, hat sich in Dürre verwandelt. Solange man Trost empfindet und man von einem Gedanken zum ander~. betrachtend übergehen kann, soll man bei dieser Ubung bleiben. Ausgenommen sei nur der Zeitpunkt, da die Seele Frieden und innere Ruhe in Gott erfährt, wovon bei der Besprechung des dritten Anzeichens die Rede sein wird." Der Grund dieses Widerwillens liegt darin, fügt der Heilige hinzu, dass die Seele bereits aus den göttlichen Dingen fast vollständig die geistliche Nahrung gesogen hat, die sie durch diskursives Betrachten daraus ziehen konnte. Sie kann sich nicht mehr danach richten. Mit der Freude an ihm und dem Troste ist es aus. Sie bedarf daher eines neuen Verfahrens 2.

1414. 2. " Das zweite Anzeichen bekundet sich durch die vollständige Unlust, Phantasie oder Sinne auf irgend einen inneren oder äusseren, besonderen Gegenstand zu heften. Ich will damit nicht gesagt haben, das der Phantasie eigene Hin- und Herschweifen werde aufhören - selbst bei tiefer Sammlung ist die Phantasie mühelos tätig - die

, Montt!e du Carmel, I. II, eh. XI.

2 Die Erklärungen zu jedem der drei Anzeichen finden sich im 12. Kapitel der Montte.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 977

Seele jedoch wird gar kein Verlangen haben, sie absichtlich auf fernliegende Gegenstände zu richten."

Der Heilige erklärt das auf folgende Weise: " In ihrer neuen Lage gleicht die Seele zu Beginn des innerlichen Gebetes jemandem, der Wasser zu seiner Verfügung stehen hat, und sie trinkt es mühelos mit Behagen, ohne es aus dem Schlauche antiker Beschwörungen von Formen und Figuren aufsaugen zu müssen. Sobald die Seele sich in die Gegenwart Gottes versetzt hat, befindet sie sich im Akte liebender, friedlicher und ruhiger Erkenntnis und stillt dabei ihren Durst nach Weisheit, Liebe und Süssigkeit. Es ist deshalb nicht zu verwllndern, wenn eine solche Seele, die sich bereits tiefen inneren Friedens erfreut, Beschwerde und Widerwillen verspürt, sobald sie gezwungen wird, die Betrachtung wieder aufzunehmen. In diesem Falle kann man sie mit einem Säugling vergleichen, der die ihm dargebotene Muttermilch geniesst. Reisst man ihn von der Brust los, wird er sich wehren und sich mit den Händen anzuklammern suchen, um seinen M und der Nahrungsquelle wieder nahe zubringen."

1415. 3." Das entscheidenste Anzeichen ist folgendes: Die Seele liebt es, mit Gott allein zu sein, während sie ohne besondere Erwägung in liebe1Jüllte1 Au.fmerksam/feit den Blick au.f ihn gerichtet hält. Sie geniesst dabei inneren Frieden, ist vollkommen ruhig, ohne Aktivität, ohne diskursive Tätigkeit der Fähigkeiten - des Verstandes, Willens und des Gedächtnisses - durch Gedankenfolge. Ihr genügen Erkenntnis und die allgemeine, liebende Aufmerksamkeit, von der wir sprechen. Ohne besondere Wahrnehmung von etwas anderem."

" Sie offenbart sich zuweilen auf so zarte und feine Weise, zumal wenn sie ganz rein, einfach, vollkommen und daher wirklich geistig und innerlich ist, dass die Seele sich ihres Besitzes nicht bewusst wird, sie nicht erfältrt. Unserer Ansicht nach ist das besonders dann der Fall, wenn diese Erkenntnis an sich ausnehmend klar, rein, einfach und vollkommen ist. Dringt sie in eine ganz reine Seele ein, so steht sie den besonderen Kenntnissen und Begriffen, die auf den Verstand und die Sinne einwirken können, fremd gegenüber. .. Da aber jene Erkenntnis alle anderen an Reinheit, Einfachheit und Vollkommenheit übertrifft, nimmt der Verstand sie nicht wahr, sondern sieht darin nur Dunkelheit. Ist andererseits jene Erkenntnis minder rein und einfach, so erscheint sie dem

978

ZWEITES KAPlTEL.

Verstande klar und fassbar wegen der Hülle verständlicher Formen, die ihr bleiben und die sich dem Aufnahmevermögen des Verstandes oder der Sinne anpassen."

Er beleuchtet das durch einen Vergleich : Dringt ein Sonnenstrahl in einen Raum, so nimmt das Auge ihn um so eher wahr, je mehr Staub dieser Raum enthält. Ist kein Staub vorhanden, fällt der Sonnenstrahl weniger auf. Ebenso verhält es sich mit dem geistigen Lichte. Je lebhafter und reiner es ist, desto weniger wird es wahrgenornmen, so dass die Seele glaubt, im Dunkel zu sein. Finden sich im Gegenteil in jenem Lichte verständliche Dinge, so ist es leichter wahrnehmbar, und die Seele ist der Meinung, besser erleuchtet zu sein.

1416. Wir machen hier mit dem hl. J oh. v. Kreuz die Bemerkung, dass die drei Anzeiclten miteinander verbunden auftretm mÜssen, um mit voller Sicherheit von der Betrachtung ablassen und in die Beschauung eingehen zu können. - Derselbe Heilige fÜgt auch bei, es sei ratsam, während der ersten Zeit, in der man sich der Beschauung erfreut, manchmal die diskursive Betrachtung wieder aufzunehmen. Es wÜre sogar notwendig, sobald die Seele erkennt, sie sei in der Ruhe der Beschauung un beschäftigt. Dann nämlich ist Betrachtung solange geboten, als die Seele noch nicht die Gewohnheit der Beschauung erworben hat r.

Schluss: Das Verlangen nach del' Beschauung. 1417. Da die eingegossene Beschauung ein vorzÜgliches Mittel zur Vollkommen/zeit ist, darf man nach ihr verlangen, aber nur in Demut und beding-unsweise, in heilige?' Hingabe an den Willen Gottes,

a) Dass man nach ihr verlangen darf, geht aus ihren zahlreichen Vorteilen (N. 1402) hervor: "Die Beschauung ist wie das Begiessen. Durch sie wird den Tugenden Wachstum, Kraft und letzte Vollend ung verliehen" 2 •

.. b) Das Verlangen muss demÜtig und von der Uberzeugung begleitet sein, dass wir der Beschau-

, 11[01ltte, 2. B. 13. Kap.

2 Com:rts carmtlitain de Madrid, theme VI.

980

ZWEITES KAPITEL.

ihrem Gesichtspunkte unterscheiden sie mehr oder weniger Stufen, sehen aber manchmal als velschiedene Grade an, was tatsächlich nur verschiedene Formen desselben Zustandes sind.

1419. Da nach allgemeiner Ansicht die h1. Therese und der hl. J oh. v. Kreuz die beiden grässten Lehrer der mystischen Vereinigung sind, werden wir uns an die von ihnen gegebenen Einteilungen halten und versuchen, sie harmonisch zu verbinden. Der Übergang von einern Grade zum andern wird durch ein immer mächtigeres Besitzergreifen Gottes von der Seele gekennzeichnet. I. Bemächtigt er sich des innersten Winkels der Seele, lässt aber die niederen Fähigkeiten und die Sinne frei, sich ihrer natürlichen Tätigkeit hinzugeben, so ist das das innerliche Gebet der Ruhe. 2. Erfasst er alle inneren Seelenkräfte und belässt nur den äusseren Sinnen ihre Tätigkeit, so ist das vollkommene Vereinigung. 3· Bemächtigt er sich gleichzeitig der inneren Kräfte und der äusseren Sinne, so ist das ekstatz'sclte Vereinigun,f (geistliche Brautschaft). 4. Erstreckt sich sein Besitzergreifen über alle inneren und äusseren Fähigkeiten, und zwar nicht vorübergehend, sondern dauernd, so ist das geistliche Vermählung. Das sind die vier Grade, die die h1. Therese unterscheidet. Der hl. J oh. v. Kreuz fügt zwei Nächte oder passive Prüfungen bei. Die erste ist jedoch nur eine Art dürre, leidvolle Ruhe. Die zweite begreift die Gesamtheit der Prüfungen, die der geistlichen Vermählung vorausgehen und die sich in der vollen Vereinigung und der ekstatischen Vereinigung finden.

Ekstase, Entrückung, leibliche Erscheinung, Phantasieerscheinung, geistiges Schauen, göttliche Finsternis, Offenbarung Gottes, intuitives Schauen Gottes. - Schram's Aufzählung ist vollständiger, aber verworrener. P. Scaramelli unterscheidet zwölf Grade : Sammlung, !!ll1eres Schweigen, Ruhe, Liebestrunkenbeit, geistlichen Schlummer, Angste und Liebesdurst, göttliche Berührung, einfache, mystische Vereinigung, Ekstase, Entrückung. vollkommene und dauernde Vereinigung. _ P. Philipp a S. Trinitate zählt sechs auf: innere Sammlung, Ruhe, gewöhnliche Vereinigung, göttlichen Antrieb, Entrückung, geistliche Vermählung.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 981

Wir besprechen "also:

1. Die Ruhe in Gott

{dürre, liebliche. 11. Die volle Verez·nigung.

1 II. Die ekstatische Verei- { die liebliche,

nigung und zwar die kreuzigende.

IV. Die umwandelnde Vereinigung oder die geistliclze Vermältlung.

§ 1. Das innerliche Gebet der Ruhe.

Gewöhnlich beginnt dieses Gebet in trockener Form und endet schliesslich in lieblicher Weise.

1. Die Ruhe in Trockenheit oder die N acltt der Sinne.

1420. Wie wir sagten, ist fÜr die Beschauung grosse Reinheit des Herzens erforderlich. Es sind nun aber selbst vorgeschrittene Seelen noch vielen Unvollkommenheiten unterworfen und fühlen in sich die sieben Hauptsünden in gemilderter Form wieder aufleben (N. 1264). Um sie zu läutern und sie auf einen höheren Grad von Beschauung vorzubereiten, sendet Gott ihnen verschiedene PrÜfungen, die als passive bezeichnet werden, weil Gott selbst sie hervorruft, und die Seele sie nur geduldig hinzunehmen braucht.

Niemand hat diese Prüfungen besser geschildert als der hl. J oh. v. Kreuz in seiner" Dunklen Nacht". Er nennt sie Nacht, weil der Geist gleichsam in Dunkel gehüllt ist. Gottes Wirken bindet nämlich gewissermassen die sinnlichen Fähigkeiten, um sie dem Geiste dienstbar zu machen und verhindert diesen, Erwägungen anzustellen. Einerseits kann er also nicht mehr wie früher sich mit Beweisfültrungen beschiiftigm, andererseits ist das für die Beschauung erhaltene Licht so schwach und so qualvoll, dass er sich in finstere Nacht versenkt glaubt. - Der Heilige unterscheidet zwei Nächte: die erste soll vor allem uns von allem Sinnfiiligen loslösen und heisst Nacltt der Sinne. Die zweite löst uns von geistlichen Tröstungen und jeglicher Eigenliebe los.

982

ZWEITES KAPITEL.

1421. Hier ist nur von der ersten Nacht die Rede. " Gott ", sagt der hl. Joh. v. Kreuz" " führt die Seele zuerst in die Sinnesnacht ein, um den Sinn oder niederen Teil zu läutern, um ihn dem Geiste anzupassen, zu unterwerfen und zu vereinen. Er tut das durch Verdunklung des Geistes und untersagt ihm, nach seiner Gewohnheit Erwägungen anzustellen. "

Es ist das ein komplexer Seelenzustand, ein aus der Fassung bringendes Gemisch von Finsternis und Licht, Trockenheit und intensiver Gottesliebe in latentem Zustande, wirklichem Unvermögen und vergeblicher Energie, ein Zustand, der schwer zu erklären ist, ohne in scheinbare Widersprüche zu verfallen. Man lese den hl. J oh. v. Kreuz selbst und bediene sich dabei des Leitfadens, den zu geben wir versuchen wollen. \Nir werden zu diesem Zwecke darlegen: I. Die Wesensbestandteile dieser inneren Nacht. 2. Die sie begleitenden nicht zu ihrem \iVesen gehörigen Prüfungen. 3. Ihre Vorteile.

I. DIE WESENSBESTANDTEILE DIESER PRÜFUNG.

1422. A) Der erste und wesentlichste ist die eingegossene Beschauung, die Gott der Seele mitzuteilen beginnt, jedoch auf geheimnisvolle, dunkle Weise. Die Seele ist sich dessen nicht bewusst. Sie empfängt nur einen schmerzvollen, beklemmenden Eindruck. " Es ist ", sagt der hl. J oh. v. Kreuz 2, " ein Beginn dunlder und trockener Beschauung, die sogar dem verborgen und geheim bleibt, der sich ihrer erfreut. .. sie treibt die Seele zum Verlangen nach Einsamkeit, um Ruhe, so dass der Gedanke sich keinem besonderen Gegenstande zuwendet und auch keine Lust dazu verspürt. "

Um diesen Zustand begreiflich zu machen, bedient sich der Heilige etwas später 3 eines Vergleiches, den man schon jetzt sich mit Nutzen vor Augen halten kann. Wird ein Stück feuchtes Holz auf den Herd gelegt, so beginnt das Feuer, es zunächst auszutrocknen, wobei die Nässe zischend hervor-

, N uit, I. B. 9. Kap. _. Nuit, 1. B. 9. Kap. - 3 Nuit, 2. B. 10. Kap.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 983

quillt. Dann wird es schwärzer und immer schwärzer, ver breitet Üblen Geruch, trocknet allmählich aus, fängt an, sich zu entzÜnden und sich in Feuer umzuwandeln, leuchtet schliesslich wie das Feuer selbst. Glühend geworden, erwärmt es. Hell geworden, leuchtet es. Ahnliches nÜn geht in der Seele vor, die mit der Menge ihrer Unvollkommenheiten in das göttliche Feuer der Beschauung geworfen wird. Ehe diese die Seele umwandelt, zieht sie alles Niedrige aus ihr beraus, lässt sie in ihren eigenen Augen schwarz und dunkel erscheinen, so dass sie sich schlimmer als je vorkommt. Tatsächlich hatte sie keine Kenntnis ihres Elends: durch die Beschauung sieht sie es nun so klar ein, dass es ihr bei Entdeckung des ihr frÜher Unbekannten scheint, Gott mÜsse sich voll Abscheu von einem so unwÜrdigen Wesen abwenden. In Wirklichkeit aber ist sie vor Gott an sich nicht schlechter als ehedem. '

1423. B) Diese latente Beschauung erzeugt in der Seele grosse Trockmheit, nicht nur in den des Trostes beraubten Sinnesfähigkeiten, sondern auch in den höheren Seelenkräften, die nicht mehr wie früher diskursiv betrachten können. Es ist das eine leidvolle Lage: an das Licht gewöhnt, sind sie jetzt in Dunkelheit versenkt. Sie, die mit Leichtigkeit Erwägungen anstellten und es verstanden, in ihrem Herzen viele Affekte wachzurufen, haben nun diese Leichtigkeit verloren. Das innerliche Gebet wird ihnen sehr schwer.

Ebenso verhält es sich mit der Übung der Tugenden : die früher so freudig übernommenen Müh~n zur TugenclÜbung kosten ihnen jetzt sehr viel Uberwindung und erschrecken sie.

1424. Es ist jedoch wichtig, die läuternde Dürre des Geistes von der durch Nachlässigkeit und Lauheit verschuldeten Trockenheit zu unterscheiden. Der hl. J oh. v. Kreuz gibt dafür drei U nterscheidungsmerkmale iln :

, Ein Vergleich mache dies verständlicher: Prüft man mit biossem Auge ein Glas Wasser, so findet man darin nichts, das beunruhigen könnte. Scbaut man es aber durch ein starkes Mikroskop an, so schreckt man vor Abscheu zurück, sobald man die kleinen Ungeheuer darin erblickt. Die Beschauung ist nun wie ein Mikroskop, wodurch wir unsere Fehler besser erkennen.

984

ZWEITES KAPITEL.

I) Der Verkehr mit den Geschöpfen gewährt nicht mehr Freude als der Verkehr mit Gott. Eher weniger, während die Lauen an göttlichen Dingen keinen Geschmack finden, sich gern irdischen Freuden hingeben. - Dennoch, fugt der Heilige bei, ka"nn diese allgemeine Unlust von natürlicher Unpässlichkeit oder Traurigkeit herrühren. Dem ersten Merkmal muss sich daher notwendigerweise das zweite beigesellen.

2) Man hat die Gewohnheit, an Gott zu denken, aber nicht ohne Angst, Besorgnis und Unbehagen. Man befürchtet, ihm nicht eifrig genug zu dienen, sogar Rückschritte zu machen, da es ja an der Freude an den göttlichen Dingen mangelt. Bei der Lauheit hingegen ist man innerlich gar nicht besorgt. Ebenso spürt man bei der auf physischer Schwäche beruhenden Trockenheit zu nichts natürliche Lust. Es findet sich keine Spur von dem Verlangen, Gott ~u dienen, was gerade die läuternde Dürre kennzeichnet uhd von der dunklen Beschauung in die Seele gelegt wird.

3) Schliesslich ist man zt1ljiihil{, in diskursiver Weise zu betrachten, so dass ein Versuch fruchtlos bliebe. " Der Grund davon liegt in dem Umstande, dass Gott beginnt, sich mitzuteilen, nicht mehr durch den Sinn wie früher, der durch Vernunftschluss die Kenntnisse wachrief und einordnete, sondern mittels des reinen Geistes, dem die diskursive Verkettung unbekannt ist. Gott teilt sich als Akt einfacher Beschauung mit.'" Der Heilige bemerkt indessen, diese Unfahigkeit zur diskursiven Betrachtung sei nicht immer vorhanden und man könne zuweilen zur gewöhnlichen Betrachtung zurückkehren.

Wir wollen auch hervorheben, diese Unfähigkeit betrifft im allgemeinen nur geistliche Dinge. Man kann sich mit Studien oder anderen Dingen tatkräftig befassen.

1425. C) Zu dieser Trockenheit gesellt sich ein schmerzlz'ches, beharrliches Bedüifnis nach z'nnigel' Vereinigung mit Gott. Anfangs ist es ein nicht empfundener vVunsch, aber" er entsteht nach und nach und flösst wachsende und immer lebhafter werdende Neigung ein, ohne dass die Seele begreift, wie und woher ihr das gekommen sei. Nur dieses einen wird sie sich bewusst, dass nämlich diese Flamme, diese Glut sich zuweilen zu heftigem, angsterfüllten Liebessehnen nach Gott steigert. .. " Durch dieses Bangen und Sehnen nun geht die

, NIli!, I. B. 10. Kap.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 985

geheimnisvolle Beschauung in die Seele ein. Mit der Zeit dann, nach teilweiser Läuterung des Sinnes, d. h. des mitempfindenden Teiles der Kräfte, und der natürlichen GefÜhle durch die Trockenkeit, die sie der Seele auferlegt, beginnt die Göttliche Liebe den Geist zu entflammen. Vor diesem Zeitpunkt ist die Seele ein ärztlicher Behandlung unterworfener Kranker. Die finstere N acht bedeutet für sie nur Leiden und trockene Läuterung des Begehrungsvermögens. " I

Die Seele ist also nun auf Gott eingestellt und will nichts mehr von den Geschöpfen wissen. Aber diese Einstellung ist noch unsicher und unklar. Gleichsam Heimweh nach dem abwesenden Gott. Sie will sich mit ihm vereinigen, ihn besitzen. Hat sie bis dahin die Ruhe in Gott noch nicht erfahren, so ist es ein unbestimmtes Sehnen, ein heimliches Bedürfnis, ein unerklärliches Unbehagen. Hat sie schon einmal die mystische Vereinigung verkostet, so ist es ein ausgesprochenes Verlangen, zu dieser Vereinigung wieder zurückzukehren. 2

2. DIE PRÜFUNGEN, DIE DIESE ERSTE

NACHT BEGLEITEN. •

1426. Im allgemeinen schildern die geistlichen Autoren sie als etwas Furchtbares, weil sie beschreiben, was in der Seele der Heiligen sich abgespielt hat, die zu hoher Beschauung berufen waren und darum viel leiden mussten. Andere jedoch, die zu einem minder hohen Grade von Beschauung berufen sind, werden geringeren Prüfungen unterworfen. Das darf man nicht vergessen, um furchtsame Seelen zu beruhigen. Manche möchten sich sonst wegen des Leidens von diesem Wege abschrecken lassen. Man bedenke deshalb stets, dass die göttlichen Gnaden immer im Verhältnis zu den Prüfungen stehen.

A) Ausser der schon besprochenen Trockenheit erleidet die Seele schrecl?liche Versuc!IUtlgetl, und zwar I) gegen den Glauben: da sie nichts fühlt,

, Nuit, I. B. Ir. Kap.

o DOM LEHODEY, Les voies de I'Oraison, S. 260.

986

ZWEITES KAPITEL.

meint sie, nichts zu glauben; 2) gegen. die Hoffnung: allen .. Trostes bar, glaubt sie sich verlassen und ist zu Uberdruss und zur Mutlosigkeit versucht; 3) gegen die Keuschheit: "dann offenbart sich der Engel Satans oder der Geist der Unzucht, quält die Seelen mit heftigen, abscheulichen Versuchungen, flösst ihr schändliche Gedanken ein, beunruhigt die Phantasie durch sehr lebhafte Bilder, was für jene, die es erfahren, ein härteres Leiden ist als der Tod." I; 4) gegen die Geduld: inmitten all dieser \Viderwärtigkeiten fühlt man die ~eigung, gegen sich oder andere zu murren. In der Phantasie stellen sich gotteslästerliche Gedanken so lebhaft ein, dass die Zunge sie in Worte zu kleiden scheint; 5) gegen den Seelenfrieden: tausend Skrupel und Verlegenheiten überwältigen die Seele. Man ist so verworren in seinen Gedanken, dass man weder einen Rat befolgen noch einem Vernunftschluss Gehör schenken kann. Und das ist eine der grössten Qualen.

1427. B) Auch von seiten der Menschen wird die Seele geprüft. I) Manchmal von Glall benslosen. Durch allerhand Verfolgungen verbittern sie ihnen das Leben "Et omnes qui pie volunt vivere in Christo Jeslt,persecutionem patientur. "22) Aber auch von seiten eier Oberen, der Freunde, die solchen Zustand nicht begreifen und von unseren Misserfolgen, unserer anhaltenden, inneren Öde einen schlechten Eindruck bekommen. 3) Zuweilen selbst von seiten des Beichtvaters, der diesen Zustand bald für Lauheit hält, bald einer solchen Not und Herzensangst machtlos gegenüber steht.

C) Die .inneren Leiden werden manchmal durch äussere Ubel erhöht. I) Man fällt fremdartigen Kmnf:heiten zum Opfer, Krankheiten, gegen die die Arzte nichts ausrichten. 2) Man hat keinen El:fOlg meh" wie frÜher. Sei es wegen der Unfähig-

, Nuil, 1. B. 14. Kap. - 2 11. Tim. IJ/, 12.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUl\'G. 987

heit, mit der man behaftet ist, sei es, dass man von seinen inneren Leiden ganz in Anspruch genommen ist. Man fÜhlt sich so stumpfsinnig, dass andere es merken. 3) Man erleidet zuweilen zeitliche Verluste, durch die man in Geldverlegenheit gerät. - Mit einem Worte, es scheint, als hätten sich Himmel und Erde gegen diese armen Seelen verschworen.

In vielen Fällen mögen solche PrÜfungen natürlicher Art sein oder nicht aus dem Rahmen jener heraustreten, die Gott den eifrigen Seelen zu ihrer Vervollkommnung schickt. Aber in anderen Fällen sind sie tatsächlich mystischer Art. Zu erkennen sind sie an ihrem pliitzlichen Auftreten, ihrer Heftigkeit und den glücklichen Wirkungen, die sie in der Seele hervorbringen.

3. VORTEILE DER LXUTERUNG.

Ein unermesslicher Vorteil findet sich schon in der Zulassung zur passiven, wenn auch dunklen und leidvollen Beschauung. Es gibt deren aber noch andere, die der hl. J oh. v. Kreuz nebenbeilaufende nennt.

1428. 1. Eljahrungsmässige Erkenntnis von sielt und seinem Elend: " Durch diese Kraft kommt die Seele zur Erkenntnis, dass sie aus sich nichts tut und nichts tun kann. Darum spricht sie sich jegliche Fähigkeit ab und findet in sich keine Befriedigung. Dann schätzt Gott sie mehr ... Die Art, mit Gott zu verkehren, wird nun ehrfurchtsvoller, umsichtiger und das entspricht den Beziehungen zum Allerhöchsten. Wegen des Reizes, den die empfundene Genugtuung auf das Begehrungsvermögen ausÜbte, hing man Gott an, überschritt an Kühnheit die Grenzen des Erlaubten, liess es an RÜcksicht und ZurÜckhaltung fehlen." I Auf diese Weise gewinnt cJie Tugend der Gottesverehrung dabei.

, Nuit, I. B. 12. Kap.

988

ZWEITES KAPITEL.

1429.2. Die Erkenntnis Gottes wird reiner, wahrer und die Liebe zu Gott mehr vom Fühlbaren losgelöst. Die Seele strebt die Tröstungen nicht mehr an. Sie will einzig und allein Gott gefallen: " Weder Vermessenheit noch Selbstzufriedenheit ist mehr vorhanden, wie zur Zeit des vVohlergehens. Vorwiegend ist jetzt eher das Misstrauen gegen sich selbst, Angst vor eigener Genugtunng. Aus dieser entsteht die Gottesfurcht, die zur Bewahrung und Vermehrung der Tugenden beiträgt. I

1430. 3. Dadurch vollzieht sich die Heilung von den Hauptsünden in ihrer verfeinerten Form. (N. 1263).

a) So wird die De1/lut geübt, nicht nur in bezug auf Gott, sondern auch in bezug auf den Nächsten: " Die sich so in Dürre und Elend erkennende Seele hält sich nämlich, selbst ihrer ersten Regung nach, nicht mehr für vollkommener als die anderen ... im Gegenteil, sie beugt sich vor ihnen. Daraus entsteht Liebe zum Nächsten: In der Achtung vor ihm vergisst sie, wie sie einst, als sie noch voll von sich selbst war, dem andern nichts angedeihen liess. Jetzt ist sie allein mit ihrem Elend beschäftigt und hat es so lebendig vor Augen, dass ihr die Armseligkeit des Nächsten nicht mehr auffallt." 2

b) Auch geistliches Masshalten wird geübt. Da die Seele sich nicht mehr von fühlbaren Tröstungen nähren kann, löst sie sich allmählich davon los, ebenso auch von allen geschaffenen GÜtern, um sich nur noch mit den ewigen Gütern zu beschäftigen. Das nun bedeutet den Beginn des inneren Friedens. Die Tröstungen nämlich und die Anhänglichkeiten an die Geschöpfe verwirrten das Herz. Und in diesem Frieden werden durch Beharrlichkeit in den weder Trost noch Anziehung bietenden Übungen Starklllut, Geduld, Langmut gepflegt.

e) Der geistlichen Untugenden aber, wie z. B. des Neides, der Zornmütigkeit, der Trägheit entledigt sich die Seele und erwirbt die entgegengesetzten Tugenden. Unter Einwirkung von innerer Trockenheit und Versuchungen schmiegsam und demütig geworden, regt sie sich weniger über den Nächsten und über sich selbst auf. An Stelle des Neides tritt die Liebe, da man infolge der Demut die guten Eigenschaften der anderen bewundert. Je besser man seine eigenen

, Ibidem, I. B., 13. Kap. - 2 Dgl. I. B. 12 K.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 989

Fehler erkennt, desto mehr fühlt man die Notwendigkeit, sich anzustrengen und abzumühen, um sie zu bessern.

1431. 4. Endlich mengt Gott diesen Trockenheiten einige geistliche Tröstungen bei : Gerade, wenn die Seele es am allerwenigsten erwartet, teilt er ihr sehr lebhaftes, geistiges Licht und äusserst reine Liebe mit. Solche Gunstbezeigungen Übertreffen alles bisher Erfahrene und sind heiligender, obwohl die Seele es anfangs nicht einsieht, weil diese Einwirkung geheimnisvoll bleibt.

Mit einem \Vorte, die inneren Trockenheiten bewirken, dass die Seele geläutert in der Gottesliebe wandelt: sie handelt nicht mehr unter dem Einfluss von Tröstungen, sondern einzig, um Gott zu gefallen. Keine Vermessenheit, keine eitle Selbstgefälligkeit mehr wie zur Zeit fühlbaren Eifers. Keine Hast mehr und allzu plötzliche, natürliche Begeisterung. Der innere Friede beginnt bereits sein Reich im Herzen aufzuschlagen. I

Schluss: Wie man sich während dieser P riifung zu verhaltm hat.

1432. Wer Seelen zu führen hat, die diese Prüfung durchmachen, erzeige sich ihnen voller GÜte und Hingabe. Er kläre sie auf, tröste sie und sage ihnen klar und deutlich, sie befänden sich in einer Reinigung bewirkenden Heimsuchung, aus der sie gebessert, reiner, demÜtiger, in der Tugend standhafter und Gott wohlgefälliger hervorgehen würden.

a) Die hauptsächliche, innere Verfassung, die er ihnen einprägen muss, ist die viillige Hingabe an Gott: die Hand, die uns züchtige, sei zu küssen, da wir uns wohl bewusst sein mÜssen, diese Heimsuchungen verdient zu haben. Ferner, sich mit J esus in seiner Todesangst vereinigen und in aller Demut sagen: " Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe

, Nuit, 2. B. I3. Kap.

990

ZWEITES KAPIlfEL.

dieser Kelch an mir vorüber. Doch nicht mein Wille, sondern der deinige geschehe! Pater mi, si possibzle est, transeat a me calix iste " verumtalllen non sicut ego volo, sed sicut tu " r.

b) Ausserdem soll man trotz der Trockenheit im innerlichen Gebet verharren, und zwar in Vereinigung mit dem göttlichen Meister, der trotz seiner Todesangst weiterbetete : " Factus in agonia prolixius orabat. "2 Man erinnere sich an die Worte der hl. Therese 3 : " Welche Fehler auch immer der begehe, der es unternommen, sich dem innerlichen Gebete hinzugeben, er hÜte sich davor, das Gebet aufzugeben. Er wird darin Mittel zur Besserung finden. Ohne dieses Gebet wird es fÜr ibn viel schwieriger sein. Es ist eine Versuchung, unter dem Vorwand von Demut dem innerlichen Gebet entsagen zu wollen. Ich selbst wurde davon befallen. Diese List des bösen Feindes muss zunichte gemacht werden." Man kann hier noch hinzufügen, dass man es auch nicht unter dem Vorwande von Nutzlosigkeit unterlassen soll.

1433. c) Man daif aber nicllt zur diskursiven Betrachtung zurückkehren, hat man erst einmal seine Unfähigkeit dazu festgestellt. Man lasse die Seele im Zustande der Ruhe, scheint es auch, dass man untätig sei. Mit einem stillen, liebenden Aufblick zu Gott gebe man sich zufrieden.

\Vill ein Künstler das Portrait einer Person malen, so darf diese nicht immerfort den Kopf bewegen, sonst ist es unmöglich. Ebenso verhält es sich mit Gott und uns. Will er sein Ebenbild unserer Seele einprägen, hebt er die Aktivität unserer Fähigkeiten auf. Wir haben uns nur still und ruhig zu verhalten, während der Geist der Liebe die Seele entzündet und immer mehr entflammt 4. Dieser Zustand der Ruhe ist nicht Untätigkeit, sondern eine andersartige Beschäftigung, die Trägheit und Lauheit ausschliesst. Die Zerstreuungen sind daher zu beseitigen. Man muss zu diesem Zweck

, })fattl,. XXVI. - Z Luk. XXII, 43.

3 Vie, 8. Kap. S. 120. - 4 Nuit, 1. B. 10. K.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 991

wieder auf Erwägungen zurückkommen, so tue man es ohne Scheu, wenn es ohne besondere Anstrengung möglich ist.

1434. d) Was die Tugenden angeht, so liegt es auf der Hand, dass sie weiterhin gepflegt werden müssen, namentlich die diesem Zustande entsprechenden : Demut, Entsagung, Geduld, Nächstenliebe, Gottesliebe durch sanfte Gleichförmigkeit mit dem \"-'illen Gottes, vertrauensvolles Gebet, alles in einer Art heiliger Hingabe an Gott. Geschieht es voller Mut und Tapferkeit, wird der Zustand zu einer wahren Goldmine, die zum grössten Nutzen der Seele ausgebeutet werden kann.

e) Die Dauer der PrÜfung ist verschieden je nach den Absichten Gottes, dem der Seele bestimmten Vereinigungsgrad und den mehr oder minder zahlreichen Unvollkommenheiten, von denen die Seele zu läutern ist. Die Prüfung kann sich auf zwei bis fÜnfzehn Jahre erstrecken, sagen die geistlichen Autoren I. Aber dazwischen treten Erholungspausen ein, während derer die Seele aufatmet, sich des Besitzes Gottes erfreut und Kräfte für neue Kämpfe sammelt. Darum also Geduld, Vertrauen und Hingabe an Gott, das ist, kurz gesagt, was der Seelenführer jenen geprüften Seelen anzuempfehlen hat.

11. Die liebliche Ruhe in Gott.

1435. Zur Schilderung dieses Zustandes und der folgenden benutzen wir hauptsächlich die Werke der hl. Therese, die über diese Arten des innerlichen Gebetes Beschreibungen von unvergleichlicher Treffsicherheit und Genauigkeit hinterliess. Dieses Gebet

t Kard. Bona (Via compendii ad Deum, c. IO., N. 6) sagt, der hl.

Frallz v. Assisi habe zwei Jahre in diesen Läuterungsprüfungen zugebracht, die hl. Therese achtzebn. Die seI. Klara v. Montefalco fünfzehn, die hl. Katharina v. Bologna fünf; die hl. Magdalena v. Pazzi zuerst fünf, später noch weitere sechzehn. Der ehrw. Balthasar Alvarez sechzehn. - Diese Zahlen umfassen wahrscheinlich die Dauer der bei den Nächte, die gewöhnlich durch eine Zwischenzeit voll der süssesten Tröstungell unterbrochen werden.

992

ZWEITES KAPITEL.

der Ruhe bezeichnet sie mit verschiedenen Namen: die vierte Wohnung der Seelenburg I oder das Gebet der göttlichen Genüsse, weil es das erste ist, in der Gottes Gegenwart wahrgenommen wird, und zwar durch einen gewissen geistlichen Genuss. In ihrem Leben (r4. Kap.) nennt sie es das innerliche Gebet der Ruhe und erklärt es durch die zweite Weise des Begiessens. Andere nennen es das innerliche Gebet des Schweigens, weil eben die Seele mit Erwägungen aufhört.

Diese Gebetsweise hat gleichsam drei verschiedene Phasen : I. die sie vorbereitende passive Sammlung; 2. die Ruhe in Gott, im eigentlichen Sinne / 3. der sie vollendende Schlummer der Seelenkräfte, wodurch die volle Vereinigung der Fähigkeiten vorbereitet wird.

1. DIE PASSIVE SAMMLUNG.

1436. A) Wesen. Diese Sammlung wird passiv genannt zum Unterschiede von der durch eigene Bemühungen mit Hilfe der Gnade erlangten aktiven Sammlung (N. 1317). Die passive Sammlung erwirbt man nämlich nicht" durch die Tätigkeit des Geistes,

, "Die Seelenburg", 1577 im Kloster zu Toledo fünf Jahre vor ihrem Tode verfasst, ist die Krönung und der Inbegriff aller ihrer Werke. Mit Genauigkeit und Klarheit schildert sie darin die sieben Hauptstufen des innerlichen Gebetes, wie sie den sieben Stadien des inneren Lebens entsprechen. All!. Vorabende dcs Festes der Allerheiligsten Dreifaltigkeit war sie am Uberlegen, welches der Grundgedanke dieser Abhandlung sein sollte. Da gefiel es Gott, ihn ihr einzugeben. Er zeigte ihr die Seele im Gnadenzustancle, mit einer herrlichen Kristallkugel vergleichbar, die in Form einer Burg sieben Wohnungen enthielt. In der siebenten, der innersten, thront Gott selbst, in wunderbarem Glanz erstrahlend; von ihm werden alle Wohnungen erhellt und zwar um so mehr, je näher sie sich dem Mittelpunkte befinden. Ausserhalb der Burg ist allgemein Finsternis und Unrat. Auch giftige Tiere sind da. Wer sich in jene Gegend wagt, wird von ihnen angefallen. Das Eingangstor ist das innerliche Gebet, durch das wir in uns selbst gehen und Gott finden. Der Ausgang geschieht durch die Todsünde, von der die Heilige eine schreckenerregende Beschreibung gibt. (1. Wohnung,

2. Kap.)

Es gibt sieben Wohnungen: die ersten zwei entsprechen dem Reinigungswege. Die dritte dem Erleuchtungswege. Mit der vierten beginnt die eingegossene Beschauung.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 993

indem man sich bemÜht, an Gott in sich selbst gegenwärtig zu denken, auch nicht durch die Arbeit der Phantasie, indem man sich ihn vorstellt" I, sondern durch unmittelbares Einwirken der göttlichen Gnade auf unsere Fähigkeiten. Darum nennt die hl. Therese sie das erste übernatÜrliche, innere Gebet, das sie erfuhr: "Das Gebet, das ich meine, ist innere, von der Seele empfundene Sammlung, während es ihr vorkommt, als habe sie in sich andere Sinne, die ähnlich den äusseren seien. Sie scheint sich von der Unruhe der äusseren Sinne trennen zu wollen, ja, reisst sie sogar mit sich fort. Sie fÜhlt das Bedürfnis, die Augen des Leibes zu schliessen, nichts zu hören, nichts zu sehen, einzig bei dem zu verweilen, was sie dann ganz in Anspruch nimmt. Ich meine das Gespräch mit Gott allein. In diesem Zustande sind die Sinne und Kräfte nicht ausgeschaltet. Sie können sich frei betätigen, aber nur, um sich mit Gott zu beschäftigen. " 2

An anderer Stelle erklärt sie das durch einen trefflichen Vergleich: Unsere Fähigkeiten hatten die Burg verlassen, um bei Fremden zu wohnen. Dann sahen sie ihren Fehler ein und näherten sich wieder der Burg, ohne jedoch einzutreten. Da geruht der grosse König, der im Mittelpunkt der Burg wohnt, sie in seiner grossen Barmherzigkeit zu sich zurückzurufen: " Als guter Hirt lässt er sie seine Stimme hören und zwar mit so sanftem Rufe, dass sie ihn kaum vernehmen, ladet er sie ein, von ihren Verirrungen abzulassen und in ihre frühere Wohnung zurückzukehren. Dieser Ruf des Hi,ten wirkt gewaltig auf sie. Sie sprengen die Fesseln, die sie an die äusseren Dinge ketteten und kehren in die Burg zurück. Mir scheint, ich habe das nie so gut erklärt wie jetzt" 3. Der hl. Fram v. Sales 4 zieht einen nicht minder treffenden Vergleich heran: " Und gleich jenem, der einen Magneten zwischen mehrere Nadeln legt und beobachten kann, wie plötzlich alle Spitzen sich dem Magneten zu kehren und sich an ihn hängen, so macht auch J esus inmitten unserer Seele seine wonnenreiche Gegenwart fÜhlbar, und die Spitzen aller

, St. THifRESE, Chdteau, 4. Dem. 3. Kap. S. rr6.

2 Re!. au P. Rodrigue Alv"rez, CEuvres, t. 88, S. 295.

3 Chdteau, IV. Dem., cb. 3, p. uS. - 4 Am. de Dieu, l. VI, ch. 7.

N° 683. - 32

994

ZWEITES KAPITEL.

unserer Fähigkeiten wenden sich zu ihm hin, um sich mit jener unvergleichlichen Süssigkeit zu \'ereinigen ".

Die passive Sammlung lässt sich daher folgendermassen definieren : ein angmehme, liebe7fÜllte Absorption des Vel'standes und Wzllms in Gott, die durclt eine besondere Gnade des HI. Geistes bewirkt wird.

1437. B) Wie man sich dabei verhalten soll.

Solche Gunstbezeigung ist gewöhnlich das Vorspiel zum innerlichen Gebet der Ruhe, kann jedoch auch nur vorÜbergehend sein. So zu gewissen Zeiten grösseren Eifers, z. B. bei Einkleidung, Gelübdeablegung, Priesterweihe. Daher zwei praktische Folgerungen:

a) Versenkt uns Gott in diese Sammlung, so suchen wir den Geist auf sanfte Vleise, von den Erwägungen abzubringen, aber ohne uns zu bemühen, seine Tätigkeit aufzuheben.

" Ohne jegliche Gewalt, ohne Lärm, suche man den Verstand am Erwägen zu hindern. Man mache jedoch keinen Versuch, ihn ebensowenig wie die Phantasie auszuschalten. Denn es ist gut, Gottes Gegenwart zu erwägen und über sein Wesen nachzudenken. Ist der Verstand durch das, was er in sich erfährt, in Anspruch genommen, so ist das sehr gut. Aber er suche nicht zu erfassen, worin der Genuss bestehe, weil es der Wille ist, dem diese Gabe zuteil wurde. Lasse er diesem seinen Genuss, ohne seine eigene Tätigkeit beizumischen. Er beschränke sich darauf, ihm einige Worte der Liebe zuzuflÜstern" '.

b) Spricht aber Gott nicht zu unserem Herzen, " haben wir gar kein Anzeichen, dass der göttliche König uns erhört oder einen Blick auf uns geworfen habe, so hüten wir uns, wie verdutzt zu bleiben", sagt die h1. Therese 2. Denn bemüht sich die Seele, ihre Gedanken zu fesseln, so verfällt sie grösserer Dürre als vorher, und die Gewalt selbst, die sie sich antut, um an nichts zu denken, macht ihre Phan-

, Chateau, 1. c. S. 120. - 2 Ibidem, S. Il8-II9.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 995

tasie noch unruhiger. Übrigens sollen wir in allem nur Gottes Ehre, nicht die eigenen Tröstungen oder Genüsse anstreben. Verlangt Gott vom Verstande, dass er seine Tätigkeit einstelle, so wird er ihn in anderer Weise beschäftig-en. Und er belehrt ihn besser als unsere Tätigkeit es imstande wäre. A bgesehen davon aber, sind unsere Kräfte für die Aktivität bestimmt.

2. DAS EIGENTLICHE GEBET DF.R RUHE.

Wir legen dar: sein Wesen, seinen Ursprung, sein Fortschreiten, seine verschiedenen Formen und wie man sich dabei zu verhalten habe.

1438. A) Wesen. Bei diesem innerlichen Gebet erfasst Gott die höheren Seelenkräfte, Verstand und Willen, und lässt sie äusserst liebliche Ruhe und lebhafteste Freude Über seine Gegenwart verkosten. Die Vernunft oder die Fähigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, das Gedächtnis und die Phantasie bleiben jedoch frei und sind zuweilen eine Quelle von Zerstreuungen.

a) Die hl. Therese erklärt das Übernatürliche dieses Gebetes und die Art, wie der Wille 7!.0lZ Gott erfasst wird auf folgende Weise' : "Es ist etwas Ubernatiirliches, etwas, das wir uns nicht durclt ez/me Anstrengung verscltajJen können ... Hier versenkt sich nämlich die Seele in Frieden, oder besser gesagt, Gott versenkt sie darin, und zwar durch seine Gegenwart, wie er es beim gerechten Simeon tat. Dann beschwichtigen sich alle Kräfte, und vermöge einer Aufnahmefähigkeit, die sich von der durch die Sinne vermittelten ganz und gar unterscheidet, begreift die Seele, dass sie Gott ganz nahe ist und nur wenig sie abhält, durch die Vereinigung eins mit ihm zu werden. Sie sieht ihn weder mit den Augen des Leibes noch mit denen der Seele ... Sie hat nur das Bewusstsein, im Königreiche zu weilen, oder wenig-

, ehemi" de la perfedio", ch. XXXI. S. 222-224. - Die Heilige spricbt nur vom Willen, weil dieser der König der Fähigkeiten, vor allem und Zllerst erfasst wird, die Beschauung mehr ein Akt der Liebe als der Erkenntnis ist. Da jedoch der Wille nur im Lichte des Ver· standes handelt, steht auch dieser bis zu einem gewissen Grade unter göttlicher Besitznahme.

996

ZWEITES KAPITEL.

stens in der Nähe des Königs, der es ihr verleihen wird, und sie ist von so tiefer Ehrfurcht ergriffen, dass sie keine Bitte an ihn ZU stellen wagt. ..

Allein der Wille ist hierbei gejan;Jt!n gehalten. Kann die Seele in diesem Zustande überhaupt irgend eine Pein empfinden, so ist es das Bewusstsein, sie werde ihre Freiheit wiedererlangen ... Nichts betrübt sie oder scheint sie zu betrüben. Und während der ganzen Zeit ist sie derartig in Genuss und innere Süssigkeit versenkt und davon trunken, dass ihr nichts mehr zu wünschen übrig scheint und sie aus vollem Herzen mit dem hl. Petrus spricht: Herr, lass uns hier drei HÜtten bauen.

Da nur der Wille gefangen ist, kömten die anderen beiden Kräfte auf falsche We.l[e geraten, fügt die Heilige hinzu I :

"Der Wille soll nicht darauf achten, sondern bleibe in seinem Genuss und seiner Ruhe. Sucht er sie zurückzuführen, so verirren sich tatsächlich alle drei." Besonders die Phantasie verirrt sich öfters und ermüdet die Seele durch ihren betäubenden Lärm. Sie ist eine wahre Klappermühle. Lassen wir sie klappern und denken wir nur daran, unser Mehl zu mahlen, indem wir unsern Willen und unseren Verstand handeln lassen 2.

1439. b) Die im Gebet der Ruhe erzeugte geistliche Freude ist sehr verschieden von jener, die im aktiven, innerlichen Gebet verkostet wird. Das erklärt die hl. Therese durch GegenÜberstellung der während der Beschauung erfahrenen göttlichen GenÜsse und der im aktiven innerlichen Gebete erhaltenen Zufriedenstellungen oder Tröstungen. In doppelter Beziehung sind die beiden verschieden : ihrem Ursprung und ihren r'Virkungen nach.

I) Die göttlichen Genüsse gehen unmittelbar aus göttlicher Einwirkung hervor. Die Tröstungen hingegen aus unserer von der Gnade unterstützten Tätigkeit.

Zur Erläuterung bedient sie sich des Vergleichs von den zwei Behältern: der eine wird durch eine Leitung gespeist, die das Wasser von weit herholt und lärmend einführt. Das versinnbildet die im aktiven innerlichen Gebete verkosteten Tröstungen. Der andere wird von einer Quelle gespeist, die aus seinem Grunde entspringt. Er füllt sich geräuschlos.

, Vie, 14. Kap. S. 180. - 2 Chilteau, IV. Dem. eh. J., S. 106.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 997

Das ist das Bild der Beschauung, in der das Wasser des Trostes " aus unserer innersten Tiefe quillt, und zwar in Frieden, Ruhe und äusserster Süssigkeit." ,

2) Daher sind die Freuden der Beschauung viel erhabener als die des aktiven innerlichen Gebetes:" Kaum hat dieses himmlische Wasser aus der Quelle zu flies sen begonnen, als auch schon sogleich unser Herz sich zu heben und zu erweitern scheint. Das sind dann unsagbare, geistliche Güter, und die Seele selbst ist unfähig, zu begreifen, was sie in diesem Augenblick empfängt. Sie atmet gleichsam einen vorzüglichen Wohlgeruch ein. Vergleichsweise gesprochen, ist es, als ob in ihrem tiefsten lnnern ein Glutofen sei, auf den man auserlesene Wohlgerüche gelegt hätte." 2 " Aber," fÜgt die Heilige bei 3, "es sei das ein sehr unvollkommener Vergleich. In ihrer Selbstbiographie bestätigt sie, diese Freuden glichen jenen des Himmels und durch sie verlöre die Seele jeglichen Geschmack an irdischen Dingen. Sie erkennt ganz deutlich, sie verkoste ein hienieden unbekanntes Glück. Weder Reichtümer noch Macht, noch Ehren noch Lust könnten ihr, wenn auch nur für einen Augenblick, diese wahre Zufriedenheit und so fühlbare Sättigung verleihen. "

Der Hauptgrund dieser Freude ist die empfundene Gegenwart Gottes.

" Gott will dann in seiner Freigebigkeit der Seele begreiflich machen, er sei ihr ganz nahe, so nahe, dass er ihr keine Boten mehr zu senden brauche. Sie kann selbst mit ihm sprechen, und zwar ohne die Stimme zu erheben, denn wegen seiner Nähe versteht er die leiseste Bewegung ihrer Lippen." Die Heilige fügt bei, Gott sei zwar stets bei uns, aber hier handelt es sich um eine besondere Gegenwart. " Dieser göttliche Monarch, unser Herr, will uns zum Bewusstsein bring-en, er höre uns und wünscht, dass wir die Wirkungen seiner Gegenwart spüren. Er findet Gefallen daran, in unserer Seele auf besondere Weise zu wirken und sie mit lebhaftester innerer und äusserer Lust zu erfüllen."

1440. c) Diese Erweiterung der Seele bringt vorzügliche Tugendstimmungen hervor, besonders die Furcht, Gott zu beleidigen. Sie tritt an die Stelle der Furcht vor der Hölle. Ferner Bussgeist und Kreuzesliebe, Demut und Verachtung der Weltfreuden.

, Chdteau, IV. Dem. JI Kap. S. 108-109,

2 Ibid., S. IIO. - 3 Vii, Kap. 14 u. 15. S. 181 U. 182.

998

ZWEITES KAPITEL.

I) "Die Furcht vor der Hölle regt die Seele nicht mehr auf. Während die Furcht, Gott zu beleidigen, zunimmt, schwindet die knechtische Furcht, und die Seele ist von grossem Vertrauen erfüllt, Gott einstmals zu besitzen. 2) Statt der früheren Furcht, die Bussübungen könnten ihrer Gesundheit schaden, hält sie nun mit Gottes Hilfe alles für möglich und nie empfand sie grösseren Wunsch danach. Ehemals scheute sie vor Kreuz und Leiden zurück, jetzt fürchtet sie das weniger, weil ihr Glaube lebendiger ist! Sie weiss, die göttliche Majestät verleihe ihr die Gnade, Leiden geduldig zu ertragen, nimmt sie es aus Liebe zu Gott an. Manchmal wünscht sie das Kreuz sogar herbei, so sehnlich ist ihr Verlangen, etwas für Gott zu tun. 3) Infolge der besseren Erkenntnis seiner Grösse bat sie eine geringe Meinung von sich selbst. 4) Da sie die von ihm geschenkten Wonnen erfahren hat, sind die Weltfreuden gleichsam Kot in ihren Augen. Sie verzichtet nach und nach auf sie und gewinnt dafür grössere Selbstbeberrschung. Schliesslich schreitet sie in allen Tugenden voran und wandert unaufhaltsam ihrem Ziele zu, es sei denn, sie wende sich durch eine Beleidigung Gottes wieder nach rückwärts, denn alles würde sie dann verlieren, sei sie vorher auch noch so hoch erhoben worden, ja selbst, wenn sie auch die höchsten Gipfel erreicht haben würde '."

1441. Definition. Aus dieser Beschreibung kann man auf Folgendes schliessen : das Gebet der Ruhe ist ein übernatürliches, innerlicltes, nicht ganz passives Gebet, das im höheren Teile der Seele entsteftt und diese Gottes nahe Gegenwart fÜhlm und verl?osten

lässt.

Es ist ein Übe1'natÜrliches, innerliches Gebet, d. h.

eingegossen. Hierin weichen wir von einigen Karmelitern ab, die es als ein innerliches Gebet des Übergangs ansehen und meinen, es könne wie das innerliche Gebet der Einfachheit erworben werden. Mit ihnen jedoch halten wir es nur fÜr teilweise passiv, weil einzig der Wille (mit dem Intellekt) gefesselt ist, und weil Begriffsvermögen und Phantasie in ihrer Freiheit unbehindert bleiben; die daraus sich ergebenden göitlichen GenÜsse und Tugmden wurden K 1439 genügend erörtert.

t Chdteau, IV. Dem. eh. BI, S. 122.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG. 999

1442. B) Ursprung und Fortschreiten des Gebets der Ruhe. a) Im allgemeinen wird das Gebet der Ruhe den Seelen gewährt, die schon während liingerer Zeit der Betrachtung oblagen und durch die Nacltt der Sinne hindurchgegangen sind. Doch geht es bisweilen dieser voraus, zumal bei Kindern oder unschuldigen Seelen, die keiner besonderen Läuterung bedürfen.

b) Anfangs wird es nur von Zeit zu Zeit, schwach und der Seele unbewusst, verliehen. Es ist von kurzer Dauer. So sagt z. B. die hl. Therese, es dauere nicht länger als ein Ave Maria I. Dann wird es häufiger und dauert länger, bis zu einer halben Stunde. Da aber dieses Gebet nicht immer plötzlich entsteht und nicht plötzlich wieder aufhört, so kann es, angefangen von den ersten Spuren bis zu seiner Vollendung wohl eine Stunde und länger noch dauern. Ist es ausserdem ltandelnd (N. I445) und tritt in seinem Geleit geistliche Trunkenheit auf, so kann es sich über einen oder zwei Tage hinausziehen, ohne Übrigens den gewöhnlichen Beschäftigungen hinderlich zu sein.

e) Das liebliclte Gebet der Ruhe kann mit DÜrre abueclzsein, solange die Reinigung der Seele nicht vollendet ist.

d) Es kommt der Zeitpunkt, da das Gebet der Ruhe etwas Ge~lJo/mtes wird. Dann geht man meistens in dasselbe ein, sobald man zu beten beginnt. Zuweilen selbst wird man unversehens davon erfasst, auch während der gewöhnlichsten Beschäftigungen. Es sucht stärker und bewusster zu werden, und bei treuem :vritwirken mit der Gnade gelangt die Seele schliesslich zur vollen Vereinigung und Verzückung. Ist sie aber un:reu, so kann sie straucheln, in das diskursive innerliche Gebet zurückfallen oder sogar die Gnade verlieren.

1443. C) Formen oder verschiedene Arten des Gebetes der Ruhe. Man unterscheidet deren

, Der hJ. Joh. v. Kreuz hebt hervor (MoIlIte, 2. B. 14. Kap.), im Genusse der Beschaullng vergehe die Zeit so rasch, dass man sich über ihre Dauer leicht täuscht. Was nur zwei oder drei Minuten gedauert zu haben scheint, kann viel jänger gewesen sein.

1000

ZWEITES KAPITEL.

hauptsächlich drei : die schweigsame, betende und handelnde Ruhe in Gott 1.

a) Bei der schweigsamen Ruhe schaut die Seele Gott in lieberfÜltem Schweigen, da die Bewunderung, sozusagen, jedes V/ort erstickt. Der in Gott versenkte und in Liebe zu ihm entflammte Wille ruht wonnevoll in ihm in stiller, ruhiger, sÜsser Vereinigung.

'Wie eine Mutter, die kein Auge von ihrem Kinde abwendet, schaut und liebt die Seele ihren Gott." Sie gleicht dann," sagt die h1. Therese 2, "einem Säugling an der Brust seiner Mutter. In zärtlicher Liebe lässt diese ihre Milch in den Mund des Kindleins fliessen, das nicht einmal die Lippen zu bewegen braucht. " So ist auch der Wille mit seiner Liebe beschäftigt, und zwar ohne Anstrengung des Geistes.

1444. b) Bisweilen kann die Seele ihre Liebe nicht mehr in sich verschliessen. Sie ergiesst sich in glÜhendem Gebete: das ist die betende Ruhe in Gott. Bald ergeht sie sich in sÜssen Zwiegesprächen, bald Überlässt sie sich den ErgÜssen ihrer Zärtlichkeit und fordert alle Geschöpfe zum Lobe Gottes auf: " sie sagt tausend heilige Torheiten, die geradewegs zum Herzen dessen gehen, der sie so ausser sich bringt. " 3

In solchen Zeiten verfasste die h1. Therese Liedstrophen, um ihre Liebe und ihre Qual zu schildern. Manchmal beantwortet Gott diese Liebeserhebungen durch liebevolle Umarmungen, die eine Art geis!liefte Trunken/lei! erzeugen. " Diese beraubt uns nicht des geistigen Sinnes ", sagt der hl. Franz v. Sales, " wohl aber der leiblichen Sinne. Sie verdummt und vertiert uns nicht, sondern macht uns den Engeln gleich ... und vergöttlicht unser \Vesen ... sie versetzt uns ausser uns, um uns über uns zu erheben. " 4

1445. c) In manchen Fällen wird die Ruhe handelnd. So sagt die h1. Therese 5, bei tiefer und lange andauernder Ruhe in Gott bleibe doch der Wille

, Schon KASSIAN sind diese Abarten aufgefallen (COI1! X, ch. 24). 2 Chemin de la pe1fection, ch. XXXI, S. 228.

3 Vie, 16. Kap. S. 204. - 4 Amour de Dieu, 6. B. 6. Kap. s ChemilZ, 31. Kap,

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG.

allein gefesselt, die anderen Fähigkeiten können sich in aller Freiheit dem Dienste Gottes hingeben und sie tun dies mit grösserer Wirksamkeit: während sich daher die Seele mit äusseren Werken beschäftigt, hört sie nicht auf, Gott glühend zu lieben. Das ist die Verbindung von Marta und Maria, des tätigen und des beschaulichen Lebens.

3. DER SCHLUMMER DER SEELENKRÄFTE.

1446. Der dritte Grad der Ruhe in Gott ist höherer Art. Er bereitet auf die volle Vereinigung der Seelenkräfte mit Gott vor.

Die hl. Therese schildert sie im 17. Kap. ihrer Selbstbiographie: "Bei dieser Vereinigung ... nimmt Gott den Willen und zugleich den Verstand gefangen, weil dieser nicht nachdenkt, sondern mit dem Genusse Gottes ganz beschäftigt ist. Dem Verstande ist da wie einem Menschen, der um sich blickt und so vieles sieht, dass er nicht weiss, wohin er die Augen wenden soll ... Das Gedächtnis bleibt frei und ebenso auch die Phantasie. Sieht sich das Gedächtnis so ganz allein, so erregt es einen entsetzlichen Kampf und verwirrt alles untereinander. Was mich anbetrifft, ich bin davon ganz erschöpft und ich verabscheue es ... Oft bitte ich Gott, es mir zu nehmen. Gleich den Mücken, die des Abends unstät und ungestüm herumfliegen und bald da, bald dort sind, flattern Gedächtnis und Phantasie herum. Dieses Gleichnis scheint mir passend, denn wiewohl die Mücken keine Kraft haben, um ein Leid zufÜgen zu können, so sind sie doch lästig."In bezug auf Mittel, dieser Verirrungen Herr zu werden, . bezeichnet sie nur eines: " Man achte auf das Gedächtnis als" auf einen Toren gar nicht mehr. Man lasse ihm seine V\Teise, denn nur Gott kann ihm dieselbe nehmen." - Wie man also sieht, ist es ein innerliches Gebet der Ruhe, bei dem der Geist ganz von Gott erfasst ist, während jedoch die Phantasie weiter umherschweift, Es ist eine Vorbereitung auf die volle Verein igung.

VERHALTEN WÄHREND DES INNERLICHEN GEBETES DER RUHE.

1447. Die allgemeine Verfassung, auf die man in diesem Zustande gros sen Wert legen soll, ist die einer demütigen Hingabe an Gott während aller

1001

1002

ZWEITES KAPITEL.

Phasen dieses Gebetes, vom An fang bis zur Vollendung.

a) Man mühe sich daher nicht ab, um sich selbst in diesen Zustand zu versetzen, man versuche nicht, seine Seelenkräfte, ja selbst das Atmen auszuschalten. Es wäre verlorene .Mühe, denn Gott 'allein kann uns die Beschauung verleihen.

b) Sobald man göttliche Einwirkung wahrnimmt, muss man sich ihr so vollkommen wie möglich anpassen, die Er· wägungen einstellen und willig- den Regungen der Gnade folgen:

I) Ergeht an uns der Ruf zu liebendem Sch~veZ;Re1Z, so schaue und liebe man, ohne zu sprechen oder höchstens soll man einige zärtliche Worte von Zeit zu Zeit aussprechen, damit die Liebesflamme sich neu entfache. Man mache aber keine gewaltsamen Anstrengungen, wodurch sie nur ausgelöscht wÜrde.

2) V\Terden wir zu Akten a7~R"(!regt, quillen Affekte wie aus einer Quelle hervor, so beten wir still, ohne viele Worte zu machen, aber mit glühendem Verlangen nach Erhörung. " Einige Strohhälmchen, die mit Demut ins Feuer geworfen werden, helfen mehr zur Entzündung des Feuers der Liebe, als ganze Bolzblöcke. Unter Holzblöcken verstehe ich jene so hochgelehrt scheinenden Forschungen, die im Zeitverlauf eines Credo den Funken erstickt haben werden.'" - " Vor allem ", fügt der hl. Franz v. Sales bei, " vermeide man heftigen, unbesonnenen Aufschwung, wodurch Gemüt und Nerven ermüdet werden. Auch jene Rückblicke auf sich selbst, die Unruhe hervorrufen, weil man gern wissen möchte, ob die Ruhe, deren man sich erfreut, wirklich Ruhe sei. 2

3) Sch~velfen Begriffsvermögen und Phantasie umher, so beunruhige man sich nicht und gehe ihnen nicht nach. Der Wille" bleibe im Genuss der ihm gewährten Vergünstigung, ganz wie eine kluge Biene in ihrer verborgenen ZurÜckgezogenheit. Würden die Bienen, statt in ihren Korb zurÜckzukehren, sich gegenseitig aufsuchen, wie könnte dann der Honig entstehen?"

§ 11. Das innerliche Gebet der vollen Vereinigung.

1448. Dieses innerliche Gebet, das der fÜnften Wohnung entspricht, wird als das der einfachen

, STE THltRESE, Vie, 15. Kap. S. '93-194 . • Amour de Dieu, 6. B. IO. K.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG.

1003

Vereinigung oder der vollen Vereinigung der inneren Fähigkeiten bezeichnet, weil die Seele mit Gott nicht nur durch den Willen eins geworden, sondern auch durch alle inneren Fähigkeiten. Daher ist es auch vollkommener als das innerliche Gebet der Ruhe. Wir beschreiben : I. sein Tif7esen; 2. seine J;Virleullgen.

1. Ji'esen des innerlichen Gebetes der Vereinigung.

1449. I. Man unterscheidet zwei wesentliche Merkmale: Aufhebung der Tätigkeit aller Seelenkräfte nnd unbedingte Sicherheit von Gottes Gegenwart in der Seele.

" Ich komme auf das Kennzeichen zurÜck, das ich als das wahre bezeichnete ", sagt die hl. Therese' "Sie sehen jene Seele, die Gott des Intellekts beraubte, um in ihr besser die wahre "'Veisheit zum Ausdruck zu bringen. Sie sieht nicht und hört nicht, noch versteht sie etwas, solange diese Gunstbezeigung andauert. Es ist aber nur immer auf kurze Zeit und sie erscheint ihr noch kürzer, als sie in Wirklichkeit ist." Mit anderen Worten, nicht nur die Tätigkeit des V\Tillens, sondern auch die des Verstandes, der Phantasie und des Gedächtnisses ist unterbrochen. Die Heilige sagt weiter : "Gott erfÜllt dann derartig das J nnerste der Seele, dass, wenn diese wieder zu sich kommt, es ihr unmöglich ist, zu zweljeln, dass sie in Gott gewesen sei und Gott in ihr. ' Diese Überzeugung prägt sich ihrem Geiste so tief ein, dass selbst Jahre vergehen können, ohne Erneuerung dieser Gnade von seiten Gottes, sie kann es nie vergessen und zweifeln, dass sie in Gott ge1vesen ist. "

1450. 2. Aus diesen zwei Merkmalen ergeben sich drei weitere:

a) Wegbleiben der Zerstreuungen, da die Seele ganz in Gott versenkt ist.

b) Mülzeloszg·kez"t. Die persönliche Arbeit ist sehr gering. Es genügt, sich dem göttlichen Willen hin-

, Chateau, 3. Dem. 1. Kap. S. 134. - vg1. Vie, 18. Ka .

• Den Grund dafür gibt sie an (Chliteau, S. 131):" In Wirklichkeit ist die göttliche Majestät so innig mit der Wesenheit der Seele vereint und verbunden, dass sich der Teufel nicht zu nähern wagen würde. ".

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ZWEITES KAPITEL.

zugeben. Das Manna fällt vom Himmel in die Seele, die es nur zu verkosten braucht. Aus diesem Grunde wird dieses Gebet, auch wenn es noch so lange dauert, nicht der Gesundheit schaden. 1

c) Eine aussergewO}tnlz"che Freudenfülle : "Hier empfindet man nichts mehr ", sagt die h1. Therese 2, "man geniesst nur, ohne zu wissen, was man geniesst. Man erkennt wohl, man erfreut sich eines Gutes, das alle Güter in sich begreift, jedoch man erfasst nicht, worin dieses Gut bestehe. Alle (inneren) Sinne sind derartig in den Genuss vertieft, dass keiner von ihnen frei ist, um sich mit anderem zu beschäftigen. " Und sie fügt bei: " Ein einziger Augenblick solcher reinen Wonnen genügt, um fÜr alle Leiden hienieclen entschädigt zu sein. "

Dieses innerliche Gebet unterscheidet sich da/tel' von dem der Ru/te. Dieses erfasst nur den Willen, und dann fragt man sich noch zuweilen, ob die Seele mit Gott vereint war.

Ersteres lässt sich somit definieren: Seltr innige Vereinigung der Seele mit Gott, verbunden mz"t Aufhebung der Tätigkeit alle?' inneren F ähzgkeiten und mit der Siclzerheit von Gottes Gegenwart z'n der Seele.

I I. Wirkungen des z'nnerlz"cJlen Gebetes der Ez·nzgullg.

1451. I. Die Hauptwi;kung besteht in einer wunderbaren Umwandlung der Seele. Nach der h1. Therese kann man sie mit der Metamorphose der Seidenraupe vergleichen.

Diese kleinen Würmer nähren sich von Blättern des Maulbeerbaumes, spinnen Seide, bilden daraus kleine Hüllen, schliessen sich darin ein und sterben: aus jeder HüJle geht

, Vie, 18. Kap. S. 224. ,,'vVie lange dieses innerliche Gebet auch dauere, es schadet nicht der Ge$undheit. Der meinigen wenigstens hat es nie Eintrag getan. Wie unpässlich ich mich auch manchmal fühlte, wenn Gott mir diese Gunst erwies. so kann ich mich doch nicht erinnern, jemals davon krank geworden zu sein. Im Gegenteil, ich fühlte mich bedeutend besser. "

2 Vie, 18. Kap. S. 218.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG.

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ein niedlicher, weisser Schmetterling hervor. So geschieht es mit unserer Seele. Sie nährt sich von Lesungen, Gebeten und Sakramenten, baut sich ihr Häuschen, webt ihre Hülle durch Entsagung, stirbt sich selbst ab und wird ein niedlicher, weisser Schmetterling. ' Ein Bild der wunderbaren Metamorphose, die sich durch das innerliche Gebet der Einigung in der Seele vollzieht! Die Seele, die früher vor dem Kreuze zurückschreckte, ist nun voller Grossmut und Bereitwilligkeit, aus Liebc zu Gott die schwersten Opfer zu bringen.

Hier geht die h1. Therese auf nähere Einzelheiten ein : sie beschreibt den glü/mzden Eifer, der die Seele antreibt, Gott zu verherrlichen, ihn von allen Geschöpfen erkannt und geliebt zu sehen; die Lossch.älung von den Geschöpfen, die bis zu dem Wunsche geht, die Welt, in der Gott so sehr beleidigt wird, zu verlassen. Die vollkolllmene Ergebung in dm göttlichen Willen, die der Gnade ebensowenig Widerstand leistet wie weiches Wachs, dem ein Siegel aufgeprägt wird. Grosse Näcltstmliebe, die sich in Taten bekundet und bewirkt, dass wir uns Über das Lob freuen, das man anderen spendet. 2

1452.2. Diesc Vereinigung ist das Vorspiel zu einer noch viel vollkommeren. Es ist gleichsam die erste Begegnung mit dem Bräutigam, auf die bei treuer Mitwirkung mit der Gnade geistliche Verlobung und schliesslich mystische Vermählung folgt. - Man höre aber nicht auf, mahnt die Heilige, auf dem Wege der Loslösung und der Liebe FortscJtritte zu machen. Auf jedes Stehenbleiben würde sonst Erschlaffung und Rückschritt folgen. 3

§ IlI. Die ekstatische Vereinigung. (Geistliche Brautschaft).

Diese Vereinigung vollzieht sich auf zweierlei vVeise : sanft oder scll1/lCrz/taft.

I. Die sanfte ekstatisclte Vereinigung.

1453. Das Wort Ekstase begreift nicht notwendigerweise das Phänomen der Erhebung, von dem

, C1"ileau, 5. Dem., 2. Kap. S. 138-143.

2 C1"ltealt, S. 146-158. - 3 Ibid. S. 159-165.

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ZWEITES KAPITEL.

im folgenden Kapitel die Rede sein wird, sondern nur die Ausschaltung der äusseren Sinne, welche das Charakteristische dieser Vereinigung ist. Sie ü berragt daher die beiden vorausgehenden Vereinigungen an Vollendung, da sie ausser den Merkmalen, die den anderen ebenfalls eigen sind, die Ausschaltung eier äusseren Sinne aufweist. Wir besprechen: 1. ihr Wesen, 2. ihre Phasen oder Grade, 3. ihre Wirkungen.

I. WESEN DER EKSTATISCHEN VEREINIGUNG.

1454. Zwei wesentliche Bestandteile bilden diese Vereinigung : das Versenktsein der Seele in Gott und die Ausschaltung der Sinne. Eben weil die Seele ganz in Gott vertieft ist, scheinen die äusseren Sinne auf ihn oder auf das von ihm Geoffenbarte festgebannt zu sein.

A) Das Versenktsein in Gott geht aus zweI Hauptursachen hervor, nämlich aus der Bev.lUnderung und der Liebe. Das erklärt trefflich der hl. Franz v. Sales 1 :

a) "Bewunderung entsteht in uns beim Antreffen einer Wahrheit, die wir nicht kannten und nicht zu erkennen erwarteten. Ist diese angetroffene neue Wahrheit mit Schönheit und Güte verbunden, so ist die daraus entstehende Bewunderung mit grosser Wonne verknüpft ... Gefällt es also der göttlichen Güte, unserem Geiste besondere Klarheit zu verleihen, so dass er in aussergewöhnlichem, erhabenstem Schauen die göttlichen Geheimnisse betrachten kann, dann wird er beim Anblick der Schönheit, die alles übertrifft, was er sich denken konnte, in hohe Bewunderung geraten. Nun wird aber durch die Bewunderung, die man lieulichen Dingen zollt, der Geist mächtig angezogen und an den bewunderten Gegenstand gefessellt, ebensowohl wegen der darin entdeckten hervorragenden Schönhei t, als auch wegen des N euen dieser Vorzüglichkeit. Das Begriffsvermögen kann sich nämlich nicht GenÜge tun, das zu sehen, was ihm bisher noch nicht vorgekommen und was so lieblich zu schauen ist ".

b) Mit der Bewunderung verbindet sich Liebe. "Solches Hingerissensein in Liebe gechieht im Willen folgender

'Amour de Dieu, 7. B. 4.-6. Kap.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG.

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Weise: "Gott lässt den "Villen seine Reize von Lieblichkeit erfahren, und wie eine vom Magneten berÜhrte Nadel ihre natÜrliche Unempfindlichkeit zu vergessen scheint und sich immer wieder nach dem Pole wendet und dreht, so schwingt sich der von der göttlichen Liebe erfasste Wille empor und strebt Gott zu. Dann, nach Verlassen aller irdischen N eigungen, geht er mittels der göttlichen Liebe in VerzÜckung über, nicht der Erkenntnis, sondern dem Ge~usse nach, nicht bewundernd, sondern liebend, nicht durch Wissenschaft, sondern durch Erfahrung, nicht durch Schauen, sondern durch Verkosten und ein ErfÜlltsein von Wonne. "

1455. c) Übrigens steigert sich die Bewunderung durch Liebe, und diese durch die Bewunderung.

"Beim Anblick der heiligen Ergötzung, die dem Willen in seiner Ekstase zuteil wird, geht der Verstand öfter zu Bewunderung über, wie auch der Wille bei Wahrnehmung des in Bewunderung versenkten Verstandes neue Lust erfährt, so dass diese beiden Fähig-keiten sich ihr Entzücken gegenseitig mitteilen, das Schauen der Schönheit uns drängt, sie zu lieben, und die Liebe das Schauen veranlasst".

Es ist nicht zu verwundern, dass eine Seele, die auf diese \Veise der Bewunderung und Liebe Gottes hingegeben ist, sozusagen ausser sich und verzückt ist und sich zu ihm hingerissen fÜhlt. Bewirkt ja schon die Leidenschaft menschlicher Liebe, dass man, von ihr fortgerissen, alles verlässt, um sich dem Gegenstand seiner Liebe auszuliefern. Ist es da ein \\funder, wenn die göttliche Liebe, die Gott selbst in unsere ~eele senkt, uns so erfasst, dass wir alles vergessen können, um nur ihn zu sehen und zu lieben?

1456. B) Die Ausschaltung der Sinne ist das Ergebnis dieses in Gott Versenktseins. Sie geht fortschreitend vor sich und erreicht nicht bei allen den gleichen Grad.

a) Betreffs der äusserell Sinne: I) Zunächst entsteht mehr oder minder ausgeprägte Unempjindliclzkeit und Nachlassung des physischen Lebens, des Atmungsvorganges, in folge des Abnehmens der Lebenswärme. "Man bemerkt ", sagt die hl. Therese', " dass die natürliche Wärme abl1lmmt und dass der Leib zunehmend kälter wird. Es geschieht aber unter wonnigem Empfinden ".

2) Dann tritt eine gewisse Regzmgslosigkeit ein, so dass der Leib die Stellung bewahrt, in der er überrascht wurde.

, Vie, S. 2-+9.

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ZWEITES KAPITEL.

Der Blick bleibt auf einen unsichtbaren Gegenstand gerichtet.

3) Dieser Zustand müsste eigentlich den Körper schwächen, verleiht ihm aber im Gegenteil neue Kräfte '. Freilich wird im Augenblicke des Erwachens eine gewisse Mattigkeit empfunden, es folgt aber darauf Erneuerung der Kräfte.

4) Manchmal sind die Sinne vollständig ausgeschaltet.

Zuweilen jedoch nur teilweise, wodurch ein Diktieren der erhaltenen Offenbarungen möglich wird, wie es aus dem Leben der hl. Katharina v. Siena ersichtlich ist.

b) Die inneren Sinne sind noch vollkommener als bei der schon besprochenen mystischen Vereinigung ausser Tätigkeit gesetzt.

1457. c) Man kann sich fragen, ob die Freiheit selbst aufgehoben wird. Im allgemeinen lautet die Antwort im Sinne des hl. Thomas, von Suarez, der h1. Therese, von Alvarez de Paz dahin, die Freiheit bleibe bestehen, und folglich könne die Seele in der Ekstase Verdienste sammeln, denn sie empfängt frei die ihr dann verliehenen geistlichen Vergünstigungen.

d) Was die DauC1 der Ekstase angeht, so ist sie sehr verschieden. Vollständige Ekstase dauert gewöhnlich nur einige Augenblicke, manchmal eine halbe Stunde. Da ihr jedoch Zeiten von unvollständig"Cr Ekstase vorausgehen und folgen, so kann sie mehrere Tage dauern, alle zu durchlaufenden Alternativen miteinberechnet.

e) Die Ekstase schliesst mit Erwachen, das von selbst eifolgt oder wozu aufgifordert wird, r) Im ersten Falle ist es mit einer gewissen Beklemmung verbunden, als käme man aus einer anderen V/elt. Erst nach und nach übernimmt die Seele wieder ihre Einwirkung auf den Leib. 2) Im zweiten Falle geschieht die Aufforderung zum Erwachen durch den Befelzl oder den Anruf eines Oberen. vVird er mÜndliclt erteilt, so wird ihm stets Folge geleistet. Ist er nur innerlich, wird er nicht immer befolgt.

, fbid. 18. u. 20. Kap.

DIE EINGEGOSSENE BESCHAUUNG.

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2. DIE DREI PHASEN DER EKSTATISCHEN VEREINIGUNG.

1458. Es gibt drei Hauptphasen in der Ekstase: die einfache Ekstase, die EntrÜckung und der AuJllug des Geistes.

a) Die einfache Ekstase ist eine Art sanft eintretende Ohnmacht, die der Seele eine gleichzeitig schmerz-und wonnevolle Wunde beibringt. Ihr Bräutigam lässt sie seine Gegenwart fühlen, aber nur kurze Zeit. Sie jedoch möchte sich ihrer fortwährend erfreuen und leidet unter der Entziehung. Immerhin ist der Genuss mit· mehr SÜssigkeit erfÜllt als im Gebete der Ruhe.

Hören wir die h1. Therese' : "Die Seele fühlt, sie habe soeben eine wonnevolle Wunde erhalten. Wie und von wem, darÜber gibt sie sich keine Rechenschaft. Aber sie erfasst deren Wert so gut, dass sie wünscht, nie davon geheilt zu werden. Sie beklagt sich bei ihrem Bräutigam in Worten der Liebe, und zwar auch in vernehmbaren Worten. Sie kann nicht umhin, das zu tun, weil er sie seine Gegenwart empfinden lässt, ohne sich jedoch so zu offenbaren, dass sie sich an ihr erfreue. Darüber empfindet sie lebhaften Kummer, der dennoch lieblich und wonnevoll ist ... In diesem Kummer verkostet sie unvergleichlich höhere Freude als im süssen Versenktsein des innerlichen Gebetes der Ruhe in Gott, dem kein Leiden beigemengt ist. "

Bereits in dieser Phase finden sich übernatürliche Worte und Offenbarungen. Wir werden später darauf zurückkommen.

1459. b) In der Entrückung wird die Seele mit Ungestüm und Gewalt erfasst, so dass sie nicht widerstehen kann. Es ist ihr, als trüge ein mächtiger Aar sie auf seinen Schwingen fort. Sie weiss nicht, wohin es geht. Trotz der dabei empfundenen Lust verursacht die natürliche Schwäche anfangs ein GefÜhl der Angst. "aber dieser Furcht ist glühende, neue Liebe zu Jenem beigemengt, der einem der Fäulnis gleichen WÜrmlein solch zärtliche Huld

, Chdteau, 6. Dem. 2. Kap. S. 180.

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