Alfred Loisy
Der französische Priester und Bibelwissenschaftler Alfred Firmin Loisy (1857-1940) ist der Begründer der mit Modernismus bezeichneten theologischen Richtung. Im Jahr 1908 exkommuniziert, lehrte er am College de France zu Paris, zunehmend radikalere Positionen vertretend, dann Religionsphilosophie.
Angeregt durch die Leben-Jesu-Forschung und die "exegese allemande" (Bibelkritik) näherte sich Loisy einem religiösen Pantheismus an. Seit 1893 verschärfte sich der Konflikt mit den Vorgesetzten (Verlust des theologischen Lehrauftrags am Institut catholique) in Paris. Aus scheinbar "wissenschaftlichen" Gründen verwarf er die traditionelle Christologie und erachtete die Institution des kirchlichen Lehramts für in der Moderne unhaltbar. Dennoch sah er sich, bis zur Niederlage von 1908, als maßgebliche Kraft kirchlicher Reform: Da die Kirche sich in jedem Zeitalter verändert habe, eröffne ihr der Modernismus die Chance, auch zukünftig als Kraft öffentlicher Moral auf die Zivilisation einzuwirken. Das berühmte Zitat "Jesus hat das Reich Gottes verkündet, gekommen aber ist die Kirche" (L'évangile et l'eglise, 1902), meinte Loisy, obzwar provokativ, noch positiv: Immerhin sei das kirchlich gefasste Christentum seither in der Welt.
Neben sich duldete Loisy aber keinen anderen Modernisten als gleichwertigen Vertreter der neuen Richtung. In der 1896 gegründeten Revue d'histoire et de la litterature religieuses schrieb Loisy unter zahlreichen Pseudonymen (auch Turmel unter einigen anderen Namen), so dass diese "konfessionslose" Zeitschrift eine breite wissenschaftliche Bewegung vortäuschte und auch erhebliche Unruhe verursachte. In seinen Memoiren fasste er seinen Standpunkt schließlich so zusammen:
"(Logomachie metaphysique à part), je ne crois pas plus à la divineté de Jésus que Harnack (...), et je regarde l'incarnation personelle de Dieu comme un mythe philosophique. Le Christ tient même moins de place dans ma religion que dans celle des protestants liberaux; car je n'attache pas autant d'importance qu'eux à cette révélation du Dieu-Pére, dont ils font honneur à Jésus. Si je suis quelque chose en religion, c'est plutôt panthéo-positivo-humanitaire que chrétien" (Bd. II, S. 397).
[Wie Harnack glaube auch ich nicht mehr an die Göttlichkeit Jesu und ich sehe die persönliche Inkarnation Gottes für einen philosophischen Mythos an. Christus nimmt in meiner Relgion einen geringeren Platz ein als bei den liberalen Protestanten. Denn ich messe der Offenbarung des Vatergottes nicht die Bedeutung bei wie jene, die so Jesus die Ehre gebe. Wenn ich irgendwas bin in der Religion, dann vielmehr "pantheo-positivo-humanitär" als christlich.]
Loisy war darüber verbittert, dass Pius X. ihm es gleichsam verbot, die Kirche zu "retten". Schon bald nach der Krise von 1907 hatte Loisy fast sämtlichen Zuspruch in der Theologie verloren. Als der OSSERVATORE ROMANO dem verstorbenen Modernisten 1940 einen offiziösen Nachruf widmete, hatte bereits die gesamte Zivilisation tiefgreifend erschütternde Erfahrungen mit den Schattenseiten der Moderne gemacht (Kriege, Wirtschaftskrise, Totalitarismus), dass der naive, wissenschaftliche Optimismus eines Loisy nur noch wie das ferne Echo einer untergegangenen Epoche wirken konnte. Das päpstliche Lehramt hat daher spätere theologische Krisen bewusst nicht mehr mit dem Begriff des Modernismus belegt.
Literatur
Marie-Joseph Lagrange, M. Loisy et le modernisme, Paris (Cerf) 1932.