Veritatis splendor (Wortlaut)

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Enzyklika
Veritatis splendor

unseres Heiligen Vaters
Johannes Paul II.
an alle Bischöfe der Katholischen Kirche
über einige grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre
6. August 1993
(Offizieller lateinischer Text AAS 85 [1993] 1133-1228)

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite

Verehrte Mitbrüder im Bischofsamt!
Gruß und Apostolischen Segen!

DER GLANZ DER WAHRHEIT erstrahlt in den Werken des Schöpfers und in besonderer Weise in dem nach dem Abbild und Gleichnis Gottes geschaffenen Menschen (vgl. Gen 1, 26): die Wahrheit erleuchtet den Verstand und formt die Freiheit des Menschen, der auf diese Weise angeleitet wird, den Herrn zu erkennen und zu lieben. Darum betet der Psalmist: "Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten!" (Ps 4, 7).

EINLEITUNG

Jesus Christus, das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet

1 Durch den Glauben an Jesus Christus, "das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet" (Joh 1, 9), zum Heil berufen, werden die Menschen "Licht durch den Herrn" und "Kinder des Lichts" (Eph 5, 8) und heiligen sich durch den "Gehorsam gegenüber der Wahrheit" (1 Petr 1, 22).

Dieser Gehorsam ist nicht immer leicht. In der Folge der geheimnisvollen Ursünde, begangen auf Anstiftung Satans, der "ein Lügner und der Vater der Lüge ist" (Joh 8, 44), ist der Mensch immerfort versucht, seinen Blick vom lebendigen und wahren Gott ab- und den Götzen zuzuwenden (vgl. 1 Thess 1, 9), während er "die Wahrheit Gottes mit der Lüge" vertauscht (Röm 1, 25); damit wird auch seine Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, beeinträchtigt und sein Wille, sich ihr zu unterwerfen, geschwächt. Und so geht er, während er sich dem Relativismus und Skeptizismus überlässt (vgl. Joh 18, 38), auf die Suche nach einer trügerischen Freiheit außerhalb dieser Wahrheit.

Aber keine Finsternis des Irrtums und der Sünde vermag das Licht des Schöpfergottes im Menschen völlig auszulöschen. In der Tiefe seines Herzens besteht immer weiter die Sehnsucht nach der absoluten Wahrheit und das Verlangen, in den Vollbesitz ihrer Erkenntnis zu gelangen. Davon gibt das unermüdliche menschliche Suchen und Forschen auf jedem Gebiet ein beredtes Zeugnis. Das beweist noch mehr die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik ist zwar ein großartiges Zeugnis der Fähigkeit des Verstandes und der Ausdauer der Menschen, befreit aber die Menschheit nicht davon, sich letzte religiöse Fragen zu stellen, sie spornt sie vielmehr dazu an, die schmerzlichsten und entscheidendsten Kämpfe, jene im Herzen und im Gewissen, auszutragen.

2 Jeder Mensch muss sich den grundlegenden Fragen stellen: Was soll ich tun? Wie ist das Gute vom Bösen zu unterscheiden? Die Antwort ist, wie der Psalmist bezeugt, nur möglich dank des Glanzes der Wahrheit, die im Innersten des menschlichen Geistes erstrahlt: "Viele sagen: 'Wer macht uns das Gute sehen?' Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten!" (Ps 4, 7). Gott lässt sein Angesicht in seiner ganzen Schönheit leuchten über dem Angesicht Jesu Christi, "Ebenbild des unsichtbaren Gottes" (Kol 1, 15), "Abglanz seiner Herrlichkeit" (Hebr 1, 3), "voll Gnade und Wahrheit" (Joh 1, 14): Er ist "der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14, 6). Darum wird die entscheidende Antwort auf jede Frage des Menschen, insbesondere auf seine religiösen und moralischen Fragen, von Jesus Christus gegeben, ja ist Jesus Christus selbst die Antwort, wie das II. Vatikanische Konzil in Erinnerung bringt: "Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf: Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung".<ref> Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 22. </ref>

Jesus Christus, "das Licht der Völker", erleuchtet das Angesicht seiner Kirche, die er in die ganze Welt aussendet, allen Geschöpfen das Evangelium zu verkünden (vgl. Mk 12, 15). <ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 1. </ref> So bietet die Kirche, Volk Gottes inmitten der Nationen,<ref>Vgl. ebd., 9. </ref> während sie die neuen Herausforderungen der Geschichte und die Bemühungen berücksichtigt, die die Menschen bei der Suche nach dem Sinn des Lebens unternehmen, allen die Antwort an, die aus der Wahrheit Jesu Christi und seines Evangeliums herrührt. In der Kirche ist immer das Bewußtsein lebendig, dass ihr "allzeit die Pflicht (obliegt), nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben".<ref>II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 4. </ref>

3 In diesem Bemühen sind die Bischöfe der Kirche in Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri den Gläubigen nahe, sie begleiten und lenken sie mit ihrem Lehramt, wobei sie immer neue Akzente für Liebe und Barmherzigkeit finden, um sich nicht nur an die Gläubigen, sondern an alle Menschen guten Willens zu wenden. Das II. Vatikanische Konzil bleibt ein hervorragendes Zeugnis für diese Haltung der Kirche, die sich, "erfahren in den Fragen, die den Menschen betreffen",<ref>Paul VI., Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen, (4. Oktober 1965): AAS 57 (1965), 878; Enzyklika Populorum progressio (26. März 1967), 13: AAS 59 (1967), 263-264. </ref> in den Dienst jedes Menschen und des ganzen Menschen stellt.<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 33. </ref>

Die Kirche weiß, dass der moralische Anspruch jeden Menschen im Innersten erreicht, dass er alle miteinbezieht, auch jene, die Christus und sein Evangelium nicht kennen und nicht einmal etwas von Gott wissen. Sie weiß, dass eben auf dem Weg des sittlichen Lebens allen der Weg zum Heil offen steht, woran das II. Vatikanische Konzil mit aller Klarheit erinnert, wenn es schreibt: "Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen". Und es fügt hinzu: "Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen sich bemühen. Was sich nämlich an Gutem und Wahrem bei ihnen findet, wird von der Kirche als Vorbereitung für die Frohbotschaft und als Gabe dessen geschätzt, der jeden Menschen erleuchtet, damit er schließlich das Leben habe".<ref>Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 16. </ref>

Gegenstand der vorliegenden Enzyklika

4 Seit jeher, aber vor allem im Lauf der beiden letzten Jahrhunderte haben die Päpste sowohl persönlich wie gemeinsam mit dem Bischofskollegium eine Sittenlehre entwickelt und vorgelegt, die die vielfältigen und verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens berücksichtigt. Im Namen und mit der Autorität Jesu Christi haben sie ermahnt, verkündet, erklärt; in Treue zu ihrer Sendung, im Ringen für den Menschen haben sie bestärkt, aufgerichtet und getröstet; mit der Garantie des Beistands des Geistes der Wahrheit haben sie zu einem besseren Verständnis der sittlichen Ansprüche im Bereich der menschlichen Sexualität, der Familie, des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens beigetragen. Ihre Lehre stellt sowohl innerhalb der Überlieferung der Kirche wie der Menschheitsgeschichte eine ständige Vertiefung der sittlichen Erkenntnis dar.<ref>Pius XII. hatte bereits diese theoretische Lehrentwicklung erkennen lassen. Vgl. Radiobotschaft zum 50. Jahrestag von Rerum novarum (1. Juni 1941): AAS 33 (1941), 194f. Ebenso Johannes XXIII., Enzyklika Mater et magistra (15. Mai 1961): AAS 53 (1961), 410-413. </ref>

Doch heute erscheint es notwendig, über die Morallehre der Kirche insgesamt nachzudenken, mit der klaren Zielsetzung, einige fundamentale Wahrheiten der katholischen Lehre in Erinnerung zu rufen, die im heutigen Kontext Gefahr laufen, verfälscht oder verneint zu werden. Es ist nämlich eine neue Situation gerade innerhalb der christlichen Gemeinschaft entstanden, die hinsichtlich der sittlichen Lehren der Kirche die Verbreitung vielfältiger Zweifel und Einwände menschlicher und psychologischer, sozialer und kultureller, religiöser und auch im eigentlichen Sinne theologischer Art erfahren hat. Es handelt sich nicht mehr um begrenzte und gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und systematische Infragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund bestimmter anthropologischer und ethischer Auffassungen. Diese haben ihre Wurzel in dem mehr oder weniger verborgenen Einfluß von Denkströmungen, die schließlich die menschliche Freiheit der Verwurzelung in dem ihr wesentlichen und für sie bestimmenden Bezug zur Wahrheit beraubt. So wird die herkömmliche Lehre über das Naturgesetz, über die Universalität und bleibende Gültigkeit seiner Gebote abgelehnt; Teile der kirchlichen Moralverkündigung werden für schlechthin unannehmbar gehalten; man ist der Meinung, das Lehramt dürfe sich in Moralfragen nur einmischen, um die "Gewissen zu ermahnen" und "Werte vorzulegen", nach denen dann ein jeder autonom die Entscheidungen und Entschlüsse seines Lebens inspirieren wird.

Hervorgehoben werden muss im besonderen die Diskrepanz zwischen der herkömmlichen Antwort der Kirche und einigen, auch in den Priesterseminaren und an den theologischen Fakultäten verbreiteten theologischen Einstellungen zu Fragen, die für die Kirche und für das Glaubensleben der Christen, ja für das menschliche Zusammenleben überhaupt, von allergrößter Bedeutung sind. Hier wird insbesondere gefragt: Besitzen die Gebote Gottes, die dem Menschen ins Herz geschrieben sind und Bestandteil des Bundes Gottes mit ihm sind, tatsächlich die Fähigkeit, die täglichen Entscheidungen der einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft zu erleuchten? Ist es möglich, Gott zu gehorchen und damit Gott und den Nächsten zu lieben, ohne diese Gebote unter allen Umständen zu respektieren? Verbreitet ist auch der Zweifel am engen und untrennbaren Zusammenhang zwischen Glaube und Moral, so als würde sich die Zugehörigkeit zur Kirche und deren innere Einheit allein durch den Glauben entscheiden, während man in Sachen Moral einen Pluralismus von Anschauungen und Verhaltensweisen dulden könnte, je nach Urteil des individuellen subjektiven Gewissens bzw. der Verschiedenheit der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen.

5 In einem derartigen noch immer aktuellen Kontext ist in mir der Entschluß gereift, eine Enzyklika zu schreiben, die - wie ich in dem am 1. August 1987 aus Anlaß des 200. Todestages des hl. Alfonso Maria von Liguori veröffentlichten Apostolischen Schreiben Spiritus Domini angekündigt habe - "umfassender und gründlicher die Fragen, die die eigentlichen Grundlagen der Moraltheologie betreffen",<ref>Apostolisches Schreiben Spiritus Domini super (1. August 1987): AAS 79 (1987), 1374. </ref> behandeln soll, Grundlagen, die durch einige Richtungen der heutigen Moraltheologie angegriffen werden.

Ich wende mich an euch, ehrwürdige Brüder im Bischofsamt, die ihr mit mir die Verantwortung teilt, die "gesunde Lehre" (2 Tim 4, 3) zu bewahren, mit der Absicht, einige Aspekte der Lehre zu präzisieren, die entscheidend sind, um dem zu begegnen, was man wohl ohne Zweifel eine echte Krise nennen muss, so ernst sind die Schwierigkeiten, die daraus für das moralische Leben der Gläubigen und für die Gemeinschaft in der Kirche wie auch für ein gerechtes und solidarisches soziales Leben folgen.

Wenn diese seit langem erwartete Enzyklika erst jetzt veröffentlicht wird, dann auch deshalb, weil es angebracht erschien, ihr den Katechismus der katholischen Kirche vorausgehen zu lassen, der eine vollständige und systematische Darlegung der christlichen Morallehre enthält. Der Katechismus stellt das sittliche Leben der Gläubigen in seinen Grundlagen und in seinen vielfältigen Inhalten als Leben der "Kinder Gottes" vor: "Im Glauben ihrer neuen Würde bewußt, sollen die Christen fortan so leben, 'wie es dem Evangelium Christi entspricht' (Phil 1, 27). Sie werden dazu befähigt durch die Gnade Christi und die Gabe seines Geistes, die sie durch die Sakramente und das Gebet erhalten".<ref>Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1692. </ref> Indem sie auf den Katechismus "als sicheren und maßgebenden Text für die Unterweisung in der katholischen Lehre"<ref>Apostolische Konstitution Fidei depositum (11. Oktober 1992), 4. </ref> verweist, wird sich die Enzyklika darauf beschränken, sich mit einigen grundlegenden Fragen der Morallehre der Kirche auseinanderzusetzen, und dies in Form einer notwendigen Klärung von Problemen, die unter den Ethikern und Moraltheologen umstritten sind. Das ist das spezifische Thema der vorliegenden Enzyklika, der es darum geht, hinsichtlich der erläuterten Probleme die Erfordernisse einer auf die Heilige Schrift und die lebendige apostolische Überlieferung gegründeten Morallehre darzulegen<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Göttliche Offenbarung Dei verbum, 10. </ref> und zugleich die Voraussetzungen und Folgen der Entgegnungen aufzuzeigen, die sich gegen diese Lehre richteten.

KAPITEL I: "MEISTER, WAS MUSS ICH GUTES TUN...?" (Mt 19, 16)

Christus und die Antwort auf die moralische Frage "Es kam ein Mann zu Jesus..." (Mt 19, 16)

6 Das Gespräch Jesu mit dem reichen Jüngling, das im 19. Kapitel des Evangeliums des hl. Matthäus wiedergegeben wird, kann uns eine nützliche Spur sein, um seine Morallehre in lebendiger, eindringlicher Weise neu zu hören: "Es kam ein Mann zu Jesus und fragte: Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Er antwortete: Was fragst du mich nach dem Guten? Nur einer ist 'der Gute'. Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote! Darauf fragte er ihn: Welche? Jesus antwortete: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen; ehre Vater und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Der junge Mann erwiderte ihm: Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir jetzt noch? Jesus antwortete ihm: Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach" (Mt 19, 16-21).<ref>Vgl. Apostolisches Schreiben Parati semper an die Jugendlichen der Welt anläßlich des Internationalen Jahres der Jugend (31. März 1985), Nr. 2-8: AAS 77 (1985), 581-600. </ref>

7 "Es kam ein Mann zu Jesus.. . ". In dem jungen Mann, dessen Namen das Matthäusevangelium nicht nennt, können wir jeden Menschen erkennen, der, bewußt oder unbewußt, an Christus, den Erlöser des Menschen, herantritt und ihm die moralische Frage stellt. Für den jungen Mann ist es nicht zuerst eine Frage nach den Regeln, die befolgt werden müssen, als vielmehr eine Frage nach Sinnerfüllung für das Leben. Und in der Tat liegt dem Menschen bei jeder Entscheidung und jeder Handlung dieses Verlangen am Herzen; es ist die stille Suche und der innere Anstoß, der die Freiheit in Bewegung setzt. Diese Frage ist letzten Endes ein Appell an das absolute Gute, das uns anzieht und uns zu sich ruft, sie ist der Widerhall einer Berufung durch Gott, Ursprung und Ziel des Lebens des Menschen. Genau aus dieser Sicht hat das II. Vatikanische Konzil dazu aufgefordert, die Moraltheologie so zu vervollkommnen, dass sie die Erhabenheit der Berufung, die die Gläubigen in Christus empfangen haben,<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dekret über die Priesterausbildung Optatam totius, 16. </ref> als die einzige Antwort darlegt, die die Sehnsucht des Menschenherzens voll stillt.

Damit die Menschen diese "Begegnung" mit Christus verwirklichen können, hat Gott seine Kirche gewollt. In der Tat, "diesem Ziel allein möchte die Kirche dienen: jeder Mensch soll Christus finden können, damit Christus jeden einzelnen auf seinem Lebensweg begleiten kann".<ref>Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 13: AAS 71 (1979), 282. </ref> 

"Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" (Mt 19, 16)

8 Aus der Tiefe des Herzens kommt die Frage, die der reiche Jüngling an Jesus von Nazaret richtet, eine Frage, die für das Leben jedes Menschen wesentlich und unausweichlich ist: denn sie betrifft das im eigenen Tun zu vollbringende sittlich Gute und das ewige Leben. Der Gesprächspartner Jesu ahnt, dass ein Zusammenhang zwischen dem sittlich Guten und der vollen Erfüllung der eigenen Bestimmung besteht. Er ist ein frommer Jude, der sozusagen im Schatten des Gesetzes des Herrn aufgewachsen ist. Wenn er Jesus diese Frage stellt, dürfen wir annehmen, dass er das nicht deshalb tut, weil er die im Gesetz enthaltene Antwort nicht kennt. Wahrscheinlicher ist, dass die Ausstrahlung der Person Jesu in ihm neue Fragen bezüglich des sittlich Guten aufbrechen ließ. Er spürt das Bedürfnis, dem zu begegnen, der seine Predigttätigkeit mit dieser neuen, entscheidenden Ankündigung begonnen hatte: "Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!" (Mk 1, 15).

Der Mensch von heute muss sich aufs neue an Christus wenden, um von ihm die Antwort darauf zu erhalten, was gut und was schlecht ist. Er ist der Meister, der Auferstandene, der das Leben in sich hat und der in seiner Kirche und in der Welt immer gegenwärtig ist. Er erschließt den Gläubigen das Buch der Schrift und lehrt durch die volle Offenbarung des Willens des Vaters die Wahrheit über das sittliche Handeln. Am Ursprung und am Höhepunkt des Heilsplanes, des Alphas und Omegas der menschlichen Geschichte (vgl. Offb 1, 8; 21, 6; 22, 13), enthüllt Christus die Lage des Menschen und seine volle Berufung. Darum muss sich "der Mensch, der sich selbst bis in die Tiefe verstehen will - nicht nur nach unmittelbar zugänglichen, partiellen, oft oberflächlichen und sogar nur scheinbaren Kriterien und Maßstäben des eigenen Seins -, mit seiner Unruhe, Unsicherheit und auch mit seiner Schwäche und Sündigkeit, mit seinem Leben und Tod Christus nahen. Er muss sozusagen mit seinem ganzen Selbst in ihn eintreten, muss sich die ganze Wirklichkeit der Menschwerdung und der Erlösung 'aneignen' und assimilieren, um sich selbst zu finden. Wenn sich in ihm dieser tiefgreifende Prozeß vollzieht, wird er nicht nur zur Anbetung Gottes veranlaßt, sondern gerät auch in tiefes Staunen über sich selbst".<ref>Ebd., 10: aaO., 274. </ref>

Wenn wir also in das Innerste der Moral des Evangeliums vordringen und ihren tiefen und unwandelbaren Inhalt erfassen wollen, müssen wir sorgfältig den Sinn der von dem reichen Jüngling des Evangeliums gestellten Frage und mehr noch den Sinn der Antwort Jesu erforschen, indem wir uns von ihm leiten lassen. Jesus antwortet nämlich mit pädagogischer Einfühlung und Behutsamkeit, indem er den jungen Mann gleichsam an der Hand nimmt und Schritt für Schritt zur Wahrheit hinführt.

„Nur einer ist 'der Gute' “ (Mt 19, 17)

9 Jesus sagt: "Was fragst du mich nach dem Guten? Nur einer ist 'der Gute'. Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote!" (Mt 19, 17). In der Fassung der Evangelisten Markus und Lukas lautet die Frage so: "Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott, dem Einen" (Mk 10, 18; vgl. Lk 18, 19).

Bevor Jesus auf die Frage antwortet, möchte er, dass der junge Mann sich selbst über das Motiv seiner Frage klar wird. Der "gute Meister" weist seinen Gesprächspartner - und uns alle - darauf hin, dass die Antwort auf die Frage: "Was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?", nur dadurch gefunden werden kann, dass sich Verstand und Herz dem zuwenden, der "allein der Gute" ist: "Niemand ist gut außer Gott, dem Einen" (Mk 10, 18; vgl. Lk 18, 19). Nur Gott kann auf die Frage nach dem Guten antworten, weil er das Gute ist.

In der Tat bedeutet sich nach dem Guten zu fragen letzten Endes, sich Gott, der Fülle des Guten, zuzuwenden. Jesus zeigt, dass die Frage des jungen Mannes in der Tat eine religiöse Frage ist und dass das Gute, das den Menschen anzieht und zugleich verpflichtet, seine Quelle in Gott hat, ja Gott selber ist. Er, der allein würdig ist, "mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen Gedanken" (Mt 22, 37) geliebt zu werden. Jesus führt die Frage nach dem sittlich guten Tun zurück auf ihre religiösen Wurzeln, auf die Anerkennung Gottes, des einzig Guten, Fülle des Lebens, Endziel des menschlichen Handelns, vollkommene Glückseligkeit.

10 Die von den Worten des Meisters unterwiesene Kirche glaubt, dass der Mensch, der nach dem Abbild des Schöpfers geschaffen, mit dem Blut Christi erlöst und von der Gegenwart des Heiligen Geistes geheiligt wurde, als Endziel seines Lebens das Sein "zum Lob der Herrlichkeit" Gottes hat (vgl. Eph 1, 12), indem er bewirkt, dass jede seiner Handlungen dessen Herrlichkeit widerspiegelt. "Erkenne dich also selbst, o schöne Seele: du bist das Abbild Gottes - schreibt der hl. Ambrosius. Erkenne dich selbst, o Mensch: du bist der Abglanz Gottes (1 Kor 11, 7). Höre, in welcher Weise du sein Abglanz bist. Der Prophet sagt: Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen (Ps 139, 6), das heißt: in meinem Tun ist deine Majestät am wunderbarsten, deine Weisheit wird im Verstand des Menschen gepriesen. Während ich, den du in den geheimsten Gedanken und tiefsten Gefühlen durchschaust, mich selbst betrachte, erkenne ich die Geheimnisse deines Wissens. Erkenne dich also selbst, o Mensch, erkenne, wie groß du bist, und wache über dich...". <ref>Exameron, dies VI, sermo IX, 8, 50: CSEL 32, 241. </ref>

Was der Mensch ist und tun soll, wird offenkundig im Augenblick der Selbstoffenbarung Gottes. Die Zehn Gebote gründen sich in der Tat auf die Worte: "Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben" (Ex 20, 2-3). Auf den "zehn Gebotstafeln" des Bundes mit Israel und im ganzen Gesetz gibt sich Gott als der zu erkennen, der "allein gut ist"; als der, der trotz der Sünde des Menschen weiterhin das "Modell" des sittlichen Handelns bleibt, seiner eigenen Aufforderung entsprechend: "Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig" (Lev 19, 2); als der, der seiner Liebe zum Menschen getreu, ihm sein Gesetz schenkt (vgl. Ex 19, 9-24 und 20, 18-21), um die ursprüngliche Harmonie mit dem Schöpfer und mit der ganzen Schöpfung wiederherzustellen, und noch mehr, um ihn in seine Liebe einzuführen: "Ich gehe in eurer Mitte; ich bin euer Gott, und ihr seid mein Volk" (Lev 26, 12).

Das sittliche Leben erscheint als geschuldete Antwort auf die freien Initiativen, die Gottes Liebe dem Menschen unbegrenzt zuteil werden lässt. Es ist nach der Aussage, die das Buch Deuteronomium über das grundlegende Gebot macht, eine Antwort der Liebe: "Höre Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen" (Dtn 6, 4-7).

So ist das in die unverdiente Liebe Gottes eingebettete sittliche Leben dazu berufen, Gottes Herrlichkeit widerzuspiegeln: "Für den, der Gott liebt, genügt es, dem zu gefallen, den er liebt: er braucht nach keinem anderen, größeren Entgelt für diese Liebe zu suchen; denn die Liebe stammt so von Gott, dass Gott selbst Liebe ist".<ref>Leo der Grosse, Sermo XCII, cap. III: PL 54, 454. </ref> 

11 Die Feststellung, dass "nur einer gut ist", verweist uns also auf die "erste Tafel" der Gebote, die dazu aufruft, Gott als den einzigen Herrn und den Absoluten anzuerkennen und aufgrund seiner unergründlichen Heiligkeit nur ihn zu verehren (vgl. Ex 20, 2-11). Das Gute besteht darin, Gott zu gehören, ihm zu gehorchen, demütig mit ihm unseren Weg zu gehen, Gerechtigkeit zu üben und die Güte zu lieben (vgl. Mich 6, 8). Den Herrn als Gott anzuerkennen, ist der fundamentale Kern, das Herzstück des Gesetzes, von dem sich die einzelnen Gebote herleiten und dem sie untergeordnet sind. Durch die Moral der Gebote wird die Zugehörigkeit des Volkes Israel zum Herrn offenkundig, denn Gott allein ist derjenige, der gut ist. Das ist das Zeugnis der Heiligen Schrift, die auf jeder ihrer Seiten von der Wahrnehmung der absoluten Heiligkeit Gottes durchdrungen ist: "Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heere" (Jes 6, 3).

Aber wenn nur Gott das Gute ist, gelingt es keiner menschlichen Anstrengung, auch nicht der strengsten Einhaltung der Gebote, das Gesetz "zu erfüllen", das heißt den Herrn als Gott anzuerkennen und ihm die nur ihm allein gebührende Verehrung zu erweisen (vgl. Mt 4, 10). Die "Erfüllung" kann nur von einem Geschenk Gottes herkommen: es ist das Angebot einer Teilhabe am göttlichen Gutsein, das sich in Jesus offenbart und mitteilt, ihm, den der reiche Jüngling mit den Worten "guter Meister" anredet (vgl. Mk 10, 17; Lk 18, 18). Was der junge Mann jetzt vielleicht nur zu ahnen vermag, wird schließlich von Jesus selbst voll enthüllt werden in seiner Aufforderung: "Komm und folge mir nach!" (Mt 19, 21).

„Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote" (Mt 19, 17)

12 Nur Gott vermag auf die Frage nach dem Guten zu antworten, weil er das Gute ist. Aber Gott hat bereits auf diese Frage geantwortet: Er hat das dadurch getan, dass er den Menschen geschaffen und mit Weisheit und Liebe durch das ihm ins Herz geschriebene Gesetz (vgl. Röm 2, 15), das "natürliche Gesetz", auf sein Ziel hingeordnet hat. Dieses natürliche Gesetz ist "nichts anderes als das von Gott uns eingegebene Licht des Verstandes. Dank seiner wissen wir, was man tun und was man meiden soll. Dieses Licht und dieses Gesetz hat Gott uns bei der Erschaffung geschenkt".<ref>Hl. Thomas von Aquin, In duo praecepta caritatis et in decem legis praecepta. Prologus: Opuscula theologica, II, n. 1129, Ed. Taurinens. (1954), 245; vgl. Summa Theologiae, I-II, q. 91, a. 2; Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1955. </ref>  Er hat es dann in der Geschichte Israels im besonderen mit den "zehn Tafeln", das heißt mit den Geboten vom Sinai, getan, durch die Gott die Existenz des Bundesvolkes begründet (vgl. Ex 24) und es dazu berufen hat, "unter allen Völkern sein besonderes Eigentum", "ein heiliges Volk" zu sein (vgl. Ex 19, 5-6), das seine Heiligkeit unter allen Völkern erstrahlen lassen möge (vgl. Weish 18, 4; Ez 20, 41). Das Geschenk der Zehn Gebote ist Verheißung und Zeichen des Neuen Bundes, wenn das Gesetz wiederum und endgültig in das Herz des Menschen hineingeschrieben werden wird (vgl. Jer 31, 31-34) und an die Stelle des Gesetzes der Sünde tritt, die dieses Herz entstellt hatte (vgl. Jer 17, 1). Dann wird ihm "ein neues Herz" geschenkt, denn in ihm wird "ein neuer Geist", der Geist Gottes, wohnen (vgl. Ez 36, 24-28).<ref>Vgl. Hl. Maximus Confessor, Quaestiones ad Thalassium, Q. 64: PG 90,723-728. </ref> 

Nach der bedeutsamen Präzisierung: "Nur einer ist 'der Gute'" antwortet Jesus daher dem jungen Mann: "Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote" (Mt 19, 17). Damit wird ein enger Zusammenhang zwischen dem ewigen Leben und der Befolgung der Gebote Gottes hergestellt: die Gebote Gottes weisen dem Menschen den Weg des Lebens und geleiten ihn zu ihm.

Aus dem Mund Jesu, des neuen Mose, werden den Menschen die Gebote des Dekalogs wiedergeschenkt; er selbst bestätigt sie endgültig und stellt sie uns als Weg und Bedingung des Heils vor. Das Gebot verbindet sich mit einer Verheißung: im Alten Bund war Gegenstand der Verheißung der Besitz eines Landes, in dem das Volk ein Dasein in Freiheit und Gerechtigkeit führen können sollte (vgl. Dtn 6, 20-25); im Neuen Bund ist Gegenstand der Verheißung das "Himmelreich", wie Jesus zu Beginn der Bergpredigt - der Rede, die die umfassendste und vollständigste Darlegung des Neuen Gesetzes enthält (vgl. Mt 5-7) in offenkundiger Bezugnahme auf die Mose von Gott am Berg Sinai übergebenen Zehn Gebote sagt. Auf dieselbe Wirklichkeit des Himmelreiches bezieht sich der Ausdruck "ewiges Leben", das Teilnahme am Leben Gottes selbst ist: es findet seine vollkommene Verwirklichung erst nach dem Tod, ist aber im Glauben schon jetzt Licht der Wahrheit, Sinnquelle für das Leben, beginnende Teilhabe an einer Fülle in der Nachfolge Christi. Jesus sagt nämlich nach der Begegnung mit dem reichen Jüngling zu den Jüngern: "Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen" (Mt 19, 29).

13 Die Antwort Jesu genügt dem jungen Mann nicht, und er fragt den Meister weiter nach den Geboten, die befolgt werden sollen: "Darauf fragte er ihn: Welche?" (Mt 19, 18). Er fragt, was er im Leben tun müsse, um die Anerkennung der Heiligkeit Gottes kundzutun. Nachdem Jesus den Blick des jungen Mannes auf Gott hingelenkt hat, erinnert er ihn an die Gebote des Dekalogs, die sich auf den Nächsten beziehen: "Jesus antwortete: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen, ehre Vater und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Mt 19, 18-19).

Aus dem Gesprächszusammenhang, und insbesondere aus dem Vergleich des Textes bei Matthäus mit den Parallelstellen bei Markus und Lukas, ergibt sich, dass Jesus nicht daran denkt, alle Gebote, die notwendig sind, um "das Leben zu erlangen", einzeln aufzuzählen; sondern dass es ihm vielmehr darum geht, den jungen Mann hinzuweisen auf die "zentrale Stellung" der Zehn Gebote allen anderen Geboten gegenüber als Deutung dessen, was für den Menschen "Ich bin der Herr, dein Gott" bedeutet. Es kann unserer Aufmerksamkeit also nicht entgehen, an welche Gebote des Gesetzes der Herr den jungen Mann erinnert: es sind einige Gebote, die zur sogenannten "zweiten Tafel" des Dekalogs gehören, deren Zusammenfassung (vgl. Röm 13, 8-10) und Fundament das Gebot der Nächstenliebe ist: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" (Mt 19, 19; vgl. Mk 12, 31) . In diesem Gebot kommt sehr klar die einzigartige Würde der menschlichen Person zum Ausdruck, die "das einzige Geschöpf ist, das Gott um seiner selbst willen gewollt hat".<ref>II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 24. </ref> Die verschiedenen Gebote des Dekalogs spiegeln in der Tat nur das einzige auf das Wohl der Person hingeordnete Gebot auf der Ebene der vielfältigen Güter wider, die die Identität der menschlichen Person als geistiges und leibliches Wesen in Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zur Welt der Dinge kennzeichnen. Wie wir im Katechismus der katholischen Kirche lesen, sind die Zehn Gebote Teil der Offenbarung Gottes. Zugleich lehren sie uns die wahre Natur des Menschen. Sie heben seine wesentlichen Pflichten hervor und damit indirekt auch die Grundrechte, die der Natur der menschlichen Person innewohnen." <ref>Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 2070. </ref>

Die Gebote, an die Jesus seinen jungen Gesprächspartner erinnert, sind dazu bestimmt, das Wohl der Person, Ebenbild Gottes, durch den Schutz seiner Güter zu wahren. "Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen", sind sittliche Regeln, die als Verbote formuliert sind. Die negativen Vorschriften bringen besonders kraftvoll die ununterdrückbare Forderung zum Ausdruck, das menschliche Leben, die Personengemeinschaft in der Ehe, das Privateigentum, die Wahrhaftigkeit und den guten Ruf zu schützen.

Die Gebote stellen also die Grundvoraussetzung für die Nächstenliebe dar; zugleich dienen sie ihrer Überprüfung. Sie sind die erste notwendige Etappe auf dem Weg zur Freiheit, ihr Anfang: "Die erste Freiheit - schreibt der hl. Augustinus - besteht im Freisein von schuldhaftem Versagen: das wären z.B. Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, Betrug, Gotteslästerung usw. Wenn einer beginnt, nichts mit diesen Untaten zu tun zu haben (und kein Christ darf etwas mit ihnen zu tun haben), beginnt er, das Haupt zur Freiheit hin zu erheben, doch das ist erst der Anfang der Freiheit, nicht die vollkommene Freiheit...".<ref>In Iohannis Evangelium Tractatus, 41, 10: CCL 36, 363. </ref> 

14 Das heißt selbstverständlich nicht, dass Jesus der Nächstenliebe Vorrang einräumen oder sie gar von der Gottesliebe trennen möchte. Das Gegenteil ist der Fall, wie sein Gespräch mit dem Gesetzeslehrer beweist: als dieser ihm eine ganz ähnliche Frage wie der reiche Jüngling stellt, sieht er sich von Jesus auf die beiden Gebote der Gottesliebe und der Nächstenliebe verwiesen (vgl. Lk 10, 25-27) und dazu aufgefordert sich zu erinnern, dass nur ihre Befolgung zum ewigen Leben führen kann: "Handle danach, und du wirst leben" (Lk 10, 28). Bezeichnend ist allerdings, dass gerade das zweite dieser Gebote die Neugier und die Frage des Gesetzeslehrers auslöst: "Und wer ist mein Nächster?"(Lk 10, 29). Der Meister antwortet mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, dem Schlüsselgleichnis für das volle Verständnis des Gebotes der Nächstenliebe (vgl. Lk 10, 30-37).

Die beiden Gebote, an denen "das ganze Gesetz hängt samt den Propheten" (Mt 22, 40), sind zutiefst miteinander verbunden und durchdringen sich gegenseitig. Ihre unauflösliche Einheit wird von Christus mit den Worten und mit dem Leben bezeugt: seine Sendung erreicht ihren Höhepunkt in dem Kreuz, das die Erlösung bringt (vgl. Joh 3, 14-15), Zeichen seiner unteilbaren Liebe zum Vater und zur Menschheit (vgl. Joh 13, 1).

Sowohl das Alte wie das Neue Testament bringen sehr klar zum Ausdruck, dass ohne die Nächstenliebe, die sich in der Einhaltung der Gebote konkretisiert, die echte Gottesliebe nicht möglich ist. Mit außerordentlicher Wortgewalt schreibt der hl. Johannes: "Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder haßt, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht" (1 Joh 4, 20). Der Evangelist pflichtet der moralischen Verkündigung Christi bei, die in dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10, 30-37) und in der "Rede" vom Weltgericht auf bewundernswerte und unmißverständliche Weise Ausdruck findet (vgl. Mt 25, 31-46).

15 In der "Bergpredigt", die gleichsam die Magna Charta der Moral des Evangeliums<ref>Vgl. Hl. Augustinus, De Sermone Domini in Monte, I, 1, 1: CCL 35, 1-2. </ref> darstellt, sagt Jesus: "Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen" (Mt 5, 17). Christus ist die Schlüsselfigur der Heiligen Schrift: "Ihr erforscht die Schriften: gerade sie legen Zeugnis über mich ab" (vgl. Joh 5, 39); er ist der Mittelpunkt des Heilsplanes, die Zusammenfassung des Alten und des Neuen Testamentes, der Verheißungen des Gesetzes und ihrer Erfüllung im Evangelium; er ist die lebendige und ewige Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen Bund. In seinem Kommentar zur Feststellung des Paulus, "Christus ist das Ende des Gesetzes" (Röm 10, 4), schreibt der hl. Ambrosius: "Ende nicht als Wegfall, sondern als Fülle des Gesetzes: dieses erfüllt sich in Christus (plenitudo legis in Christo est) von dem Augenblick an, wo er gekommen ist, nicht das Gesetz aufzulösen, sondern es zu Ende zu führen, es zu erfüllen. Ebenso wie es ein Altes Testament gibt, aber alle Wahrheit im Neuen Testament ist, so geschieht es auch mit dem Gesetz: jenes Gesetz, das durch Mose gegeben worden ist, ist Sinnbild des wahren Gesetzes. Jenes mosaische Gesetz ist also Nachbildung der Wahrheit".<ref> In Psalmum CXVIII Expositio, sermo 18, 37: PL 15, 1541; vgl. Hl. Chromatius von Aquileia, Tractatus in Mathaeum, XX, I, 1-4: CCL 9/A, 291-292. </ref>

Jesus führt die Gebote Gottes, insbesondere das Gebot der Nächstenliebe, dadurch ihrer Erfüllung zu, dass er ihre Forderungen verinnerlicht und ihren Anforderungen größere Radikalität verleiht: Die Liebe zum Nächsten entspringt einem Herzen, das liebt und das eben deshalb, weil es liebt, bereit ist, die höchsten Forderungen zu leben. Jesus zeigt, dass die Gebote nicht als eine nicht zu überschreitende Minimalgrenze verstanden werden dürfen, sondern vielmehr als eine Straße, die offen ist für einen sittlichen und geistlichen Weg der Vollkommenheit, deren Seele die Liebe ist (vgl. Kol 3, 14). So wird das Gebot "Du sollst nicht töten" zum Aufruf zu einer fürsorglichen Liebe, die das Leben des Nächsten schützt und fördert; das Gebot, das den Ehebruch verbietet, wird zur Aufforderung zu einem reinen Blick, der imstande ist, die bräutliche Bedeutung des Leibes zu achten: "Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein... Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen" (Mt 5, 21-22. 27-28). Jesus selbst ist die lebendige "Erfüllung" des Gesetzes, da er die Bedeutung des Gesetzes mit der totalen Selbsthingabe lebt: er selbst wird in seinem Geist zum lebendigen und persönlichen Gesetz, das zu seiner Nachfolge einlädt, das die Gnade gewährt, sein Leben und seine Liebe zu teilen, und die Kraft bietet, in Entscheidungen und Taten von ihm Zeugnis zu geben (vgl. Joh 13, 34-35).

"Wenn du vollkommen sein willst" (Mt 19, 21)

16 Die Antwort über die Gebote befriedigt den jungen Mann nicht, der Jesus fragt: "Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir jetzt noch?" (Mt 19, 20). Es ist nicht leicht, mit gutem Gewissen zu sagen: "Alle diese Gebote habe ich befolgt", wenn man nur halbwegs den tatsächlichen Bedeutungsreichtum der im Gesetz Gottes eingeschlossenen Forderungen begreift. Und dennoch, obwohl es ihm möglich ist, eine solche Antwort zu geben, und obwohl er von Kindheit an dem sittlichen Ideal mit Ernsthaftigkeit und Großmut gefolgt ist, weiß der reiche Jüngling, dass er vom Ziel noch weit entfernt ist: vor der Person Jesu wird er gewahr, dass ihm noch etwas fehlt. Auf das Bewußtsein dieses Mangels nimmt Jesus in seiner letzten Antwort Bezug: Indem der gute Meister die Sehnsucht nach einer Fülle, die über die legalistische Auslegung der Gebote hinausgeht, aufgreift, lädt er den jungen Mann ein, den Weg der Vollkommenheit einzuschlagen: "Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach" (Mt 19, 21).

Wie schon der vorhergehende Abschnitt der Antwort Jesu, so muss auch dieser Abschnitt im Zusammenhang der ganzen sittlichen Botschaft des Evangeliums und insbesondere im Zusammenhang der Bergpredigt, der Seligpreisungen (vgl. Mt 5, 3-12) verstanden und interpretiert werden, deren erste ja die Seligpreisung der Armen ist, derer, "die arm sind vor Gott", wie der hl. Matthäus präzisiert (Mt 5, 3), das heißt der Demütigen. In diesem Sinne kann man sagen, auch die Seligpreisungen gehören in den Raum, der von der Antwort geöffnet wird, die Jesus auf die Frage des jungen Mannes gibt: "Was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?". In der Tat verheißt jede Seligpreisung nach einer je besonderen Sicht gerade jenes "Gute", das den Menschen für das ewige Leben öffnet, ja das das ewige Leben selbst ist.

Die Seligpreisungen haben nicht eigentlich konkrete Verhaltensnormen zum Gegenstand, sondern reden von inneren Haltungen und existentiellen Grundeinstellungen und decken sich daher nicht genau mit den Geboten. Andererseits besteht keine Trennung oder Diskrepanz zwischen den Seligpreisungen und den Geboten: beide beziehen sich auf das Gute, auf das ewige Leben. Die Bergpredigt beginnt mit der Verkündigung der Seligpreisungen, enthält aber auch den Bezug auf die Gebote (vgl. Mt 5, 20-48). Gleichzeitig zeigt die Bergpredigt die Öffnung und Ausrichtung der Gebote auf die Perspektive der Vollkommenheit, die zu den Seligpreisungen gehört. Diese sind zunächst Verheißungen, aus denen indirekt auch normative Anweisungen für das sittliche Leben hervorgehen. In ihrer ursprünglichen Tiefe sind sie so etwas wie ein Selbstbildnis Christi und eben deshalb Einladungen zu seiner Nachfolge und zur Lebensgemeinschaft mit ihm.<ref>Vgl. Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1717. </ref>

17 Wir wissen nicht, wie weit der junge Mann des Evangeliums den tiefen und anspruchsvollen Inhalt der ersten Antwort verstanden hat, die ihm von Jesus gegeben wurde: "Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote!"; es ist jedoch gewiss, dass der Eifer, den der junge Mann angesichts der sittlichen Forderungen der Gebote erkennen lässt, den unentbehrlichen Boden darstellt, auf dem das Verlangen nach Vollkommenheit keimen und reifen kann, also nach der Verwirklichung ihres Sinngehaltes in der Nachfolge Christi. Das Gespräch Jesu mit dem jungen Mann hilft uns, die Voraussetzungen für das sittliche Wachstum des zur Vollkommenheit berufenen Menschen zu begreifen: der junge Mann, der alle Gebote befolgt hat, erweist sich als unfähig, aus eigener Kraft den nächsten Schritt zu tun. Um ihn zu tun, bedarf es einer reifen menschlichen Freiheit: "Wenn du willst", und des göttlichen Geschenkes der Gnade: "Komm und folge mir nach".

Die Vollkommenheit erfordert jene Relfe in der Selbsthingabe, zu der die Freiheit des Menschen berufen ist. Jesus weist den jungen Mann auf die Gebote als die erste, unverzichtbare Voraussetzung hin, um das ewige Leben zu erlangen; die Aufgabe all dessen, was der junge Mann besitzt, und die Nachfolge des Herrn nehmen hingegen den Charakter eines Angebots an: "Wenn du... willst". Das Wort Jesu enthüllt die besondere Dynamik des Wachstums der Freiheit zur Reife und bezeugt zugleich die fundamentale Beziehung der Freiheit zum göttlichen Gesetz. Die Freiheit des Menschen und das Gesetz Gottes widersprechen sich nicht, sondern im Gegenteil, sie fordern einander. Der Jünger Christi weiß, dass seine Berufung eine Berufung zur Freiheit ist. "Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder" (Gal 5, 13), verkündet der Apostel Paulus mit Freude und Stolz. Aber sogleich präzisiert er: "Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!" (ebd. ). Die Festigkeit, mit der sich der Apostel dem widersetzt, der seine Rechtfertigung dem Gesetz anvertraut, hat nichts gemein mit der "Befreiung" des Menschen von den Geboten, die im Gegenteil im Dienst der prak tisch geübten Liebe stehen: "Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren! und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Röm 13, 8-9). Nachdem der hl. Augustinus von der Befolgung der Gebote als der ersten unvollkommenen Freiheit gesprochen hat, fährt er fort: "Warum noch nicht vollkommen?, wird mancher fragen. Weil 'ich spüre, dass in meinen Gliedern ein anderes Gesetz im Konflikt mit dem Gesetz meiner Vernunft steht'... Teils Freiheit, teils Knechtschaft: noch nicht vollkommen, noch nicht rein, noch nicht voll ist die Freiheit, weil wir noch nicht in der Ewigkeit sind. Zum Teil bewahren wir die Schwäche und zum Teil haben wir die Freiheit erlangt. Alle unsere Sünden sind bei der Taufe getilgt worden, aber ist etwa die Schwachheit verschwunden, nachdem die Ungerechtigkeit ausgemerzt worden ist? Wäre sie verschwunden, würde man auf Erden ohne Sünde leben. Wer wird das zu behaupten wagen, außer einer, der anmaßend und daher der Barmherzigkeit des Befreiers unwürdig ist?... Da also eine Schwäche in uns geblieben ist, wage ich zu sagen, dass wir in dem Maße, in dem wir Gott dienen, frei sind, während wir in dem Maße, in dem wir dem Gesetz der Sünde folgen, Sklaven sind".<ref>In lohannis Evangelium Tractatus, 41, 10: CCL 36, 363. </ref>

18 Wer "nach dem Fleische" lebt, empfindet das Gesetz Gottes als eine Last, ja als eine Verneinung oder jedenfalls eine Einschränkung der eigenen Freiheit. Wer hingegen von der Liebe beseelt ist und "sich vom Geist leiten lässt" (Gal 5, 16) und den anderen dienen will, findet im Gesetz Gottes den grundlegenden und notwendigen Weg zur praktischen Übung der frei gewählten und gelebten Liebe. Ja, er spürt den inneren Drang - ein echtes und eigenes "Bedürfnis" und nicht etwa einen Zwang -, nicht bei den Minimalforderungen des Gesetzes stehenzubleiben, sondern sie in ihrer "Fülle" zu leben. Es ist ein noch unsicherer und brüchiger Weg, solange wir auf Erden sein werden, der aber ermöglicht wird von der Gnade, die es uns gewährt, die volle Freiheit der Kinder Gottes zu besitzen (vgl. Röm 8, 21) und somit im sittlichen Leben auf die erhabene Berufung zu antworten, "Söhne im Sohn" zu sein.

Diese Berufung zu vollkommener Liebe ist nicht ausgewählten Gruppen vorbehalten. Die Aufforderung: "Geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen", mit der Verheißung: "so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben", betrifft alle, denn sie ist eine grundlegende Erneuerung des Gebotes der Nächstenliebe, wie die folgende Einladung "Komm und folge mir nach" die neue konkrete Form des Gebotes der Gottesliebe ist. Die Gebote und die Einladung Jesu an den reichen Jüngling stehen im Dienst einer einzigen, unteilbaren Liebe, die aus eigenem Antrieb nach Vollkommenheit strebt und deren Maß allein Gott ist: "Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist" (Mt 5, 48). Im Lukasevangelium präzisiert Jesus den Sinn dieser Vollkommenheit weiter: "Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!" (Lk 6, 36).

"Komm und folge mir nach!" (Mt 19, 21)

19 Der Weg und zugleich der Inhalt dieser Vollkommenheit besteht in der Nachfolge Christi, darin, dass man Jesus folgt, nachdem man dem eigenen Besitz und sich selbst entsagt hat. Genauso endet das Gespräch mit dem jungen Mann: "Dann komm und folge mir nach!" (Mt 19, 21). Es ist eine Einladung, deren wunderbare Tiefe von den Jüngern erst nach der Auferstehung Christi voll begriffen werden wird, wenn der Heilige Geist sie in die ganze Wahrheit führen wird (vgl. Joh 16, 13)

Es ist Jesus selbst, der die Initiative ergreift und uns aufruft, ihm zu folgen. Der Ruf richtet sich vor allem an diejenigen, denen er eine besondere Sendung anvertraut, angefangen bei den Zwölfen; aber es erscheint ebenso klar, dass jeder Gläubige dafür disponiert ist, Jünger Christi zu werden (vgl. Apg 6, 1). Darum ist die Nachfolge Christi das wesentliche und ursprüngliche Fundament der christlichen Moral: Wie das Volk Israel Gott folgte, der es durch die Wüste in das verheißene Land führte (vgl. Ex 13, 21), so muss der Jünger Jesus folgen, zu dem der Vater selbst ihn hinlenkt (vgl. Joh 6, 44).

Es handelt sich hier nicht allein darum, auf eine Lehre zu hören und ein Gebot im Gehorsam anzunehmen. Es geht ganz radikal darum, der Person Jesu selbst anzuhängen, sein Leben und sein Schicksal zu teilen durch Teilnahme an seinem freien und liebenden Gehorsam gegenüber dem Vater. Wenn er durch die Antwort des Glaubens dem folgt, der die fleischgewordene Weisheit ist, ist der Jünger Jesu wahrhaftig Jünger Gottes (vgl. Joh 6, 45). Jesus ist in der Tat das Licht der Welt, das Licht des Lebens (vgl. Joh 8, 12); er ist der Hirte, der die Schafe führt und nährt (vgl. Joh 10, 11-16), er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben (vgl. Joh 14, 6), er ist der, der zum Vater führt, so dass wer ihn, den Sohn, sieht, den Vater sieht (vgl. Joh 14, 6-10). Daher heißt den Sohn nachahmen, der "das Ebenbild des unsichtbaren Gottes" ist (Kol 1, 15), den Vater nachahmen.

20 Jesus fordert dazu auf, ihm zu folgen und ihn nachzuahmen auf dem Weg der Liebe, einer Liebe, die sich aus Liebe zu Gott völlig den Brüdern hingibt: "Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe" (Joh 15, 12). Dieses "so wie" verlangt die Nachahmung Jesu, besonders die Nachahmung seiner Liebe, wie sie in der Fußwaschung symbolischen Ausdruck findet: "Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müßt auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe" (Joh 13, 14-15 ) . Das Handeln Jesu und sein Wort, seine Taten und seine Gebote bilden die sittliche Richtschnur für das christliche Leben. Denn diese seine Taten und besonders sein Leiden und Sterben am Kreuz sind die lebendige Offenbarung seiner Liebe zum Vater und zu den Menschen. Genau diese Liebe soll, so verlangt Jesus, von allen, die ihm folgen, nachgeahmt werden. Sie ist das "neue" Gebot: "Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt" (Joh 13, 34-35).

Dieses "so wie" gibt auch das Maß an, mit dem Jesus geliebt hat und mit dem seine Jünger einander lieben sollen. Nachdem er gesagt hat: "Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe", fährt Jesus mit den Worten fort, die auf das Opfergeschenk seines Lebens am Kreuz als Zeugnis seiner Liebe "bis zur Vollendung" (Joh 13, 1 ) hinweisen: "Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt" (Joh 15, 13). Als Jesus den jungen Mann auffordert, ihm auf dem Weg der Vollkommenheit zu folgen, verlangt er von ihm, vollkommen zu sein im Gebot der Liebe, in "seinem" Gebot: sich einzufügen in das Leben seiner Ganzhingabe, die Liebe des "guten" Meisters, die Liebe dessen, der "bis zur Vollendung" geliebt hat, nachzuahmen und nachzuleben. Das ist es, was Jesus von jedem Menschen fordert, der sich in seine Nachfolge begeben will: "Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach" (Mt 16, 24).

21 Nachfolge Christi ist nicht eine äußerliche Nachahmung, denn sie berührt den Menschen in seinem tiefsten Inneren. Jünger Christi zu sein bedeutet ihm gleich geworden zu sein, ihm, der sich zum Knecht gemacht hat bis zur Selbsthingabe am Kreuz (vgl. Phil 2, 5-8). Durch den Glauben wohnt Christus im Herzen des Glaubenden (vgl. Eph 3, 17), und so wird der Jünger seinem Herrn angeglichen und gleichgestaltet. Das ist die Frucht der Gnade, der wirksamen Anwesenheit des Heiligen Geistes in uns.

Durch seine Einverleibung in Christus wird der Christ Glied seines Leibes, der die Kirche ist (vgl. 1 Kor 12, 13. 27). Unter dem Antrieb des Geistes gestaltet die Taufe den Gläubigen auf radikale Weise Christus gleich im österlichen Geheimnis des Todes und der Auferstehung, sie "zieht ihm Christus an" (vgl. Gal 3, 27): "Freuen wir uns und danken wir - ruft der hl. Augustinus an die Getauften gewandt aus -: wir sind nicht nur Christen geworden, sondern Christus (...). Staunt und freut euch: Wir sind Christus geworden!".<ref>Ebd., 21, 8: CCL 36, 216. </ref> Der Sünde gestorben, empfängt der Getaufte das neue Leben (vgl. Röm 6, 3-11): während er durch Gott in Christus Jesus lebt, ist er aufgerufen, nach dem Geist zu wandeln und dessen Früchte im Leben kundzutun (vgl. Gal 5, 16-25). Die Teilnahme an der Eucharistie, dem Sakrament des Neuen Bundes (vgl. 1 Kor 11, 23-29), ist der Höhepunkt der Angleichung an Christus, Quelle des "ewigen Lebens" (vgl. Joh 6, 51-58), Ursprung und Kraft der totalen Selbsthingabe, derer wir nach dem Gebot Jesu - nach dem Zeugnis, das Paulus überliefert hat - in der Eucharistiefeier und im Leben gedenken sollen: "Denn sooft ihr von diesem Brot eßt und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt" (1 Kor 11, 26).

"Für Gott aber ist alles möglich" (Mt 19, 26)

22 Eine bittere Enttäuschung ist der Schluss des Gespräches Jesu mit dem reichen Jüngling: "Als der junge Mann das hörte, ging er traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen" (Mt 19, 22). Nicht nur der reiche Mann, sondern auch die Jünger erschrecken bei dem Aufruf Jesu zur Nachfolge, dessen Forderungen die menschlichen Bestrebungen und Kräfte übersteigen: "Als die Jünger das hörten, erschraken sie sehr und sagten: Wer kann dann noch gerettet werden?" (Mt 19, 25). Aber der Meister verweist auf die Macht Gottes: "Für Menschen ist das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich" (Mt 19, 26).

Im gleichen Kapitel des Matthäusevangeliums (19, 3-10) weist Jesus bei der Interpretation des mosaischen Gesetzes über die Ehe das Recht auf Verstößung der Frau zurück unter Hinweis auf einen im Vergleich zum Gesetz des Mose ursprünglicheren und verbindlicheren "Anfang": den ursprünglichen Plan Gottes mit den Menschen, einen Plan, dem der Mensch nach dem Sündenfall nicht mehr angemessen war: "Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so" (Mt 19, 8). Der Hinweis auf den "Anfang" macht die Jünger bestürzt, und sie kommentieren ihn mit den Worten: "Wenn das die Stellung des Mannes in der Ehe ist, dann ist es nicht gut zu heiraten" (Mt 19, 10). Und Jesus, der sich in besonderer Weise auf das Charisma der Ehelosigkeit "um des Himmelreiches willen" (Mt 19, 12) bezieht, aber eine allgemeine Regel darlegt, verweist auf die neue, überraschende Möglichkeit, die dem Menschen von der Gnade Gottes eröffnet wird: Jesus sagte zu ihnen: "Nicht alle können dieses Wort erfassen, sondern nur die, denen es gegeben ist" (Mt 19, 11).

Die Liebe Christi nachzuahmen und nachzuleben, ist dem Menschen aus eigener Kraft allein nicht möglich. Er wird zu dieser Liebe fähig allein kraft einer Gabe, die er empfangen hat. Wie der Herr Jesus die Liebe von seinem Vater empfängt, so gibt er sie seinerseits aus freien Stücken an die Jünger weiter: "Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe!" (Joh 15, 9). Die Gabe Christi ist sein Geist, dessen erste "Frucht" (vgl. Gal 5, 22) die Liebe ist: "Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist" (Röm 5, 5). Der hl. Augustinus fragt sich: "Ist es die Liebe, die uns die Gebote befolgen lässt, oder ist es die Befolgung der Gebote, die die Liebe entstehen lässt?".<ref>Ebd., 82, 3: CCL 36, 533. </ref> 

23 "Das Gesetz des Geistes und des Lebens in Jesus Christus hat dich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes" (Röm 8, 2). Mit diesen Worten leitet uns der Apostel Paulus an, das Verhältnis zwischen dem (alten) Gesetz und der Gnade (neues Gesetz) in der Perspektive der Heilsgeschichte, die sich in Christus erfüllt hat, zu betrachten. Er erkennt die erzieherische Rolle des Gesetzes an, das dem sündigen Menschen ermöglicht, sein Unvermögen zu ermessen, und ihn dadurch, dass er ihm die Anmaßung der Selbstgenügsamkeit nimmt, für die Anrufung und Annahme des "Lebens im Geiste" öffnet: in diesem neuen Leben ist die Einhaltung der Gebote Gottes möglich. Durch den Glauben an Christus sind wir gerecht geworden (vgl. Röm 3, 28): die "Gerechtigkeit", die das Gesetz fordert, aber keinem zu verleihen vermag, findet jeder Gläubige vom Herrn Jesus bekundet und verliehen. So faßt der hl. Augustinus wiederum auf wunderbare Weise die paulinische Dialektik von Gesetz und Gnade zusammen: "Deswegen ist das Gesetz gegeben worden, damit man die Gnade erbitte; die Gnade wurde gegeben, damit man das Gesetz befolge".<ref>De spiritu et littera, 19, 34: CSEL 60, 187. </ref> Die Liebe und das Leben nach dem Evangelium dürfen nicht zuerst in der Gestalt des Gebots gedacht werden, denn das, was sie verlangen, geht über die Kräfte des Menschen hinaus: sie sind nur möglich als Frucht einer Gabe Gottes, der durch seine Gnade das Herz des Menschen heil und gesund macht und es umgestaltet: "Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit kamen durch Jesus Christus" (Joh 1, 17). Darum ist die Verheißung des ewigen Lebens an die Gabe der Gnade gebunden, und das Geschenk des Geistes, das wir empfangen haben, ist bereits "der erste Anteil unseres Erbes" (Eph 1, 14).

24 So offenbaren sich das Gebot der Liebe und jenes der Vollkommenheit, auf die ersteres hingeordnet ist, in ihrer authentischen Ursprünglichkeit: Es ist eine Möglichkeit, die dem Menschen ausschließlich von der Gnade, von der Gabe Gottes, von seiner Liebe, eröffnet wird. Andererseits bewirkt und trägt das Bewußtsein, in Jesus Christus die Liebe Gottes zu besitzen, die verantwortliche Antwort für eine volle Liebe zu Gott und unter den Brüdern, wie der Apostel Johannes in seinem ersten Brief eindringlich in Erinnerung bringt: "Liebe Brüder, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe... Liebe Brüder, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben... Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat" ( 1 Joh 4, 7-8. 11. 19).

Diese unauflösliche Verbindung zwischen der Gnade des Herrn und der Freiheit des Menschen, zwischen der Gabe und der Aufgabe hat der hl. Augustinus mit schlichten und tiefen Worten zum Ausdruck gebracht, wenn er betet: "Da quod iubes et iube quod vis" (Gib, was Du gebietest, und gebiete, was Du willst).<ref>Confessiones, X, 29, 40: CCL 27, 176; vgl. De gratia et libero arbitrio, XV: PL 44,899. </ref> 

Die Gabe mindert nicht, sondern vermehrt die sittlichen Forderungen der Liebe: "Und das ist sein Gebot: Wir sollen an den Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben und einander lieben, wie es seinem Gebot entspricht" (1 Joh 3, 23). Nur unter der Bedingung, dass man die Gebote hält, kann man, wie Jesus sagt, in der Liebe "bleiben": "Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe" (Joh 15, 10). Der hl. Thomas, der die Sinnspitze der moralischen Botschaft Jesu und der Verkündigung der Apostel erfaßte, konnte in Wiedergabe einer großartigen Zusammenschau der großen Traditionen der Kirchenväter des Ostens und des Westens, insbesondere des hl. Augustinus,<ref>Vgl. De spiritu et littera, 21, 36; 26, 46: CSEL 60, 189-190; 200-201. </ref> schreiben: das Neue Gesetz ist die durch den Glauben an Christus gewährte Gnade des Heiligen Geistes.<ref>Vgl. Summa Theologiae, I-II, q. 106, a. 1 c. und ad 2. </ref> Die äußeren Vorschriften, von denen das Evangelium auch redet, bereiten auf diese Gnade vor oder bringen deren Wirkungen im Leben zum Tragen. Das Neue Gesetz begnügt sich nämlich nicht damit zu sagen, was man tun muss, sondern es verleiht auch die Kraft, "die Wahrheit zu tun" (vgl. Joh 3, 21). Gleichzeitig hat der hl. Johannes Chrysosthomos angemerkt, dass das Neue Gesetz genau da gegeben wurde, als der Heilige Geist vom Himmel herabkam, und dass die Apostel nicht vom Berg herabstiegen "mit Steintafeln in ihren Händen wie Mose; sondern sie kamen und trugen den Heiligen Geist in ihren Herzen..., nachdem sie durch seine Gnade zu einem lebendigen Gesetz, zu einem beseelten Buch geworden waren".<ref>In Matthaeum, hom. I, 1: PG 57, 15. </ref> 

"Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" (Mt 28, 20)

25 Das Gespräch Jesu mit dem reichen Jüngling wird gewissermaßen in jeder Epoche der Geschichte, auch heute, weitergeführt. Die Frage: "Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" bricht im Herzen jedes Menschen auf, und es ist immer und allein Christus, der die volle und entscheidende Antwort anbietet. Der Meister, der die Gebote Gottes lehrt, der zur Nachfolge einlädt und die Gnade für ein neues Leben schenkt, ist immer unter uns gegenwärtig und tätig, gemäß der Verheißung: "Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" (Mt 28, 20). Das gleichzeitige Gegenwärtigsein Christi mit dem Menschen jeder Zeit verwirklicht sich im lebendigen Leib der Kirche. Darum hat der Herr seinen Jüngern den Heiligen Geist verheißen: er würde sie an seine Gebote "erinnern" und sie ihnen verständlich machen (vgl. Joh 14, 26) und würde der Anfang und Quell eines neuen Lebens in der Welt sein (vgl. Joh 3, 5-8; Röm 8, 1-13).

Die von Gott im Alten Bund auferlegten und im Neuen und Ewigen Bund in der Person des menschgewordenen Gottessohnes erfüllten sittlichen Gebote müssen treu bewahrt und in den verschiedenen Kulturen im Laufe der Geschichte immer wieder aktualisiert werden. Die Aufgabe ihrer Interpretation war von Jesus den Aposteln und ihren Nachfolgern mit dem besonderen Beistand des Geistes der Wahrheit übertragen worden: "Wer euch hört, der hört mich" (Lk 10, 16). Mit dem Licht und der Kraft dieses Geistes haben die Apostel den Auftrag erfüllt, das Evangelium zu verkünden und "im Weg" des Herrn zu unterweisen (vgl. Apg 18, 25), indem sie vor allem die Nachfolge und Nachahmung Christi lehren: "Für mich ist Christus das Leben" (Phil 1, 21).

26 In der Moralkatechese der Apostel gibt es neben Ermahnungen und an den kulturellen Kontext gebundenen Weisungen eine ethische Unterweisung mit genauen Verhaltensnormen. Das geht aus ihren Briefen hervor, die vom Heiligen Geist geleitete Interpretation der Gebote des Herrn enthalten, die unter den verschiedenen kulturellen Gegebenheiten gelebt werden sollen (vgl. Röm 12-15; 1 Kor 11-14; Gal 5-6; Eph 4-6; Kol 3-4; 1 Petr und Jak ). Die Apostel, die mit der Verkündigung des Evangeliums beauftragt waren, haben seit den Anfängen der Kirche kraft ihrer pastoralen Verantwortung über die Rechtschaffenheit des Verhaltens der Christen gewacht,<ref>Vgl. Hl. Irenäus, Adversus haereses, IV, 26, 2-5: Sch 100/2, 718-729. </ref> ebenso wie sie über die Reinheit des Glaubens und über die Weitergabe der göttlichen Gaben durch die Sakramente wachten.<ref>Vgl. Hl. Justinus, Apologia, I, 66: PG 6, 427-430. </ref> Die ersten Christen, die sowohl aus dem jüdischen Volk wie aus den anderen Völkern stammten, unterschieden sich von den Heiden nicht nur durch ihren Glauben und ihre Liturgie, sondern auch durch das Zeugnis ihres am Neuen Gesetz inspirierten sittlichen Verhaltens.<ref>Vgl. {{#ifeq: 1. Brief des Petrus | Veritatis splendor (Wortlaut) |{{#if: 1 Petr|1 Petr|1. Brief des Petrus}}|{{#if: 1 Petr |1 Petr|1. Brief des Petrus}}}} 2{{#if:12 ff.|,12 ff.}} Petr%202{{#if:12 ff.|,12 ff.}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Petr%202{{#if:12 ff.|,12 ff.}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}; vgl. Didaché, II, 2: Patres Apostolici, ed. F. X. Funk, I, 6-9; Clemens Alexandrinus, Paedagogus, II, 10: PG 8, 355-364; Tertullian, Apologeticum, IX. 8: CSEL, 69, 24. </ref> Die Kirche ist nämlich zugleich Glaubens- und Lebensgemeinschaft; ihre Norm ist "der Glaube, der in der Liebe wirksam ist" (Gal 5, 6).

Kein Riß darf die Harmonie zwischen Glaube und Leben gefährden: die Einheit der Kirche wird nicht nur von den Christen verletzt, die die Glaubenswahrheiten ablehnen oder verzerren, sondern auch von jenen, die die sittlichen Verpflichtungen verkennen, zu denen sie das Evangelium aufruft (vgl. 1 Kor 5, 9-13). Die Apostel haben jede Trennung zwischen dem Anliegen des Herzens und den Gesten, die es zum Ausdruck bringen und kontrollieren, entschieden abgelehnt (vgl. 1 Joh 2, 3-6). Und seit der apostolischen Zeit haben die Bischöfe der Kirche die Vorgehensweisen derjenigen mit aller Klarheit angezeigt, die mit ihren Lehren oder mit ihrem Verhalten Spaltungen Vorschub leisteten.<ref>Vgl. Hl. Ignatius von Antiochia, Ad Magnesios, VI, 1-2: Patres Apostolici, ed. F. X. Funk, I, 234-235; Hl. Irenäus, Adversus haereses, IV, 33, 1.6.7: Sch 100/2, 802-805; 814-815; 816- 819. </ref> 

27 Die Förderung und Bewahrung des Glaubens und des sittlichen Lebens in der Einheit der Kirche ist die von Jesus den Aposteln anvertraute Aufgabe (vgl. Mt 28, 19-20), die auf das Amt ihrer Nachfolger übergeht. Das alles findet sich in der lebendigen Überlieferung, durch die - wie das II. Vatikanische Konzil lehrt - "die Kirche in Lehre, Leben und Kult alles, was sie selber ist, alles, was sie glaubt durch die Zeiten weiterführt und allen Geschlechtern übermittelt. Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt".<ref>Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 8. </ref> Im Geist empfängt die Kirche die Schrift und gibt sie weiter als Zeugnis für "das Große", das Gott in der Geschichte bewirkt (vgl. Lk 1, 49), durch den Mund der Kirchenväter und -lehrer bekennt sie die Wahrheit des fleischgewordenen Wortes, setzt dessen Gebote und die Liebe im Leben der Heiligen und im Opfer der Märtyrer in die Praxis um, feiert deren Hoffnung in der Liturgie: durch die Überlieferung empfangen die Christen "die lebendige Stimme des Evangeliums"<ref>Vgl. ebd., 8. </ref> als gläubigen Ausdruck der göttlichen Weisheit und des göttlichen Willens.

Innerhalb der Überlieferung entwickelt sich mit dem Beistand des Heiligen Geistes die authentische Interpretation des Gesetzes des Herrn. Der Geist selbst, der am Beginn der Offenbarung der Gebote und der Lehren Jesu steht, gewährleistet, dass sie heiligmäßig bewahrt, getreu dargelegt und im Wechsel der Zeiten und Umstände korrekt angewandt werden. Diese "Aktualisierung" der Gebote ist Zeichen und Frucht eines tieferen Eindringens in die Offenbarung und eines Verstehens neuer historischer und kultureller Situationen im Lichte des Glaubens. Sie kann jedoch nur die bleibende Gültigkeit der Offenbarung bestätigen und sich in den Traditionsstrom der Auslegung einfügen, den die große Lehr- und Lebensüberlieferung der Kirche bildet und dessen Zeugen die Lehre der Kirchenväter, das Leben der Heiligen, die Liturgie der Kirche und das Lehramt sind.

Insbesondere ist - wie das Konzil sagt - "die Aufgabe, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären, nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird".<ref>Ebd., 10. </ref> Auf diese Weise erscheint die Kirche in ihrem Leben und in ihrer Lehre als "die Säule und das Fundament der Wahrheit" (1 Tim 3, 15), auch der Wahrheit über das sittliche Handeln. In der Tat "kommt es der Kirche zu, immer und überall die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern".<ref>Codex des kanonischen Rechtes, can. 747, 2. </ref>

Gerade was die Fragestellungen anbelangt, die für die Diskussion von Fragen der Moral heute kennzeichnend sind und in deren Umfeld sich neue Tendenzen und Theorien entwickelt haben, empfindet es das Lehramt in Treue zu Jesus Christus und in der Kontinuität der Tradition der Kirche als sehr dringende Pflicht, sein eigenes Urteil und seine Lehre anzubieten, um dem Menschen auf seinem Weg zur Wahrheit und zur Freiheit behilflich zu sein.

KAPITEL II: "GLEICHT EUCH NICHT DER DENKWEISE DIESER WELT AN!" (Röm 12, 2)

Die Kirche und die Beurteilung einiger Tendenzen heutiger Moraltheologie verkünden, was der gesunden Lehre entspricht (vgl. Tit 2, 1)

28 Die Betrachtung des Gesprächs zwischen Jesus und dem jungen reichen Mann ermöglicht uns, die wesentlichen Inhalte der Offenbarung des Alten und des Neuen Testamentes im Blick auf das sittliche Handeln zusammenzustellen. Diese sind die Unterordnung des Menschen und seines Tuns gegenüber Gott, dem, der "allein gut ist"; der Zusammenhang zwischen dem sittlich Guten der menschlichen Handlungen und dem ewigen Leben; die Nachfolge Christi, der dem Menschen die Perspektive der vollkommenen Liebe eröffnet; und schließlich die Gabe des Heiligen Geistes als Quelle und Stütze des sittlichen Lebens der "neuen Schöpfung" (vgl. 2 Kor 5, 17).

Die Kirche hat bei ihrer moralischen Reflexion stets die Worte bedacht, die Jesus an den reichen Jüngling gerichtet hat. Die Heilige Schrift bleibt in der Tat die lebendige und fruchtbare Quelle der Sittenlehre der Kirche, woran das II. Vatikanische Konzil erinnert hat: "das Evangelium (ist)... die Quelle jeglicher Heilswahrheit und Sittenlehre".<ref>II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttlichen Offenbarung Dei verbum, 7. </ref> Getreu bewahrte sie, was das Wort Gottes nicht nur im Blick auf die Glaubenswahrheiten, sondern auch was es hinsichtlich des sittlichen Handelns lehrt, das heißt des Handelns, das Gott gefällt (vgl. 1 Thess 4, 1); dadurch erzielt sie eine Weiterentwicklung in der Lehre, analog zu jener im Bereich der Glaubenswahrheiten. Unter dem Beistand des Heiligen Geistes, der sie in die ganze Wahrheit führt (vgl. Joh 16, 13), hat die Kirche nicht aufgehört - und kann sie niemals aufhören -, das "Geheimnis des fleischgewordenen Wortes" zu erforschen, in dem sich ihr "das Geheimnis des Menschen wahrhaft aufklärt".<ref>II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 22. </ref> 

29 Das kirchliche Nachdenken über Moral, das sich immer im Lichte Christi, des "guten Meisters", vollzog, hat sich auch in der besonderen Form der theologischen Wissenschaft, der sogenannten "Moraltheologie", entfaltet, einer Wissenschaft, die die göttliche Offenbarung aufgreift und befragt und zugleich den Anforderungen menschlicher Vernunft entspricht. Die Moraltheologie ist eine Reflexion, die die "Moralität", das heißt das Gute und das Schlechte der menschlichen Handlungen und der Person, die sie vollzieht, zum Inhalt hat, und in diesem Sinne steht sie allen Menschen offen; aber sie ist auch "Theologie", weil sie Anfang und Endziel des sittlichen Handelns in dem erkennt, der "allein gut ist" und der dem Menschen dadurch, dass er sich ihm in Christus hingibt, die Glückseligkeit des göttlichen Lebens anbietet.

Das II. Vatikanische Konzil hat die Wissenschaftler aufgefordert, "besondere Sorge auf die Vervollkommnung der Moraltheologie (zu verwenden), die, reicher genährt aus der Lehre der Schrift, in wissenschaftlicher Darlegung die Erhabenheit der Berufung der Gläubigen in Christus und ihre Verpflichtung, in der Liebe Frucht zu tragen für das Leben der Welt, erhellen soll".<ref>II. Vatikanisches Konzil, Dekret über die Priesterausbildung Optatam totius, 16. </ref> Ebenso hat das Konzil die Theologen eingeladen, "unter Wahrung der der Theologie eigenen Methoden und Erfordernisse nach immer geeigneteren Weisen zu suchen, die Lehre des Glaubens den Menschen ihrer Zeit zu vermitteln. Denn die Glaubenshinterlage selbst, das heißt die Glaubenswahrheiten, darf nicht verwechselt werden mit ihrer Aussageweise, auch wenn diese immer denselben Sinn und Inhalt meint".<ref>II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 62. </ref> Von daher die weitere, sich auf alle Gläubigen erstreckende, besonders an die Theologen gerichtete Aufforderung: "Die Gläubigen sollen also in engster Verbindung mit den anderen Menschen ihrer Zeit leben und sich bemühen, ihre Denk- und Urteilsweisen, die in der Geisteskultur zur Erscheinung kommen, vollkommen zu verstehen".<ref> Ebd. </ref>

Das Bemühen vieler Theologen, die sich von der Ermutigung des Konzils gestärkt fühlten, hat bereits seine Früchte getragen in bemerkenswerten und nützlichen Reflexionen über Glaubenswahrheiten, die es zu glauben und im Leben anzuwenden gilt und die von ihnen in einer dem Empfinden und den Fragen der Menschen unserer Zeit angemesseneren Form dargeboten werden. Die Kirche und insbesondere die Bischöfe, die Jesus Christus vor allem mit dem Dienst der Lehre betraut hat, nehmen dieses Bemühen mit Dankbarkeit an und ermutigen die Theologen zum Weiterarbeiten, das beseelt wird von einer tiefen, echten "Gottesfurcht, die der Anfang der Erkenntnis ist" (vgl. Spr 1, 7).

Zugleich haben sich im Bereich der nachkonziliaren theologischen Diskussionen jedoch manche Interpretationen der christlichen Moral herausgebildet, die mit der "gesunden Lehre" (2 Tim 4, 3) unvereinbar sind. Absicht des Lehramtes der Kirche ist es gewiss nicht, den Gläubigen ein besonderes theologisches und schon gar nicht ein philosophisches System aufzuerlegen; aber um das Wort Gottes "heilig zu bewahren und treu auszulegen",<ref>II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 10. </ref> ist es verpflichtet, die Unvereinbarkeit gewisser Richtungen des theologischen Denkens oder mancher philosophischer Aussagen mit der geoffenbarten Wahrheit kundzutun.<ref>Vgl. I. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben Dei filius, cap. 4: DS 3018. </ref>

30 Wenn ich mich mit dieser Enzyklika an euch, Mitbrüder im Bischofsamt, wende, möchte ich die Prinzipien darlegen, die für die Unterscheidung, was der "gesunden Lehre" widerspricht, erforderlich sind; dazu verweise ich auf jene Elemente der Sittenlehre der Kirche, die heute besonders dem Irrtum, der Zweideutigkeit oder dem Vergessen ausgesetzt zu sein scheinen. Das sind aller Dings jene Elemente, von denen die "Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins (abhängt), die seit eh und je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?".<ref>II. Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, 1. </ref>

Diese und andere Fragen - wie z.B.: Was ist die Freiheit und welcher Art ist ihre Beziehung zu der im Gesetz Gottes enthaltenen Wahrheit? Welche Rolle kommt dem Gewissen bei der Ausformung des sittlichen Charakters des Menschen zu?

Wie kann man in Übereinstimmung mit der Wahrheit über das Gute die Rechte und konkreten Pflichten der menschlichen Person erkennen? - lassen sich in der fundamentalen Frage zusammenfassen, die der junge Mann im Evangelium Jesus stellte:" Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?". Die Kirche, die von Jesus ausgesandt wurde, das Evangelium zu verkündigen und "zu allen Völkern zu gehen... und sie zu lehren, alles zu befolgen", was er ihr geboten hat (vgl. Mt 28, 19-20), schlägt auch heute noch die Antwort des Meisters vor: Diese besitzt ein Licht und eine Kraft, die fähig sind, auch die umstrittensten und kompliziertesten Fragen zu lösen. Dieses Licht und diese Kraft treiben die Kirche dazu an, unablässig nicht nur die dogmatische, sondern auch die moralische Reflexion in einem interdisziplinären Umfeld zu entfalten, wie dies besonders für die neuen Probleme notwendig ist.<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 43-44. </ref>

Genau in diesem Licht und in dieser Kraft vollbringt das Lehramt der Kirche seit jeher sein Werk der Unterscheidung, indem es die Ermahnung des Apostels Paulus an Timotheus annimmt und ihr nachlebt: "Ich beschwöre dich bei Gott und bei Christus Jesus, dem kommenden Richter der Lebenden und der Toten, bei seinem Erscheinen und bei seinem Reich: Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung. Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden. Du aber sei in allem nüchtern, ertrage das Leiden, verkünde das Evangelium, erfülle treu deinen Dienst!" (2 Tim 4, 1-5; vgl. Tit 1. 10. 13-14).

"Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien" (Joh 8, 32)

31 Die umstrittensten und unterschiedlich gelösten menschlichen Probleme in der gegenwärtigen Reflexion über die Moral sind, wenn auch in je verschiedener Weise, mit einem Grundproblem verknüpft: der Freiheit des Menschen.

Ohne Zweifel ist unsere Zeit zu einem besonders lebhaften Gespür für die Freiheit gelangt. "Die Würde der menschlichen Person kommt den Menschen unserer Zeit immer mehr zum Bewußtsein", stellte schon die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae fest.<ref> II. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 1, mit Verweis auf Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris (11. April 1963): AAS 55 (1963), 279; ebd., 265, und auf Pius XII., Radiobotschaft (24. Dezember 1944): AAS 37 (1945), 14. </ref> Daher der Anspruch der Menschen, "dass sie bei ihrem Tun ihr eigenes Urteil und eine verantwortliche Freiheit besitzen und davon Gebrauch machen sollen, nicht unter Zwang, sondern vom Bewußtsein der Pflicht geleitet".<ref>Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 1. </ref> Insbesondere das Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit auf dem Weg zur Wahrheit wird zunehmend als Fundament der Rechte der menschlichen Person, in ihrer Gesamtheit betrachtet, empfunden.<ref>Vgl. Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 17: AAS 71 (1979), 295-300; Ansprache an das 5. Internationale Juristenkolloquium (10. März 1984), 4: Insegnamenti VII, 1 (1984), 656; Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die christliche Freiheit und die Befreiung Libertatis conscientia (22. März 1986), 19: AAS 79 (1987), 561. </ref>

Der geschärfte Sinn für die Würde und Einmaligkeit der menschlichen Person wie auch für die dem Weg des Gewissens gebührende Achtung stellt also sicher eine positive Errungenschaft der modernen Kultur dar. Diese an sich authentische Wahrnehmung hat vielfältige, mehr oder weniger angemessene Ausdrucksformen gefunden, von denen jedoch einige von der Wahrheit über den Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes abweichen und deshalb korrigiert bzw. im Lichte des Glaubens geläutert werden müssen.<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 11. </ref>

32 So ist man in manchen modernen Denkströmungen so weit gegangen, die Freiheit derart zu verherrlichen, dass man sie zu einem Absolutum machte, das die Quelle aller Werte wäre. In diese Richtung bewegen sich Lehren, die jeden Sinn für die Transzendenz verloren haben oder aber ausdrücklich atheistisch sind. Dem Gewissen des einzelnen werden die Vorrechte einer obersten Instanz des sittlichen Urteils zugeschrieben, die kategorisch und unfehlbar über Gut und Böse entscheidet. Zu der Aussage von der Verpflichtung, dem eigenen Gewissen zu folgen, tritt unberechtigterweise jene andere, das moralische Urteil sei allein deshalb wahr, weil es dem Gewissen entspringt. Auf diese Weise ist aber der unabdingbare Wahrheitsanspruch zugunsten von Kriterien wie Aufrichtigkeit, Authentizität, "Übereinstimmung mit sich selbst" abhanden gekommen, so dass man zu einer radikal subjektivistischen Konzeption des sittlichen Urteils gelangt.

Wie man sogleich erkennen kann, gehört zu dieser Entwicklung die Krise um die Wahrheit. Nachdem die Idee von einer für die menschliche Vernunft erkennbaren universalen Wahrheit über das Gute verloren gegangen war, hat sich unvermeidlich auch der Begriff des Gewissens gewandelt; das Gewissen wird nicht mehr in seiner ursprünglichen Wirklichkeit gesehen, das heißt als ein Akt der Einsicht der Person, der es obliegt, die allgemeine Erkenntnis des Guten auf eine bestimmte Situation anzuwenden und so ein Urteil über das richtige zu wählende Verhalten zu fällen; man stellte sich darauf ein, dem Gewissen des Einzelnen das Vorrecht zuzugestehen, die Kriterien für Gut und Böse autonom festzulegen und dementsprechend zu handeln. Diese Sicht ist nichts anderes als eine individualistische Ethik, aufgrund welcher sich jeder mit seiner Wahrheit, die von der Wahrheit der anderen verschieden ist, konfrontiert sieht. In seinen äußersten Konsequenzen mündet der Individualismus in die Verneinung sogar der Idee einer menschlichen Natur.

Diese unterschiedlichen Auffassungen bilden den Ausgangspunkt jener Denkrichtungen, die eine Antinomie zwischen Sittengesetz und Gewissen, zwischen Natur und Freiheit behaupten.

33 Parallel zur Verherrlichung der Freiheit und paradoxerweise im Widerspruch dazu stellt die moderne Kultur dieselbe Freiheit radikal in Frage. Eine Reihe wissenschaftlicher Disziplinen, die unter dem Namen "Humanwissenschaften" zusammengefaßt werden, haben richtigerweise die Aufmerksamkeit auf die psychologischen und gesellschaftlichen Konditionierungen gelenkt, die die Ausübung der menschlichen Freiheit belasten. Die Kenntnis solcher Bedingtheiten und die ihnen geschenkte Aufmerksamkeit sind wichtige Errungenschaften, die in verschiedenen Daseinsbereichen, wie z.B. in der Pädagogik oder in der Rechtsprechung, Anwendung gefunden haben. Aber manche sind in Überschreitung der Schlussfolgerungen, die sich aus diesen Beobachtungen legitimerweise ziehen lassen, so weit gegangen, die Wirklichkeit der menschlichen Freiheit selbst anzuzweifeln oder zu leugnen.

Erwähnt werden müssen auch einige mißbräuchliche Auslegungen der wissenschaftlichen Forschung auf anthropologischem Gebiet. Aufgrund der großen Vielfalt der in der Menschheit vorhandenen Bräuche, Gewohnheiten und Einrichtungen schließt man, wenn auch nicht immer gerade auf die Leugnung universaler menschlicher Werte, so doch zumindest auf eine relativistische Moralauffassung.

34 "Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu erlangen?" Die moralische Frage, auf die Christus antwortet, kann nicht das Problem der Freiheit ausklammern, ja sie stellt es in ihren Mittelpunkt, weil es Moral ohne Freiheit nicht gibt: "Nur frei kann der Mensch sich zum Guten hinwenden".<ref>Ebd., 17. </ref>  Aber welche Freiheit ist gemeint? Vor unseren Zeitgenossen, die die Freiheit "hochschätzen und sie leidenschaftlich erstreben", sie jedoch "oft in verkehrter Weise vertreten, als Berechtigung, alles zu tun, wenn es nur gefällt, auch das Böse", legt das Konzil die "wahre" Freiheit dar: "Die wahre Freiheit aber ist ein erhabenes Kennzeichen des Bildes Gottes im Menschen: Gott wollte nämlich den Menschen 'der Macht der eigenen Entscheidung überlassen' (vgl. Sir 15, 14), so dass er seinen Schöpfer aus eigenem Entscheid suche und frei zur vollen und seligen Vollendung in Einheit mit Gott gelange".<ref>Ebd. </ref> Wenn für den Menschen das Recht besteht, auf seinem Weg der Wahrheitssuche respektiert zu werden, so besteht noch vorher die für jeden schwerwiegende moralische Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen und an der anerkannten Wahrheit festzuhalten.<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 2; vgl. auch Gregor XVI., Enzyklika Mirari vos arbitramur (15. August 1832): Acta Gregorii Papae XVI, I, 169-174; Pius IX., Enzyklika Quanta cura (8. Dezember 1864): Pii IX P.M. Acta, I, 3, 687-700; Leone XIII., Enzyklika Libertas praestantissimum (20. Juni 1888): Leonis XIII P.M. Acta, VIII, Romae 1889, 212-246. </ref> In diesem Sinne behauptete Kardinal J.H. Newman, herausragender Verfechter der Rechte des Gewissens, mit Entschiedenheit: "Das Gewissen hat Rechte, weil es Pflichten hat".<ref>A Letter Addressed to His Grace the Duke of Norfolk: Certain Difficulties Felt by Angli-cans in Catholic Teaching (Uniform Edition: Longman, Green and Company, London, 1868-1881), Bd. 2, S. 250. </ref>

Gewisse Richtungen der heutigen Moraltheologie interpretieren unter dem Einfluß hier in Erinnerung gerufener subjektivistischer und individualistischer Strömungen das Verhältnis der Freiheit zum Sittengesetz, zur menschlichen Natur und zum Gewissen in neuer Weise und schlagen neuartige Kriterien für die sittliche Bewertung von Handlungen vor: es sind dies Tendenzen, die in ihrer Verschiedenheit darin übereinstimmen, die Abhängigkeit der Freiheit von der Wahrheit abzuschwächen oder sogar zu leugnen.

Wollen wir diese Tendenzen einer kritischen Prüfung unterziehen, die geeignet ist, nicht nur zu erkennen, was an ihnen legitim, nützlich und wertvoll ist, sondern zugleich ihre Zweideutigkeiten, Gefahren und Irrtümer aufzuzeigen, dann müssen wir sie im Lichte der grundlegenden Abhängigkeit der Freiheit von der Wahrheit prüfen, eine Abhängigkeit, die ihren klarsten und maßgebendsten Ausdruck in den Worten Christi gefunden hat: "Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien" (Joh 8, 32).

I. Freiheit und Gesetz

„Doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen“ (Gen 2, 17)

35 Im Buch Genesis lesen wir: "Gott der Herr gebot dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn wenn du davon ißt, wirst du sterben" (Gen 2, 16-17).

Mit diesem Bild lehrt uns die Offenbarung, dass die Macht, über Gut und Böse zu entscheiden, nicht dem Menschen, sondern allein Gott zusteht. Gewiß, der Mensch ist von dem Augenblick an frei, in dem er die Gebote Gottes erkennen und aufnehmen kann. Und er ist im Besitz einer sehr weitgehenden Freiheit, denn er darf "von allen Bäumen des Gartens" essen. Aber es ist keine unbegrenzte Freiheit: Sie muss vor dem "Baum der Erkenntnis von Gut und Böse" haltmachen, da sie dazu berufen ist, das Sittengesetz, das Gott dem Menschen gibt, anzunehmen. Tatsächlich findet gerade in dieser Annahme die Freiheit des Menschen ihre wahre und volle Verwirklichung. Gott, der allein gut ist, erkennt genau, was für den Menschen gut ist, und kraft seiner eigenen Liebe legt er ihm dies in den Geboten vor.

Das Gesetz Gottes mindert also die Freiheit des Menschen nicht und noch weniger schaltet es sie aus, im Gegenteil, es garantiert und fördert sie. Ganz anders bilden jedoch manche der heutigen kulturellen Strömungen den Ausgangspunkt zahlreicher Richtungen der Ethik, welche einen mutmaßlichen Konflikt zwischen der Freiheit und dem Gesetz in den Mittelpunkt ihres Denkens stellen. Solcher Art sind die Lehren, die den Einzelnen oder sozialen Gruppen die Fähigkeit und Befugnis zuschreiben, über Gut und Böse zu entscheiden: Die menschliche Freiheit könnte "die Werte schaffen" und würde einen Primat über die Wahrheit besitzen; ja, die Wahrheit würde sogar selbst als eine Schöpfung der Freiheit angesehen. Somit würde diese also eine solche moralische Autonomie beanspruchen, die praktisch ihre absolute Souveränität bedeuten würde.

36 Der moderne Autonomieanspruch hat natürlich seinen Einfluß auch im Bereich der katholischen Moraltheologie ausgeübt. Auch wenn diese sicher nie die menschliche Freiheit dem göttlichen Gesetz entgegensetzen noch das Vorhandensein einer letzten religiösen Grundlage der sittlichen Normen in Frage stellen wollte, wurde sie doch zu einem gründlichen Überdenken der Rolle der Vernunft und des Glaubens bei der Begründung einzelner sittlicher Normen herausgefordert, die sich auf bestimmte "innerweltliche" Verhaltensweisen gegenüber sich selbst, gegenüber den anderen und gegenüber der Sachwelt (Welt der Dinge) beziehen.

Man muss anerkennen, dass am Beginn dieses Bemühens um Neubesinnung einige berechtigte Anliegen stehen, die allerdings zu einem guten Teil zur besten Tradition katholischen Denkens gehören. Vom II. Vatikanischen Konzil gedrängt,<ref>Vgl. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 40 und 43. </ref> wollte man den Dialog mit der modernen Kultur dadurch fördern, dass man den rationalen - und damit universal verständlichen und mitteilbaren - Charakter der dem Bereich des natürlichen Moralgesetzes zugehörigen sittlichen Normen an den Tag legte. <ref>Vgl. Hl. Thomas von Aquin Summa Theologiae, I-II, q. 71, a. 6; siehe auch ad 5um. </ref> Darüber hinaus wollte man den innerlichen Charakter sittlicher Forderungen bekräftigen, die aus dem natürlichen Sittengesetz hervorgehen und sich dem Willen nur kraft ihrer vorhergehenden Anerkennung durch die menschliche Vernunft und, konkret, das persönliche Gewissen als Verpflichtung auferlegen.

Indem jedoch die Abhängigkeit der menschlichen Vernunft von der göttlichen Weisheit und - im gegenwärtigen Zustand der gefallenen Natur - die Notwendigkeit und Tatsächlichkeit der göttlichen Offenbarung für die Kenntnis auch natürlicher sittlicher Wahrheiten<ref>Vgl. Pius XII., Enzyklika Humani generis (12. August 1950): AAS 42 (1950), 561-562. </ref> in Vergessenheit gerieten, sind einige zu der Theorie einer vollständigen Souveränität der Vernunft im Bereich der sittlichen Normen gelangt, die sich auf die richtige Ordnung des Lebens in dieser Welt beziehen: Diese Normen stellten den Bereich einer rein "menschlichen" Moral dar, das heißt, sie wären Ausdruck eines Gesetzes, das der Mensch sich autonom selbst gibt und das seine Quelle ausschließlich in der menschlichen Vernunft hat. Als Urheber dieses Gesetzes könnte keinesfalls Gott angesehen werden, außer in dem Sinne, dass die menschliche Vernunft ihre Gesetzgebungsautonomie aufgrund einer ursprünglichen Gesamtermächtigung Gottes an den Menschen ausübt. Diese angestrebten Überlegungen haben nun dazu geführt, gegen die Heilige Schrift und die feststehende Lehre der Kirche zu leugnen, dass das natürliche Sittengesetz Gott als seinen Urheber hat und dass der Mensch durch seine Vernunft an dem ewigen Gesetz teilhat, dessen Festlegung nicht ihm zusteht.

37 Da man jedoch das sittliche Leben in einem christlichen Rahmen erhalten wollte, wurde von einigen Moraltheologen eine scharfe, der katholischen Lehre widersprechende<ref>Konzil von Trient, Sess. VI, Dekret über die Rechtfertigung Cum hoc tempore, can. 19-21: DS 1569-1571. </ref> Unterscheidung eingeführt zwischen einer sittlichen Ordnung, die menschlichen Ursprungs sei und nur innerweltlichen Wert habe, und einer Heilsordnung, für die nur bestimmte Absichten und innere Haltungen im Hinblick auf Gott und den Nächsten Bedeutung hätten. Folglich gelangte man dahin, das Vorhandensein eines spezifischen und konkreten, universal gültigen und bleibenden sittlichen Gehaltes der göttlichen Offenbarung zu leugnen: Das heute bindende Wort Gottes würde sich darauf beschränken, eine Ermahnung, eine allgemeine "Paränese" anzubieten; sie mit wahrhaft "objektiven", d.h. an die konkrete geschichtliche Situation angepaßten, normativen Bestimmungen aufzufüllen, wäre dann allein Aufgabe der autonomen Vernunft. Eine derart verstandene Autonomie führt natürlich auch dazu, dass eine spezifische Kompetenz der Kirche und ihres Lehramtes hinsichtlich bestimmter, das sogenannte "Humanum" betreffender sittlicher Normen geleugnet wird: Sie gehörten nicht zum eigentlichen Inhalt der Offenbarung und wären, als solche, im Hinblick auf das Heil nicht von Bedeutung. Eine solche Auslegung der Autonomie der menschlichen Vernunft führt, wie jeder sieht, zu Thesen, die mit der katholischen Lehre unvereinbar sind.

In einem solchen Zusammenhang müssen unbedingt die Grundbegriffe der menschlichen Freiheit und des Moralgesetzes sowie ihre tiefen, inneren Beziehungen im Lichte des Wortes Gottes und der lebendigen Überlieferung der Kirche geklärt werden. Nur so wird es möglich sein, den berechtigten Ansprüchen menschlicher Vernünftigkeit dadurch zu entsprechen, dass man die gültigen Elemente einiger Strömungen der heutigen Moraltheologie integriert, ohne das moralische Erbgut der Kirche durch Thesen zu beeinträchtigen, die aus einem falschen Autonomiebegriff herrühren.

Gott wollte den Menschen "der Macht der eigenen Entscheidung überlassen" (Sir 15, 14)

38 Mit den Worten aus dem Buch Jesus Sirach erklärt das II. Vatikanische Konzil die "wahre Freiheit", die ein "erhabenes Kennzeichen des Bildes Gottes" im Menschen ist: "Gott wollte nämlich den Menschen 'der Macht der eigenen Entscheidung überlassen', so dass er seinen Schöpfer aus eigenem Entscheid suche und frei zur vollen und seligen Vollendung in Einheit mit Gott gelange".<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 17. </ref> Diese Worte weisen auf die wunderbare Tiefe der Teilhabe an der göttlichen Herrschaft hin, zu welcher der Mensch berufen ist: Sie deuten an, dass die Herrschaft des Menschen in gewissem Sinne über den Menschen selbst hinausreicht. Das ist ein Gesichtspunkt, der in der theologischen Reflexion über die als eine Art von Königtum ausgelegte menschliche Freiheit stets hervorgehoben wird. So schreibt z.B. der hl. Gregor von Nyssa: "Der Geist offenbart sein Königtum und seine Vortrefflichkeit... darin, dass er herrenlos und frei ist, sich mit seinem Willen autokratisch zu regieren. Wem anders ziemt das als einem König?... So wurde die menschliche Natur, die geschaffen worden ist, Herrin über die anderen Geschöpfe zu sein, durch die Ähnlichkeit mit dem Herrn des Universums zu einem lebendigen Bild bestimmt, das an der Würde und dem Namen des Urbildes teilhat".<ref>Gregor von Nyssa, De hominis opificio, c. 4: PG 44, 135-136. </ref>

Schon das Regieren der Welt stellt für den Menschen eine große und verantwortungsreiche Aufgabe dar, die seine Freiheit im Gehorsam gegenüber dem Schöpfer in Anspruch nimmt: "Bevölkert die Erde und unterwerft sie euch" (Gen 1, 28). Von diesem Gesichtspunkt aus steht dem einzelnen Menschen wie auch der menschlichen Gemeinschaft eine gerechtfertigte Autonomie zu, der die Konzilskonstitution Gaudium et spes besondere Aufmerksamkeit widmet. Es ist dies die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten, was bedeutet, dass "die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen und gestalten muss".<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 36. </ref>

39 Doch nicht nur die Welt, sondern auch der Mensch selbst wurde seiner eigenen Sorge und Verantwortung anvertraut. Gott hat ihn "der Macht der eigenen Entscheidung" überlassen (Sir 15, 14), so dass er seinen Schöpfer suche und aus freien Stücken zur Vollkommenheit gelange. Zur Vollkommenheit gelangen heißt, persönlich in sich diese Vollkommenheit aufbauen. Denn wie der Mensch, wenn er die Welt regiert, sie nach seinem Verstand und Willen gestaltet, so bestätigt, entwickelt und festigt der Mensch in sich selbst die Gottähnlichkeit, wenn er sittlich gute Handlungen vollzieht.

Das Konzil verlangt jedoch Wachsamkeit gegenüber einem falschen Begriff der Autonomie der irdischen Wirklichkeiten, einem solchen nämlich, der meint, dass "die geschaffenen Dinge nicht von Gott abhängen und der Mensch sie ohne Bezug auf den Schöpfer gebrauchen könne".<ref>Ebd. </ref> Was den Menschen betrifft, so führt dann ein solcher Autonomiebegriff zu besonders schädlichen Auswirkungen, und nimmt schlußendlich atheistischen Charakter an: "Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts... überdies wird das Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes unverständlich".<ref>Ebd. </ref>

40 Die Lehre des Konzils unterstreicht einerseits die aktive Rolle der menschlichen Vernunft bei der Auffindung und Anwendung des Sittengesetzes: Das sittliche Leben erfordert die Kreativität und den Einfallsreichtum, die der Person eigen und Quelle und Grund ihres freien und bewußten Handelns sind. Andererseits schöpft die Vernunft ihre Wahrheit und ihre Autorität aus dem ewigen Gesetz, das nichts anderes als die göttliche Weisheit ist.<ref>Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 93, a. 3, ad 2um, zitiert von Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris(11. April 1963): AAS 55 (1963), 271. </ref> Dem sittlichen Leben liegt also das Prinzip einer "richtigen Autonomie"<ref>II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 41. </ref> des Menschen als Person und Subjekt seiner Handlungen zugrunde. Das Sittengesetz kommt von Gott und findet immer in ihm seine Quelle: Aufgrund der natürlichen Vernunft, die aus der göttlichen Weisheit stammt, ist es zugleich das dem Menschen eigene Gesetz. Das Naturgesetz ist nämlich, wie wir gesehen haben, "nichts anderes als das von Gott uns eingegebene Licht des Verstandes. Dank seiner wissen wir, was man tun und was man meiden soll. Dieses Licht und dieses Gesetz hat uns Gott bei der Erschaffung geschenkt".<ref>Hl. Thomas von Aquin, In duo praecepta caritatis et in decem legis praecepta. Prologus: Opuscula theologica, II, n. 1129, Ed. Taurinens. (1954), 245. </ref> Die richtige Autonomie der praktischen Vernunft bedeutet, dass der Mensch ein ihm eigenes, vom Schöpfer empfangenes Gesetz als Eigenbesitz in sich trägt. Doch die Autonomie der Vernunft kann nicht die Erschaffung der Werte und sittlichen Normen durch die Vernunft bedeuten.<ref>Vgl. Ansprache an eine Gruppe von Bischöfen aus den Vereinigten Staaten von Amerika anläßlich ihres "ad limina" Besuches, (15. Okt. 1988), 6: Insegnamenti, XI, 3 (1988), 1228. </ref> Würde eine solche Autonomie die Leugnung der Teilhabe der praktischen Vernunft an der Weisheit des göttlichen Schöpfers und Gesetzgebers einschließen oder einer schöpferischen Freiheit das Wort reden, die je nach den historischen Umständen oder der Verschiedenheit von Gesellschaften und Kulturen sittliche Normen hervorbringt, dann stünde eine solchermaßen bekämpfte Autonomie im Gegensatz zur Lehre der Kirche über die Wahrheit vom Menschen.<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 47. </ref> Sie wäre der Tod der wahren Freiheit: "Doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sollst du nicht essen; denn wenn du davon ißt, wirst du sterben" (Gen 2, 17).

41 Wahre sittliche Autonomie des Menschen bedeutet in der Tat nicht Ablehnung, sondern nur Annahme des Sittengesetzes, des Gebotes Gottes: "Gott der Herr gebot dem Menschen..." (Gen 2, 16). Die Freiheit des Menschen und das Gesetz Gottes begegnen einander und sind aufgerufen, sich im Sinne des freien Gehorsams des Menschen gegenüber Gott und des unverdienten Wohlwollens Gottes gegenüber dem Menschen gegenseitig zu durchdringen. Der Gehorsam Gott gegenüber ist daher nicht, wie manche meinen, eine Heteronomie, so als wäre das moralische Leben dem Willen einer absoluten Allmacht außerhalb des Menschen unterworfen, die der Behauptung seiner Freiheit widerspricht. Wenn Heteronomie der Moral tatsächlich Leugnung der Selbstbestimmung des Menschen oder Auferlegung von Normen bedeutete, die mit seinem Wohl nichts zu tun haben, dann stünde sie im Gegensatz zur Offenbarung des Bundes und der erlösenden Menschwerdung Gottes. Eine solche Heteronomie wäre nur eine Form von Entfremdung, die der göttlichen Weisheit und der Würde der menschlichen Person widerspricht.

Manche sprechen mit Recht von Theonomie oder von partezipater Theonomie, weil der freie Gehorsam des Menschen dem Gesetz Gottes gegenüber in der Tat die Teilhabe der menschlichen Vernunft und des menschlichen Willens an der Weisheit und Vorsehung Gottes einschließt. Wenn Gott dem Menschen verbietet, "vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen", sagt er damit, dass der Mensch diese "Erkenntnis" nicht als ursprünglichen Eigenbesitz in sich trägt, sondern nur durch das Licht der natürlichen Vernunft und der göttlichen Offenbarung, die ihm die Forderungen und Appelle der ewigen Weisheit kundtun, daran teilhat. Das Gesetz muss also Ausdruck der göttlichen Weisheit genannt werden: Indem sich die Freiheit ihm unterwirft, unterwirft sie sich der Wahrheit der Schöpfung. Darum müssen wir in der Freiheit der menschlichen Person das Abbild und die Nähe Gottes anerkennen, der "in allen gegenwärtig ist" (vgl. Eph 4, 6); zugleich müssen wir die Majestät des Gottes des Alls anerkennen und die Heiligkeit des Gesetzes des unendlich transzendenten Gottes verehren. Deus semper maior.<ref>Hl. Augustinus, Enarratio in Psalmum LXII, 16: CCL 39, 804. </ref>

Wohl dem Mann, der Freude hat an der Weisung des Herrn (vgl. Ps 1, 1-2)

42 Die der Freiheit Gottes nachgebildete Freiheit des Menschen wird durch dessen Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes nicht nur nicht verneint, sondern vielmehr bleibt sie erst durch diesen Gehorsam in der Wahrheit und entspricht der Würde des Menschen, wie das Konzil offen schreibt: "Die Würde des Menschen verlangt, dass er in bewußter und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang oder unter bloßem äußerem Zwang. Eine solche Würde erwirbt der Mensch, wenn er sich aus aller Knechtschaft der Leidenschaften befreit und sein Ziel in freier Wahl des Guten verfolgt sowie sich die geeigneten Hilfsmittel wirksam und in angestrengtem Bemühen verschafft".<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 17. </ref>

In seinem Streben nach Gott, dem, der "allein gut ist", muss der Mensch in freier Entscheidung das Gute tun und das Böse meiden. Aber dazu muss der Mensch das Gute vom Bösen unterscheiden können. Und das erfolgt vor allem dank des Lichtes der natürlichen Vernunft, Widerschein des Glanzes von Gottes Angesicht im Menschen. In diesem Sinne schreibt der hl. Thomas, einen Vers des 4. Psalms kommentierend: "Nachdem der Psalmist gesagt hat: Bringt rechte Opfer dar! (Ps 4, 6), als ob ihn Leute nach den Werken der Gerechtigkeit gefragt hätten, fügt er hinzu: Viele sagen: 'Wer macht uns das Gute sehen?'. Und als Antwort auf die Frage sagt er: Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten! Als wollte er sagen, dass das Licht der natürlichen Vernunft, mit der wir das Gute vom Bösen unterscheiden - wofür das Naturgesetz zuständig ist -, nichts anderes als ein Abdruck des göttlichen Lichtes in uns ist". <ref>Summa Theologiae, I-II, q. 91, a. 2. </ref> Daraus folgt auch, warum dieses Gesetz Naturgesetz genannt wird: Es wird so genannt nicht im Blick auf die Natur der vernunftlosen Wesen, sondern weil die Vernunft, die dieses Gesetz erlässt, zur menschlichen Natur gehört.<ref>Vgl. Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1955. </ref>

43 Das II. Vatikanische Konzil erinnert daran, dass "die höchste Norm des menschlichen Lebens das göttliche Gesetz selber ist, das ewige, objektive und universale, durch das Gott nach dem Ratschluß seiner Weisheit und Liebe die ganze Welt und die Wege der Menschengemeinschaft ordnet, leitet und regiert. Gott macht den Menschen seines Gesetzes teilhaftig, so dass der Mensch unter der sanften Führung der göttlichen Vorsehung die unveränderliche Wahrheit mehr und mehr zu erkennen vermag".<ref>Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 3. </ref>

Das Konzil verweist auf die klassische Lehre über das ewige Gesetz Gottes. Der hl. Augustinus definiert es als "die Vernunft oder den Willen Gottes, der gebietet, die natürliche Ordnung zu beachten, und verbietet, sie zu stören";<ref>Contra Faustum, Buch 22, Kap. 27: PL 42, 418. </ref> der hl. Thomas identifiziert es mit dem "Plan der göttlichen Weisheit, die alles auf das gebotene Ziel hin bewegt".<ref>Summa Theologiae, I-II, q. 93, a. 1. </ref> Und die Weisheit Gottes ist Vorsorge, sorgende Liebe. Es ist also Gott selber, der die ganze Schöpfung liebt und im wörtlichsten, grundlegendsten Sinn für sie sorgt (vgl. Weish 7, 22; 8, 11). Aber Gott sorgt für die Menschen anders als für die Wesen, die keine Personen sind: nicht "von außen", durch die Gesetze der physischen Natur, sondern "von innen", durch die Vernunft, die, wenn sie mit Hilfe des natürlichen Lichtes das ewige Gesetz Gottes erkennt, dadurch imstande ist, dem Menschen die rechte Richtung seines freien Handelns zu weisen.<ref>Vgl. ebd., I-II, 90. 4, ad 1um. </ref> Auf diese Weise beruft Gott den Menschen zur Teilhabe an seiner Vorsehung, denn er will die Welt mit Hilfe des Menschen selber, das heißt durch seine vernünftige und verantwortliche Sorge, leiten: nicht nur die Welt der Natur, sondern auch die Welt der menschlichen Personen. In diesem Zusammenhang steht das Naturgesetz, menschlicher Ausdruck des ewigen Gesetzes Gottes: "Im Vergleich zu den anderen Kreaturen - schreibt der hl. Thomas - ist das vernunftbegabte Geschöpf in vortrefflicher Weise der göttlichen Vorsehung unterworfen, weil es seinerseits dadurch an der Vorsehung teilhat, dass es für sich und die anderen vorsieht: darum gibt es bei ihm Teilhabe an der ewigen Vernunft, dank welcher es eine natürliche Neigung zur sittlich gebotenen Handlung und zum gebotenen Ziel hat: Diese Teilhabe des ewigen Gesetzes im vernunftbegabten Geschöpf wird Naturgesetz genannt".<ref>Ebd., I-II, q. 91, a. 2. </ref>

44 Die Kirche hat sich oft auf die thomistische Lehre vom Naturgesetz berufen und sie in ihre Moralverkündigung aufgenommen. So hat mein ehrwürdiger Vorgänger Leo XIII. die wesenhafte Unterordnung der menschlichen Vernunft und des menschlichen Gesetzes unter Gottes Weisheit und Gesetz hervorgehoben. Nachdem er ausgeführt hat, dass "das Naturgesetz in die Herzen der einzelnen Menschen geschrieben und eingemeißelt ist, da es nichts anderes ist als die menschliche Vernunft selber, insofern sie uns gebietet, das Gute zu tun, und uns zu sündigen verbietet", verweist Leo XIII. auf die "höhere Vernunft" des göttlichen Gesetzgebers: "Aber diese Anordnung der menschlichen Vernunft hätte nicht Gesetzeskraft, wenn sie nicht Stimme und Auslegerin einer höheren Vernunft wäre, der sich unser Geist und unsere Freiheit unterwerfen müssen". Die Kraft des Gesetzes beruht in der Tat auf seiner Autorität, Verpflichtungen aufzuerlegen, Rechte zu verleihen und gewisse Verhaltensweisen mit Lohn oder Strafe zu belegen: "Das alles könnte sich im Menschen nicht finden, würde er selbst als oberster Gesetzgeber sich die Norm für seine Handlungen geben". Und er sagt abschließend: "Daraus folgt, dass das Naturgesetz das ewige Gesetz selbst ist, das denen eingepflanzt ist, die die Vernunft gebrauchen, und sie auf das gebührende Tun und Ziel hinlenkt; es ist dies die ewige Vernunft des Schöpfers selbst und des die ganze Welt regierenden Gottes".<ref>Enzyklika Libertas praestantissimum (20. Juni 1888): Leonis XIII P. M. Acta, VIII, Romae 1889, 219. </ref>

Der Mensch kann das Gute und das Böse erkennen dank jener Unterscheidung von Gut und Böse, die er selbst mit Hilfe seiner Vernunft vornimmt, besonders der von der göttlichen Offenbarung und vom Glauben erleuchteten Vernunft, kraft des Gesetzes, das Gott dem auserwählten Volk angefangen von den Geboten vom Sinai geschenkt hat. Israel war dazu berufen, das Gesetz Gottes als besonderes Geschenk und Zeichen der Erwählung und des göttlichen Bundes und zugleich als Gewähr für den Segen Gottes zu empfangen und zu leben. So konnte sich Mose an die Söhne Israels wenden und sie fragen: "Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nah sind, wie Jahwe, unser Gott, uns nah ist, wo immer wir ihn anrufen? Oder welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsnormen, die so sachgemäß sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?" (Dtn 4, 7-8). In den Psalmen begegnen wir den Gefühlen des Lobes, der Dankbarkeit und Verehrung, die das auserwählte Volk gegenüber dem Gesetz Gottes hegen soll, und wir begegnen der Ermahnung, das Gesetz kennenzulernen, darüber nachzudenken und es ins Leben zu übersetzen: "Wohl dem Mann, der nicht dem Rat der Frevler folgt, nicht auf dem Weg der Sünder geht, nicht im Kreis der Spötter sitzt, sondern Freude hat an der Weisung des Herrn, über seine Weisung nachsinnt bei Tag und Nacht" (Ps 1, 1-2). "Die Weisung des Herrn ist vollkommen, sie erquickt den Menschen. Das Gesetz des Herrn ist verläßlich, den Unwissenden macht es weise. Die Befehle des Herrn sind richtig, sie erfreuen das Herz; das Gebot des Herrn ist lauter, es erleuchtet die Augen" (Ps 19, 8-9).

45 Die Kirche empfängt mit Dankbarkeit das Gesamtgut der Offenbarung und hütet es mit Liebe, indem sie es mit religiöser Achtung behandelt und durch die authentische Auslegung des Gesetzes Gottes im Lichte des Evangeliums ihre Sendung erfüllt. Darüber hinaus empfängt die Kirche als Geschenk das neue Gesetz, das die "Vollendung" des Gesetzes Gottes in Jesus Christus und in seinem Geist ist: Es ist ein "innerliches" Gesetz (vgl. Jer 31, 31-33), "geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern - wie auf Tafeln - in Herzen von Fleisch" (2 Kor 3, 3); ein Gesetz der Vollkommenheit und der Freiheit (vgl. 2 Kor 3, 17); es ist "das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus" (Röm 8, 2). Von diesem Gesetz schreibt der hl. Thomas: "Dieses kann in einem doppelten Sinn Gesetz genannt werden. Zum ersten ist Gesetz des Geistes der Heilige Geist..., der, während er in der Seele Wohnung nimmt, nicht nur durch die Erleuchtung des Verstandes hinsichtlich des zu Tuenden belehrt, sondern auch geneigt macht, mit rechter Absicht zu handeln... In einem zweiten Sinn kann das Gesetz des Geistes die eigentliche Wirkung des Heiligen Geistes genannt werden, das heißt der Glaube, der in der Liebe wirksam ist (Gal 5, 6); es belehrt uns also innerlich darüber, was zu tun ist ... und macht uns darin im Herzen geneigt".<ref>In Epistulam ad Romanos, c. VIII, lect. 1. </ref>

Auch wenn es bei der moraltheologischen Reflexion üblich ist, das positive oder geoffenbarte Gesetz Gottes vom Naturgesetz und im Heilsplan das "alte" "Gesetz" vom "neuen" Gesetz zu unterscheiden, darf man nicht vergessen, dass sich diese und andere nützliche Unterscheidungen stets auf das Gesetz beziehen, dessen Urheber ein und derselbe Gott ist, so wie der Empfänger dieses Gesetzes der Mensch ist. Die verschiedenen Weisen, wie Gott sich in der Geschichte der Welt und des Menschen annimmt, schließen nicht nur einander nicht aus, sondern im Gegenteil, sie stützen und durchdringen sich gegenseitig. Sie alle haben ihre Quelle und ihr Endziel in dem weisen und liebevollen ewigen Plan, mit dem Gott die Menschen im voraus dazu bestimmt, "an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben" (Röm 8, 29). In diesem Plan liegt keinerlei Bedrohung für die wahre Freiheit des Menschen; im Gegenteil, die Annahme dieses Planes ist der einzige Weg zur Bejahung der Freiheit.

"Die Forderung des Gesetzes ist ihnen ins Herz geschrieben" (Röm 2, 15)

46 Ein vermutlicher Konflikt zwischen Freiheit und Gesetz stellt sich heute aufs neue mit außergewöhnlicher Wucht im Hinblick auf das Naturgesetz und besonders im Hinblick auf die Natur. In Wirklichkeit haben die Debatten über Natur und Freiheit die Geschichte der moralischen Reflexion immer begleitet; mit Renaissance und Reformation haben sich diese Debatten zugespitzt, wie man aus den Lehren des Konzils von Trient ersehen kann.<ref>Vgl. Sess. VI, Dekr. über die Rechtfertigung Cum hoc tempore, cap. 1: DS 1521. </ref> Von ähnlicher Spannung ist, wenn auch in einem anderen Sinn, die Gegenwart gezeichnet: Die Vorliebe für die empirische Beobachtung, die Verfahren wissenschaftlicher Verobjektivierung, der technische Fortschritt, gewisse Formen von Liberalismus haben die zwei Begriffe einander gegenübergestellt, als wäre die Dialektik - wenn nicht gar der Konflikt - zwischen Freiheit und Natur ein Strukturmerkmal der menschlichen Geschichte. Zu anderen Zeiten schien die "Natur" den Menschen vollständig ihren Dynamismen zu unterwerfen, ja selbst ihn zu determinieren. Heute noch scheinen vielen die räumlich-zeitlichen Koordinaten der sinnlich wahrnehmbaren Welt, die physisch-chemischen Konstanten, die körperlichen und seelischen Triebkräfte und die gesellschaftlichen Zwänge die einzigen wirklich entscheidenden Faktoren der menschlichen Wirklichkeit zu sein. In diesem Zusammenhang werden auch die sittlichen Tatsachen, trotz ihres eigentümlichen Charakters, oft wie statistisch erfaßbare Daten, beobachtbares Verhalten oder nur mit den Kategorien psychisch-sozialer Mechanismen erklärbar behandelt. Und so können manche Ethiker, die von Berufs wegen sich der Untersuchung der Handlungen und Haltungen des Menschen zu widmen haben, versucht sein, ihr Wissen, ja sogar ihre Verordnungen, an einer statistischen Aufarbeitung des konkreten menschlichen Verhaltens und an den Meinungen der Mehrheit in sittlichen Fragen zu messen.

Im Gegensatz dazu behalten andere Moraltheologen, auf Werteerziehung bedacht, eine Sensibilität, die Freiheit in Ehren zu halten, verstehen sie aber oft in Widerspruch oder Gegensatz zur materiellen und biologischen Natur, der gegenüber sie sich Schritt für Schritt zu behaupten hätte. Dabei treffen sich verschiedene Auffassungen darin, dass sie die kreatürliche Dimension der Natur vergessen und in ihrer Integrität verkennen. Für einige ist die Natur nur noch zum Rohmaterial für das menschliche Handeln und Können verkürzt: Sie müßte von der Freiheit von Grund auf umgeformt, ja überwunden werden, da sie Begrenzung und Verneinung der Freiheit darstellte. Für andere entstünden im maßlosen Steigern der Macht des Menschen bzw. der Ausweitung seiner Freiheit die ökonomischen, gesellschaftlichen, kulturellen und auch sittlichen Werte: Natur würde all das bedeuten, was im Menschen und in der Welt außerhalb der Freiheit angesiedelt ist. Diese Natur enthielte an erster Stelle den menschlichen Leib, seine Verfassung und seine Triebkräfte: Im Gegensatz zu dieser physischen Gegebenheit stünde alles "Konstruierte", also die "Kultur" als Werk und Produkt der Freiheit. Die so verstandene menschliche Natur könnte reduziert und wie ein dauernd zur Verfügung stehendes biologisches oder gesellschaftliches Material behandelt werden. Das bedeutet letzten Endes, die Freiheit durch sich selbst zu bestimmen und sie zu einer schöpferischen Instanz ihrer selbst und ihrer Werte zu machen. Auf diese Weise hätte der Mensch letztlich nicht einmal eine Natur; er wäre an und für sich sein eigenes Daseinsprojekt. Der Mensch wäre nichts weiter als seine Freiheit!

47 In diesem Zusammenhang wurde gegen die traditionelle Auffassung vom Naturgesetz der Einwand des Physizismus und Naturalismus erhoben: Diese Auffassung würde als sittliche Gesetze behandeln, was an sich nur biologische Gesetze wären. So hätte man allzu oberflächlich manchen menschlichen Verhaltensweisen einen bleibenden, unveränderlichen Wert zugesprochen und sich angemaßt, auf dieser Grundlage allgemein gültige sittliche Normen zu formulieren. Nach Ansicht mancher Theologen würde eine solche "biologistische oder naturalistische Beweisführung" auch in einigen Dokumenten des Lehramtes der Kirche vertreten, besonders in denen, die den Bereich der Sexualethik und Ehemoral betreffen. Aufgrund einer naturalistischen Auffassung des Sexualaktes wären Empfängnisverhütung, direkte Sterilisierung, Autoerotik, voreheliche Beziehungen, homosexuelle Beziehungen sowie künstliche Befruchtung als sittlich unzulässig verurteilt worden. Doch nach Meinung dieser Theologen berücksichtigt eine moralisch negative Bewertung solcher Handlungsweisen weder den Menschen als vernünftiges und freies Wesen noch die kulturelle Bedingtheit jeder sittlichen Norm auf angemessene Weise. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen könne nicht nur, sondern müsse geradezu frei den Sinn seines Verhaltens selbst bestimmen. Dieses "den Sinn bestimmen" werde natürlich die vielfältigen Grenzen des Menschen in seinem leiblichen und geschichtlichen Daseinszustand berücksichtigen müssen. Es werde außerdem die Verhaltensmodelle und die Bedeutungen, die diese in einer bestimmten Kultur annehmen, zu beachten haben. Und vor allem wird es das grundlegende Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe respektieren. Gott jedoch - so behauptet man dann - hat den Menschen als freies Vernunftwesen geschaffen, er hat ihn "der Macht der eigenen Entscheidung" überlassen und erwartet von ihm eine eigenständige, vernünftige Gestaltung seines Lebens. Die Liebe zum Nächsten würde vor allem und ausschließlich Achtung vor seiner freien Selbstentscheidung bedeuten. Die Mechanismen der dem Menschen eigentümlichen Verhaltensweisen sowie die sogenannten "natürlichen Neigungen" würden - wie es heißt - höchstens eine allgemeine Orientierung für richtiges Verhalten festlegen, sie könnten aber nicht über die sittliche Bewertung der einzelnen, hinsichtlich der jeweiligen Situation sehr komplexen menschlichen Handlungen entscheiden.

48 Angesichts einer solchen Interpretation muss die wahre, zwischen Freiheit und menschlicher Natur bestehende Beziehung aufs neue aufmerksam bedacht werden, insbesondere welchen Platz der menschliche Leib in den auf das Naturgesetz sich beziehenden Fragen einnimmt.

Eine Freiheit, die den Anspruch auf Absolutheit erhebt, behandelt schließlich den menschlichen Leib wie Rohmaterial, bar jeglichen Sinnes und moralischen Wertes, solange die Freiheit es nicht in ihr Projekt eingebracht hat. Die menschliche Natur und der Leib erscheinen folglich als für die Wahlakte der Freiheit materiell notwendige, aber der Person, dem menschlichen Subjekt und der menschlichen Handlung äußerliche Voraussetzungen oder Bedingtheiten. Ihre Dynamismen könnten nicht Bezugspunkte für die sittliche Entscheidung darstellen, da der Endzweck dieser Neigungen nur "physische" Güter wären, von einigen "vorsittliche" Güter genannt. Wer sich auf sie bezöge, um in ihnen nach einer Vernunftorientierung für die sittliche Ordnung zu suchen, müßte des Physizismus oder des Biologismus bezichtigt werden. Unter solchen Voraussetzungen läuft die Spannung zwischen der Freiheit und einer reduktionistisch verstandenen Natur auf eine Spaltung im Menschen selbst hinaus.

Diese moralische Theorie entspricht nicht der Wahrheit über den Menschen und seiner Freiheit. Sie widerspricht den Lehren der Kirche über die Einheit des menschlichen Seins, dessen vernunftbegabte Seele per se et essentialiter Form des Leibes ist.<ref>Konzil von Vienne, Konstitution Fidei catholicae: DS 902; Laterankonzil, Bulle Apostolici regiminis: DS 1440. </ref> Die geistige und unsterbliche Seele ist das einheitsstiftende Prinzip des menschlichen Seins; sie ist es, wodurch dieses - als Person - ein Ganzes - corpore et anima unus<ref>II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 14. </ref> - ist. Diese Definitionen weisen nicht nur darauf hin, dass auch der Leib, dem die Auferstehung verheißen ist, an der Herrlichkeit teilhaben wird; sie erinnern ebenso an die Einbindung von Vernunft und freiem Willen in alle leiblichen und sinnlichen Kräfte. Die menschliche Person ist, einschließlich des Leibes, ganz sich selbst überantwortet und gerade in der Einheit von Seele und Leib ist sie das Subjekt ihrer sittlichen Akte. Durch das Licht der Vernunft und die Unterstützung der Tugend entdeckt die menschliche Person in ihrem Leib die vorwegnehmenden Zeichen, den Ausdruck und das Versprechen der Selbsthingabe in Übereinstimmung mit dem weisen Plan des Schöpfers. Im Lichte der Würde der menschlichen Person - die durch sich selbst bestätigt werden muss - erfaßt die Vernunft den besonderen sittlichen Wert einiger Güter, denen die menschliche Person von Natur her zuneigt. Und da die menschliche Person sich nicht auf ein Projekt der eigenen Freiheit reduzieren lässt, sondern eine bestimmte geistige und leibliche Struktur umfaßt, schließt die ursprüngliche sittliche Forderung, die Person als ein Endziel und niemals als bloßes Mittel zu lieben und zu achten, wesentlich auch die Achtung einiger Grundgüter ein, ohne deren Respektierung man dem Relativismus und der Willkür verfällt.

49 Eine Lehre, welche die sittliche Handlung von den leiblichen Dimensionen ihrer Ausführung trennt, steht im Gegensatz zur Lehre der Heiligen Schrift und der Überlieferung: Eine solche Lehre lässt in neuer Form gewisse alte, von der Kirche stets bekämpfte Irrtümer wiederaufleben, die die menschliche Person auf eine "geistige", rein formale Freiheit reduzieren. Diese Verkürzung verkennt die sittliche Bedeutung des Leibes und der sich auf ihn beziehenden Verhaltensweisen (vgl.1 Kor 6, 19). Der Apostel Paulus erklärt "Unzüchtige, Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe, Habgierige, Trinker, Lästerer und Räuber" für ausgeschlossen vom Gottesreich (vgl. 1 Kor 6, 9-10). Diese Verdammung - die vom Konzil von Trient aufgegriffen wurde<ref>Vgl. Sess. VI, Dekret über die Rechtfertigung Cum hoc tempore, cap. 15: DS 1544. Das nachsynodale Apostolische Schreiben über Versöhnung und Buße in der Sendung der Kirche heute zitiert andere Stellen aus dem Alten und Neuen Testament, die manche an den Leib gebundenen Verhaltensweisen als Todsünden ausweisen: vgl. Reconciliatio et paenitentia (2. Dez. 1984), 17: AAS 77 (1985), 218-223. </ref> - zählt als "Todsünden" oder "infame Praktiken" einige spezifische Verhaltensweisen auf, deren willentliche Annahme die Gläubigen daran hindert, am verheißenen Erbe teilzuhaben. Tatsächlich sind Leib und Seele untrennbar: in der menschlichen Person, im willentlich Handelnden und seinem frei überlegten Tun halten sie sich miteinander oder gehen miteinander unter.

50 Man kann nun die wahre Bedeutung des Naturgesetzes verstehen: Es bezieht sich auf die eigentliche und ursprüngliche Natur des Menschen, auf die "Natur der menschlichen Person",<ref> II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 15. </ref> die die Person selbst in der Einheit von Seele und Leib ist, in der Einheit ihrer sowohl geistigen wie biologischen Neigungen und aller anderen spezifischen Merkmale, die für die Erreichung ihres Endzieles notwendig sind. "Das natürliche Sittengesetz drückt aus und schreibt vor die Zielsetzungen, Rechte und Pflichten, die sich auf die leibliche und geistige Natur der menschlichen Person gründen. Es kann deshalb nicht als bloß biologisch maßgebend verstanden werden, sondern muss als die Vernunftordnung definiert werden, gemäß welcher der Mensch vom Schöpfer dazu berufen ist, sein Leben und seine Handlungen zu lenken und zu regeln und im besonderen von seinem Leib Gebrauch zu machen und über ihn zu verfügen".<ref>Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden Leben und der Würde der Fortpflanzung Donum vitae (22. Februar 1987), Einf. 3: AAS 80 (1988), 74; vgl. Paul VI., Enzyklika Humanae vitae (25. Juli 1968), 10: AAS 60 (1968), 487-488. </ref> Zum Beispiel finden sich Ursprung und Fundament der Verpflichtung, zur absoluten Achtung des menschlichen Lebens in der der menschlichen Person eigenen Würde und nicht bloß in der natürlichen Neigung, sein physisches Leben zu erhalten. So gewinnt das menschliche Leben, das ein fundamentales Gut des Menschen ist, sittliche Bedeutung im Blick auf das Wohl der Person, das stets um seiner selbst willen geltend gemacht werden muss: Während es moralisch immer unerlaubt ist, einen unschuldigen Menschen zu töten, kann es gestattet, lobenswert und sogar geboten sein, aus Nächstenliebe oder als Zeugnis für die Wahrheit das eigene Leben hinzugeben (vgl. Joh 15, 13 ) . In Wirklichkeit kann man nur in bezug auf die menschliche Person in ihrer "geeinten Ganzheit", das heißt "als Seele, die sich im Leib ausdrückt, und als Leib, der von einem unsterblichen Geist durchlebt wird",<ref>Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (22. Nov. 1981), 11: AAS 74 (1982), 92. </ref> die spezifisch menschliche Bedeutung des Leibes erfassen. Tatsächlich gewinnen die natürlichen Neigungen nur insofern sittliche Bedeutung, als sie sich auf die menschliche Person und ihre authentische Verwirklichung beziehen, die andererseits immer und nur im Rahmen der menschlichen Natur zustande kommen kann. Wenn die Kirche Manipulationen der Leiblichkeit, die deren menschliche Bedeutung verfälschen, zurückweist, dient sie dem Menschen und zeigt ihm den Weg der wahren Liebe, auf dem allein er den wahren Gott zu finden vermag.

Das so verstandene Naturgesetz lässt keinen Raum für eine Trennung von Freiheit und Natur: Sie sind tatsächlich harmonisch miteinander verknüpft und sind einander zutiefst verbunden.

"Am Anfang war das nicht so" (Mt 19, 8)

51 Der vermutete Konflikt zwischen Freiheit und Natur wirkt sich auch auf die Interpretation einiger besonderer Aspekte des Naturgesetzes aus, vor allem auf seine Universalität und Unveränderlichkeit. "Wo also sind diese Regeln aufgeschrieben - fragte sich der hl. Augustinus - ... wenn nicht in dem Buch von jenem Licht, das sich Wahrheit nennt? Von da wird also jedes rechte Gesetz diktiert und überträgt sich ins Herz des Menschen, der die Gerechtigkeit wirkt, wobei es ihn nicht wieder verlässt, sondern sich ihm gleichsam einprägt, wie sich das Bild vom Ring in das Wachs einprägt, ohne aber den Ring zu verlassen".<ref>De Trinitate, XIV, 15, 21: CCL 50/A, 451. </ref>

Dank dieser "Wahrheit" schließt das Naturgesetz Universalität ein. Da es eingeschrieben ist in die Vernunftnatur der menschlichen Person, ist es jedem vernunftbegabten und in der Geschichte lebenden Geschöpf auferlegt. Um sich in seiner spezifischen Ordnung zu vervollkommnen, muss der Mensch das Gute tun und das Böse unterlassen, über die Weitergabe und Erhaltung des Lebens wachen, die Reichtümer der sinnenhaften Welt verfeinern und entfalten, das gesellschaftliche Leben pflegen, die Wahrheit suchen, das Gute tun, die Schönheit betrachten.<ref>Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 94, a. 2. </ref>

Der Graben, den einige zwischen der Freiheit der Individuen und der allen gemeinsamen Natur aufgerissen haben, verschleiert die Erfahrung der Universalität des Sittengesetzes durch die Vernunft, wie dies aus manchen philosophischen Theorien, die in der modernen Kultur großen Widerhall gefunden haben, hervorgeht. Insofern aber das Naturgesetz die Würde der menschlichen Person zum Ausdruck bringt und die Grundlage für ihre fundamentalen Rechte und Pflichten legt, ist es in seinen Geboten universal, und seine Autorität erstreckt sich auf alle Menschen. Diese Universalität sieht nicht von der Einzigartigkeit der Menschen ab, noch widerspricht sie der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit jeder einzelnen menschlichen Person: sie umfaßt im Gegenteil grundlegend jede ihrer freien Handlungen, die die Universalität des wahren Guten bezeugen müssen. Indem sie sich dem gemeinsamen Gesetz unterwerfen, bauen unsere Handlungen die wahre Gemeinschaft der Personen auf und verwirklichen mit der Gnade Gottes die Liebe, "das Band, das alles zusammenhält und vollkommen macht" (Kol 3, 14). Wenn sie hingegen das Gesetz verkennen oder, mit oder ohne Schuld, auch nur darüber in Unkenntnis sind, so verletzen unsere Handlungen die Gemeinschaft der Personen zum Schaden jedes einzelnen.

52 Es ist immer und für alle recht und gut, Gott zu dienen, ihm die gebührende Verehrung zu erweisen und die Eltern zu ehren, wie es sich ziemt. Solche positive Gebote, die anordnen, manche Handlungen zu vollbringen und bestimmte Verhaltensweisen zu üben, verpflichten allgemein; sie sind "unveränderlich";<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 10; vgl. Hl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Persona humana (29. Dezember 1975), 4: AAS 68 (1976), 80: "Doch in Wirklichkeit bringen die göttliche Offenbarung und auch, in der ihr eigenen Ordnung, die Weisheit der natürlichen Vernunft, indem sie die echten Bedürfnisse des Menschengeschlechtes berühren, zugleich notwendigerweise die unveränderlichen Gesetze ans Licht, die in den konstitutiven Elementen der menschlichen Natur eingepflanzt sind und die als die gleichen in allen Lebewesen, die vernunftbegabt sind, zum Vorschein kommen". </ref> sie vereinigen in demselben gemeinsamen Gut alle Menschen aller Zeitalter der Geschichte, die für "dieselbe Berufung und dieselbe göttliche Bestimmung"<ref>II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 29. </ref> geschaffen sind. Diese universalen und bleibenden Gesetze entsprechen Erkenntnissen der praktischen Vernunft und werden durch das Gewissensurteil auf die einzelnen Handlungen angewandt. Das handelnde Subjekt eignet sich persönlich die im Gesetz enthaltene Wahrheit an: Durch die Handlungen und die entsprechenden Tugenden macht es sich diese Wahrheit seines Seins zu eigen. Die negativen Gebote des Naturgesetzes sind allgemein gültig: sie verpflichten alle und jeden einzelnen allezeit und unter allen Umständen. Es handelt sich in der Tat um Verbote, die eine bestimmte Handlung semper et pro semper verbieten, ohne Ausnahme, weil die Wahl der entsprechenden Verhaltensweise in keinem Fall mit dem Gutsein des Willens der handelnden Person, mit ihrer Berufung zum Leben mit Gott und zur Gemeinschaft mit dem Nächsten vereinbar ist. Es ist jedem und allezeit verboten, Gebote zu übertreten, die es allen und um jeden Preis zur Pflicht machen, in niemandem und vor allem nicht in sich selbst die persönliche und allen gemeinsame Würde zu verletzen.

Auch wenn nur die negativen Gebote immer und unter allen Umständen verpflichten, heißt das andererseits nicht, dass im sittlichen Leben die Verbote wichtiger wären als das Bemühen, das von den positiven Geboten aufgezeigte Gute zu tun. Der Grund ist vielmehr folgender: Das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe hat in seiner Dynamik keine obere Grenze, wohl aber hat es eine untere Grenze: unterschreitet man diese, verletzt man das Gebot. Zudem hängt das, was man in einer bestimmten Situation tun soll, von den Umständen ab, die sich nicht alle von vornherein schon voraussehen lassen; umgekehrt aber gibt es Verhaltensweisen, die niemals, in keiner Situation, eine angemessene - das heißt, der Würde der Person entsprechende - Lösung sein können. Schließlich ist es immer möglich, dass der Mensch infolge von Zwang oder anderen Umständen daran gehindert wird, bestimmte gute Handlungen zu Ende zu führen; niemals jedoch kann er an der Unterlassung bestimmter Handlungen gehindert werden, vor allem wenn er bereit ist, lieber zu sterben als Böses zu tun.

Die Kirche hat immer gelehrt, dass Verhaltensweisen, die von den im Alten und im Neuen Testament in negativer Form formulierten sittlichen Geboten untersagt werden, nie gewählt werden dürfen. Wie wir gesehen haben, bestätigt Jesus selber die Unumgänglichkeit dieser Verbote: "Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote! ... Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen" (Mt 19, 17-18).

53 Die große Sensibilität des heutigen Menschen für Geschichtlichkeit und Kultur verleitet manche dazu, an der Unveränderlichkeit des Naturgesetzes und damit am Bestehen "objektiver Normen der Sittlichkeit"<ref>Vgl. ebd., 16. </ref> zu zweifeln, die für alle Menschen der Gegenwart und der Zukunft gelten, wie sie bereits für jene der Vergangenheit gegolten haben: Ist es überhaupt möglich, von gewissen vernünftigen Bestimmungen, die einst in der Vergangenheit in Unkenntnis des späteren Fortschritts der Menschheit festgelegt wurden, zu behaupten, sie seien für alle von universaler und immerwährender Geltung?

Es ist nicht zu leugnen, dass sich der Mensch immer und in einer bestimmten Kultur befindet, aber ebenso wenig lässt sich bestreiten, dass sich der Mensch in dieser jeweiligen Kultur auch nicht erschöpft. Im übrigen beweist die Kulturentwicklung selbst, dass es im Menschen etwas gibt, das alle Kulturen transzendiert. Dieses "Etwas" ist eben die Natur des Menschen: Sie gerade ist das Maß der Kultur und die Voraussetzung dafür, dass der Mensch nicht zum Gefangenen irgendeiner seiner Kulturen wird, sondern seine Würde als Person dadurch behauptet, dass er in Übereinstimmung mit der tiefen Wahrheit seines Wesens lebt. Wer die bleibenden konstitutiven Strukturelemente des Menschen, die auch mit seiner leiblichen Dimension zusammenhängen, in Frage stellte, befände sich nicht nur im Konflikt mit der allgemeinen Erfahrung, sondern würde auch die Bezugnahme auf den "Anfang" unverständlich werden lassen, die Jesus eben dort machte, wo die soziale und kulturelle Zeitsituation den ursprünglichen Sinn und die Rolle einiger sittlicher Normen entstellt hatte (vgl. Mt 19, 1-9). In diesem Sinne "bekennt die Kirche, dass allen Wandlungen vieles Unwandelbare zugrunde liegt, was seinen letzten Grund in Christus hat, der derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit".<ref>Ebd., 10. </ref> Er ist der "Anfang", der, nachdem er die menschliche Natur angenommen hat, sie in ihren Grundelementen und in ihrem Dynamismus der Gottes- und der Nächstenliebe endgültig erleuchtet.<ref>Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II, q. 108, a. 1. Der hl. Thomas gründet den nicht bloß formalen, sondern inhaltlich bestimmten Charakter der sittlichen Normen auch im Bereich des Neuen Gesetzes darauf, dass das Wort die menschliche Natur angenommen hat. </ref>

Gewiß muss für die universal und beständig geltenden sittlichen Normen die den verschiedenen kulturellen Verhältnissen angemessenste Formulierung gesucht und gefunden werden, die imstande ist, die geschichtliche Aktualität dieser Normen unablässig zum Ausdruck zu bringen und ihre Wahrheit verständlich zu machen und authentisch auszulegen. Diese Wahrheit des Sittengesetzes entfaltet sich - wie jene des Glaubensgutes ("depositum fidei") - über die Zeiten hinweg: Die Normen, die Ausdruck dieser Wahrheit sind, bleiben im wesentlichen gültig, müssen aber vom Lehramt der Kirche den jeweiligen historischen Umständen entsprechend "eodem sensu eademque sententia"<ref>Hl. Vinzenz von Lerin(um), Commonitorium primum, c. 23: PL 50, 668. </ref> genauer gefaßt und bestimmt werden; die Entscheidung des Lehramtes wird vorbereitet und begleitet durch das Bemühen um Verstehen und um Formulierung, wie es der Vernunft der Gläubigen und der theologischen Reflexion eigen ist.<ref>Die Entwicklung der Sittenlehre der Kirche ist jener der Glaubenslehre ähnlich: vgl. I. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben Dei Filius, cap. 4: DS 3020 und can. 4: DS 3024. Auch für die Sittenlehre gelten die Worte, die Johannes XXIII. bei der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils (11. Oktober 1962) gesprochen hat: "Diese zuverlässige und unwandelbare Lehre (= die christliche Lehre in ihrer ganzen Fülle), die treu zu beachten ist, muss vertieft und so dargeboten werden, dass sie den Erfordernissen unserer Zeit entspricht. In der Tat ist das Glaubensgut (depositum fidei), das heißt, die in unserer ehrwürdigen Lehre enthaltenen Wahrheiten, eine Sache, eine andere aber ist die Form, in der diese Wahrheiten ausgesagt werden, wobei sie allerdings denselben Sinn und dieselbe Bedeutung behalten sollen": AAS 54 (1962), 792; vgl. "L'Osservatore Romano", 12. Oktober 1962, 2. </ref>

[Fortsetzung folgt]

Anmerkungen

<references />