Responsibility to Protect

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Responsibility to Protect ist eine Doktrin in der Politik internationaler Beziehungen, die unter der Maßgabe, Souveränität bedeute in erster Linie die Verantwortung eines Staates für den Schutz seiner Bürger, völkerrechtliche Reformen zugunsten eines mehrstufigen Konzepts für einen humanitären Interventionismus’ vorschlägt, damit die Weltgemeinschaft unter dem Dach der Vereinten Nationen systematischen Vernachlässigungen dieser Verantwortung wirksam begegnen kann.

Der ICISS-Report

Das Gutachten The Responsibility To Protect der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) wurde im Auftrag der kanadischen Regierung in den Jahren 2000 und 2001 erarbeitet. Mitglieder der Kommission waren Gareth Evans und Mohamed Sahnoun als Vorsitzende sowie Gisèle Côté-Harper, Lee Hamilton, Michael Ignatieff, Vladimir Lukin, Klaus Naumann, Cyril Ramaphosa, Fidel Ramos, Cornelio Sommaruga, Eduardo Stein und Ramesh Thakur als einfache Mitglieder. Insgesamt traf sich die Kommission fünf Mal, in Ottawa (05./06.11.2000), in Maputo (11./12.03.2001), in Neu-Delhi (11./12.06.2001), in Wakefield (05.-09.08.2001) und in Brüssel (30.09.2001). Schon an diesen Rahmendaten wird die globale Ausrichtung der Kommission deutlich und ihr Anspruch, für die Weltgemeinschaft zu sprechen und auf die Dilemmata bei der Entscheidung für oder gegen militärische Gewaltanwendung im Rahmen von humanitären Interventionen eine Antwort zu geben. Es adressiert dazu alle Fragen des bellum iustum bzw. des „just war“, nimmt damit die historischen und systematischen Vorgaben auf und entwickelt so ein eng am ethischen Diskurs orientiertes juridisch-politisches Programm.

Gleich zu Beginn des Gutachtens zeigt sich sowohl der Bezug zum aktuellen Schrecken des Terrors, als auch zugleich die abwägend-distanzierte Grundhaltung, die den ganzen Bericht prägt: „This report is about the so-called ,right of humanitarian intervention’: the question of when, if ever, it is appropriate for states to take coercive – and in particular military – action, against another state for the purpose of protecting people at risk in that other state. At least until the horrifying events of 11 September 2001 brought to center stage the international response to terrorism, the issue of intervention for human protection purposes has been seen as one of the most controversial and difficult of all international relations questions.“ (VII). Es folgt eine weitere historische Motivierung und die Konkretisierung der Aufgabenstellung: „With the end of the Cold War, it became a live issue as never before. Many calls for intervention have been made over the last decade – some of them answered and some of them ignored. But there continues to be disagreement as to whether, if there is a right of inter-vention, how and when it should be exercised, and under whose authority.“ (VII). Die Frage lautet also: Sind militärische Interventionen erlaubt, und wenn ja: wann, wie und unter wessen Führung? Damit wird ganz in Kontinuität des traditionellen bellum iustum-Topos vorgegangen, ganz im Sinne dessen, was Thomas von Aquin in seiner Summa Theologica bespricht (II-II, 40, 1), indem zunächst die Frage des ius ad bellum und dann die des ius in bello adressiert wird.

In Anlehnung an die historische recta intentio fasst der Bericht die „right intention“ in folgendem Leitsatz zusammen: „The primary purpose of the intervention, whatever other motives intervening states may have, must be to halt or avert human suffering. Right intention is better assured with multilateral operations, clearly supported by regional opinion and the victims concerned.“ (XII). Problematisch ist der Einschub „whatever other motives intervening states may have”, der auf das realpolitische Phänomen der „mixed motives“ deutet.

Nur für den Fall von „serious and irreparable harm occurring to human beings, or imminently likely to occur“, einhergehend mit „large scale loss of life, actual or apprehended, with genocidal intent or not“ sind militärische Interventionen gerechtfertigt (XII). Entscheidend sind also die hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts des unerwünschten Ereignisses („occurring … or immenently likely to occur“) sowie der Umfang der Schäden („large scale loss of life“).

Eine wichtige Interpretationsfrage betrifft den Begriff „life“. Ist damit die Vernichtung der physischen Existenz gemeint oder die Auslöschung von „Leben in Würde“? Das Gutachten meint das Töten von Menschen. Andere gewaltsame Methoden zur Beendigung eines „Lebens in Würde“ werden nicht berücksichtigt. Dass allerdings die bloße physische Existenz als „Wert“ unter dem absoluten Wert der Menschenwürde steht und mit der Beschränkung auf den Akt des Tötens u. U. die Zahl der Fälle interventionswürdiger Tatbestände unzulässig eingeengt wird, zeigt sich, wenn man nicht die physische Existenz des Menschen das entscheidende Kriterium darstellt, sondern die Unberührtheit seiner personalen leiblich-seelischen Integrität. Akte der „Depersonalisierung“ wie Vergewaltigung, Genitalverstümmelung und Folter stellen in der Tat ebenfalls „lebensverhindernde“ Gewaltakte dar, zumindest im Sinne eines „Lebens in Würde“ – und nur das kann letztlich Schutzgegenstand sein. Doch im ICISS-Gutachten ist mit „loss of life“ ausschließlich das Ende der „physischen Existenz“ gemeint. Es berücksichtigt also nur den Verlust an Menschenleben als interventionsbegründend, nicht die Würdeverletzung als solche und auch nicht die allgemeinen negativen Auswirkungen auf Natur und Kultur.

Auch bei „kultureller Gewalt“ ist das medial entfachte Empörungspotential in Einzelfällen groß genug für eine interventionsfreundliche Grundstimmung in der „westlichen Welt“, wie der Fall der zerstörten Buddha-Statuen in Afghanistan (März 2001) gezeigt hat. Vereinzelt wurden nach der Sprengung des 1500 Jahre alten Weltkulturerbes Forderungen nach einem „zweiten Kosovo“ laut, nachdem zuvor die gegen Menschen, insbesondere Frauen, gerichtete Vernichtungspolitik der Taliban nicht zu vergleichbaren Reaktionen geführt hatte. Die Gefahr von medial initiierten Fehlleitungen bis hin zur „Inflation des guten Willens“ wird von der ICISS erkannt. Daher werden im Gutachten derart hohe Hürden für humanitäre Interventionen aufgestellt.

Liegt allerdings der Tatbestand des „large scale loss of life“ vor, folgt aus dieser „just cause“ die Pflicht zum Eingriff, die sich – gegen geltendes Völkerrecht – über Souveränität (UN-Charta, Art. 1, 2), Nichteinmischung (UN-Charta, Art. 2, 7) und Gewaltverbot (UN-Charta, Art. 2, 4) erhebt: „The principle of non-intervention yields to the international responsibility to protect.“ (XI). Von „responsibility“ (Verantwortung) ist die Rede, nicht etwa von „possibility“ (Möglichkeit). In der Praxis kann daraus nur eine „duty“, eine Pflicht, werden, die eigentlich dem Staat obliegt, in Fällen des Staatsversagens aber auf die Weltgemeinschaft übergeht. Grundsätzlich bleibt also die Zuständigkeit und Verantwortung beim Staat. Erst wenn sich zeigt, dass dieser nicht in der Lage oder nicht willens ist, dieser Verantwortung gerecht zu werden, ist die Weltgemeinschaft am Zug.

Doch wer kann im Auftrag der Weltgemeinschaft diese Pflicht erfüllen? Wer kann unter den Bedingungen dieses Anspruchs heute die Autorität sein, die im weltlichen Bereich keine höhere über sich hat? Wohl nur die Vereinten Nationen. Ihnen allein gebührt im 21. Jahrhundert das Kriegseintrittsrecht. Sie sind die legitima potestas („legitimate authority“), die allein kriegsführungsberechtigt ist. Auch hier kann zur ersten Orientierung auf das Gutachten der ICISS zurückgegriffen werden, das in der Frage nach der zum Krieg rechtmäßig autorisierenden Instanz eindeutig Stellung bezieht: „The UN, whatever arguments may persist about the meaning and scope of various Charter provisions, is unquestionably the principal institution for building, consolidating and using the authority of the international community.“ (48). Konkret bedeutet das: „There is no better or more appropriate body than the United Nations Security Council to authorize military intervention for human protection purposes.“ (XII). Dabei muss es allerdings auch um die globale Anerkennung einer UN-Ethik gehen, insbesondere um die Bereitschaft, die UN-Autorität nicht für eine Durchsetzung illegitimer Interessen zu instrumentalisieren.

Auch unter einem UN-Mandat dürfen Interventionen nur dann in Angriff genommen werden, wenn sie das äußerste Mittel, also die ultima ratio („last resort“) darstellen. Die ICISS schreibt dazu: „Military intervention can only be justified when every non-military option for the prevention or peaceful resolution of the crisis has been explored, with reasonable grounds for believing lesser measures would not have succeeded.“ (XII). Hier wird noch einmal deutlich, das nicht alles zuvor durchexerziert werden muss, sondern die Erfolgsprognostik zum Zeitpunkt der Erwägung entscheidet, ob sich die nicht-militärische, also diplomatische, politische oder wirtschaftliche Möglichkeit zu ergreifen lohnt. Das Handeln in Notsituationen hat nicht endlos Zeit, irgendwann müssen Maßnahmen ergriffen werden. Sind diese militärischer Art, dann tritt für die schwierige Frage des Wie (ius in bello) die Problematik des debitus modus auf. Eine noch so gerechte Begründung wird zur Farce, wenn der Kriegsverlauf Gräuel hervorruft, die selbst das Maß an Menschenrechtsverletzungen übersteigen, das einst die Intervention nötig machte.

Bartolomé de Las Casas sieht diese Gräuel mit eigenen Augen und verweigert der Conquista infolgedessen das Attribut iusta. Wie die Barockscholastiker verlangt auch die ICISS Proportionalität, die sich ausdrückt in „proportional means“ – „The scale, duration and intensity of the planned military intervention should be the minimum necessary to secure the defined human protection objective.“ (XII) – und „reasonable prospects“: „There must be a reasonable chance of success in halting or averting the suffering which has justified the intervention, with the con-sequences of action not likely to be worse than the consequences of inaction.“ (XII).

Die Entscheidung, ob Proportionalität gewährleistet ist, sollte unter Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen geschehen, die vor Ort sind und bei der Beurteilung auf empirische Daten zurückgreifen können, die den Entscheidungsträgern fehlen. Die Einschätzung zu den Opferzahlen ist ebenso wie die Einschätzung zur Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses ein ganz zentraler Entscheidungsparameter und muss damit der besonderen Beachtung durch die Verantwortlichen unterliegen. Insoweit ist es nur konsequent, wenn die Kommission unter ihren „operational principles“ u. a. eine „maximum possible coordination with humanitarian organizations“ (XIII) fordert. Nur so lassen sich Misserfolge wie die Intervention „Restore Hope“ in Somalia (1992) künftig vermeiden.

Die Verantwortung der Weltgemeinschaft ist jedoch in den Augen der ICISS nicht nur eine reaktiv-militärische („responsibility to react“), sondern eine weitergehende. Sie erstreckt sich auf die Prävention („responsibility to prevent“) und den Wiederaufbau nach dem Krieg („responsibility to rebuild“), was eine ganz entscheidende Erweiterung des Konzepts der humanitären Intervention darstellt. Aufbau ist dabei einerseits wörtlich zu verstehen, andererseits bezieht sich die „rebuild“-Verantwortung auf den Wiederaufbau des Vertrauens und des Friedens.

Rezeption und Wirkung

Der ICISS-Report ist nicht nur ein interessanter theoretischer Diskursbeitrag, sondern ein Vorstoß, der praktische Wirkung entfaltete. So erhebt die 2005 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Entschließung (Res. A/60/L.1 v. 20.09.2005) die Idee der „Responsibility to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity“ zur Leitlinie staatlicher Souveränität („Each individual State has the responsibility to protect its populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity.“, Nr. 138) sowie der UN-Politik im Falle von Staatsversagen („The inter-national community, through the United Nations, also has the responsibility to use appropriate diplomatic, humanitarian and other peaceful means, in accordance with Chapters VI and VIII of the Charter of the United Nations, to help protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. In this context, we are prepared to take collective action, in a timely and decisive manner, through the Security Council, in accordance with the Charter, including Chapter VII, on a case-bycase basis and in cooperation with relevant regional organizations as appropriate, should peaceful means be inadequate and national authorities are manifestly failing to protect their populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity.“, Nr. 139), wenn auch wichtige Aspekte des Gutachtens (Verantwortung für Prävention und Wiederaufbau) nicht übernommen wurden.

Ferner hat die Responsibility To Protect danach Eingang gefunden in eine Resolution des Sicherheitsrats über den Schutz von Zivilpersonen im bewaffneten Konflikt (SR Res. 1674 v. 28.04.2006), die zum ersten mal in der Geschichte eine explizite Bezugnahme auf das Konzept der Responsibility To Protect enthält, indem sie „reaffirms the provisions of paragraphs 138 and 139 of the World Summit Outcome Document [also A/60/L.1, J.B.] regarding the responsibility to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity“. Bestätigt wurde diese Tendenz auch in den Resolutionen zu Darfur (SR Res. 1706 v. 31.08.2006, SR Res. 1755 v. 30.04.2007 und SR Res. 1769 v. 31.07.2007). In Resolution 1769 wird die Entsendung von 26.000 Soldaten der Afrikanischen Union in die Krisenregion im Süden Sudans beschlossen (UNAMID), wobei zum einen die Souveränität des Sudan anerkannt, zum anderen aber auf die Resolution A/60/L.1 Bezug genommen wird, die eben diese an Bedingungen knüpft, die dem Tenor des Gutachtens zur Responsibility To Protect entsprechen: Souveränität des Staates bedeutet Verantwortung für die Menschen, die in diesem Staat leben.

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