Libertas praestantissimum (Wortlaut): Unterschied zwischen den Versionen

Aus kathPedia
Zur Navigation springenZur Suche springen
 
Zeile 1: Zeile 1:
An alle Ehrwürdigen Brüder: die Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe und Bischöfe des katholischen Erdkreises, welche in Gnade und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl stehen.
+
<center> [[Enzyklika]]  </center>
 +
{|align="center" cellpadding=5px;
 +
!bgcolor="silver"|'''[[Libertas praestantissimum]]'''
 +
|-----
 +
{|align="center"
 +
<center> unseres [[Papst|Heiligen Vaters]]</center>
 +
<center> [[Leo XIII.]]</center>
 +
<center> an die [[Patriarch|Patriarchen]], [[Primat|Primaten]], [[Erzbischof|Erzbischöfe]], [[Bischof|Bischöfe]] </center>
 +
<center> der katholischen Welt, welche in [[Friede]]n und Gemeinschaft mit dem [[Apostolischer Stuhl|Apostolischen Stuhle]] steben, </center>
 +
'''<center> über die Freiheit und den Irrtum des [[Liberalismus]] </center>'''
 +
<center> [[20. Juni]] [[1888]] </center>
 +
<center> (Lateinischer Text: [[ASS]] XX [1887] 593-613) </center>
  
Papst [[Leo XIII.]]
+
(Quelle: Leo XIII. - Lumen De Caelo. Erweiterte Ausgabe des „Leo XIII. der Lehrer der Welt". Praktische Ausgabe der wichtigsten Rundschreiben Leo XIII. und Pius XI. in deutscher Sprache (in deutschen Buchstaben) Herausgegeben von Carl Ulitzka, Päpstlicher Hausprälat, Authentische deutsche Fassung, Ratibor 1934, S. 96-119. Mit kirchlicher [[Druckerlaubnis]]. Die Nummerierung folgt der englischen Fassung [http://www.vatican.va/holy_father/leo_xiii/encyclicals/documents/hf_l-xiii_enc_20061888_libertas_en.html Die englische Fassung auf der Vatikanseite]
  
Ehrwürdige Brüder! Heilsgruß und Apostolischen Segen!
+
'''Allgemeiner Hinweis:''' ''Die in der Kathpedia veröffentlichen Lehramstexte, dürfen nicht als offizielle Übersetzungen betrachtet werden, selbst wenn die Quellangaben dies vermuten ließen. Nur die Texte auf der Vatikanseite [http://www.vatican.va/holy_father/index_ge.htm] können als offiziell angesehen werden (Schreiben der [[Libreria Editrice Vaticana]] vom 21. Januar 2008).''
  
Die Freiheit ist das vorzüglichste unter den natürlichen Gütern. Sie ist nur solchen Wesen zu eigen, die den Gebrauch von Vernunft und Verstand haben; und sie verleiht dem Menschen eine solche Würde, daß er, seiner eigenen Entscheidung folgend, Herr seiner Handlungen ist. Aber es kommt sehr viel darauf an, in welchem Sinn er diese seine Würde anwendet: denn die Betätigung der Freiheit erzeugt die höchsten Güter, aber auch die größten Übel. Wohl hat der Mensch freie Hand, der Vernunft zu gehorchen, dem sittlich Guten zu folgen und auf geradem Weg nach seinem höchsten Ziel zu streben. Doch ebenso kann er auch nach allen möglichen Richtungen hin abirren, indem er Trugbildern von Gütern nachgeht; er kann die sittliche Ordnung stören und sich freiwillig ins Verderben stürzen.
+
<center> Ehrwürdige Brüder, </center>
 +
<center>Gruß und apostolischen Segen </center>
  
Jesus Christus, der Befreier des Menschengeschlechtes, hat die ursprüngliche Würde unserer Natur wiederhergestellt und vervollkommnet. ER hat auch des Menschen Willen mit Macht gestärkt und ihm durch Seinen Gnadenbeistand hier auf Erden mittels der Hoffnung auf ewige Glückseligkeit im Jenseits die Ausrichtung empor zu noch Besserem gegeben. In gleichem Sinne hat sich die katholische Kirche um dieses herrliche Gut der Freiheit verdient gemacht, und sie wird dies immer tun: denn es ist ihre Aufgabe, die Wohltaten, die uns Jesus Christus gebracht hat, durch alle Zeiten hindurch zu vermitteln.
+
==Einleitung==
  
Nichtsdestoweniger ist die Zahl jener nicht gering, welche die Kirche für eine Feindin der menschlichen Freiheit halten. Der Grund dessen ist ein gewisses unrichtiges und verkehrtes Urteil über die Freiheit selbst. Teils verfälschen sie nämlich deren wahren Begriff, teils weiten sie dieselbe ungebührlich aus: so daß sie sehr vieles in deren Bereich einbeziehen, was, wie schon die gesunde Vernunft lehrt, der Freiheit des Menschen entzogen ist.
+
===Der Mensch besitzt die Gabe der Willensfreiheit===
  
Schon früher, namentlich in Unserem Rundschreiben [[Immortale Dei]], haben Wir über die sogenannten „modernen Freiheiten“ Uns ausgesprochen und das Richtige vom Falschen ausgeschieden. Zugleich haben Wir gezeigt, daß dasjenige, was an diesen Freiheiten Gutes ist, so alt ist wie die Wahrheit selbst: deswegen hat es die Kirche immer höchst bereitwillig gutgeheißen und pflegte es im Leben anzuwenden. Was an „Neuerungen“ hinzukam, das bildet - auf seine Wahrheit hin überprüft - einen gewissen unreinen Bestandteil derselben, welcher seinen Ursprung in stürmischen Zeiten und ungezügelter Lust am Umsturz des Bestehenden hat. - Viele halten aber hartnäckig an folgender Meinung fest: diese Freiheiten seien auch bezüglich dessen, was sie Lasterhaftes enthalten, der höchste Schmuck unserer Zeit; und sie bildeten die notwendige Grundlage, auf der die Staaten ruhen: wo diese Freiheiten fehlen, lasse sich eine vollkommene Regierung des Staatswesens nicht denken. Daher halten Wir es im Hinblick auf den Nutzen für die Öffentlichkeit notwendig, diese Frage besonders zu behandeln.
+
'''1''' Die Freiheit, diese äußerste wertvolle Gabe der Natur, kommt nur dem Wesen zu, welche den Gebrauch der Intelligenz oder Vernunft besitzen. Sie verleiht dem Menschen jene Würde, wodurch er sich selbst in der Hand hat bei seinen Entschlüssen, und so Herr über seine eigenen Handlungen wird. Es kommt aber sehr darauf an, wie man sich dieser Würde bedient, da aus dem Gebrauch der Freiheit die höchsten Güter, aber auch die größten Übel erwachsen. Gewiss steht es in den Menschen Macht, der Vernunft zu gehorchen, das sittlich Gute zu wählen und geraden Wegs sein höchstes Ziel zu verfolgen. Doch kann er auch nach jeder Richtung hin abirren: er kann einem trügerischen Scheingute folgen und so die sittliche Ordnung stören und sich freiwillig ins Verderben stürzen
  
Gehen wir geradewegs auf die Frage nach der sittlichen Freiheit ein, so wie diese sich uns sowohl betreffend die Einzelpersonen wie auch im Staatswesen darstellt.
+
===Christus hat diese Freiheit veredelt===
  
Jedoch dürfte es zweckmäßig sein, einige Bemerkungen über die „natürliche Freiheit“ vorauszuschicken. Denn diese ist trotz ihrer gänzlichen Verschiedenheit von der „sittlichen Freiheit“ doch die Quelle und der notwendige und von Natur gegebene Ausgangspunkt für jedwede Art von Freiheit. Die „natürliche Freiheit“ findet sich nach dem allgemeinen Urteil und der (allen Menschen) gemeinsamen Überzeugung - aus dieser spricht die Stimme der Natur mit höchster Gewißheit - nur bei den mit Verstand und Vernunft begabten Wesen. Gerade in der „natürlichen Freiheit“ liegt offenbar der Grund, warum der Mensch wirklich als Urheber seines Tuns und seiner Handlungen angesehen werden kann. Und dies mit vollem Recht: denn die übrigen Wesen werden nur durch ihre Sinne geleitet, wenn sie auf Antrieb ihrer Natur das suchen, was ihnen nützlich ist, und fliehen, was schädlich ist; der Mensch dagegen folgt in jeder seiner Handlungen der Führung der Vernunft. Die Vernunft stellt aber fest, daß alle Güter dieser Welt und auch jedes einzelne unter ihnen tatsächlich bestehen; daß sie aber ebensogut auch nicht bestehen könnten. Gerade daran erkennt die Vernunft, daß wir keines dieser Güter unausweichlich in Gebrauch nehmen müssen: und so stellt sie es der freien Wahl des Willens anheim, nach Gutdünken auszuwählen und sich zu entscheiden. Über diese sogenannte „Kontingenz“ aller der genannten Güter  kann sich der Mensch darum ein Urteil bilden, weil eine einfache, geistige, des Denkens fähige Seele in ihm wohnt. Weil es sich aber so verhält, darum hat er seinen Ursprung nicht in der Körperwelt, und er hängt in seinem Bestande nicht von dieser ab. Er ist vielmehr unmittelbar von GOTT geschaffen und steht hoch über der Natur, wie sie den Körpern gemeinsam ist: er hat seine ihm eigens zukommende Lebens- und Handlungsweise. Da nun sein Geist die unwandelbaren und notwendigen Begriffe des Wahren und Guten erfaßt, stellt er fest, daß alle jene Einzelgüter keine (in sich) notwendigen Güter sind. So ergibt sich denn aus der Betrachtung der Geistigkeit der Menschenseele, die über der Vergänglichkeit des Körperlichen steht, und der die Kraft zum Denken innewohnt, zugleich die stärkste Grundlage für die natürliche Freiheit.
+
Jesus Christus, der Erlöser des Menschengeschlechtes, der die ursprüngliche Würde der Natur wiederherstellte und vervollkommnete, hat hierdurch den Willen des Menschen selbst außerordentlich gestählt, und durch die Gnadenhilfe hienieden, wie durch die versprochene ewige Seligkeit im Himmel ihn auf nach Höheres hingelenkt. In ähnlicher Weise hat sich die Katholische Kirche um dieses hohe Gut der Natur verdient gemacht und wird stets ihre Verdienste um dasselbe haben, da ihr ja die Aufgabe geworden ist, die uns durch Jesus Christus verliehenen Wohltaten durch alle Zeiten hindurch dem Menschengeschlechte zu vermitteln. Nichtsdestoweniger gibt es viele, welche glauben, die Kirche sei eine Feindin der menschlichen Freiheit. Schuld an dieser Erscheinung ist ein gewisses verkehrtes und falsches Urteil über die Freiheit selbst. Jene fälschen nämlich den richtigen Begriff der Freiheit oder dehnen ihn über Gebühr aus, so dass sie sehr vieles in den Bereich der Freiheit verweisen, worin der Mensch, nach dem Urteil der gesunden Vernunft, nicht frei sein kann.
  
Ebenso wie die Einfachheit, Geistigkeit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele, so hat auch niemand die Freiheit lauter verkündet und standhafter verteidigt als die katholische Kirche: hat sie ja doch jederzeit beides als Glaubenssatz gelehrt und bewahrt es als einen solchen. Und nicht dies allein: sie hat gegenüber den Widersprüchen der Häretiker und gegen jene, welche „neue Meinungen“ hegten, sich als Hort der Freiheit erwiesen, und sie hat dieses derartig hohe Gut so vor dem Untergang gerettet. Mit welchem Eifer sie sich in dieser Beziehung den unsinnigen Bestrebungen der Manichäer und anderer entgegengestellt hat: das beweisen die Geschichtsbücher. Wie angelegentlich und nachdrücklich sie aber in neuerer Zeit sowohl im Konzil von Trient, als auch später gegenüber den Anhängern des Jansenius für die Willensfreiheit des Menschen kämpfte, und wie sie zu keiner Zeit und an keinem Ort den „Fatalismus“ festen Fuß fassen ließ, das ist allgemein bekannt.
+
===Nicht alles an den „modernen“ Freiheiten ist gut===
  
So ist denn, wie gesagt, die Freiheit jenen (Wesen) zu eigen, die mit Vernunft oder Verstand begabt sind. Die Freiheit selbst aber ist, wenn wir ihr Wesen betrachten, nichts anderes als die Fähigkeit, das Zweckdienliche zu wählen: denn wer unter mehreren (Möglichkeiten) eine auszuwählen die Macht hat, der ist Herr seiner Handlungen.
+
'''2''' An anderer Stelle haben Wir,  namentlich in dem Rundschreiben „Immortale Dei“, von den sogenannten modernen Freiheiten gesprochen und das Richtige vom Falschen geschieden; zugleich haben Wir gezeigt, wie das, was an jenen Freiheiten Gutes sich findet, so alt ist wie die Wahrheit selbst, und wie die Kirche dieses zu allen Zeiten freudig anerkannt hat und immer praktisch anzuwenden pflegte. Was Neues hinzukam, bildet, wenn Wir es auf den Wahrheitsgehalt prüfen, einen gewissen verdorbenen Bestandteil, der seinen Ursprung in den wirren Zeitverhältnissen und in einer wahren Sucht nach Neuerungen hat.
  
Der Grund, warum wir irgendeine Sache anstreben, ist das Gute, das nützlich genannt wird (bonum utile). Alles Gute aber regt, seinem inneren Wesen gemäß, das Streben danach an. Darum ist die Freiheit ein dem Willen eigenes Vermögen, oder vielmehr: sie ist der Wille selbst, insofern ihm bei seiner Betätigung das Vermögen der Wahl zukommt. Der Wille wird jedoch keinesfalls angetrieben, wenn nicht die Erkenntnis des Geistes ihm wie eine Fackel voranleuchtet. Das bedeutet: das vom Willen angestrebte Gute ist deshalb mit Notwendigkeit etwas Gutes, weil es von der Vernunft geprüft wurde. Und dies um so mehr, weil bei jedem Willensakt der (durch ihn getroffenen) Wahlentscheidung immer das Urteil vorausgeht: über die wahre Beschaffenheit der (betreffenden) Güter, und welches unter ihnen den übrigen vorzuziehen ist. Urteilen aber, wie jeder Verständige einsieht, ist Sache der Vernunft, und nicht des Willens. Wenn darum die Freiheit dem Willen innewohnt, der seiner Natur nach ein von der Vernunft geleitetes Verlangen ist, so folgt daraus: auch die Freiheit, ebenso wie der Wille, bezieht sich auf das der Vernunft entsprechende Gute. Beide, Vernunft und Wille, sind aber unvollkommen: so kann es denn geschehen, und es geschieht häufig, daß die Vernunft dem Willen nur ein Schein-Gutes vorlegt, welches aber in Wirklichkeit nicht gut ist; und der Wille strebt dieses dann an. Es ist ein Gebrechen, irren zu können und wirklich zu irren: dies ist ein Beweis für die Unvollkommenheit unserer Denkkraft. Das Anstreben eines trügerischen Schein-Guten zeigt die Tatsache der Freiheit des Willens - ähnlich wie Kranksein zeigt, daß wir am Leben sind. Es stellt dieses Anstreben aber einen Fehlgriff der Freiheit dar. Eben weil der Wille von der Vernunft abhängt, so ist es auch ein Mißbrauch des Willens, wenn durch ihn etwas begehrt wird, was der gesunden Vernunft widerspricht. Durch einen solchen Verstoß wird die Freiheit von Grund aus geschändet. -
+
Da jedoch viele hartnäckig an der Meinung festhalten, als seien jene Freiheiten auch in dem, was sie Verdorbenes enthalten, die höchste Zier unseres Jahrhunderts und das notwendige Fundament, auf dem sie Staaten ruhen, in dem Maße, dass ohne sie eine vollkommene Staatsregierung nicht denkbar sei, darum erscheint es Uns mit Rücksicht auf das öffentliche Wohl notwendig, diese Frage besonders zu erörtern.
  
GOTT ist unendlich vollkommen: da ER die höchste Weisheit und Seinem Wesen nach Gut ist, ist ER auch höchst frei; ER kann aus diesem Grund das sittlich Böse (malum culpae) in gar keiner Weise wollen. Ebensowenig können dies die Seligen im Himmel: da sie GOTT, das Höchste Gut, schauen.
+
==Die sittliche Freiheit==
  
Feinsinnig haben darum [[Augustinus]] und andere den [[Pelagianer|Pelagianern]] gegenüber bemerkt: Wenn die Möglichkeit des Abfalls vom Guten naturgemäß wäre und eine Vollkommenheit der Freiheit darstellte - dann wären Gott, Jesus Christus, die Engel und die Seligen, welche alle diese Möglichkeit nicht haben, entweder nicht frei, oder sie wären doch weniger vollkommen als der unvollkommene Mensch hier auf Erden. Diese Sache hat der Engelsgleiche Lehrer oft und vielfach erörtert. Daraus geht mit zwingender Folgerichtigkeit hervor, daß die Fähigkeit zum Sündigen nicht Freiheit ist, sondern Knechtschaft. So bemerkt er sehr scharfsinnig zu den Worten Christi des Herrn: Wer Sünde tut, ist der Sünde Knecht (Joh 8, 34), folgendes: Ein jedes (Ding) ist das, was ihm seiner Natur nach zukommt. Wenn es demnach von etwas Fremdem bewegt wird, so handelt es nicht nach eigenem Antrieb, sondern infolge der Einwirkung eines anderen: das aber ist knechtisch. Der Mensch jedoch ist seiner Natur nach ein Wesen mit Vernunft. Wenn er darum gemäß der Vernunft bewegt wird, so wird er durch eigenen Antrieb bewegt und ist selbständig tätig: das bedeutet Freiheit; wenn der Mensch aber sündigt, so ist er gegen die Vernunft tätig, und er wird dann gewissermaßen von einem anderen bewegt, von Fremdem in Schranken gehalten; und darum: „Wer Sünde tut, ist der Sünde Knecht“ Selbst die Philosophie der Antike hat dies deutlich erkannt - namentlich jene, welche lehrten: nur der Weise könne ein Freier sein. Als Weiser aber galt ihnen bekanntlich einer, der gelernt hatte, standhaft der (menschlichen) Natur gemäß, also ehrbar und tugendhaft zu leben.
+
'''3''' Wir sprachen direkt von der sittlichen Freiheit, wie wir sie wohl bei den Einzelpersonen als auch beim Staatsleben finden. -  
  
Angesichts einer solchen Beschaffenheit der Freiheit im Menschen mußte ihr ein entsprechender Beistand und Schutz zuteil werden, wodurch alle ihre Betätigung zum Guten hin und vom Bösen hinweg gewendet würde. Anders würde die Willensfreiheit dem Menschen sehr zum Schaden gereichen.
+
===Vernunft und Glaube sagen, dass der Mensch die natürliche Willensfreiheit besitzt===
  
Zum ersten war darum notwendig das Gesetz, das heißt eine Regel für das, was zu tun und zu meiden ist. Für die Lebewesen ohne Bewußtsein, welche sich mit zwanghafter Notwendigkeit betätigen, kann es ein Gesetz im eigentlichen Sinne nicht geben, da sie in ihrer gesamten Tätigkeit dem Antrieb der Natur folgen und von sich aus in keiner anderen Weise tätig sein können. Die freien Wesen aber haben gerade darum, weil sie sich der Freiheit erfreuen, von daher die Möglichkeit, zu handeln oder nicht zu handeln, so oder anders zu handeln: sie wählen ihrem Wollen gemäß aus, wobei (dieser Auswählung) jenes oben erwähnte Urteil der Vernunft vorausgegangen ist. Dieses Urteil bestimmt nicht bloß, was seiner Natur nach ehrbar ist, und was schändlich, sondern auch das, was gut ist und zu vollbringen, sowie das, was böse und zu meiden ist. Die Vernunft ist es ja, die es dem Willen vorschreibt, wonach er streben und was er vermeiden soll, damit der Mensch sein höchstes Ziel, um dessentwillen alles getan werden muß, erreichen kann. Diese Ordnung der Vernunft nun nennen wir Gesetz.
+
Zunächst dürfte es doch gut sein, einiges über die natürliche Freiheit vorauszuschicken, da sie, obgleich von der sittlichen Freiheit gänzlich verschieden, doch die ursprüngliche Quelle ist, aus welcher jegliche Art von Freiheit von selbst aus eigener Kraft sich herleitet. Nach dem allgemeinen Urteil und auch der gemeinsamen Überzeugung – welche ganz sicher die Stimme der Natur ist -, findet sich dieselbe nur in den mit Verstand und Vernunft begabten Wesen; in ihr liegt vor allem der Grund, warum der Mensch in Wahrheit der Herr seiner Handlungen genannt werden muss. Mit vollem Recht!  Denn während die anderen Lebewesen nur durch ihre Sinne geleitet werden und instinktmäßig finden, was ihnen nützlich, und fliehen, was ihnen schädlich ist, so bedient  sich der Mensch bei jeder seinen Handlungen der Vernunft als Führerin. Die Vernunft aber erkennt, dass alle Güter dieser Welt, insgesamt oder einzeln genommen, sein und auch nicht sein können; und eben hierdurch sieht sie ein, dass uns keins von allen unbedingt notwendig ist und verleiht damit dem Willen die Macht, frei zu Wählen, was ihm gefällt.
  
Der tiefste Grund, in dem gleichsam das Gesetz wurzelt und wo dessen Notwendigkeit liegt, ist darum in der Willensfreiheit des Menschen selbst zu suchen: es sollen nämlich unsere Willensentschlüsse mit der wahren Vernunft im Einklang bleiben. Nichts ist darum so falsch und verkehrt, als zu denken und zu behaupten: „Weil der Mensch von Natur aus frei ist, darum muß er ohne Gesetz sein“ - denn dies hieße so viel, als zu behaupten: es gehöre notwendig zur Freiheit, keinen Zusammenhang mit der Vernunft zu haben. - In Wirklichkeit ist vielmehr das Gegenteil der Fall: weil der Mensch von Natur aus frei ist, darum muß er dem Gesetz untergeben sein. So leitet das Gesetz den Menschen in seinem Tun; er erhält durch Verheißung von Belohnungen und durch Androhung von Strafen ein Antrieb zum Guten und wird vom Bösen zurückgehalten. Derart beschaffen ist das grundlegendste unter ihnen allen. das natürliche Gesetz. Dieses ist geschrieben und eingeprägt in der Seele jedes einzelnen Menschen: denn es ist nichts anderes als die menschliche Vernunft selbst, die da gebietet, das Richtige zu vollbringen, und die verbietet, verkehrt zu handeln.
+
Über diese sogenannte Kontingenz (Nicht-Notwendigkeit) der genannten Güter steht aber deshalb dem Menschen ein Urteil zu, weil er eine ihrer Natur nach einfache, geistige und des Denkens fähige Seele hat. Dieser Geist steht aber wegen dieser seiner  Beschaffenheit nicht aus der Körperwelt, noch hängt er in seiner Existenz von ihr ab; vielmehr ist er unmittelbar von Gott erschaffen, ist hoch erhaben über den den Körpern eigentümlichen Daseinsform, und hat seine Lebens- und Handlungsweise. Erkennt er vermöge seiner Urteilskraft die unwandelbaren und notwendigen Ideen des Wahren und Guten, so sieht er ein, dass jene Einzelgüter ihm durchaus nicht notwendig sind. Da also der menschliche Geist existiert, ohne mit Körperlichem vermischt zu sein, und er hierdurch die Denkkraft besitzt, so bildet dieses das sicherste Fundament für die natürliche Freiheit.  
  
Diesem Gebot der Vernunft kommt aber nur darum die Kraft eines Gesetzes zu, weil es die Stimme und der Dolmetsch einer höheren Vernunft ist, welcher wir unseren Geist und unsere Freiheit zu unterwerfen haben. Denn da das Gesetz Pflichten auferlegt und Rechte verleiht, beruht seine ganze Bedeutung auf der Autorität, das ist: auf einer begründeten Gewalt, Pflichten zu bestimmen und Rechte zu bezeichnen, und ebenso durch Strafen und Belohnungen das Auferlegte unverbrüchlich zu machen. Das alles aber könnte unter den Menschen offenkundig dann nicht der Fall sein, wenn der Mensch für sich der höchste Gesetzgeber wäre, welcher selbst seinen Handlungen deren Regel vorschreibt. Also folgt daraus, daß das natürliche Gesetz das ewige Gesetz selbst ist, eingewurzelt in den Vernunftwesen: diese werden dadurch hingelenkt zu dem ihnen bestimmten Ziel und dem entsprechenden Tun. Das ewige Gesetz ist die ewige Vernunft des Schöpfers und Lenkers der ganzen Welt: Gottes selbst.
+
'''4''' Wie die Einfachheit, Geistigkeit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele, so verkündet auch niemand lauter die Freiheit und verteidigt sie standhafter als die Katholische Kirche, welche zu jeder Zeit beide Wahrheiten als Dogmen gelehrt hat und noch heute beschützt. Und damit noch nicht genug: die Kirche hat auch gegenüber den Irrlehrern und Neuerungssüchtigen Menschen die Verteidigung der Freiheit übernommen und dadurch dieses so hohe Gut des Menschen vor dem Verderben gerettet. Mit welchem Eifer sie auf diesem Gebiete die unsinnigen Bestrebungen der Manichäer und anderer zurückgewiesen, davon legen die Geschichtsbücher Zeugnis ab; wie mutig und wie siegreich sie auf dem Konzil von Trient und später gegen die Jansenisten für die menschliche Willensfreiheit kämpfte, ist allgemein bekannt; sie duldete zu keiner Zeit und an keinem Orte, dass sich der Fatalismus einnistete.
  
Mit dieser Regel, die unsere Handlungen bestimmt und von der Sünde zurückhält, hat Gottes Güte noch bestimmte besondere Schutzmittel verbunden, die höchst geeignet zur sittlichen Kräftigung des Menschen und zur Leitung seines Willens sind. Das erste und hervorragendste hiervon ist die Kraft der göttlichen Gnade. Diese erleuchtet den Geist, rüstet den Willen mit heilsamer Standhaftigkeit aus und treibt immer zum sittlich Guten an: sie macht ihn dazu besser bereit, und er erlangt eine größere Sicherheit im Gebrauch unserer angeborenen Freiheit. Aus diesem Grund ist es ganz und gar unwahr, daß durch das Einschreiten Gottes unsere Willensakte in verringertem Maß frei seien. Denn: die Macht der göttlichen Gnade erfaßt den Menschen in seinem Innersten und entspricht der Ausrichtung seiner Natur, da sie vom Schöpfer sowohl unserer Seele als auch unserer Freiheit selbst ausgeht, der ein jegliches Ding dessen Natur entsprechend in Tätigkeit versetzt. Wie der Engelgleiche Lehrer bemerkt, hat die Göttliche Gnade gerade deswegen, weil sie von Dem ausgeht, der die Natur gebildet hat, die wunderbare Eigenart und Befähigung, eine jede Natur in ihrem Bestand zu bewahren, sowie die Art und Weise von deren Betätigung, die Kraft und die Wirksamkeit jeder einzelnen unter ihnen zu erhalten.
+
===Das Wesen der Freiheit besteht in dem Vermögen zu wählen===
  
Was Wir nun über die Freiheit der Einzelnen dargelegt haben, das findet unschwer seine Anwendung auf die im gesellschaftlichen Verbundensein lebenden Menschen. Denn was die Vernunft und das natürliche Gesetz für den einzelnen Menschen, das bewirkt in der Gesellschaft das menschliche Gesetz, das zum gemeinsamen Wohl der Bürger erlassen wird. - Einige unter diesen menschlichen Gesetzen beziehen sich auf das, was von Natur aus gut oder böse ist; sie gebieten das eine, verbieten das andere: und dies geschieht unter Hinzufügung der entsprechenden Strafbestimmung. Jedoch haben diese Gesetze ihren letzten Grund keineswegs in der menschlichen Gesellschaft, denn diese Gesellschaft ist nicht der Ursprung der menschlichen Natur. Daher bringt dieselbe weder das der Natur entsprechende Gute hervor, noch das der Natur widersprechende Böse. Gut und Böse sind vielmehr vor der Gesellschaft da; sie gehen völlig vom natürlichen Gesetz aus und sind daher vom ewigen Gesetz herzuleiten.
+
'''5''' Diejenigen besitzen, wie Wir gesagt, also Freiheit, die mit Vernunft und Verstand begabt sind; sie ist, wenn wir ihr Wesen betrachten, nichts anderes als die Fähigkeit, Zweckdienliches zu wählen. Wer nämlich eines unter vielen auswählen kann, der ist Herr seiner Handlungen.
  
Die Gebote des natürlichen Rechtes, welche die menschliche Gesetzgebung in sich aufnimmt, haben darum nicht bloß die Kraft eines menschlichen Gesetzes, sondern vereinigen in sich eine viel höhere und erhabenere Befehlsgewalt, welche ihren Ausgang vom natürlichen Gesetz selbst und vom ewigen Gesetz nimmt. Bezüglich der Gattung der (menschlichen) Gesetze ist es meistens die Aufgabe des staatlichen Gesetzgebers, unter Anwendung öffentlicher fester Grundsätze unter den Bürgern den Gehorsam zu bewirken und die Übeltäter und zu Übertretungen Geneigten in Schranken zu halten, damit diese vom Bösen zurückgehalten und zum Streben nach dem Guten gebracht werden, oder sie wenigstens der bürgerlichen Gesellschaft weder Schaden noch Nachteil zufügen können. Andere Gesetze der staatlichen Gewalt gehen nicht unmittelbar und direkt vom Natur-Recht aus, sondern in weiterer Folgerung und Anwendung desselben. Sie beziehen sich auf verschiedene Gegenstände, für welche durch die Natur-Ordnung nur ganz allgemein Vorsorge getroffen ist. So gebietet die Natur, daß alle Bürger mitwirken zur öffentlichen Ruhe und Wohlfahrt: was sie hierfür zu tun haben, in welcher Weise, über das Worauf ihrer Tätigkeit: dies ist nicht von der Natur festgelegt, sondern wird durch menschliche Weisheit bestimmt.
+
Weil nun alles, was wir zur Erreichung eines Zweckes wählen, ein Gut ist, das wir ein nützliches zu nennen pflegen, da ferner jedes Gut seiner Natur nach das Verlangen erregt, so ist die Freiheit eine Fähigkeit des Willens oder vielmehr der Wille selbst, insofern er, wenn er handelt, zu wählen vermag. Niemals jedoch wird der Wille angeregt, wenn nicht die Erkenntnis des Verstandes gleichsam wie eine Fackel ihm voranleuchtet; ein Gut nämlich, wonach der Wille verlangt, kann nur ein Gut sein, insofern es von dem Verstande als solches erkannt wird. Und dies um so mehr, als bei jedem Willensakt das Urteil sowohl über die Wahrheit der Güter als noch darüber, welches Gut den anderen vorzuziehen ist, immer der Wahl vorausgeht.
  
Diese mit Klugheit erdachte und von der rechtmäßigen Obrigkeit in allen Einzelheiten vorgeschriebene Lebensordnung bildet das menschliche Gesetz im eigentlichen Sinne. Dieses Gesetz gebietet, daß alle Bürger zum Zweck der Erreichung des dem Staat gesetzten Zieles zusammenwirken, und es verbietet, davon abzuweichen. Dadurch, daß es in Übereinstimmung und in dienendem Anschluß an die Vorschriften der Natur steht, führt es zum sittlich Guten und hält von dem ab, was diesem widerstrebt. Hieraus wird verständlich, daß die Norm und Regel für die Freiheit sowohl des Einzelnen wie der gesamten menschlichen Gesellschaft ganz und gar auf dem Ewigen Gesetz Gottes beruht. Für die menschliche Gesellschaft besteht darum die wahre Freiheit nicht darin, daß jeder tut, was ihm beliebt. Dies würde dem Staatswesen die größte Unordnung bringen, es verwirren und zugrunderichten: sondern sie besteht darin, daß die Staatsgesetze uns dabei fördern, ein Leben nach den Geboten des Ewigen Gesetzes führen zu können. Die Freiheit der Regierenden aber besteht nicht darin, daß sie ohne Grund und nach Willkür befehlen können. Das wäre sowohl schändlich, als es auch dem Staatswesen zum größten Verderben gereichen müßte. Vielmehr muß das wahre Wesen der menschlichen Gesetze darin bestehen, daß deren Ursprung aus dem Ewigen Gesetz klar erkennbar ist, und daß durch dieselben nichts verordnet wird, was nicht im Ewigen Gesetz als dem Ausgangspunkt des gesamten Rechtes enthalten ist. Höchst weise sagt darum Augustinus:
+
Urteilen ist aber Sache des Verstandes und nicht des Willens, darüber besteht kein Zweifel. Wenn also die Freiheit eine Fähigkeit des Willens ist, der seinem Wesen nach ein Begehren bedeutet, das der Vernunft gehorcht, so folgt daraus, dass auch die Freiheit, wie der Wille selbst, sich nur erstrecken kann auf ein Gut, das vom Verstande erkannt wird. Beide Vermögen sind aber unvollkommen; es kann mithin geschehen, und es geschieht auch oft, dass der Verstand dem Willen ein Gut vorstellt, das keineswegs ein wahres Gut ist, das vielmehr nur den trügerischen Schein des Guten besitzt, nachdem es alsdann der Wille verlangt.
  
Du erkennst sogleich, wie ich glaube, daß in jenem zeitlichen (Gesetz) alles, was darin gerecht und gesetzmäßig ist, aus dem ewigen Gesetz von den Menschen abgeleitet wurde.
+
===Die Freiheit zu sündigen ist eine Unvollkommenheit===
  
Sollte darum von irgend einer Gewalt eine Bestimmung getroffen werden, die den Gesetzen der gesunden Vernunft widerspräche und dem Gemeinwesen schädlich wäre, so hätte sie keinerlei Gesetzeskraft: denn sie wäre dann keine Richtschnur der Gerechtigkeit, und sie würde die Menschen dem Guten, für das die Gesellschaft da ist, entfremden.
+
'''6''' Sich irren können und sich wirklich irren ist ein Fehler, der die Unvollkommenheit unseres Verstandes beweist; wenn auch das Verlangen nach einem trügerischen und nur scheinbaren Gute ein Beweis unserer Freiheit ist, wie auch krank sein noch ein Beweis des Lebens ist, so ist jenes Verlangen doch ein gewisser Mangel der Freiheit. Dadurch also, dass der Wille vom Verstande abhängig ist, verdirbt er, wenn er etwas der gesunden Vernunft Widersprechendes anstrebt, durch diesen Fehler die Freiheit in der Wurzel und begeht einen Missbrauch derselben. Aus eben diesem Grunde besitzt Gott, der unendlich Vollkommene, der die höchste Weisheit und die wesenhafte Güte selbst ist, die höchste Freiheit und kann das sittlich Böse in keiner Weise wollen; ebenso wenig können es die Seligen des Himmels, da sie die Anschauung des höchsten Gutes besitzen. Sehr richtig haben der heilige Augustinus und andere den Pelagianern gegenüber bemerkt: wenn das Vermögen zu sündigen zum Wesen und zur Vollkommenheit der Freiheit gehörte, so wären Gott, Jesus Christus, die Engel und Seligen, denen allen dieses Vermögen fehlt, entweder nicht frei, oder doch weniger vollkommen, als der unvollkommene Mensch, so lange er auf Erden wandelt. Über dieses Thema hat der englische Lehrer (Thomas von Aquin) sich nochmals des Weiteren ausgesprochen, woraus mit zwingender Folgerichtigkeit hervorgeht, dass die Fähigkeit zu sündigen keine Freiheit ist, sondern Knechtschaft. Sehr scharfsinnig bemerkt er zu den Worten Christi unseres Herrn: „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht!“ (Joh 8, 34): „Jedes ist das, was ihm seiner Natur nach zukommt. Wenn es also von einem anderen, was außer ihm liegt, bewegt wird, handelt es nicht aus sich, sondern infolge der Einwirkung eines anderen; das aber ist knechtisch. Der Mensch ist seiner Natur nach ein vernünftiges Wesen. Wenn er sich also von seiner Vernunft leiten lässt, so wird er aus eigenem Antrieb bewegt und handelt selbstständig; das ist ein Zeichen der Freiheit; wenn er aber sündigt, so handelt er nicht nach seiner Vernunft und wird alsdann gleichsam von einem anderen bewegt und von fremden Schranken beengt: und darum heißt es, wer Sünde tut, ist der Sünde Knecht.
  
Die Notwendigkeit des Gehorsams gegenüber einer höchsten und ewigen Vernunft, welche nichts anderes ist als die Autorität Gottes, der gebietet und verbietet, ist daher zugleich mit dem Wesen der menschlichen Freiheit gegeben: es gilt dies ebenso für die Menschen als Einzelne wie in ihrem Zusammenschluß zur Gesellschaft; es gilt dies für jene, die befehlen, ebenso gut wie für die, welche gehorchen. Und weit entfernt, daß durch diese höchst gerechte Oberherrlichkeit Gottes die Freiheit aufgehoben oder irgendwie geschmälert würde, findet diese vielmehr in ihr ihren Schutz und ihre Vollendung. Darin besteht ja die wahre Vollendung aller Wesen. daß sie nach ihrem Ziele streben und es erreichen; das höchste Ziel aber, dem die menschliche Freiheit entgegenstreben soll, ist GOTT.
+
Selbst die Philosophie der Alten hat dies klar genug erkannt; insbesondere jene, welche lehrten: nur der Weise ist frei; für einen Weisen hielten sie aber nur den, der gelernt hatte, stets naturgemäß zu handeln, d.h. sittlich und tugendhaft.
  
Diese höchst wahren und erhabenen Lehren erkennen wir schon mit dem Licht der Vernunft allein. Die Kirche hat dieselben durch das Beispiel und den Unterricht ihres Göttlichen Urhebers belehrt, allenthalben ausgebreitet und festgehalten: sie hat nach diesen Grundsätzen stets ihr eigenes Amt bemessen und die christlichen Völker in ihnen unterrichtet. Auf dem Gebiet der Sitte stehen die Gesetze des Evangeliums nicht bloß hoch über aller heidnischen Weisheit; sie fordern vielmehr ausdrücklich den Menschen zu einem den Alten unerhörten heiligen Leben auf und leiten ihn dazu an: dadurch kommt er in größere Nähe Gottes und gewinnt so zugleich eine höhere Freiheit.
+
===Das Gesetz ist ein Schutz der Freiheit===
  
Es trat die Kirche immer mit großer Kraft auf zum Schutz und Schirm für die bürgerliche und politische Freiheit der Völker. Hier ist nicht der Ort, ihre Verdienste in dieser Richtung aufzuzählen; es genügt auf eines hinzuweisen: auf die Sklaverei, jene alte Schmach der heidnischen Völker, welche großteils durch die Bemühungen und Vermittlung der Kirche abgeschafft wurde. Die Rechtsgleichförmigkeit und die wahre Bruderschaft (lat.: = germanitas) unter den Menschen hat Jesus Christus als Erster von allen verkündet; und es war nur ein Widerhall Seiner Worte, wenn die Apostel predigen: es sei kein Jude mehr, noch Grieche, noch Barbar, noch Skythe, sondern alle seien in Christus Brüder. Der Einfluß der Kirche in dieser Beziehung ist so groß und so allbekannt, daß, auf welche Küste immer sie ihren Fuß setzen mag, die rohen Gebräuche ihrer wilden Bewohner nicht lange bestehen können: in kürzester Zeit folgt auf die Grausamkeit Milde, auf die Finsternis der Barbarei das Licht der Wahrheit. Aber auch den zivilisierten Völkern hat die Kirche stets große Wohltaten erwiesen: sei es, daß sie gegenüber Ungerechtigkeit und Willkür Widerstand leistete, oder Unschuldige und Schwache vor Schaden bewahrte, oder endlich dadurch, daß sie für das Staatswesen um die Erreichung einer solchen festen Ordnung bemüht war, die die Bürger wegen ihrer Gerechtigkeit liebten, die Auswärtigen wegen deren Stärke fürchteten.
+
'''7''' Da es sich so mit der menschlichen Freiheit verhält, so musste sie gestählt werden durch entsprechende Hilfs- und Schutzmittel, durch welche ihre ganze Tätigkeit auf das Gute hin- und vom Bösen abgelenkt werde; widrigenfalls hätte die Willensfreiheit dem Menschen zum großen Schaden gereichen können.  
  
Außerdem ist es festbegründete Pflicht, vor der Autorität Ehrfurcht zu haben, und sich gerechten Gesetzen gehorsam unterzuordnen. So finden in der Kraft und Wachsamkeit der Gesetze die Bürger Schutz gegen böswillige Rechtsverletzung. Die rechtmäßige Gewalt ist von GOTT, und wer der Gewalt widersteht, widersteht Gottes Anordnung. Auf diese Weise empfängt der Gehorsam eine erhabene Würde, da er so der gerechtesten und höchsten Autorität geleistet wird.
+
====Es ist die Ordnung der Vernunft====
  
Wo aber das Recht zum Gebieten fehlt, oder wo etwas geboten würde, das gegen die Vernunft, gegen das ewige Gesetz und gegen Gottes Befehl ist: da ist es das Rechte, nicht zu gehorchen: nämlich den Menschen, damit GOTT Gehorsam geleistet werde. Auf diese Weise ist der Tyrannei der Zugang verschlossen, und es kann die staatliche Gewalt nicht alles an sich reißen. Es bleibt das eigene Recht gewahrt jedem einzelnen Bürger, der häuslichen Gesellschaft und allen Gliedern des Staatswesens: alle genießen in vollem Maße jene wahre Freiheit, welche, wie Wir nachgewiesen haben, darin besteht, daß ein jeder nach den Gesetzen und der gesunden Vernunft leben kann.
+
Zunächst war also das Gesetz notwendig, jene Regel für das, was zu tun und zu lassen ist; hiervon kann bei einem Lebewesen keine Rede sein, welche mit Notwendigkeit handeln, weil sie bei all ihrem Tun dem Drange der Natur folgen und anders überhaupt sich nicht betätigen können. Die vernünftigen Wesen jedoch haben eben deswegen, weil sie Freiheit besitzen, es in der Gewalt zu handeln oder nicht zu handeln, so oder anders zu handeln; sie wählen ja, was sie wollen und es geht der Wahl jenes Urteil der Vernunft voraus. Dieses Urteil sagt nicht bloß, was der Natur nach sittlich, was unsittlich ist, sondern auch was gut und zu tun ist, sowie was schlecht und zu meiden ist; die Vernunft schreibt nämlich dem Willen vor, wonach er verlangen darf, und was er zu meiden hat, damit der Mensch dereinstens sein letztes Ziel erreichen kann, auf welches alles hingeordnet ist werden muss. Diese Ordnung der Vernunft heiß Gesetz.
  
Würde man, wenn von Freiheit überhaupt die Rede ist, darunter nur die rechtmäßige und sittliche Freiheit verstehen, so wie sie sich aus Unserer Darlegung und der Natur der Sache ergibt, dann würde niemand die Kirche zu tadeln wagen, wie dies höchst ungerechterweise geschieht, als ob sie die Freiheit des Einzelnen oder die des Staatswesen anfeinde. Aber nach dem Vorbild Luzifers, der das frevelhafte Wort gesprochen: Ich will nicht dienen, streben gar viele unter dem Namen der Freiheit nach einer absurden Zügellosigkeit. Zu diesen gehören die Anhänger jener so weit verbreiteten und einflußreichen Lebensweise, welche, ihren Namen von der „Freiheit“ (libertas) herleitend, „Liberale“ genannt werden wollen.
+
Der letzte Grund, warum dem Menschen ein Gesetz notwendig ist, liegt mithin in dem freien Willen; unsere  Willensentschlüsse sollen nämlich mit der rechten Vernunft im Einklang stehen.
 +
Nichts ist deshalb so falsch und so unsinnig, wie die Behauptung, der Mensch dürfe die Fessel des Gesetzes nicht tragen, weil er von Natur aus frei ist. Wenn das wahr wäre, so würde daraus notwendig folgen, zur Freiheit gehöre, dass sie mit der Vernunft nicht zu tun habe; gerade das Gegenteil ist zweifellos richtig: deshalb muss der Mensch durch das Gesetz geleitet werden, weil er von Natur aus frei ist. Auf diese Weise wird das Gesetz für den Menschen ein Führer bei all seinen Handlungen: es lockt ihn zum Guten durch den Lohn den es verspricht, und schreckt ihn vom Bösen ab durch die Androhung von Strafe.
  
Dem Wesen der Sache nach sind das, was in der Philosophie die „Naturalisten“ und „Rationalisten“ sind, auf dem Gebiet der Moral und des bürgerlichen Lebens die Anhänger des „Liberalismus“, sie siedeln die von den Naturalisten aufgestellten Grundsätze in den Sitten und im praktischen Leben an.
+
==== Das Naturgesetz ist Gottes Stimme, das ewige Gesetz====
  
Der Grundgedanke des gesamten „Rationalismus“ ist die Oberherrschaft der menschlichen Vernunft, welche der göttlichen und ewigen Vernunft den schuldigen Gehorsam verweigert: sie erklärt sich für unabhängig (lat. = sui iuris), und wirft sich so zum obersten Prinzip, zum Ursprung und Richter über alle Wahrheit auf. In gleicher Weise leugnen die Anhänger des Liberalismus jede Göttliche Gewalt, der wir im Leben zu gehorchen haben; sie behaupten, ein jeder sei für sich selbst das Gesetz. Von da her verkünden sie eine Sittenlehre, die sie eine „unabhängige“ nennen. Diese entbindet unter dem Schein der Freiheit den Willen von der Unterwerfung unter die Gebote Gottes und pflegt eine grenzenlose Zügellosigkeit für den Menschen mit sich zu bringen.
+
'''8''' Ein solches Gesetz ist an erster Stelle das Naturgesetz, welches geschrieben steht und eingegraben ist in die Seele jedes einzelnen Menschen; es ist nämlich die menschliche Vernunft selbst, die da das  Gute befiehlt und das Böse verbietet.
  
Was insbesondere hieraus für die menschliche Gesellschaft erwächst, läßt sich unschwer erkennen. Steht nämlich einmal das Vorurteil fest, daß der Mensch niemanden Höheren über sich habe, so folgt daraus, daß das Band, welches die bürgerliche Gesellschaft eint, nicht von Einem gegeben ist, der außerhalb und über dem Menschen steht, sondern daß es im freien Willen der Einzelnen zu suchen ist: dann hat die staatliche Gewalt ihren letzten Ursprung in der (Volks-)Menge. Und wenn die Vernunft des Einzelnen allein maßgebend ist für alle Handlungen des Privatlebens, so ist es die Vernunft von allen zusammen für alle zusammen in den öffentlichen Angelegenheiten. Infolgedessen ruht alle Macht in der Mehrheitlichkeit, und die Mehrheit des Volkes ist Urheberin aller Rechte und Pflichten.
+
Diesem Gebote der menschlichen Vernunft kann aber die Bedeutung eines Gesetzes nur zukommen, weil es die Stimme und die Dolmetscherin jener höheren Vernunft ist, der unser Geist und unsere Freiheit zu gehorchen hat. Da die Macht des Gesetzes darin besteht, Pflichten aufzuerlegen und Rechte zu erteilen, so beruht sie ganz auf der Autorität, d.h. in der wahren Gewalt, sowohl Pflichten und Rechte zu bestimmen, als durch Strafe und Lohn den Befehlen die Sanktion zu verleihen. Es ist klar, dies alles könnte beim Menschen nicht geschehen, wenn nicht Gott es wäre, der als oberster Gesetzgeber ihm für seine Handlungen diese Norm gegeben. Daraus folgt,, dass das Naturgesetz ein und dasselbe ist wie das ewige Gesetz, welches den vernünftigen Wesen angeboren ist und sie hinlenkt, so zu handeln, wie es dem Ziele des Menschen entspricht; es ist nämlich die ewige  Vernunft Gottes selbst, des Schöpfers und Lenkers der ganzen Welt.
  
Daß dies aber im Widerspruch steht mit der Vernunft, wird aus dem Gesagten klar. Denn es widerspricht völlig der Natur, und zwar nicht bloß der des Menschen, sondern dein Wesen aller geschaffenen Dinge: jede Bindung zerreißen zu wollen, die zwischen den Einzelmenschen oder der bürgerlichen Gesellschaft und GOTT, dem Schöpfer und daher obersten Gesetzgeber, besteht, denn alle geschaffenen Dinge müssen mit der (ersten) Ursache, von der sie ausgegangen sind, in einem wesentlichen Zusammenhang stehen. Und es ist ein Gesetz für alle geschaffenen Wesen, daß sie nur dann ihre Vollkommenheit erreichen, wenn sie die Stelle und die Stufe einnehmen, welche die natürliche Ordnung fordert, daß nämlich das Niedrigere dem Höheren unterworfen werde und ihm gehorche. –
+
==== Eine Hilfe des Gesetzes ist die Gnade====
  
Außerdem aber ist die Lehre höchst verderblich ebenso für das Privatleben der Menschen wie für die Staaten. Denn wenn es wirklich die Vernunft des Menschen ist, die einzig und allein darüber zu entscheiden hat, was denn wahr und gut ist, dann wird der eigentliche Unterschied zwischen gut und böse beseitigt. Es wird dann nicht mehr von der Sachwahrheit her unterschieden, was schändlich ist und was ehrbar, sondern es wird dies von der Meinung und vom Geschmack der Einzelnen abhängig: was gefällt, das ist auch erlaubt. Eine solche Sittenlehre hat in der Regel keine Macht zur Zurückdrängung und Beruhigung der stürmischen Leidenschaften: darum ist dabei der Weg zu jeglicher Verderbnis des Lebenswandels von selbst gebahnt. Im öffentlichen Leben aber löst sich die staatliche Gewalt von ihrer wahren und von der Natur gegebenen Grundlage, auf der ihre gesamte Macht zur Förderung des allgemeinen Wohles beruht: es ist dann der Wille der Volksmehrheit, welchem die gesetzliche Entscheidung zusteht über das, was zu tun oder zu lassen ist - das ist der Weg abwärts zur Tyrannenherrschaft.
+
Mit dieser Regel für unser Handeln und diesem Zügel gegen die Sünde sind durch Gottes Güte noch einige besondere Schutzmittel verbunden, die sehr geeignet sind, den menschlichen Willen zu kräftigen und zu leiten. Unter diesen ragt an erster Stelle die Macht des göttlichen Gnade hervor; dadurch dass sie den Verstand erleuchtet und den Willen zu heilsamer Standhaftigkeit stählt, so dass dieser stets zum sittlich Guten angetrieben wird, bewirkt sie, dass wir leichter und sicherer den richtigen Gebrauch unserer angebornen Freiheit machen. Es ist also durchaus falsch, wenn man behauptet, dass durch die Einwirkung Gottes unsere Willensakte weniger frei würden; denn die Kraft der göttlichen Gnade wirkt innerlich im Menschen und zwar ganz entsprechend seiner natürlichen Neigung, da sie von dem Urheber unserer Seele und unserer Freiheit ausgeht, von dem jedes Wesen seiner Natur entsprechend bewegt wird. Ja gerade dadurch, bemerkt der englische Lehrer, dass die Einwirkung vom Schöpfer der Natur ausgeht, ist sie in wunderbarer Weise wie geschaffen und geeignet, jegliche Natur in ihrem Wesen zu schützen, und deren eigentümliche Handlungsweise, Kraft und Wirksamkeit zu erhalten.  
  
Wenn einmal die Oberherrlichkeit Gottes über den Menschen und über die Gemeinschaft der Menschen geleugnet ist, dann gibt es folgerichtig auch keine öffentliche Religion, und alle religiösen Angelegenheiten werden in höchstem Maß vernachlässigt. Auf ihre vermeintliche Souveränität gestützt, ist die (Volks-)Menge stets zu Unruhen und Aufruhr geneigt. Wenn Pflicht und Gewissen dahin sind, so bleibt zu deren Zügelung nur noch die Gewalt übrig: diese aber ist für sich allein nicht imstande, die Begierden des Volkes in Schranken zu halten. Dies beweist zur Genüge der tägliche Kampf gegen die „Sozialisten“ und andere aufrührerische Rotten, die sich schon längst daran gemacht haben, die Gesellschaft von Grund aus zu zerstören. Wer die Sache vorurteilsfrei erwägt, der möge entscheiden, ob solche Lehren die wahre und menschenwürdige Freiheit fördern, oder diese vielmehr umstürzen und vollständig vernichten.
+
====Für das soziale Leben tritt das menschliche Gesetz hinzu====
  
Es ist gewiß, daß nicht alle Anhänger des „Liberalismus“ solche Ansichten teilen: denn diese sind an sich so ungeheuerlich, daß sie Furcht einjagen, sowie offenkundig falsch und Ursachen der größten Übel sind. Durch die Macht der Wahrheit gezwungen, scheuen viele unter ihnen nicht vor dem Geständnis zurück, ja sie bekennen es sogar offen: das sei eine falsche Freiheit, die in Zügellosigkeit ausarte, wenn sie unter Mißachtung der Wahrheit und Gerechtigkeit immer maßloser zu werden wage. Daher müsse sie unter der Führung und Leitung der gesunden Vernunft stehen und eben darum in notwendiger Folgerung dem natürlichen Recht und dem ewigen Gesetz untergeben sein. Hierbei meinen sie nun, stehenbleiben zu müssen: sie leugnen, daß der freie Mensch auch solchen Gesetzen unterworfen sein müsse, welche GOTT auf einem anderen Wege, über die natürliche Vernunft hinaus, gegeben hat.
+
'''9''' Was hier von der Freiheit des einzelnen Individuums gesagt ist, kann ohne Mühe auf jene angewandt werden, die in gesellschaftlichem Verbande leben. Was nämlich Vernunft und Naturgesetz für die einzelnen Menschen bedeuten, das besorgt in der Gesellschaft das zum Gemeinwohl aller Bürger erlassene menschliche Gesetz.
  
Doch eben dadurch geraten sie in Widerspruch mit sich selbst. Denn wenn wir - wie sie selbst es eingestehen und niemand es mit Recht leugnen kann - dem Willen Gottes, des Obersten Gesetzgebers, zu gehorchen haben, da der Mensch vollständig in Gottes Hand ist und zu GOTT hinstrebt, so folgt daraus, daß niemand Seiner gesetzgebenden Autorität in Bezug auf deren Maß und Umfang Vorschriften machen kann, ohne dadurch den schuldigen Gehorsam zu verletzen. Ja, wenn der menschliche Geist es sich herausnimmt, selbst bestimmen zu wollen, welche und wie groß die Rechte Gottes, welche Seine Aufgaben sind: dann hat er die Ehrfurcht vor Gottes Geboten nur noch dem Schein nach und nicht in Wirklichkeit, und an die Stelle der Autorität und Vorsehung Gottes tritt sein eigenes Gutdünken. –
+
===== Es bezieht sich entweder direkt auf das Naturgesetz=====
  
Darum muß das Ewige Gesetz mit unverbrüchlicher Ehrfurcht als Regel für das Leben anerkannt werden, und von diesem (Ewigen Gesetz) her auch alle jene Gesetze, die GOTT in Seiner unendlichen Weisheit und Macht auf irgendeinem von IHM gewählten Weg gegeben hat, und die wir an klaren und in keiner Weise anzweifelbaren Merkmalen erkennen. Dies gilt um so mehr, weil diese Art von Gesetzen - da sie denselben Ursprung und denselben Urheber hat wie das Ewige Gesetz - im vollsten Einklang mit der Vernunft steht und das natürliche Recht durch sie vervollkommnet wird. Diese Art von Gesetzen enthält nämlich eine von GOTT selbst gegebene Lehre: ER lenkt und leitet ja unseren Geist und Willen, damit diese sich nicht verirren. So möge denn heilig und unverletzlich geeint bleiben, was man nicht trennen kann noch soll, und in allen Stücken hingebender Gehorsam GOTT geleistet werden, wie es schon die natürliche Vernunft vorschreibt.
+
Einige aus diesen menschlichen Gesetzen beziehen sich auf das,, was von natur aus gut oder böse ist; sie gebieten das eine zu tun und das andere zu lassen und fügen gleichzeitig die notwendige Sanktion (Lohn oder Strafe) hinzu.
  
Etwas gemäßigter in ihren Anschauungen, aber nicht weniger sich selbst widersprechend sind jene, welche in den Gesetzen Gottes wohl die Regel für das sittliche Leben der Einzelnen anerkennen, nicht aber für das des Staates. Nach ihrer Meinung kann man in Staatsangelegenheiten ohne Unrecht von Gottes Geboten abweichen, und man hat bei der Gesetzgebung in keiner Weise auf dieselben Rücksicht zu nehmen. Hieraus ergibt sich der verderbliche Folgesatz: zwischen Staat und Kirche müsse eine Trennung eintreten.
+
Die Quelle dieser Gesetze ist aber keineswegs die menschliche Gesellschaft, denn die Gesellschaft ist nicht der Ursprung der menschlichen Natur, folglich entscheidet sie auch nicht, was der Natur entsprechend d.h. gut, noch was der Natur widersprechend d.h. böse ist. Gut und Böse ist vielmehr früher als die menschliche Gesellschaft und hat seinen Ursprung durchaus nur in dem Naturgesetz und infolge dessen in dem ewigen Gesetz. Die Gebote des Naturgesetzes also besitzen, wenn sie auch unter die menschlichen Gesetze aufgenommen sind, nicht bloß die Bedeutung eines menschlichen Gesetzes, sie sind vielmehr ausgerüstet mit jener viel höheren und erhabenen Gewalt, welche von dem Naturgesetze selbst und dem ewigen Gesetze ausgeht. Und in Bezug auf diese Art Gesetze ist es eben das Amt des bürgerlichen Gesetzgebers, unter Anwendung der allgemeinen Rechtsordnung der Bürger in Gehorsam zu erhalten, die Bösen aber und die unruhigen Element zu zügeln, damit sie vom Bösen abgeschreckt und zum Rechten hingelenkt werden, oder dem gesamten Volke doch wenigstens nicht zum Ärgernis und zum Schaden gereichen.
  
Doch die Ungereimtheit einer solchen Behauptung ist nicht schwer zu erkennen. Liegt es ja doch in der Natur der Gesellschaft, daß sie ihren Bürgern Mittel und Wege zu einer sittlich guten Lebensführung, nämlich gemäß den Gesetzen Gottes, bietet: denn ER ist die Quelle alles sittlichen Gut-Seins und aller Gerechtigkeit.
+
=====Oder es erklärt genauer das Naturgesetz=====
  
Es wäre doch der offenkundigste Widerspruch, wenn die Gesellschaft sich gerade um diese Gesetze nicht zu bekümmern hätte, ja wenn sie sogar Bestimmungen gegen dieselben treffen könnte. Es gehört außerdem auch dies zu den Pflichten des Staatsoberhauptes gegenüber dem Volk: nicht bloß für das zeitliche Wohl und die äußeren Angelegenheiten, sondern ganz besonders durch weise Gesetze für die geistigen Güter Sorge zu tragen. Nichts aber ist derart geeignet, diese zu fördern, als die von GOTT gegebenen Gesetze; daher bewirken diejenigen, welche in der Lenkung der Staaten die Gesetze Gottes unberücksichtigt lassen, ein Abirren der Regierungsgewalt von deren wahrer, von der Natur selbst geforderten Aufgabe.
+
'''10''' Andere Gesetze der bürgerlichen Obrigkeit aber fließen nicht unmittelbar und zunächst aus dem Naturrecht ab, sondern in weiterem Abstande und indirekt; sie behandeln verschiedene Dinge, für welche die Natur nur im allgemeinen und ohne genauere Detaillierung Sorge getragen hat. So befiehlt z.B. das Naturgesetz, dass die Bürger sorgen müssen für die öffentliche Ruhe und Wohlfahrt; wie viel sie beisteuern müssen, in welcher Weise, was sie zu leisten haben, wird nicht durch das Naturgesetz, sondern durch menschliche Weisheit genauer bestimmt. Hat man nach dem Maßstabe menschlicher Klugheit solche bestimmte Lebensregeln gefunden, und werden dieselben von der gesetzmäßigen Obrigkeit vorgeschrieben, so bilden sie ein menschliches Gesetz im eigentlichen Sinne des Wortes. Dieses Gesetz gebietet, dass alle Bürger zusammenwirken zum gemeinsamen Zweck der Gesellschaft, es verbietet, davon abzuweichen; insofern es nämlich dem Naturgesetze auf dem Fuße folgt und mit ihm im Einklange steht, führt es zum sittlich Guten und schreckt vom Bösen ab. Daraus erkennt jeder, dass die Norm und Regel nicht bloß für die Freiheit des Individuums, sondern auch des Staates und jeglicher menschlicher Gesellschaft unbedingt in dem ewigen Gesetze Gottes beruht. In einer menschlichen Gesellschaft besteht also die wahre Freiheit nicht darin, dass du kannst, was dir beliebt, denn daraus würde ja nur die größte Verwirrung und Unordnung entstehen und der Staat zu Grunde gerichtet werden, sondern vielmehr darin, dass du vermittels der bürgerlichen Gesetze desto leichter nach den Geboten des Naturgesetzes zu leben vermagst.  
  
Doch noch wichtiger ist, was Wir auch mehr als einmal hervorgehoben haben, jenes wechselseitige Entgegenkommen der beiden Gewalten, das zuweilen stattfinden muß; obgleich der nächste Zweck der staatlichen Gewalt ein anderer ist, und dieselbe auch auf andere Art wirksam ist, als es bei der geistlichen Gewalt der Fall ist. Denn beide Gewalten haben ja dieselben Untergebenen, und nicht selten kommt es vor, daß beide Gewalten über die nämlichen Gegenstände entscheiden, wenn auch nicht vom gleichen Gesichtspunkt aus. Jeder Widerstreit (zwischen beiden) ist unvernünftig und widerspricht offen dem höchst weisen Willen Gottes. Daher muß, sooft sich dieser Fall ereignet, eine bestimmte Norm und Regel gegeben sein, durch welche die Ursachen des Zwiespaltes und Streites beseitigt werden und ein einmütiges Zusammenwirken ermöglicht wird. Man hat diese Eintracht nicht unrichtig mit der Verbindung zwischen Seele und Leib verglichen. Diese ist beiden zum Nutzen. Tritt deren Trennung ein, dann ist dieselbe verderbenbringend, namentlich für den Leib: denn sie löscht dessen Leben aus.
+
=====Die Staatsgesetze sollen uns fördern in der Erfüllung des ewigen Gesetzes=====
  
Zur größeren Klarheit müssen daher die verschiedenen Arten von Freiheit, wie man sie als Forderung unserer fortgeschrittenen Zeit aufstellt, im einzelnen betrachtet werden.
+
Die Freiheit der Vorgesetzten besteht also auch nicht darin, dass sie frech und willkürlich befehlen können, was ebenso schändlich als für den Staat verderblich wäre; die wahre Autorität der menschlichen Gesetze soll darin bestehen, dass man sieht, wie sie ein Ausfluss des eigen Gesetzes sind, und dass sie nicht vorschreiben, was nicht in ihm als der Quelle jeglichen Rechtes enthalten ist. Sehr weise bemerkt hierzu Augustinus (De lib. Arb. I, 6, n. 15): „Ich glaube, du erkennst auch, dass in jenem zeitlichen (Gesetze) nichts gerecht und gesetzmäßig ist, wenn es die Menschen nicht aus dem ewigen (Gesetze) genommen haben. Würde also irgend eine Obrigkeit etwas befehlen, das im Widerspruch stände mit den Grundsätzen der gesunden Vernunft und dem Staate schädlich wäre, so hätte es keine Gesetzeskraft, weil es keine Regel der Gerechtigkeit wäre und die Menschen jenem Gute entfremden würde, wofür die menschliche Gesellschaft doch da ist.
  
Beginnen Wir zuerst mit dem, was man für jede einzelne Person fordert und was so sehr der Tugend der Religion widerspricht: die sogenannte „Freiheit des Kultus“ . Dies ist der Grundgedanke, worauf diese beruht: Jeder Einzelne habe freie Hand, irgendeine beliebige Religion oder auch überhaupt keine zu bekennen. - Hingegen ist ohne allen Zweifel die größte und heiligste unter allen Pflichten der Menschen diejenige, welche den Menschen Frömmigkeit und Gottesverehrung gebietet. Dies folgt notwendig daraus, daß wir uns immerdar unter Gottes Gewalt befinden und von Gottes Willen und Vorsehung gelenkt werden; von IHM sind wir ausgegangen und zu IHM müssen wir zurückkehren. Hierzu kommt, daß es wahre Tugend ohne Religion nicht geben kann. Es ist darum die Religion eine sittliche Tugend, deren Pflichten sich auf alles das beziehen, was zu GOTT führt, insofern ER für den Menschen das letzte und höchste Gut ist. Darum steht die Religion, welche direkt und unmittelbar sich in dem betätigt, was auf Gottes Ehre hingeordnet ist , an der Spitze aller Tugenden, und diese empfangen ihre Leitung durch sie.
+
====Alle Gesetzeskraft stammt von Gott====
  
Fragt man aber, welcher von den verschiedenen und einander widersprechenden Religionen wir zu folgen haben, so weist uns ohne Zweifel schon die natürliche Vernunft zu jener einen hin, welche GOTT angeordnet und welche Seine Vorsehung durch sichere äußere Merkmale ausgezeichnet hat. Daran können alle Menschen sie leicht erkennen: denn ein Irrtum in einer Frage von solcher Bedeutung wäre von den verhängnisvollsten Folgen. Eine „Freiheit“ in dem eben genannten Sinn würde daher dem Menschen die Befugnis zugestehen, seine heiligste Pflicht ungestraft zu verletzen und ihr untreu zu werden, und sich von dem unwandelbaren Guten abzukehren und zum Bösen hinzuwenden. Dies ist aber, wie Wir gesagt haben, nicht Freiheit, sondern Entstellung der Freiheit, sowie eine schmähliche Knechtschaft der Seele unter der Sünde.
+
'''11''' Ob die menschliche Freiheit in dem Individuum oder in der Gesellschaft, ob sie denen, die befehlen, oder in denen, die gehorchen, betrachtet wird, zu ihrem Wesen gehört notwendig, dass sie jener höchsten und ewigen Vernunft unterworfen ist, die nichts anderes ist als die Autorität Gottes, der befiehlt und verbietet. Diese gesetzmäßigste Gewalt Gottes über die Menschen hebt so wenig die Freiheit auf oder mindert sie, dass sie dieselbe vielmehr schützt und vervollkommnet. Die wahre Vollkommenheit jeglichen Wesens besteht ja darin, dass es nach seinem Ziele strebt und es erreicht; das höchste Ziel aber, das der Mensch in seiner Freiheit anstreben soll, ist Gott.
  
Wenn wir eben diese „Freiheit“ im Zusammenhang mit dem Staatsleben betrachten, so hätte ihr gemäß der Staat keinen Grund, in irgend einer Weise GOTT öffentlich zu verehren oder dessen Verehrung zu wollen; er hätte keine Religion zu bevorzugen, sondern alle müßten als gleichberechtigt betrachtet werden - ohne jedwede Rücksicht auf das Volk, selbst dort nicht, wo das Volk die katholische Religion bekennt. - Dies könnte nur unter der Voraussetzung wahr sein, daß die Vereinigung der Menschen zum Staat gegenüber GOTT keine Pflichten hat oder sich ungestraft von denselben lossagen kann: beides aber ist offenbar falsch. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß der Zusammenschluß der Menschen untereinander zur (bürgerlichen) Gesellschaft im Willen Gottes gründet, sei es, daß wir ihre Pflichten betrachten, sei es ihre (Wesens-)Form, nämlich die Autorität, sei es ihre (Wesens-)Ursache, oder seien es die vielen und großen Vorteile, die sie dem Menschen bringt. GOTT ist es, der den Menschen für das gemeinsame Leben geschaffen und in den Verband von Wesen gleicher Art hineingesetzt hat, damit er in der Vereinigung empfange, was seine Natur fordert und was er für sich allein nicht hätte erreichen können. Darum hat die bürgerliche Gesellschaft, gerade weil sie Gesellschaft ist, GOTT als ihren Vater und Urheber anzuerkennen und IHM als ihrem Herrn und Gebieterin Ehrfurcht zu dienen. Ein Staat ohne GOTT, oder auch - was schließlich auf dasselbe hinausläuft - ein Staat, der, wie man sich ausdrückt, sich gegen alle Religionen gleich-gültig verhält und diese ohne Unterschied als gleich-berechtigt anerkennt  stellt sich in Gegensatz zur Gerechtigkeit und zur Vernunft.
+
===Die Kirche war stets eine Schützerin dieser Freiheit===
  
Weil daher für den Staat das Bekenntnis zu einer einzigen Religion notwendig ist, darum hat er sich zu der allein wahren Religion zu bekennen. Diese als solche zu erkennen, namentlich in katholischen Staaten, bietet keine Schwierigkeit, da sie die Merkmale der Wahrheit offen an sich trägt. Einsichtsvolle Staatsmänner, welche an der Spitze der Regierung stehen, haben diese Religion daher zu erhalten und sie zu schützen: wenn es ihnen, wozu sie verpflichtet sind, darum zu tun ist, in kluger und zweckdienlicher Weise das Wohl der Bürger zu fördern. Denn die öffentliche Gewalt ist ja zum Wohl der Untertanen eingesetzt. Und obgleich ihr nächster Zweck die Aufgabe ist, das Glück des Lebens im Diesseits zu fördern, so soll sie doch dem Menschen die Erreichung jenes höchsten und letzten Gutes, in dem die ewige Glückseligkeit des Menschen besteht, nicht erschweren, sondern vielmehr erleichtern: unter Geringschätzung der Religion kann er aber dorthin nicht gelangen.
+
'''12''' Diese so wahren und so erhabenen Grundsätze, welche wir selbst mit dem bloßen Licht unserer Vernunft erkennen, hat die Kirche, durch das Beispiel und die Worte ihres göttlichen Stifters belehrt, allüberallhin verbreitet und festgehalten; niemals hat sie aufgehört, nach diesen Lehren ihr Amt zu bemessen und die christlichen Völker zu unterrichten. Auf dem sittlichen Gebiete überragen die Gebote des Evangeliums nicht bloß alle Weisheit der Heiden, sie rufen auch den Menschen auf zu einer den alten unbekannten sittlichen Vollkommenheit und leiten ihn dazu an, bringen ihn Gott näher und verleihen ihm dadurch eine viel vollkommenere Freiheit.
  
Doch alles das haben Wir bereits früher eingehender besprochen. Für jetzt wollen Wir nur bemerken, daß eine solche „Freiheit“ sowohl für die Regierenden als auch für die Regierten äußerst schädlich ist. Dagegen bringt die Religion einen ungemeinen Nutzen: sie führt ja den ersten Ursprung aller Gewalt auf GOTT selbst zurück, und sie gebietet mit größtem Ernst den Staatenlenkern, daß sie ihrer Pflichten eingedenk seien, keine ungerechten und harten Gebote geben, mit Milde und gewissermaßen mit der Liebe eines Vaters ihren Völkern vorstehen. Ebenso fordert die Religion von den Bürgern, daß sie der rechtmäßigen Gewalt als Gottes Dienern untergeben seien. So verknüpft sie Regierung und Regierte nicht bloß durch das Band des Gehorsams, sondern auch durch das der Ehrfurcht und Liebe. Sie verbietet den Aufruhr und alle Unternehmungen, welche geeignet sind, die öffentliche Ordnung und Ruhe zu stören, und welche gerade darum Anlaß geben zu einer größeren Einschränkung der bürgerlichen Freiheit. Wie viel die Religion zur Förderung der guten Sitten beiträgt, und wie viel die guten Sitten zur Freiheit, das wollen Wir hier nicht erwähnen. Denn die Vernunft beweist es, und die Geschichte bestätigt es. Ein Staat ist um so freier, reicher und mächtiger, je sittlich hochstehender er ist.
+
====Darum schaffte sie die Sklaverei ab====
  
Die „Rede-“ und die unbeschränkte „Pressefreiheit“ soll hier gleichfalls in Kürze besprochen werden. Daß eine solche regellose, jedes Maß und alle Schranken überschreitende „Freiheit“ keinen Rechtsanspruch darstellt, brauchen Wir kaum zu sagen. Denn „Recht“ bezieht sich auf die Erlaubtheit von etwas sittlich Gutem. Wie Wir schon öfters erklärt haben und noch öfter erklären müssen, ist daher die Behauptung ungereimt, als sei (das Recht) von Natur aus der Wahrheit und der Lüge, der Sittlichkeit und dem Laster gemeinsam und ohne Unterschied gegeben. Was wahr ist und was gut ist: das hat ein Recht darauf, sich in weiser Freiheit in der Gesellschaft auszubreiten, damit es zu recht vielen gelange. Dagegen werden lügenhafte „Meinungen“, diese größte Pest des Geistes, und Laster, welche den Charakter und die Sitten verderben, mit Recht von der Obrigkeit sorgfältig niedergehalten, damit sie nicht zum Schaden der Allgemeinheit um sich greifen.
+
So besaß die Kirche augenscheinlich stets eine au0erordentliche Macht, die bürgerliche und politische Freiheit der Völker zu schützen und zu schirmen Es geht hier nicht an, ihre Verdienste nach dieser Richtung hin aufzuzählen. Es genügt daran zu erinnern, dass hauptsächlich durch die Bemühungen und die wohltätige Mitwirkung der Kirche die Sklaverei abgeschafft wurde, jene alte Schmach der heidnischen Völker. Die Rechtsgleichheit aller, wie die wahre Brüderlichkeit der Menschen untereinander, hat Jesus Christus zuerst vor allen anderen gepredigt; die Stimme seiner Apostel war nur das Echo dieser Lehre, da sie predigten: es sein kein Jude mehr, noch Grieche, noch Barbar, noch Scythe, sondern alle seinen Brüder in Christus. So groß und so bekannt ist der Einfluss der Kirche in dieser Beziehung, dass dort, wohin immer sie ihren Fuß setzt, erfahrungsgemäß die Wildheit der Bewohner nicht lange mehr bestehen kann; es folgt gar bald auf Grausamkeit Milde und auf Finsternis der Barbarei das Licht der Wahrheit. Die Kirche hat aber nie nachgelassen, auch den bereits zivilisierten Völkern große Wohltaten dadurch zu erweisen, dass sie der Willkür gottloser Menschen sich entgegenstellte, oder dass sie Unschuldige und Schwache vor drohendem Unheil bewahrte, oder endlich dadurch, dass sie sich redlich bemühte, in den Staaten eine solche Verfassung zur Herrschaft zu bringen, welche die Guten wegen ihrer Gerechtigkeit hochschätzten, die Fremden aber wegen ihrer Stärke fürchteten.
  
Es ist das Rechte, daß durch die Autorität der Gesetze die Irrtümer eines ausschweifenden Geistes, welche fürwahr eine Unterdrückung gegen das unerfahrene Volk sind, ebenso in Schranken gehalten werden, wie ein durch offene Gewalttat an Schwächeren verübtes Unrecht. Und dies um so mehr, weil der bei weitem größere Teil der Bevölkerung vor den Scheingründen und Trugschlüssen, zumal wenn dieselben den Begierden schmeicheln, sich entweder gar nicht oder nur sehr schwer zu schützen imstande ist. Bei Zulassung einer schrankenlosen „Rede- und Pressefreiheit“ wird nichts mehr heilig und unverletzt bleiben; nichts wird dann geschont, nicht einmal jene obersten und höchst wahren Urteile unserer Natur, in denen gleichsam das Menschengeschlecht ein gemeinsames und höchst edles Erbe besitzt. Auf diese Weise tritt allmählich eine Verdunklung der Wahrheit ein, und - wie dies häufig geschieht - gewinnen verderbliche Meinungsirrtümer vielfacher Art leicht die Oberhand. Die Zügellosigkeit wird dadurch in demselben Maß gefördert, als die Freiheit Schaden leidet; während umgekehrt die Freiheit desto größer und gesicherter ist, je mehr die Zügellosigkeit gebändigt wird.
+
====Sie lehrt, dass es keine Pflicht ist, einer ungesetzlichen Obrigkeit zu gehorchen====
  
Wo es sich hingegen um Dinge handelt, über die man verschiedener Meinung sein kann, welche GOTT dem Menschen anheimgestellt hat, diese zu untersuchen: so mag wohl ein jeder davon halten, was ihm das Beste zu sein dünkt, und ungehindert aussprechen was er denkt. Dies ist nicht unnatürlich: denn eine Freiheit dieser Art verleitet den Menschen niemals zur Unterdrückung der Wahrheit, leitet ihn aber oftmals dazu, sie zu entdecken und ans Licht zu bringen.
+
'''13''' Außerdem ist es zweifellos eine strenge Pflicht, der Autorität die schuldige Ehrfurcht zu bezeigen und sich den gerechten Gesetzen in Gehorsam zu unterwerfen: so werden die guten Bürger vermittels der Macht und Wachsamkeit bei Ausübung der Gesetze von Ungerechtigkeiten von seiten der Übeltäter beschützt. Die rechtmäßige Gewalt stammt von Gott, und wer der Gewalt widersteht, widersteht dem Willen Gottes; auf diese Weise erhält der Gehorsam eine ganz erhabene Würde, da er der gerechtesten und höchsten Autorität geleistet wird. Wo aber das Recht zu befehlen nicht vorhanden ist, oder wo etwas befohlen wird, was der Vernunft, dem ewigen Gesetze, dem Gebote Gottes zuwider ist, ist es recht, nicht zu gehorchen, nämlich den Menschen nicht zu gehorchen, damit Gott der schuldige Gehorsam geleistet werde. Hierdurch ist der Tyrannei der Zugang versperrt und die weltliche Obrigkeit angewiesen, dass sie nicht alles an sich ziehe, dem einzelnen Bürger sind seine Rechte gewahrt, ebenso der Familie wie allen Mitgliedern des Staatswesens; jedem wird das Maß seiner wahren Freiheit gegeben, das wie wir gezeigt haben, darin besteht, dass ein jeder nach den Gesetzen und nach der gesunden Vernunft leben kann.
  
Ein gleiches gilt auch bezüglich der sogenannten „Lehrfreiheit“. - Da es keinem Zweifel unterliegen kann, daß einzig die Wahrheit die Geister erfüllen soll, in welcher die Verstandeswesen das ihnen entsprechende Gute, ihr Ziel und ihre Vollendung finden, so soll auch der Unterricht nur die Wahrheit lehren, mag er sich nun an Unwissende oder an Wissende wenden: für erstere, um sie ihnen mitzuteilen; für letztere, um sie darin zu befestigen. Darum ist es die ausdrückliche Pflicht des Lehrers, die Geister vom Irrtum zu befreien und sie falschen Meinungen gegenüber durch feste Grundsätze zu schützen. Hieraus wird klar, wie unvernünftig diese oben genannte „Freiheit“ ist, und so recht geeignet, die Geister von Grund aus zu verdrehen: wenn nämlich jeder glaubt, nach Belieben alles was ihn dünkt lehren zu dürfen. Eine solche Zügellosigkeit kann die Staatsgewalt ohne Pflichtverletzung den Bürgern nicht gewähren. Und dies um so weniger, da die Autorität des Lehrers einen großen Einfluß auf die Zuhörer übt, und der Schüler für sich allein nur sehr selten imstande ist, zu prüfen, ob sein Lehrer Wahrheit oder Irrtum vorträgt.
+
==Ein Feind der Freiheit ist der Liberalismus==
  
Wenn darum diese Freiheit sittlich gut sein soll, dann muß sie sich auch innerhalb fester Grenzen bewegen, damit die Kunst des Lehrens nicht ungestraft zu einem Werkzeug des Verderbens verkehrt wird. - Der Lehrer hat einzig und allein die Wahrheit zu lehren. Diese hat zwei Arten: die eine gehört der natürlichen Ordnung, die andere der übernatürlichen an. Die natürlichen Wahrheiten, wie die obersten Sätze der natürlichen Vernunft und die unmittelbaren Folgerungen daraus, bilden gewissermaßen das gemeinsame Erbgut des Menschengeschlechtes. Hierauf, auf dieser festesten Grundlage, beruht die Sittlichkeit, die Gerechtigkeit, die Religion; ja selbst das Verbundensein der menschlichen Gesellschaft. Es würde darum nichts frevelhafter und törichter sein und mehr die menschliche Natur verletzen, als die Schädigung und Zerstörung desselben straflos zuzulassen. Mit nicht geringerer Gottesfurcht aber ist der hochheilige und kostbare Schatz aller der Güter zu bewahren, zu deren Erkenntnis wir von GOTT direkt belehrt werden. Durch viele und lichtvolle Beweise pflegen die Fundamentaltheologen bestimmte Grundwahrheiten festzustellen, wie: die Existenz einer Göttlichen Offenbarung; die Menschwerdung des Eingeborenen Sohnes Gottes zum Zeugnis für die Wahrheit; die Einsetzung der Kirche als einer vollkommenen Gesellschaft, deren Haupt ER selbst ist und mit der ER bis ans Ende der Zeiten zu bleiben verheißen hat. Dieser Gesellschaft hat ER alle von IHM gelehrten Wahrheiten anvertraut, und dabei bestimmt, daß sie dieselben bewahre, schütze und kraft rechtmäßiger Autorität auslege. Zugleich hat ER allen Völkern geboten, auf Seine Kirche zu hören genau so wie auf IHN selbst. Wer dies nicht tue, werde auf ewig verlorengehen.
+
'''14''' Wenn man, so oft überhaupt von Freiheit die Rede ist, darunter die gesetzmäßige und sittliche Freiheit verstände, wie die gesunde Vernunft und unsere Darlegung sie erwiesen haben, würde niemand es wagen, die Kirche zu tadeln. Leider geschieht es,, indem man ihr in höchst ungerechter Weise den Vorwurf macht, sie wäre eine Feindin der Freiheit des Einzelnen oder des Staates. Sehr viele Folgen dem Beispiele Luzifers, der das gottlose Wort sprach: „Ich werde nicht dienen“, und streben im Namen der Freiheit eine unsinnige Zügellosigkeit an. Dazu gehören die Anhänger jener so weit verbreiteten und so mächtigen Sekte, die Liberale genannt werden wollen, indem sie ihren Namen von der Freiheit (libertus) herleiten.
  
So ist es denn völlig klar, daß der Mensch an GOTT seinen besten und unfehlbaren Lehrer hat, der die Quelle und der Ursprung aller Wahrheit ist; und an Seinem Eingeborenen Sohn, der im Schoß des Vaters ist: der Weg, die Wahrheit, das Leben; das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt; auf dessen Lehre alle zu hören haben: Und sie werden alle von Gott belehrt sein. - In Fragen des Glaubens und der Sitten aber hat GOTT die Kirche zur Teilhabe an Seinem Göttlichen Lehramt berufen und durch Seinen göttlichen Schutz mit der Wohltat der Unfehlbarkeit ausgestattet. Darum ist sie die höchste und sicherste Lehrerin der Sterblichen und hat ein unantastbares Recht auf Freiheit ihres Lehramtes. In der Tat hatte die Kirche, die aus den von GOTT empfangenen Lehren ihre ganze Kraft schöpft, von altersher keine angelegentlichere Sorge, als daß sie die ihr von GOTT übertragene Aufgabe gewissenhaft erfülle. sie war stärker als alle ringsum sie umgebenden Hemmnisse und hat nie den Kampf für die Freiheit ihres Lehramtes aufgegeben. In solcher Weise hat die Kirche den Erdkreis von höchst abscheulichem Aberglauben befreit und ihn durch die Weisheit des Christentums wieder zu Kräften kommen lassen. –
+
===Das Dogma des Rationalismus ist die Autonomie der Vernunft===
  
Die Vernunft selbst aber ist es, die völlig Klarheit darüber gibt, daß zwischen den von GOTT geoffenbarten Wahrheiten und jenen der natürlichen Ordnung von der Sache her ein Widerspruch nicht eintreten kann. Darum muß, was immer mit jenen (von Gott geoffenbarten Wahrheiten) im Gegensatz steht, gerade deswegen auch notwendigerweise falsch sein. Deshalb steht das Lehramt der Kirche dem Geist der Forschung und dem wissenschaftlichen Gedeihen nicht nur nicht entgegen; auch ist sie keine Feindin der Bildung und des kulturellen Fortschrittes der Menschheit: sondern sie trägt sehr viel dazu bei, Licht zu verbreiten und dadurch Schutz und Sicherheit zu bewirken. Aus demselben Grund wird durch die Kirche die menschliche Freiheit wesentlich gefördert. Denn es ist das Wort Jesu Christi, des Retters, daß durch die Wahrheit der Mensch frei werde. Ihr werdet erkennen die Wahrheit, und die Wahrheit wird euch frei machen. - Jene gerechten und notwendigen Gesetze daher, welche für die Lehre der Menschen Schranken setzen und die von Kirche und Vernunft übereinstimmend gefordert werden, können für die wahre Freiheit keinen Grund zu Klage bilden und können der wahren Wissenschaft nicht beschwerlich werden.
+
'''15''' In der Tat, was die Naturalisten oder Rationalisten in der Philosophie anstreben, das wollen auf dem Gebiete der Moral und des bürgerlichen Lebens die Anhänger des Liberalismus erreichen, indem sie von den Naturalisten aufgestellten Grundsätze in die Moral und das Leben einführen. Die Grundidee des ganzen Rationalismus ist aber die Oberherrlichkeit der menschlichen Vernunft, welche der göttlichen und ewigen Vernunft den Gehorsam verweigert, sich für unabhängig erklärt uns sich selbst zum obersten Prinzip, zur Quelle und zum Richter aller Wahrheit aufwirft.
  
Die Kirche hat hierbei, wie dies die Erfahrung überall beweist, zunächst und ganz besonders den Schutz des christlichen Glaubens im Auge; sie hat aber auch das Bestreben, jede Art von Wissenschaften zu pflegen und zu fördern. Denn die Korrektheit der Wissenschaften ist in sich etwas Lobenswertes und verdient es, daß man sich um sie bemühe. Was ferner die Gelehrsamkeit jedweder Art angeht, wie sie durch die gesunde Vernunft erworben wird und welche der Wirklichkeit der Dinge entspricht, so trägt diese nicht wenig zur Veranschaulichung dessen bei, was wir auf Grund der Göttlichen Offenbarung glauben. Es ist in der Tat die Kirche, der
+
====Er lehrt die unabhängige Moral====
  
wir solche großen Wohltaten verdanken: ruhmvoll hat sie den schriftlichen Nachlaß der Weisheit der Alten bewahrt; überall hat sie den Wissenschaften eine Heimstätte errichtet; immer hat sie die strebenden Geister angespornt, und mit größtem Eifer gerade die Künste gepflegt, die unserem gebildeten Zeitalter einen ganz besonderen Schmuck verleihen.
+
Die genannten Anhänger des Liberalismus erklären also, dass es keine göttliche Gewalt über uns gebe, der wir im Leben zu gehorchen hätten, jeder sei vielmehr sich selbst Gesetz. Daraus ist jene sogenannte unabhängige Lebensanschauung entstanden, welche unter dem Scheine der Freiheit den Willen von der Heilighaltung der Gebote Gottes befreit, dem Menschen aber eine grenzenlose Zügellosigkeit zu gewähren pflegt.
  
Auch dies soll schließlich nicht mit Stillschweigen übergangen werden: Es steht ein ungeheuer weites Feld für die menschliche Tätigkeit offen, auf welchem der natürliche Verstand sich unbeschränkt üben möge: in allen jenen Fragen nämlich, die mit der christlichen Glaubens- und Sittenlehre keinen notwendigen Zusammenhang haben, oder für welche die Kirche keine autoritative Entscheidung getroffen hat. Sie überläßt diese Fragen ohne Anwendung ihrer Autorität den Gelehrten zur freien Beurteilung. Diese mögen ohne einen Spruch von kirchlicher Seite ihre Untersuchungen darüber anstellen.
+
====Der Volkswille sei höchstes Gesetz====
  
Aus dem Gesagten ergibt es sich, was von der Art von „Freiheit“ zu halten ist, welche die Anhänger des „Liberalismus“ mit gleichem Eifer anstreben und preisen. Auf der einen Seite dehnen sie dieselbe zwar für sich und das Staatswesen so weit aus, daß sie keine Bedenken tragen, jeder verkehrten Meinung Tür und Tor zu öffnen; andererseits legen sie der Kirche vielfache Hindernisse in den Weg und schränken so viel als nur möglich deren Freiheit ein, obgleich die Lehre der Kirche nicht bloß keinerlei Anlaß bietet, einen Nachteil zu befürchten, sondern vielmehr nur große Vorteile von ihr zu erwarten sind.
+
Es ist leicht vorauszusehen, wohin dies alles besonders in der menschlichen Gesellschaft führen muss. Steht einmal die Überzeugung fest, dass der Mensch niemanden untersteht, so folgt von selbst, dass die Ursache, durch welche eine bürgerliche oder staatliche Vereinigung zustande kommt, nicht in einer Macht, die außer oder über dem Menschen steht, zu suchen ist, sondern einzig und allein in dem freien Willen der Einzelnen; dann stammt die öffentliche Gewalt ebenfalls in ihrem letzten Ursprung vom Volke; und da die Vernunft des Einzelnen die einzige Führerin und Norm des Privatlebens ist, so muss folgerichtig die Vernunft der Gesamtheit die Norm für das öffentliche Leben bilden. Infolgedessen hat die größere Masse auch die größere Macht und die Majorität des Volkes ist es, welche die öffentliche Rechte und Pflichten bestimmt.
 +
====Diese Lehre ist unvernünftig====
  
Viel gefeiert wird auch die sogenannte „Gewissensfreiheit“. Wird diese so verstanden, daß ein jeder nach Belieben GOTT verehren oder auch nicht verehren kann, so ist sie durch das bereits oben Gesagte ausreichend widerlegt. - Sie kann aber auch in dem Sinne aufgefaßt werden, daß es dem Menschen in der staatlichen Gesellschaft erlaubt ist, nach dem Gebote seines Gewissens ungehindert Gottes Willen zu tun und Seine Befehle auszuführen. Dies ist die wahre und angemessene Freiheit, wie sie den Kindern Gottes zukommt. Sie beschützt die Würde der menschlichen Person in der edelsten Weise und ist erhaben über jeglichen Zwang und jede Gewalttat. Von jeher war sie der Kirche immer erwünscht und besonders teuer. Diese Art von Freiheit haben die Apostel standhaft für sich gefordert; diese haben die Verteidiger des Glaubens in ihren Schriften für unantastbar erklärt; diese hat die zahllose Schar der Märtyrer mit ihrem Blute geweiht. Mit vollem Recht: denn diese christliche Freiheit legt Zeugnis ab für die höchste und absolut gerechte Oberherrlichkeit Gottes über die Menschen, und ebenso für die erste und höchste Pflicht der Menschen gegen GOTT. Mit einer aufrührerischen und ungehorsamen Gesinnung hat sie nichts gemeinsam, und nichts liegt ihr ferner, als der öffentlichen Gewalt den Gehorsam verweigern zu wollen. Denn die menschliche Gewalt hat ja insoweit das Recht zu befehlen und Gehorsam für ihre Befehle zu verlangen, so weit sie mit der Göttlichen Gewalt nicht in Widerspruch tritt und sie sich in der ihr von GOTT gesetzten Ordnung bewegt. Wenn aber ein Befehl gegeben wird, der im offenen Widerstreit steht zum Willen Gottes, dann tritt ein Abfall von dieser Ordnung ein und zugleich ein Gegensatz zur Göttlichen Autorität: darum ist es recht, nicht zu gehorchen.
+
Aus dem Gesagten folgt, wie unvernünftig dies ist. Es widerspricht absolut der Natur, nicht bloß des Menschen, sondern auch aller anderen Geschöpfe, wenn man kein Band annehmen will, das den einzelnen Menschen oder die bürgerliche Gesellschaft mit Gott dem Schöpfer und somit mit dem höchsten Gesetzgeber aller verknüpft. Denn alle geschaffenen Dinge müssen notwendigerweise mit der Ursache ihres Daseins in irgend einem Zusammenhange stehen; es gehört zum Wesen der Dinge, ja es gereicht zur Vervollkommnung jedes Wesens, die Stelle und Stufe einzunehmen, welche die natürliche Ordnung verlangt: dass nämlich das Niedere dem Höheren unterworfen sei und ihm gehorche.
  
Die Anhänger des „Liberalismus“ dagegen, welche der weltlichen Gewalt eine herrische und unbegrenzte Machtvollkommenheit beilegen, und die das Leben ohne jede Rücksicht auf GOTT geführt wissen wollen, anerkennen durchaus nicht die von Uns besprochene Verbindung der Freiheit mit der Sittlichkeit und der Religion. Sie verleumden daher jede Maßregel zu deren Bewahrung als eine Rechtsverletzung und als ein Verbrechen gegen den Staat. Wenn dies wirklich so wäre, dann gäbe es keine noch so ungeheuerliche Herrschaft, der man sich nicht stillschweigend zu unterwerfen hätte.
+
====Diese Lehre ist gefährlich für den Staat====
  
Es ist der sehnlichste Wunsch der Kirche, daß diese von Uns im wesentlichen und in Kürze besprochenen Lehren in allen Zweigen des Staatswesens auch tatsächlich zur Anwendung kämen. Denn in ihnen ist das wirksame Heilmittel gegeben für die wahrhaft weder wenigen noch leichten Schäden unserer Zeit, die großteils die Früchte gerade dieser so hochgepriesenen Freiheiten sind, von denen man Heil und Ruhm erwartet hatte. Doch diese Hoffnungen hat das Ergebnis zuschanden gemacht: nicht süße und heilsame, sondern bittere und häßliche Früchte sind daraus hervorgewachsen. Will man ein Heilmittel haben, so kehre man wieder zu den gesunden Grundsätzen zurück, auf denen allein die Erhaltung der Ordnung ruht, und von denen wir mit Zuversicht einen Schutz der wahren Freiheit erwarten können.
+
'''16''' Außerdem ist jene Lehre für den Einzelnen wie für die Staaten äußerst verhängnisvoll; denn in der Tat, wenn die menschliche Vernunft einzig und allein über Gut und Bös zu entscheiden hat, wird jeder Unterschied zwischen Gut und Bös aufgehoben; es würde das Unsittliche vom Sittlichen sich nicht dem Wesen nach unterscheiden, der Unterschied wäre von der Meinung und dem Urteil des Einzelnen abhängig, was gefiele, wäre auch erlaubt. Diese sittliche Ordnung, die zur Bezähmung und Unterdrückung der stürmischen Leidenschaften fast keine Macht besitzt, würde von selbst zu jeglicher Sittenverderbnis führen. Im öffentlichen Leben löst sich alsdann die obrigkeitliche Gewalt los von ihrem wahren und natürlichen Fundamente, auf dem allein ihre ganze Macht der Förderung des Gemeinwohles beruht. Das Gesetz, das zu bestimmen hat, was zu tun und zu lassen  ist der Willkür der Masse überantwortet, was leicht zur Tyrannei führen kann. Ist einmal die Oberherrlichkeit Gottes über den Menschen und über die menschliche Gesellschaft abgeschafft, so folgt von selbst, dass es öffentlich keine Religion mehr gibt und alles, was auf Religion bezug hat, gänzlich vernachlässigt werden wird. Ebenso wird die Menge, gestützt auf ihre vermeintliche Gewalt, leicht zu Empörung und Aufruhr sich erheben, und sind die Bande der Pflicht und des Gewissens zerrissen, so bleibt nichts als die rohe Gewalt  mehr übrig, die aber für sich allein nicht stark genug ist, die Volksleidenschaft zu zügeln. Zur Genüge dies bewiesen durch den ständigen Kampf gegen die Sozialisten und andere aufrührerische Sekten, die schon daran sind, die Fundamente der Staaten zu erschüttern.
  
Nichtsdestoweniger zieht die Kirche mit mütterlicher Einsicht die menschliche Schwäche in Erwägung, die so schwer ins Gewicht fällt; sie verkennt nicht die geistige Strömung der Gegenwart und unsere Zeitverhältnisse. Aus diesen Gründen erkennt sie zwar einzig und allein der Wahrheit und dem sittlich Guten ein Anrecht zu; aber sie erhebt nicht dagegen Einspruch, daß doch die Staatsgewalt so manches dulde, was weder wahr noch gerecht ist: entweder um ein noch größeres Übel zu vermeiden oder um Gutes zu erreichen oder zu bewahren. Duldet doch auch GOTT, obgleich ER unendlich gut und allmächtig ist, in Seiner höchst weisen Vorsehung Übles in der Welt: teils damit größere Güter nicht verhindert werden, teils damit sich nicht noch heftigere Übel ergeben. Es ist angemessen, daß der Lenker der Welt für die Lenkung der Staaten als Vorbild diene: da ja die menschliche Autorität nicht jedes einzelne Böse verbieten kann, so muß sie vieles einräumen und ungestraft lassen, was aber doch die Göttliche Vorsehung straft und das mit Recht . Jedoch, wenn unter solchen Umständen nebenbei und um des allgemeinen Wohles wegen, und bloß dessentwegen, das menschliche Gesetz etwas Böses dulden kann oder gar soll, so kann und soll dennoch das Gesetz das Böse nicht gutheißen oder es als solches wollen. Denn das Böse als solches ist eine Beraubung des Guten und steht demnach im Gegensatz zum allgemeinen Wohl: und dieses hat ja der Gesetzgeber auf die beste ihm mögliche Weise anzustreben und zu beschützen. Auch in dieser Beziehung hat das menschliche Gesetz GOTT nachzuahmen, „der zwar das Böse in der Welt zuläßt, aber ER will dabei weder, daß Böses geschehe, noch will ER, daß es nicht geschehe; aber ER will es zulassen, daß Böses geschehe: und dies ist gut“ . Dieser Satz des Engelgleichen Lehrers enthält in aller Kürze die ganze Lehre von der Duldung des Bösen.
+
Es mögen also vorurteilsfreie Männer selbst entscheiden, ob solche Lehren dazu beitragen, dem Menschen die wahre und seiner würdige Freiheit zu erhalten, oder ob sie vielmehr diese verdrehen und ganz zu Grunde richten.
  
Wenn man jedoch diese Frage richtig beurteilen will, so muß man gestehen: Ein Staatswesen entfernt sich um so weiter von seinem Ideal, je mehr es notwendig ist, im Staat das Böse zu dulden. Außerdem muß diese Duldung des Bösen, da sie eine Maßregel der politischen Klugheit ist, durchaus im Rahmen des letzten Zweckes des Staatslebens, das heißt dem heilvollen Allgemeinzustand, ihre Grenze finden. Sollte sie daher dem heilvollen Allgemeinzustand Schaden bringen und sollte das Böse im Staat dadurch nur noch größer werden, so ist es folgerichtig nicht gestattet, sie zu gewähren, weil unter solchen Verhältnissen nichts Gutes erreicht wird. Wenn es aber vorkommt, daß wegen besonderer Staats- und Zeitverhältnisse die Kirche zu gewissen modernen „Freiheiten“ allmählich stillschweigt - nicht als ob sie dieselben an sich vorzöge, sondern weil sie deren Überlassung für zweckmäßig hält - so würde sie mit Gewißheit beim Eintritt besserer Zeiten von ihrer Freiheit Gebrauch machen und durch Mahnung, Warnung, inständiges Bitten pflichtgemäß dahin streben, daß sie ihr von GOTT angewiesenes Amt erfülle: nämlich die Sorge für das ewige Heil der Menschen.
+
===Der halbe Liberalismus ist ein Widerspruch===
  
Das bleibt jedoch für immer wahr: daß eine allgemeine, unterschiedslos gewährte „Freiheit“, wie Wir des öfteren hervorgehoben haben, an sich nicht zu erreichen gesucht werden darf denn es widerspricht der Vernunft, daß das Falsche gleiches Recht haben soll wie das Wahre.
+
'''17''' Es ist gewiss, dass nicht alle Anhänger des Liberalismus diesen Ansichten voll und ganz zustimmen, da sie doch durch ihre Ungeheuerlichkeit Schrecken einflößen und, wie wir gesehen haben, offenbar falsch sind und die Wurzel der allergrößten Übel bilden. Gezwungen durch die Macht der Wahrheit, gestehen manche ein, ja behaupten es mit Nachdruck, das sei eine falsche Freiheit und werde zur Zügellosigkeit, wenn sie es in ihrem Ungestüm wagt, Wahrheit und Gerechtigkeit zu missachten. Deshalb müsse sie stets von der gesunden Vernunft gelenkt und geleitet werden und müsse sich folgerichtig auch beugen vor dem Naturgesetz und dem ewigen göttlichen Gesetze. Aber hier, glauben sie, müsse man stehen bleiben, und leugnen, dass der freie Mensch sich auch den Gesetzen zu unterworfen habe, die Gott auf eine andere Weise als durch die natürliche Vernunft uns vorschreibe.
  
Und was besonders die Toleranz betrifft, so ist es zum Staunen, wie weit die Anhänger des „Liberalismus“ von jenem gerechten Maß und jener Klugheit, so wie wir sie bei der Kirche sehen, entfernt sind. Indem sie nämlich den Bürgern in all den oben erwähnten Fragen eine schrankenlose „Freiheit“ gestatten, überschreiten sie alles Maß; und sie kommen zuletzt dahin, daß ihnen Wahrheit und gute Sitten nicht mehr zu gelten scheinen als Falschheit und Schändlichkeit.
+
Doch in diesen Worten widersprechen sie sich selbst. Denn ist es wahr, was jene auch zugeben, und was von keinem vernünftigerweise geleugnet werden kann, dass wir dem Willen Gottes, des Gesetzgebers, zu gehorchen haben, weil der ganze Mensch in Gottes Gewalt steht und zu Gott hinstrebt, ist das wahr, so folgt daraus, dass keiner der gesetzgebenden Autorität Gottes Maß und Weise vorschreiben kann, ohne sich gegen den schuldigen Gehorsam zu verfehlen. Ja, wenn der menschliche Geist in seiner Anmaßung so weit geht, dass er selbst bestimmen will, welches und wie groß die Rechte Gottes und welches die Pflichten des Menschen sind, so hat er mehr dem Scheine als der Wirklichkeit nach eine wahre Ehrfurcht vor den göttlichen Gesetzen, und an Stelle der Autorität und Vorsehung Gottes gilt ihm nur noch sein eigener Wille. Als unsere Lebensnorm haben wir mithin in ständiger Ehrerbietigkeit sowohl das ewige Gesetz, als alle jene einzelnen Gebote zu betrachten, die der unendlich weise und allmächtige Gott nach der von ihm gewählten Weise gegeben hat; wir können sie an klaren und unzweifelbaren Merkmalen sicher erkennen. Und dies umso mehr, da jene Art von Gesetzen vollkommen mit unserer Vernunft harmonieren und das Naturgesetz vervollkommnen, da sie mit dem ewigen Gesetz sowohl den Ursprung als auch den Gesetzgeber gemeinsam haben. Diese Gesetze enthalten nämlich eine Belehrung Gottes selbst an uns, der uns gnädig lenkt und leitet, damit nicht unser Geist und Wille auf Abwege gerate. So muss denn heilig und unverletzt vereinigt bleiben, was nicht getrennt werden darf noch kann, und in allem müssen wir, wie die natürliche Vernunft es vorschreibt, Gott gehorsam und zu Diensten ergeben sein.  
  
Dagegen klagen sie die Kirche, die Säule und Grundfeste der Wahrheit und unbestechliche Lehrerin der reinen Sitten, wegen Unduldsamkeit und Härte an: weil diese, ihrer Pflicht gemäß, diese zügellose und schmähliche Art von „Toleranz“ standhaft zurückweist und ihre Gewährung für unerlaubt erklärt. Wenn sie das tun, dann merken sie dabei gar nicht, daß sie etwas Lobenswertes als Fehler bezeichnen. Aber obgleich sie sich so sehr wegen ihrer „Toleranz“ rühmen, sind sie in Wirklichkeit damit nicht selten sparsam und geizig den Katholiken gegenüber; und dieselben Leute, die für jedermann ohne Unterschied verschwenderisch „Freiheit“ haben, weigern sich überall, der Kirche deren Freiheit zu lassen.
+
===Der gemäßigte Liberalismus ist falsch===
  
Fassen Wir nun Unsere ganze Rede zugleich mit den sich daraus ergebenden Folgerungen in ihren wesentlichen Punkten der Deutlichkeit halber kurz zusammen. Der Grundgedanke ist dieser: Jeder Mensch steht höchst wirklich und immerwährend in der Gewalt Gottes. Darum ist eine menschliche Freiheit, die nicht GOTT unterworfen und Seinem Willen nicht untergeben wäre, durchaus undenkbar. Die Existenz dieser Oberherrlichkeit Gottes zu leugnen oder sie nicht dulden zu wollen: das ist nicht Sache des freien Menschen, sondern dessen, der seine Freiheit zur Empörung mißbraucht. Und aus einer solchen Geistesrichtung entwickelt sich und in ihr besteht der Grundfehler des „Liberalismus“. Dieser hat jedoch verschiedene Formen. Es kann eben der Wille in verschiedener Weise sowie in unterschiedlichem Grad den Gehorsam untreu werden, welcher GOTT, oder jenen, welchen GOTT an Seiner Gewalt Anteil gab, gebührt.
+
====Er will nur das Privatleben Gott unterstellen====
  
Die Oberherrlichkeit Gottes des Allerhöchsten von Grund aus zurückzuweisen und jeden Gehorsam vollständig zu verweigern, sowohl in den öffentlichen Angelegenheiten, wie auch im privaten und häuslichen Leben: das ist die größte Verdrehung der Freiheit und darum zugleich auch die schlechteste Art des „Liberalismus“. Von dieser Art gilt daher ganz und gar, was Wir bis jetzt degegen gesagt haben.
+
'''18''' Etwas gemäßigter sind, aber ebenso widersprechen sich jene, die behaupten, das Leben und die Moral des Privatmannes haben sich nach dem Willen der göttlichen Gesetze zu richten, nicht aber das öffentliche Leben im Staate; es sei erlaubt, in der Staatsverwaltung von den Geboten Gottes abzuweichen, auch brauche man bei der Gesetzgebung auf sie keinerlei Rücksicht zu nehmen. Daraus ergibt sich jene verhängnisvolle Folgerung, Staat du Kirche seien zu trennen.
  
Nahe damit verwandt ist die Lehre jener, welche allerdings die Anerkennung der Oberherrlichkeit Gottes, unseres Schöpfers und Herrn, als notwendig zugeben, da ja auf Seinem mächtigen Willen die ganze Naturordnung ruht; aber die Gesetze des Glaubens und der Sitte, welche übernatürlich sind und von GOTT geoffenbart, weisen sie keck zurück, oder sie meinen wenigstens: es sei, besonders im Staatsleben, kein Grund vorhanden, auf dieselben Rücksicht zu nehmen. Wie sehr auch sie im Irrtum sind und im Widerspruch mit sich selbst, haben wir oben gesehen. Diese Lehre bildet den Haupt- und Grundgedanken, auf welchem jener verderbliche Satz über die „Trennung der Kirche vom Staat“ ruht; und doch ist es sonnenklar, daß beide Gewalten, obwohl sie in ihrer Aufgabe verschieden und nicht gleicher Würde sind, doch einträchtig zusammenwirken und wechselseitig einander in Übereinstimmung Dienste leisten sollen.
+
====Auch der Staat hat die Gebote Gottes zu befolgen====
  
In dieser Frage hat sich eine mehrfache Meinung gebildet.
+
Doch ist nicht schwer einzusehen, wie töricht diese Behauptung ist. Die natur selbst belehrt uns, dass der Staat den Bürgern die Mittel und Wege darbieten muss zu einem sittlichen Leben, d.h. zu einem Leben nach Gottes Gesetzen, weil Gott der Ursprung aller Sittlichkeit und Gerechtigkeit ist; es ist demnach der größte Widerspruch, zu behaupten, der Staat habe sich um diese Gesetze nicht zu kümmern, oder er dürfe sogar gegen sie etwas bestimmen.  
  
Erstens: Mehrere nämlich wollen den Staat ganz und vollständig von der Kirche trennen, und zwar so, daß gemäß ihrer Meinung in allen Rechtsverhältnissen des öffentlichen Lebens, in den Institutionen, Sitten, Gesetzen, Staatsämtern und im Jugendunterricht die Kirche vollständig unbeachtet zu bleiben hat, gleich als ob sie überhaupt nicht existieren würde. Höchstens ist es den einzelnen Bürgern gestattet, wenn es ihnen gut dünkt, die Religion privat zu üben. - Diesen gegenüber gilt das ganze Gewicht aller Gründe, mit denen Wir die Meinung widerlegt haben, es seien die „Angelegenheiten der Kirche und des Staates vollständig zu trennen“; nur kommt noch hinzu, daß es höchst ungereimt ist, daß der einzelne Staatsbürger der Kirche Ehrfurcht erzeigen soll, der Staat als Ganzes sie aber verachten dürfe.
+
Außerdem hat die staatliche Obrigkeit die Pflicht, nicht bloß für die äußere Wohlfahrt und äußeren Angelegenheiten, sondern ganz besonders durch weise Gesetzgebung für die geistigen Güter Sorge zu tragen. Wir können uns aber nichts denken, was so sehr geeignet ist, diese Güter zu fördern als jene Gesetze, welche Gott zum Urheber haben; deshalb missbrauchen jene, die bei der Staatsregierung keine Rücksicht auf die göttlichen Gesetze nehmen, die politische Macht entgegen ihrer Bestimmung und gegen das Gebot der Natur. Aber, wie Wir schon des öfteren erwähnt haben, noch wichtiger ist es, dass die bürgerliche Gewalt und die geistliche zuweilen einander entgegenkommen müssen, obgleich die bürgerliche Gewalt nicht dasselbe nächste Ziel im Auge haben noch dieselben Wege einschlagen kann, wie die geistliche. Sie besitzen nämlich beide Gewalt über dieselben Untertanen, und nicht selten müssen sie beide über dieselbe Sache bestimmen, wenngleich nicht in derselben Weise. So oft dieses stattfindet, muss es, da ein berechtigter Konflikt nicht möglich ist du dem allweisen Willen Gottes offenkundig zuwiderläuft, eine bestimmte Regel geben, durch welche die Ursache des Konfliktes und Zwiespaltes aufgehoben und ein einmütiges Vorgehen in diesen Sachen erzielt wird. Nicht mit Unrecht kann man diese Vereinigung vergleichen mit jener, welche zwischen Leib und Seele besteht und beiden zum Segen gereicht; die Trennung ist namentlich für den Leib gefährlich, denn sie raubt ihm das Leben.
  
Zweitens: Andere bestreiten die Existenz der Kirche nicht: dies wäre ihnen eben nicht möglich, aber sie entreißen ihr den Charakter einer „vollkommenen Gesellschaft“ (societas perfecta), sowie die einer solchen vom Ursprung her zukommenden Rechte. Es komme der Kirche nicht zu, so behaupten sie, Gesetze zu geben, Urteile zu fällen, Strafen zu verhängen; sondern die Kirche habe nur Mahnungen, Ratschläge und Richtlinien denen zu geben, die aus eigenem Antrieb und freiwillig sich ihr unterworfen haben. - Durch diesen Wahn wird das Wesen dieser göttlichen Gesellschaft entstellt, deren Autorität, deren Lehramt und deren gesamte Wirksamkeit geschwächt und beschränkt; zugleich wird die Machtsphäre der weltlichen Gewalt so weit ausgedehnt, daß die Kirche Gottes, nicht anders als irgendeiner der „freien“ Vereine der Bürger, der Herrschaft und Gewalt des Staates unterworfen wird.
+
==Die „modernen“ Freiheiten==
  
Diese werden widerlegt durch die Beweisgründe, welche die Apologeten zu gebrauchen pflegen, und die auch Wir, namentlich in Unserem Rundschreiben Immortale Dei hervorgehoben haben. Aus diesen folgt, daß nach Gottes Anordnung die Kirche alles das besitzt, was zum Wesen und zu den Rechten einer rechtmäßigen, höchsten und allseitig „vollkommenen Gesellschaft“ gehört.
+
'''19''' Um dies noch besser zu erkennen, müssen wir die verschiedenen Auswüchse der Freiheit, wie sie als Forderungen unserer Zeit genannt werden, im einzelnen genauer betrachten.
  
Drittens: Viele endlich billigen eine Trennung von Kirche und Staat nicht; doch hat man nach ihrem Dafürhalten dahin zu wirken, daß die Kirche im Sinne der Zeit sich allem dem beugt und sich anpaßt, was die heutige Staatsklugheit in politischen Fragen verlangt. Diese Ansicht ist dann sittlich gut, wenn sie in einer richtigen Weise verstanden wird, welche mit der Wahrheit und der Gerechtigkeit nicht in Widerspruch tritt. Die Kirche zeigt sich ja nachgiebig und gestattet gemäß den Zeitumständen im Hinblick auf irgendein großes Gutes so manches, was ohne Verletzung ihrer heiligen Pflicht geschehen kann. Anders aber liegt die Frage, wenn es sich um Gegenstände und Lehren handelt, durch welche die Entartung der Sitten und ein falsches Urteil gegen das Göttliche Recht verursacht wurden. Nie kann eine Zeit kommen, welche der Religion, der Wahrheit und der Gerechtigkeit nicht mehr bedarf. Diese höchsten und heiligsten Güter stehen nach Gottes Gebot in der Obhut der Kirche; und darum ist nichts so irrig als die Meinung, die Kirche solle Falsches oder Unrecht stillschweigend erdulden; oder sie solle dem gegenüber die Augen schließen, was die Religion schädigt.
+
===Die Kultusfreiheit===
  
So folgt denn aus dem Gesagten, daß es keineswegs erlaubt ist, „Freiheit“ für die Meinungsbildung, (für deren) schriftliche Ausarbeitung, für deren Weitergabe im Unterricht, sowie „unterschiedslose Freiheit der Religionen“ zu fordern, zu verteidigen und zu gewähren, so als wären alle diese „Freiheiten“ von der Natur gegebne „Menschenrechte“. Denn wären dieselben wirklich von der Natur gegeben, dann gäbe es ein „Recht“ zur Ablehnung von Gottes Oberherrlichkeit, und die menschliche Freiheit würde durch keinerlei Gesetz maßvoll geordnet werden können.
+
Richten wir zuerst unser Augenmerk auf das, was für die Einzelnen verlangt wird und was so sehr der Tugend der Religion widerstreitet, nämlich auf die sogenannte Kultusfreiheit. Sie besteht in ihrem innersten Wesen darin, dass es einem jedem überlassen bleibe, eine beliebige Religion oder auch gar keine zu bekennen
  
Desgleichen folgt hieraus, daß man diese verschiedenen Arten von „Freiheit“ aus gerechten Gründen zwar duldend ertragen kann: jedoch mit der begrenzenden Einschränkung, daß sie nicht in Ausschweifung und Zügellosigkeit ausarten. - Wo aber diese „Freiheiten“ gewohnheitsmäßig bestehen, dort sollen die Bürger dieselben dazu gebrauchen, recht zu handeln; und die Bürger sollen in ihrem Urteil über diese „Freiheiten“ die Anschauung, welche die Kirche über dieselben hat, zu der ihrigen machen. Jegliche Freiheit ist nämlich so weit als rechtmäßig zu erachten, als durch sie mehr Möglichkeit zum sittlich Guten dargeboten wird - niemals aber darüber hinaus.
+
====Der Mensch hat die Pflicht, der wahren Religion sich anzuschließen====
  
Wo die Regierung einen derartigen Druck auf die Bürgerschaft ausübt, daß diese schwer leidet unter ungerechter Gewalt, oder wo die Regierung der Kirche die ihr gebührende Freiheit versagt: da ist es sittlich gut, nach einer anderen Beschaffenheit des Staates zu suchen, welche eine Betätigung in Freiheit gestattet; denn dann geht das Streben nicht nach jener maßlosen und lasterhaften Freiheit“, sondern man sucht nur nach einer Erleichterung im Interesse aller; und es geschieht dies dann einzig und allein deswegen, damit nicht die Möglichkeit, das Gute zu tun, dort genommen ist, wo für das Böse zügellose „Freiheit“ besteht.
+
'''20''' Und dennoch gibt es unter allen Pflichten des Menschen keine, die so erhaben und so heilig ist, wie die Pflicht, die uns Frömmigkeit und Gottesverehrung gebietet. Es folgt dies notwendig daraus, dass wir stets in der Gewalt Gottes sind, durch Gottes Willen und Vorsehung geleitet werden und zu ihm zurückkehren müssen, von dem wir ausgegangen sind.
  
Auch ist es an sich kein Unrecht, einer volksfreundlich gemäßigten Staatsform den Vorzug zu geben, unter der Bedingung, daß dabei die katholische Lehre vom Ursprung und der Handhabung der öffentlichen Gewalt bestehen bleibt. Die Kirche verwirft eben keine von den verschiedenen Arten und Weisen des Staates, wenn sie nur an sich dem Wohl der Bürger förderlich sind; aber sie will, wie es auch die Natur ausdrücklich gebietet, daß dieselben ohne irgendwelche Rechtsverletzung und besonders unter voller Wahrung der kirchlichen Rechte festgesetzt werden.
+
Dazu kommt, dass es keine wahre Tugend ohne Religion geben kann. Die Religion ist nämlich eine sittliche Tugend, welche jene Pflichten umfasst, die sich auf das beziehen, was uns zu Gott hinführt, insofern er das höchste und letzte Gut ist; deshalb ist die Religion, „welche sich in dem bestätigt, was direkt und unmittelbar auf die Ehre Gottes gerichtet ist“ (Thomas Summa Theol. II. II. q. 81. a. 6), die Fürstin und Leiterin aller Tugenden. Wenn aber die Frage aufgeworfen wird, welcher von den vielen und sich widerstreitenden Religionen wir zu folgen haben, so antworten Vernunft und Natur: jene, die Gott vorgeschrieben hat. Die Menschen können sie an gewissen äußern Merkmalen erkennen, mit denen die Vorsehung Gottes sie ausgezeichnet hat, da ein Irrtum im einer so wichtigen Sache von den schlimmsten Folgen sein müsste. Jene Freiheit also, von der Wir hier reden, würde dem Menschen das Recht zugestehen, die heiligste Pflicht ungestraft zu verletzten und zu vergessen. Wir sagten schon, dass dies keine Freiheit ist, sondern das Verderben der Freiheit und die Knechtschaft des Geistes, der unter die Gewalt der Sünde geraten ist.  
  
Es ist sittlich ehrbar, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, wenn nicht irgendwo im Hinblick auf besondere Sach- und Zeitverhältnisse eine andere Bestimmung getroffen wird; ja, die Kirche heißt es gut, daß ein jeder sich bemüht für das gemeinsame Beste, und nach Kräften das Seine beiträgt zum Schutz, zur Erhaltung und zum Gedeihen des Staates.
+
====Der „moderne“ Staat handelt, als ob er keine Pflichten gegen Gott habe====
  
Auch das stellt die Kirche nicht als Verpflichtung auf, daß ihre Angehörigen keinem Außenstehenden und keinem (kirchenfremden) Herrscher zu dienen wünschen: vorausgesetzt, daß solches ohne jede Verletzung der Gerechtigkeit geschehen kann. - Außerdem tadelt sie auch jene nicht, die bewirken wollen, daß die Gemeinwesen nach ihren Gesetzen leben und die Bürger den größtmöglichen Spielraum zur Mehrung ihres Wohles finden. Stets war es die Kirche gewohnt, der Entwicklung der bürgerlichen, mit Maßhaltung verbundenen Freiheiten überaus treu zur Seite zu stehen. Dies bezeugen ganz besonders die italienischen Städte: deren Munizipalverfassung gab ihnen einen hohen Aufschwung, Reichtümer und Ruhm zu einer Zeit, da der heilsame Einfluß der Kirche ungehindert alle Ordnungen des Staatswesens durchdrungen hatte.
+
'''21''' Wird diese Freiheit betrachtet, wie sie im Staatsleben sich darstellt, so behauptet sie, der Staat habe keinerlei Grund, Gott zu verehren und öffentliche Gottesverehrung zu wünschen; kein Kultus dürfe dem andern vorgezogen werden, alle seien gleichberechtigt anzusehen; auch sei auf das Volk keine Rücksicht zu nehmen, selbst da nicht, wo das Volk sich zur katholischen Religion bekennt. Dies könnte nur der Fall sein, wenn es wahr wäre, dass die bürgerliche Gesellschaft keine Pflichten gegen Gott besäße oder dieselben ungestraft verletzen könnte. Beides ist offenbar falsch; denn es kann nicht bezweifelt werden, dass die bürgerliche Gesellschaft durch Gottes Willen entstanden ist, mag man ihre Bestandteile, oder ihre Form, d.h. die Autorität, oder ihre Ursache oder endlich den großen Nutzen betrachten, den sie in reichem Maße den Menschen darbietet. Gott schuf den Menschen als gesellschaftliches Wesen und stellte ihn unter seinesgleichen, damit er das, was seine Natur verlangt, er aber allein nicht erlangen kann, in Gemeinschaft mit anderen sich erwerbe. Deshalb muss die bürgerliche Gesellschaft als Gesellschaft Gott als ihren Vater und Urheber anerkennen und sich seiner Macht und Oberherrlichkeit in Ehrfurcht unterwerfen. Ein gottloser Staat oder, was schließlich auf Gottesleugnung hinausläuft, ein Staat, der, wie man sagt, gegen alle Religionen gleichmäßig wohlwollend gesinnt ist und allen ohne Unterschied die gleichen Rechte zuerkennt, versündigt  sich gegen die Gerechtigkeit wie gegen die gesunde Vernunft.
  
Wir vertrauen, Ehrwürdige Brüder, daß das, was Wir jetzt auf Grund des Glaubens und der Vernunft kraft Unseres Apostolischen Amtes gelehrt haben, zukünftig fruchtbringend werde für sehr viele, zumal wenn Ihr eure Bestrebungen mit Uns vereinigt.
+
====Der Staat hat die wahre Religion zu fördern====
  
Wir aber heben mit demütigem Herzen hilfeflehend Unsere Augen auf zu GOTT, IHN inständig bittend, daß ER in reichem Maß das Licht Seiner Weisheit und Seines Rates über die Menschen gnädig ausgießen wolle: auf daß sie, von diesen Tugenden beseelt, in diesen so hochwichtigen Fragen das Wahre erkennen und als Folge hiervon übereinstimmend mit der Wahrheit im privaten und im öffentlichen Bereich jederzeit mit unerschütterlicher Standhaftigkeit leben.
+
Da im Staate notwendigerweise Einheit im religiösen Bekenntnisse bestehen muss, so hat er sich zu der Religion zu bekennen, welche die einzig wahre ist; diese ist, namentlich in katholischen Staaten, nicht schwer zu erkennen, da an ihr die Merkmale der Wahrheit hervorleuchten. Diejenigen, die an der Spitze des Staates stehen, müssen demnach diese Religion erhalten und beschützen, wenn anders sie in kluger und nützlicher Weise das Wohl aller Bürger, wie es ihre Pflicht ist, fördern wollen. Die öffentliche Gewalt ist zum Wohle der Untertanen eingesetzt: und wenn sie auch zunächst die Aufgabe hat, die Bürger der irdischen Wohlfahrt des Lebens entgegenzuführen, so soll sie doch nicht die Erlangung jenes höchsten und letzten Gutes, in dessen Besitz die ewige Seligkeit des Menschen besteht, erschweren, sondern erleichtern; das könnten sie aber nicht, wenn sie die Religion vernachlässigen.
  
Als Vorboten dieser himmlischen Güter und zum Zeugnis Unseres Wohlwollens erteilen Wir Euch, Ehrwürdige Brüder, und dem Euch untergebenen Klerus und Volk von ganzem Herzen den Apostolischen Segen im Herrn.
+
====Dies gereicht dem Staate nur zum Segen====
  
Gegeben zu Rom beim heiligen Petrus, den 20. Juni des Jahres 1888, des elften Unseres Pontifikates.
+
'''22''' Aber das haben Wir schon an anderer Stelle ausführlich besprochen; für jetzt wollen Wir nur dies eine bemerken, dass eine solche Freiheit dem Herrscher wie den Untertanen höchst verderblich ist. Die Religion dagegen verbreitet einen wunderbaren Segen, da sie den Ursprung der Gewalt von Gott selbst herleitet und den Fürsten aufs nachdrücklichste einschärft, ihren Pflichten eingedenk zu sein, nichts Ungerechtes und Hartes zu befehlen, mit Milde und gewissermaßen mit väterlicher Liebe zu regieren. Die Religion will auch, dass die Bürger der rechtmäßigen Obrigkeit als der Bevollmächtigten Gottes untertänig sein sollen; sie verknüpft die Untertanen mit der Obrigkeit nicht allein durch das Band des Gehorsams, sondern auch durch das Band der Ehrfurcht und Liebe; sie verbietet den Aufruhr sowie jeden Versuch, die Ordnung und öffentliche Ruhe zu stören; beides gibt ja nur Veranlassung, die Freiheit der Bürger noch mehr einzuschränken. Wir wollen schweigen davon, wie viel die Religion zur Sittlichkeit beiträgt und wie viel die Sittlichkeit zur wahren Freiheit; denn die Vernunft beweist es, und die Geschichte bestätigt es: je sittlicher ein Staat ist, um so freier, reicher und mächtiger ist er auch.
  
Papst [[Leo XIII.]]
+
===Die Rede- und Pressefreiheit===
 +
 
 +
====Lüge und Laster haben kein Recht====
 +
 
 +
'''23''' Betrachten wir nun auch in Kürze die Rede- und Pressefreiheit. Wir brauchen kaum zu erwähnen, dass eine solche unbeschränkte, alles Maß und alle Schranken überschreitende Freiheit kein Recht auf Existenz besitzen kann. Das Recht ist nämlich eine sittliche Macht, und es ist daher töricht zu glauben, dasselbe sei von der Natur unterschiedslos und in gleichem Maße sowohl der Wahrheit wie der Lüge, der Sittlichkeit wie dem Laster verliehen. Es besteht ein Recht: das, was wahr und sittlich ist, frei und weise im Staat auszubreiten, damit es möglichst vielen zu gute komme; mit Recht unterdrückt aber die Obrigkeit, so viel sie kann, lügenhafte Meinungen, diese größte Pest des Geistes, wie auch Laster, welche die Seelen und die Sitten verderben, damit sie nicht zum Schaden des Staates um sich greifen.
 +
 
 +
====Der Staat hat das Volk vor verderblichen Irrtümern zu bewahren====
 +
 
 +
Es ist in der Ordnung, dass durch die Autorität der Gesetze auch die Irrtümer eines ausschweifenden Geistes, die das unerfahrene Volk geradezu vergewaltigen, ebenso kräftig unterdrückt werden, wie die mit offener Gewalt an den Schwächeren verübten Ungerechtigkeiten. Und dies umso mehr, da sich der weitaus größere Teil des Volkes vor diesen Scheingründen und verfänglichen Trugschlüssen, namentlich wenn sie der Leidenschaft schmeicheln, gar nicht oder doch nur sehr scher zu schützen vermag. Wird unbeschränkte Rede- und Pressefreiheit gestattet, so bleibt nicht mehr heilig und unverletzt; es werden selbst die höchsten und sichersten Urteile unserer natürlichen Vernunft nicht verschont bleiben, trotzdem sie doch das gemeinsame und kostbarste Erbgut des Menschengeschlechtes bilden. Wenn so allmählich die Wahrheit verdunkelt worden ist, gewinnen leicht vielfache und verderbliche Irrtümer die Oberhand. Die Zügellosigkeit wird dabei gerade so viel gewinnen, als die Freiheit Schaden leiden muss; die Freiheit ist eben um so größer und um so gesicherter, je festere Zügel der Zuchtlosigkeit angelegt werden.
 +
 
 +
Über Fragen, in welchen Gott oder die Kirche kein letztes Wort gesprochen hat, welche Gott der freien Aussprache überlassen hat, kann jeder denken, was er will. Was er für recht hält, mag er auch aussprechen, das ist nicht von der Natur verboten, denn diese Freiheit verleitet niemals die Menschen zur Unterdrückung der Wahrheit, vielmehr verhilft sie uns oft dazu, die Wahrheit zu finden und ans Licht zu ziehen.
 +
 
 +
===Die Lehrfreiheit===
 +
 
 +
'''24''' Ähnlich ist die sogenannte Lehrfreiheit zu beurteilen
 +
 
 +
====Für den Irrtum gibt es keine Freiheit====
 +
 
 +
Es ist klar, nur die Wahrheit hat das Recht, in den Geist einzudringen, da in ihr allein das Ziel und die Vervollkommnung der intelligenten Wesen liegt; daher  darf im Unterricht nur die Wahrheit vorgetragen werden, mag es sich um solche handeln, die die Wahrheit noch nicht kennen oder um solche, die sie schon wissen: den einen soll der Unterricht die Erkenntnis der Wahrheit bringen, bei den anderen soll er sie schützen. Aus eben demselben Grunde ist es offenbar die Pflicht der Lehrer, den Irrtum aus dem Geiste zu verbannen und den Weg zu falschen Meinungen durch solide Grundsätze abzuschneiden. Es ist also klar, dass jene Freiheit, von der die Rede ist, der gesunden Vernunft widerspricht und nur geeignet ist, die Geister im Innersten zu verderben, insofern sie unbeschränkte Lehrfreiheit beansprucht. Ohne Pflichtverletzung kann der Staat diese Zügellosigkeit den Bürgern nicht gestatten. Dies gilt umso mehr, weil der Einfluss des Lehrers bei seinen Zuhörern ein großer ist, und der Schüler selbst selten für sich allein beurteilen kann, ob das richtig ist, was der Lehrer vorträgt.
 +
 
 +
====Der Staat hat die natürlichen Wahrheiten zu schützen====
 +
 
 +
'''25''' Deshalb muss auch diese Freiheit, soll sie eine sittliche sein, in bestimmten Grenzen gehalten werden, damit das Lehramt nicht ungestraft zu einer Quelle des Verderbens ausarten könne. Die Wahrheiten, über die allein sich der Unterricht zu erstrecken hat, sind teils natürliche, teils übernatürliche. Die natürlichen Wahrheiten, als da sind die obersten Grundsätze der Vernunft sowie die nächsten Schlussfolgerungen aus ihnen, bilden gleichsam das gemeinsame Erbgut des Menschengeschlechtes. Da auf ihnen wie auf dem festesten Fundamente Sitte, Gerechtigkeit und Religion wie auch das Band der menschlichen Gesellschaft beruht, so gibt es nichts gottloseres und unsinnigeres, als dieses Fundament ungestraft schädigen oder zerstören lassen zu wollen.
 +
 
 +
====Die übernatürlichen Wahrheiten sind der Kirche anvertraut====
 +
 
 +
'''26''' Mit derselben Ehrerbietigkeit ist jener so große und so heilige Schatz von Wahrheiten zu bewahren, die wir durch Gottes Offenbarung kennen. Mit vielen und klaren Beweisen haben die Apologeten oft die Hauptwahrheiten zusammengestellt, wie z.B. die Existenz einer göttlichen Offenbarung, die Menschwerdung des eingeborenen Sohnes Gottes, „welcher kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben;“ die Einsetzung der Kirche als einer vollkommenen Gesellschaft, deren Haupt Christus selbst ist, und der er versprochen hat, bei ihr zu bleiben bis zum Ende der Welt. Dieser Gesellschaft hat er alle Wahrheiten, die er selbst gelehrt, anvertraut mit dem ausgesprochenen Willen, dass sie diese Wahrheiten bewahre, schütze und mit vollgültiger Autorität erkläre: zugleich hat er befohlen, dass alle Völker seine Kirche, wie ihn selbst hören sollen; die Zuwiderhandelnden soll ewiges Verderben treffen. Daraus ergibt sich, dass der Mensch an Gott seinen besten und zuverlässigsten Lehrer findet, der da die Quelle und der Ursprung aller Wahrheit ist, wie an dem Eingeborenen, der im Schoße des Vaters ist, der da ist der Weg, die Wahrheit, das Leben und das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, und auf dessen Wort alle gelehrig hören müssen: „Und sie werden alle gerne von Gott belehrt sein“ (Joh 6, 45).
 +
 
 +
'''27''' Auf dem Gebiete des Glaubens und der Sitten hat Gott die Kirche zur Teilnahme am göttlichen Lehramte bestimmt und sie nach seinem göttlichen Wohlgefallen mit Unfehlbarkeit ausgerüstet; deshalb ist sie die höchste und zuverlässigste Lehrerin der Menschen und besitzt das unverletzliche Recht auf Lehrfreiheit. In der Tat hat die Kirche, deren Lebenskraft in den von Gott empfangenen Lehren besteht, keine dringendere Sorge, als die, das ihr von Gott übertragene Amt auch treulich zu verwalten; und mächtiger, als alle sie umgehenden Hindernisse, hat sie niemals den Kampf für ihre Lehrfreiheit aufgegeben. So geschah es, dass der Erdkreis dem kläglichen Aberglauben entrissen und zur Weisheit des Christentums wie neugeschaffen, empor geführt wurde.
 +
 
 +
Die Vernunft lehrt aber deutlich, dass die geoffenbarten göttlichen Wahrheiten und die natürlichen sich nicht widersprechen können, so dass, was jenen widerspricht, dadurch auch falsch sein muss. Darum ist das göttliche Lehramt nicht nur kein Hindernis für die Forschung und den wissenschaftlichen Forschritt, noch verzögert es irgendwie die Entwicklung der menschlichen Kultur, sondern verleiht ihnen vielmehr reichliches Licht und sicheren Schutz. Aus eben demselben Grunde trägt sie nicht wenig bei zur Vervollkommnung der menschlichen Freiheit, da es die Lehre Jesu Christi unseres Erlösers ist, dass der Mensch durch die Wahrheit frei werde. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8, 32).
 +
 
 +
====Vernunft und Glaube verlangen Einschränkung der Lehrfreiheit====
 +
 
 +
Es ist also kein Grund vorhanden, dass sich die wahre Freiheit beklagen könnte, noch auch können der Wissenschaft, sofern sie diesen Namen verdient, jene gerechten und notwendigen Gesetze schwer fallen, welche die Lehre des Einzelnen Schranken setzen, wie sie Kirche und Vernunft übereinstimmend fördern.
 +
 
 +
'''28''' Wenn auch die Kirche hierin besonders und zu allermeist den Schutz des christlichen Glaubens im Auge hat, so sucht sie doch auch jede menschliche Wissenschaft zu pflegen und zu heben.  Den Beweis liefert dafür die Erfahrung allenthalben. Die schönen Wissenschaften sind ja nach wirklich gut und lobenswert und wert, dass man sie eifrig betreibt. Außerdem trägt jede Art von Gelehrsamkeit, welche die rechte Vernunft erworben hat, und welche der Wirklichkeit entspricht, sehr viel bei zur Beleuchtung jener Wahrheiten, welche wir auf das Wort Gottes hin glauben. In der Tat, es ist das hohe Verdienst der Kirche, die Denkmäler der Weisheit des Altertums ruhmvoll erhalten zu haben, der Wissenschaft eine Zufluchtsstätte eröffnet, den Wettkampf der Geister immer von neuem angespornt und mit großem Eifer die Künste gepflegt zu haben, mit welchen die Bildung unserer Zeit so gerne sich schmückt.
 +
 
 +
====Der freien Forschung bleibt ein großes Feld====
 +
 
 +
Endlich dürfen wir nicht vergessen, dass noch ein sehr weites Feld offen steht, auf welchem die menschliche Tätigkeit sich ausdehnen und die Geister sich ungehindert üben können. Hierher gehören alle jene Fragen, die mit der Glaubens- und christlichen Sittenlehre nicht in notwendigem Zusammenhange stehen, oder über welche jeder Gelehrte seine Ansicht voll und frei beibehalten kann, weil die Kirche mit ihrer Autorität nicht für die eine oder andere eintritt, oder jene Fragen, in welchen die Kirche kein Urteil gefällt, sondern ausdrücklich die Sache den Gelehrten zur weiteren Untersuchung überlassen hat.
 +
 
 +
====Der Liberalismus will für sich Freiheit, aber nicht für die Kirche====
 +
 
 +
'''29''' Aus all diesem erkennen wir, was von jener Art Freiheit zu halten ist, welche die Anhänger des Liberalismus mit stets gleichem Eifer erstreben und anpreisen. Auf der anderen Seite verlangen sie für sich und den Staat eine solche Zügellosigkeit, dass sie sich nicht scheuen, jedem verderblichen Irrtum Tür und Tor zu öffnen; auf der anderen Seite hindern sie in vielfacher Weise die Kirche und beschränken ihre Freiheit so viel als nur möglich, obgleich sie von der Lehre der Kirche keinen Schaden zu fürchten haben, wohl aber große Vorteile sich versprechen könnten.
 +
 
 +
===Die Gewissensfreiheit===
 +
 
 +
====Die falsche und die wahre Gewissensfreiheit====
 +
 
 +
'''30''' Viel gepriesen wird auch die sogenannte Gewissensfreiheit. Wird sie in dem Sinne verstanden, dass jeder nach seinem Belieben Gott verehren oder auch nicht verehren mag, so ist sie durch das bereits Gesagte hinlänglich abgetan. Aber man kann sie auch in dem Sinn auffassen, dass es dem Bürger im Staate ungehindert gestattet sein soll, nach seiner Gewissenspflicht Gottes Willen zu erfüllen und dessen Gebote zu halten. Das ist jene wahre Freiheit, wie sie den Kindern Gottes wohl ansteht, welche die Würde der menschlichen Person aufs heiligste schützt und nicht Gewalt noch Zwang duldet. Diese Freiheit haben die Apostel sich standhaft gewahrt, die Apologeten durch ihre Schriften für unverletzlich erklärt, und die Martyrer in unübersehbarer Zahl mit ihrem Blute geweiht. Und mit Recht! Dem diese christliche Freiheit anerkennt die so hohe und heilige Oberherrlichkeit Gottes über die Menschen, aber ebenso auch di erste und höchste Pflicht der Menschen, die sie gegen Gott haben. Sie hat nichts gemein mit jenen aufrührerischen und unbotmäßigen Geiste, und nie darf man von ihr denken, als wolle sie der öffentlichen Gewalt den Gehorsam verweigern: denn zu befehlen und die Ausführung des Befehles zu verlangen, hat die menschliche Gewalt nur insofern das Recht, als sie nicht in Widerspruch gerät mit Gottes Gewalt und nur in den Grenzen der von Gott gesetzten Ordnung sich hält. Sollte aber etwas befohlen werden, was dem Willen Gottes offenbar widerspricht, so wiche dieser Befehl von jener Ordnung ab und geriete in Konflikt mit der Autorität Gottes: und da wäre es recht, nicht zu gehorchen.
 +
 
 +
====Der Liberalismus knebelt die wahre Gewissensfreiheit====
 +
 
 +
'''31''' Die Anhänger des Liberalismus, welche der weltlichen Obrigkeit eine oberhirtliche und unbegrenzte Gewalt zuerkennen und behaupten, der Mensch habe in seinem Leben auf Gott keine Rücksicht zu nehmen, wollen von einem Zusammenhang der Freiheit mit Sittlichkeit und Religion durchaus nichts wissen; was immer zum Schutze dieser Freiheit geschieht, wird als Rechtsverletzung und als Staatsverbrechen gebrandmarkt. Wollten sie sagen, was sie wirklich meinen, so gäbe es keine noch so ungeheuerliche Gewalt, der man nicht gehorchen und die man nicht ertragen müsste.
 +
 
 +
==Die wahre Toleranz==
 +
 
 +
'''32''' Die Kirche wünscht von Herzen, dass die oben berührten christlichen Grundsätze alle Zweige des Staatslebens ganz durchdringen möchten. In ihnen liegt eine überaus große Heilkraft gegen die vielen und großen Übel unserer Zeit, die großenteils aus jenen vielgepriesenen Freiheiten entstanden sind, in denen man die Quelle des Heiles und des Ruhmes gefunden zu haben glaubte. Der Erfolg hat diese Hoffnung zerstört. An Stelle der süßen und heilbringenden Früchte sind bittere und verdorbene gewachsen. Sucht man ein Heilmittel, so möge es gesucht werden in der Rückkehr zu den gesunden lehren, von denen allein man die Erhaltung der Ordnung und somit den Schutz der Freiheit zuversichtlich erwarten kann.
 +
 
 +
===Toleranz darf zuweilen geübt werden===
 +
 
 +
'''33''' Nichtsdestoweniger hat die Kirche ein mütterliches Auge für die menschliche Schwäche, die sich so gewaltig geltend macht, und sie verkennt nicht die Richtung, in welcher in unseren Tagen die Geister und Verhältnisse treiben. Obgleich sie nur der Wahrheit und Sittlichkeit Rechte zuerkennt, so hat sie doch nicht dagegen, dass die öffentliche Gewalt etwas duldet, was der Wahrheit und Gerechtigkeit zuwider ist, wenn es sich darum handelt, ein größeres Übel zu verhindern oder ein wahres Gut zu erlangen oder zu schützen. Selbst der unendliche, gütige Gott, der alles kann, duldet in seiner weisen Vorsehung manches Übel in der Welt, teils damit nicht größere Güter verhindert werden, teils damit nicht noch größere Übel entstehen. Die Staatsregierungen sollen hierin dem Regierer der Welt nachahmen: Da die menschliche Obrigkeit nun einmal nicht alle Übel verhindern kann, muss sie „manches dulden und ungestraft dahingehen lassen, was aber durch Gottes Vorsehung bestraft wird und zwar mit Recht“ (Augustinus, de lib. Arb. I. 6. n. n. 14).
 +
 
 +
===Toleranz darf das Übel nicht gut heißen===
 +
 
 +
Wenn auch das menschliche Gesetz unter solchen umständen um des Gemeinwohles willen – und nur aus diesem Grunde – ein Übel dulden kann oder sogar folgen muss, so darf es doch nie das Übel gutgeheißen oder in sich wollen; denn das Übel ist der Mangel eines Gutes und widerspricht mithin dem Gemeinwohl, das der Gesetzgeber anstreben und schützen muss, so viel er nur kann. Auch hierin hat sich das menschliche Gesetz Gott zum Vorbild zu nehmen, der dadurch, dass er Böses in der Welt zulässt, „weder will, dass Böses geschieht, noch will, dass das Böse nicht geschehe, sondern zulässt, dass es geschehe; und das ist gut“ (Thomas I. q. 19. a. 9 ad 3). Diese Worte des englischen Lehrers enthalten kurz die ganz Lehre von der Zulassung des Bösen.
 +
 
 +
===Diese Duldung darf nicht die Grenzen der Klugheit überschreiten===
 +
 
 +
'''34''' Aber, wenn man die Sache richtig beurteilen will, muss man zugeben, dass ein Staat um so weiter von seinem Ideale sich entfernet, je mehr er Böses zulassen muss; deshalb muss die Duldung des Bösen, da sie zu den Geboten der politischen Klugheit gehört, unbedingt in jenen Grenzen sich halten, welche der Zweck des Staates, d.h. das Gemeinwohl, verlangt. Wenn sie dem öffentlichen Wohle schadet und noch größere Übel verursacht, so darf sie folgerichtig nicht angewendet werden weil unter solchen Umständen kein Gut mehr erreicht wird. Wenn es aber geschieht, dass die Kirche unter besonders gearteten staatlichen Verhältnissen, bei gewissen modernen Freiheiten schweigt – nicht als ob sie diese an sich wünschte, sondern weil sie glaubt, die Duldung sei das Beste – so würde sie, wenn die Verhältnisse sich bessern würden, sich ihrer Freiheit wieder bedienen, um durch Rat, Mahnung und Bitten, wie es das von Gott ihr aufgetragene Amt erheischt, für das ewige Heil der Menschen Sorge zu tragen. Es bleibt ewig wahr: jene Freiheit, die allen gewährt wird und unterschiedslos sich über alles erstreckt, ist, dass der Irrtum dasselbe Recht besitze wie die Wahrheit.
 +
 
 +
===Der Liberalismus huldigt einer falschen Toleranz===
 +
 
 +
'''35''' Was aber die Toleranz betrifft, so welchen die Anhänger des Liberalismus himmelweit ab von dem gerechten und klugen Vorgehen der Kirche. Indem sie den Bürgern in all den Dingen, von denen wir geredet; unbegrenzte Zügellosigkeit gewähren, überschreiten sie alles Maß und gelangen schließlich dahin, dass sie der Sittlichkeit und Wahrheit nicht mehr Recht zuzuerkennen scheinen als dem Irrtum und der Unsittlichkeit. Die Kirche wird als unduldsam und hart geschmäht, sie die Säule und Grundfeste der Wahrheit und unfehlbare Lehrerin der Sitten, weil sie diese Art von zügelloser und schmachvoller Toleranz stets pflichtmäßig verwirft und für unerlaubt erklärt. Bei diesem Beginnen merken jene Liberalen nicht einmal, dass sie lästern, was sie loben sollten. Während sie sich mit der Toleranz brüsten, kommt es oft vor, dass sie zurückhaltend und karg sind, wo es sich um die katholische Sache handelt; und eben dieselben, die nach allen Seiten reichlich Freiheit gewähren, verweigern sie vielfach der Kirche.
 +
 
 +
==Zusammenfassung der Lehre über die Freiheit==
 +
 
 +
'''36''' Fassen wir der Klarheit halber die ganze Ausführung mit ihren Folgerungen der Hauptsache nach kurz zusammen, so ist der Kern der Sache dieser: es ist notwendige Wahrheit, dass der ganze Mensch vollkommen und zu jeder Zeit in der Hand Gottes ist; deshalb kann eine menschliche Freiheit, die nicht Gott unterworfen und seinen Willen nicht untertan ist, nicht gedacht werden.
 +
 
 +
===Der konsequente Liberalismus leugnet die Oberherrlichkeit Gottes===
 +
 
 +
Die Oberherrlichkeit Gottes leugnen oder sich ihr nicht fügen wollen, ist nicht das Zeichen des freien Mannes, sondern des Empörers, der seine Freiheit missbraucht; gerade aus dieser Gesinnung entsteht und in ihr besteht der Grundirrtum des Liberalismus. Er hat aber verschiedene Formen. Der Wille kann in verschiedener Weise und in verschiedenem Maße den Gehorsam verweigern, den er Gott oder den Stellvertretern der göttlichen Gewalt schuldet.
 +
 
 +
'''37''' Die Oberherrlichkeit Gottes, des Allerhöchsten, vollständig verachten und jeden Gehorsam einfachhin im öffentlichen wie im privaten und häuslichen Leben verweigern, ist der schlimmste Missbrauch der Freiheit und darum die schlechteste Art des Liberalismus; von dieser gilt durchaus alles, was wir bis jetzt gegen ihn gesagt haben.
 +
 
 +
=== Der gemäßigtere Liberalismus fordert Trennung von Kirche und Staat===
 +
 
 +
'''38''' Ihm zunächst steht die Lehre jener, welche zwar zugeben, dass wir uns Gott, dem Schöpfer und Herrn der Welt, unterwerfen müssen, da ja durch seinen Willen die ganze Natur hervorgebracht sei; aber sie weisen sie durch die Autorität Gottes uns auferlegten Gesetze in Sachen des Glaubens und der Sitte, welche die Vernunft aus sich nicht erkennt, in kecker Weise zurück, oder sie behaupten wenigstens, man habe sie namentlich im öffentlichen Staatsleben, nicht zu berücksichtigen. Wir haben oben gezeigt, wie sehr sie im Unrecht sind und wie offenbar sie sich widersprechen. Aus dieser Lehre entspringt, wie aus ihrer Hauptquelle, jene verderbliche Lehre von der Trennung von Kirche und Staat. Und doch ist es klar, dass diese beiden Gewalten, wenn auch nach Aufgabe und Würde verschieden, unter sich durch einträchtiges Handeln und wechselseitige Dienstleistung harmonieren müssen.
 +
 
 +
====Einige wollen die Kirche ganz ignorieren====
 +
 
 +
'''39''' Diese Art des Liberalismus teilt sich in zwei Richtungen. Manche verlangen, der Staat solle ganz und gar von der Kirche getrennt sein, in dem Sinne, dass alle Rechtsverhältnisse der Bürger, alle Einrichtungen, Sitten, Gesetze, Staatsämter, aller Jugend-Unterricht keine Rücksicht auf die Kirche nehmen, wie wenn sie gar nicht existierte; höchstens will man den einzelnen Bürgern gestatten, nach Belieben im Privatleben ihre Religion auszuüben. Gegen diese richtet sich die ganze Macht unserer Beweise, mit denen Wir die Ansicht von der Trennung der kirchlichen und staatlichen Angelegenheiten bekämpft haben. Wir fügen nur noch hinzu, dass es unsinnig ist, zu sagen, der einzelne Bürger habe die Kirche zu respektieren, die Gesamtheit der Bürger aber nicht.
 +
 
 +
====Andere wollen der Kirche ihre Rechte absprechen====
 +
 
 +
'''40''' Die anderen sind nicht dagegen, dass die Kirche existiere; sie können auch nicht dagegen sein. Sie rauben ihr aber den ihr eignen Charakter und die ihr zukommenden Rechte einer vollkommenen Gesellschaft; sie behaupten, sie habe nicht das Recht, Gesetze zu erlassen, zu richten und zu bestrafen, sie dürfe nur jene, die sich ihr aus eigenem Antriebe und freiwillig unterwerfen, ermahnen, beraten und leiten. Sie erstellen also durch ihre Lehre den Charakter dieser Gesellschaft, sie schwächen und beschränken ihre Autorität, ihr Lehramt und ihre ganze Wirksamkeit; die Staatsgewalt aber heben sie so hoch empor, dass sie der staatlichen Macht und Botmäßigkeit auch die Kirche unterwerfen, als wäre sie bloß eine jener freien Vereinigung von Bürgern.
 +
 
 +
Zur Widerlegung dieser Ansicht genügen jene Beweisgründe, welche den Apologeten geläufig und von Uns nicht übergangen sind, namentlich in dem Rundschreiben Immortale Die (Die Kirche und der Staat), aus denen hervorgeht: es ist von Gott angeordnet, dass die Kirche alles Macht besitze, welche zum Wesen und zu den Rechten einer rechtmäßigen, höchsten und in jeder Hinsicht vollkommenen Gesellschaft gehört.
 +
 
 +
===Das Staatskirchentum ist zu verwerfen===
 +
 
 +
'''41''' Viele endlich wollen keine Trennung von Kirche und Staat; aber sie meinen, man müsse darauf hinarbeiten, dass die Kirche sich den Zeitverhältnissen fügen und sich beugen und anschmiegen müsse an das, was die heutige Staatsklugheit in der Staatsverwaltung verlangt. Diese Ansicht ist falsch, so lange es sich um eine gewisse Billigkeit handelt, welche sich mit der Wahrheit und Gerechtigkeit verträgt; wenn nämlich die Kirche im Hinblick auf einen großen Vorteil sich nachgiebig zeigt und den Zeitverhältnissen sich anpasst, so weit sie es ohne Verletzung ihres heiligen Amtes vermag. Aber anders fällt unser Urteil aus, wenn es sich um Dinge und Lehren handelt, welche die veränderten Sitten und ein falsches Urteil gegen alles Recht eingeführt haben. Keine Zeit kann der Religion, der Wahrheit und der Gerechtigkeit entbehren. Da aber befohlen, dass die Kirche diese höchsten und heiligsten Dinge zu schützen hat, so gibt es nichts Verkehrteres, als zu verlangen, die Kirche solle Irrtum und Ungerechtigkeit stillschweigend dulden oder nachsichtig sein gegen das, was der Religion schadet.
 +
 
 +
===Es ist unerlaubt, die „modernen“ Freiheiten schrankenlos zu gewähren===
 +
 
 +
'''42''' Aus dem Gesagten ergibt sich, dass es niemals erlaubt ist, die Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Lehrfreiheit, sowie unterschiedslose Religionsfreiheit zu fordern, zu verteidigen, oder zu gewähren, als seien dies ebenso viele Rechte, welche die Natur dem Menschen verliehen habe. Hätte die Natur diese Rechte verliehen, so wäre es erlaubt, Gottes Oberherrlichkeit zu bestreiten, und der menschlichen Freiheit könnten durch kein Gesetz Schranken gezogen werden. – Ebenso folgt aus dem Gesagten, dass jene Freiheiten, wenn vernünftige Gründe vorhanden sind, geduldet werden können, unter der Bedingung, dass sie nicht schrankenlos sind, auch dass sie nicht in Zügellosigkeit und Frechheit ausarten. Wo aber diese Freiheiten eingeführt sind, da sollen die Bürger sie nur Benutzen, um recht zu handeln und darüber denken, was die Kirche darüber denkt. Jede Freiheit kann nur insoweit als eine rechtmäßige betrachtet werden, als sie eine größere Möglichkeit zum sittlichen handeln bietet; sonst nie.
 +
 
 +
===Die Menschen sind nicht an eine bestimmte Staatform gebunden===
 +
 
 +
'''43''' Dort, wo die Staatsgewalt die Untertanen bedrückt und ausbeutet, so dass die Bürgerschaft unter ungerechter Gewalt seufzt oder die Kirche ihrer gebührenden Freiheit beraubt wird, da ist es erlaubt, eine andere Staatsverfassung anzustreben, in welcher Freiheit gewährt wird; hier verlangt man nicht nach jener maßlosen und falschen Freiheit, sondern es wird eine Milderung zum Wohle aller gesucht und dies geschieht nur deshalb, damit dort, wo dem Bösen Freiheit gelassen wird, einem nicht auch noch die Möglichkeit genommen wird, das Gute zu tun.
 +
 
 +
'''44''' Auch ist es keine Pflichtverletzung, lieber eine Staatsverfassung zu haben, welche durch eine Volksvertretung gemäßigt ist, solange dabei die katholische Lehre von dem Ursprung und der Anwendung der Staatsgewalt gewahrt bleibt. Die Kirche verwirft keine jener verschiedenen Staatsformen, solange sie aus sich geeignet sind, das Gemeinwohl zu besorgen; sie verlangt aber, dass die einzelnen Verfassungen, wie es ja auch die Natur verlangt, ohne Rechtsverletzung zustande kommen namentlich unter Wahrung der kirchlichen Rechte.
 +
 
 +
'''45''' Es ist gut, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, außer wenn es irgendwo wegen der besonderen Staats- und Zeitverhältnisse verboten ist; ja die Kirche billigt es sehr, das die Einzelnen ihre Kräfte in den Dienst des Gesamtwohles stellen, und so viel als sie können zum Schutze, zur Erhaltung und zur Blüte des Staates beitragen.
 +
 
 +
'''46''' Auch das verurteilt die Kirche nicht, dass ihr Volk keinem Auswärtigen noch einen Herrn im eigenen Lande dienen will, solange die Gerechtigkeit dabei gewahrt bleibt. Auch tadelt sie die nicht, welche dahin streben, dass die Staaten nach ihren eigenen Gesetzen leben und den Bürgern die größtmögliche Gelegenheit gegeben wird, ihre Lage zu verbessern. Die Kirche war stets die treueste Förderin der maßvoll gehaltenen bürgerlichen Freiheiten. Zeugen dafür sind vor allem die italienischen Städte. Zur Zeit, als die heilsame Macht der Kirche alle Verhältnisse des Gemeinwesens ungehindert durchdrang, haben sie vermöge ihrer Munizipalverwaltung eine Zeit der Blüte, des Reichtums und des Ruhmes gehabt.
 +
 
 +
==Ausblick zu Gott==
 +
 
 +
'''47'''  Ehrwürdige Brüder, Wir vertrauen, dass das, was Wir hier Unserm apostolischen Amte gemäß Euch im Lichte des Glaubens und der Vernunft gelehrt haben, reichliche Frucht in Zukunft tragen werde, zumal wenn Ihr Uns unterstützt.
 +
 
 +
Wir aber erheben in der Demut Unseres Herzens unsere Augen zu Gott und bitten ihn inständig, er möge den Menschen gnädig das Licht seiner Weisheit und seines Rates verleihen, damit sie doch in Kraft dieser himmlischen Gnaden in diesen hochwichtigen Fragen die Wahrheit erkennen und demgemäss ihr privates und öffentliches Leben zu jeder Zeit mit ungebeugter Standhaftigkeit auch noch der Wahrheit einrichten.
 +
 
 +
Als Unterpfand dieser himmlischen Gaben und zum Zeichen Unseres Wohlwollens erteilen Wir Euch, Ehrwürdige Brüder, Eurem Klerus und Eurem Volke, dem Ihr vorsteht, gern den Apostolischen Segen im Herrn.
 +
 
 +
<center> Gegeben zu Rom bei St. Peter, den 20. Juni 1888, </center>
 +
<center> im elften Jahre Unseres Pontifikates </center>
 +
 
 +
<center> [[Leo XIII.]] [[Papst|PP.]] </center>
 +
 
 +
[[Kategorie:Lehramtstexte (Wortlaut)]]

Version vom 18. April 2008, 16:44 Uhr

Enzyklika
Libertas praestantissimum
unseres Heiligen Vaters
Leo XIII.
an die Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe
der katholischen Welt, welche in Frieden und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle steben,
über die Freiheit und den Irrtum des Liberalismus
20. Juni 1888
(Lateinischer Text: ASS XX [1887] 593-613)

(Quelle: Leo XIII. - Lumen De Caelo. Erweiterte Ausgabe des „Leo XIII. der Lehrer der Welt". Praktische Ausgabe der wichtigsten Rundschreiben Leo XIII. und Pius XI. in deutscher Sprache (in deutschen Buchstaben) Herausgegeben von Carl Ulitzka, Päpstlicher Hausprälat, Authentische deutsche Fassung, Ratibor 1934, S. 96-119. Mit kirchlicher Druckerlaubnis. Die Nummerierung folgt der englischen Fassung Die englische Fassung auf der Vatikanseite)

Allgemeiner Hinweis: Die in der Kathpedia veröffentlichen Lehramstexte, dürfen nicht als offizielle Übersetzungen betrachtet werden, selbst wenn die Quellangaben dies vermuten ließen. Nur die Texte auf der Vatikanseite [1] können als offiziell angesehen werden (Schreiben der Libreria Editrice Vaticana vom 21. Januar 2008).

Ehrwürdige Brüder,
Gruß und apostolischen Segen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Der Mensch besitzt die Gabe der Willensfreiheit

1 Die Freiheit, diese äußerste wertvolle Gabe der Natur, kommt nur dem Wesen zu, welche den Gebrauch der Intelligenz oder Vernunft besitzen. Sie verleiht dem Menschen jene Würde, wodurch er sich selbst in der Hand hat bei seinen Entschlüssen, und so Herr über seine eigenen Handlungen wird. Es kommt aber sehr darauf an, wie man sich dieser Würde bedient, da aus dem Gebrauch der Freiheit die höchsten Güter, aber auch die größten Übel erwachsen. Gewiss steht es in den Menschen Macht, der Vernunft zu gehorchen, das sittlich Gute zu wählen und geraden Wegs sein höchstes Ziel zu verfolgen. Doch kann er auch nach jeder Richtung hin abirren: er kann einem trügerischen Scheingute folgen und so die sittliche Ordnung stören und sich freiwillig ins Verderben stürzen

Christus hat diese Freiheit veredelt

Jesus Christus, der Erlöser des Menschengeschlechtes, der die ursprüngliche Würde der Natur wiederherstellte und vervollkommnete, hat hierdurch den Willen des Menschen selbst außerordentlich gestählt, und durch die Gnadenhilfe hienieden, wie durch die versprochene ewige Seligkeit im Himmel ihn auf nach Höheres hingelenkt. In ähnlicher Weise hat sich die Katholische Kirche um dieses hohe Gut der Natur verdient gemacht und wird stets ihre Verdienste um dasselbe haben, da ihr ja die Aufgabe geworden ist, die uns durch Jesus Christus verliehenen Wohltaten durch alle Zeiten hindurch dem Menschengeschlechte zu vermitteln. Nichtsdestoweniger gibt es viele, welche glauben, die Kirche sei eine Feindin der menschlichen Freiheit. Schuld an dieser Erscheinung ist ein gewisses verkehrtes und falsches Urteil über die Freiheit selbst. Jene fälschen nämlich den richtigen Begriff der Freiheit oder dehnen ihn über Gebühr aus, so dass sie sehr vieles in den Bereich der Freiheit verweisen, worin der Mensch, nach dem Urteil der gesunden Vernunft, nicht frei sein kann.

Nicht alles an den „modernen“ Freiheiten ist gut

2 An anderer Stelle haben Wir, namentlich in dem Rundschreiben „Immortale Dei“, von den sogenannten modernen Freiheiten gesprochen und das Richtige vom Falschen geschieden; zugleich haben Wir gezeigt, wie das, was an jenen Freiheiten Gutes sich findet, so alt ist wie die Wahrheit selbst, und wie die Kirche dieses zu allen Zeiten freudig anerkannt hat und immer praktisch anzuwenden pflegte. Was Neues hinzukam, bildet, wenn Wir es auf den Wahrheitsgehalt prüfen, einen gewissen verdorbenen Bestandteil, der seinen Ursprung in den wirren Zeitverhältnissen und in einer wahren Sucht nach Neuerungen hat.

Da jedoch viele hartnäckig an der Meinung festhalten, als seien jene Freiheiten auch in dem, was sie Verdorbenes enthalten, die höchste Zier unseres Jahrhunderts und das notwendige Fundament, auf dem sie Staaten ruhen, in dem Maße, dass ohne sie eine vollkommene Staatsregierung nicht denkbar sei, darum erscheint es Uns mit Rücksicht auf das öffentliche Wohl notwendig, diese Frage besonders zu erörtern.

Die sittliche Freiheit

3 Wir sprachen direkt von der sittlichen Freiheit, wie wir sie wohl bei den Einzelpersonen als auch beim Staatsleben finden. -

Vernunft und Glaube sagen, dass der Mensch die natürliche Willensfreiheit besitzt

Zunächst dürfte es doch gut sein, einiges über die natürliche Freiheit vorauszuschicken, da sie, obgleich von der sittlichen Freiheit gänzlich verschieden, doch die ursprüngliche Quelle ist, aus welcher jegliche Art von Freiheit von selbst aus eigener Kraft sich herleitet. Nach dem allgemeinen Urteil und auch der gemeinsamen Überzeugung – welche ganz sicher die Stimme der Natur ist -, findet sich dieselbe nur in den mit Verstand und Vernunft begabten Wesen; in ihr liegt vor allem der Grund, warum der Mensch in Wahrheit der Herr seiner Handlungen genannt werden muss. Mit vollem Recht! Denn während die anderen Lebewesen nur durch ihre Sinne geleitet werden und instinktmäßig finden, was ihnen nützlich, und fliehen, was ihnen schädlich ist, so bedient sich der Mensch bei jeder seinen Handlungen der Vernunft als Führerin. Die Vernunft aber erkennt, dass alle Güter dieser Welt, insgesamt oder einzeln genommen, sein und auch nicht sein können; und eben hierdurch sieht sie ein, dass uns keins von allen unbedingt notwendig ist und verleiht damit dem Willen die Macht, frei zu Wählen, was ihm gefällt.

Über diese sogenannte Kontingenz (Nicht-Notwendigkeit) der genannten Güter steht aber deshalb dem Menschen ein Urteil zu, weil er eine ihrer Natur nach einfache, geistige und des Denkens fähige Seele hat. Dieser Geist steht aber wegen dieser seiner Beschaffenheit nicht aus der Körperwelt, noch hängt er in seiner Existenz von ihr ab; vielmehr ist er unmittelbar von Gott erschaffen, ist hoch erhaben über den den Körpern eigentümlichen Daseinsform, und hat seine Lebens- und Handlungsweise. Erkennt er vermöge seiner Urteilskraft die unwandelbaren und notwendigen Ideen des Wahren und Guten, so sieht er ein, dass jene Einzelgüter ihm durchaus nicht notwendig sind. Da also der menschliche Geist existiert, ohne mit Körperlichem vermischt zu sein, und er hierdurch die Denkkraft besitzt, so bildet dieses das sicherste Fundament für die natürliche Freiheit.

4 Wie die Einfachheit, Geistigkeit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele, so verkündet auch niemand lauter die Freiheit und verteidigt sie standhafter als die Katholische Kirche, welche zu jeder Zeit beide Wahrheiten als Dogmen gelehrt hat und noch heute beschützt. Und damit noch nicht genug: die Kirche hat auch gegenüber den Irrlehrern und Neuerungssüchtigen Menschen die Verteidigung der Freiheit übernommen und dadurch dieses so hohe Gut des Menschen vor dem Verderben gerettet. Mit welchem Eifer sie auf diesem Gebiete die unsinnigen Bestrebungen der Manichäer und anderer zurückgewiesen, davon legen die Geschichtsbücher Zeugnis ab; wie mutig und wie siegreich sie auf dem Konzil von Trient und später gegen die Jansenisten für die menschliche Willensfreiheit kämpfte, ist allgemein bekannt; sie duldete zu keiner Zeit und an keinem Orte, dass sich der Fatalismus einnistete.

Das Wesen der Freiheit besteht in dem Vermögen zu wählen

5 Diejenigen besitzen, wie Wir gesagt, also Freiheit, die mit Vernunft und Verstand begabt sind; sie ist, wenn wir ihr Wesen betrachten, nichts anderes als die Fähigkeit, Zweckdienliches zu wählen. Wer nämlich eines unter vielen auswählen kann, der ist Herr seiner Handlungen.

Weil nun alles, was wir zur Erreichung eines Zweckes wählen, ein Gut ist, das wir ein nützliches zu nennen pflegen, da ferner jedes Gut seiner Natur nach das Verlangen erregt, so ist die Freiheit eine Fähigkeit des Willens oder vielmehr der Wille selbst, insofern er, wenn er handelt, zu wählen vermag. Niemals jedoch wird der Wille angeregt, wenn nicht die Erkenntnis des Verstandes gleichsam wie eine Fackel ihm voranleuchtet; ein Gut nämlich, wonach der Wille verlangt, kann nur ein Gut sein, insofern es von dem Verstande als solches erkannt wird. Und dies um so mehr, als bei jedem Willensakt das Urteil sowohl über die Wahrheit der Güter als noch darüber, welches Gut den anderen vorzuziehen ist, immer der Wahl vorausgeht.

Urteilen ist aber Sache des Verstandes und nicht des Willens, darüber besteht kein Zweifel. Wenn also die Freiheit eine Fähigkeit des Willens ist, der seinem Wesen nach ein Begehren bedeutet, das der Vernunft gehorcht, so folgt daraus, dass auch die Freiheit, wie der Wille selbst, sich nur erstrecken kann auf ein Gut, das vom Verstande erkannt wird. Beide Vermögen sind aber unvollkommen; es kann mithin geschehen, und es geschieht auch oft, dass der Verstand dem Willen ein Gut vorstellt, das keineswegs ein wahres Gut ist, das vielmehr nur den trügerischen Schein des Guten besitzt, nachdem es alsdann der Wille verlangt.

Die Freiheit zu sündigen ist eine Unvollkommenheit

6 Sich irren können und sich wirklich irren ist ein Fehler, der die Unvollkommenheit unseres Verstandes beweist; wenn auch das Verlangen nach einem trügerischen und nur scheinbaren Gute ein Beweis unserer Freiheit ist, wie auch krank sein noch ein Beweis des Lebens ist, so ist jenes Verlangen doch ein gewisser Mangel der Freiheit. Dadurch also, dass der Wille vom Verstande abhängig ist, verdirbt er, wenn er etwas der gesunden Vernunft Widersprechendes anstrebt, durch diesen Fehler die Freiheit in der Wurzel und begeht einen Missbrauch derselben. Aus eben diesem Grunde besitzt Gott, der unendlich Vollkommene, der die höchste Weisheit und die wesenhafte Güte selbst ist, die höchste Freiheit und kann das sittlich Böse in keiner Weise wollen; ebenso wenig können es die Seligen des Himmels, da sie die Anschauung des höchsten Gutes besitzen. Sehr richtig haben der heilige Augustinus und andere den Pelagianern gegenüber bemerkt: wenn das Vermögen zu sündigen zum Wesen und zur Vollkommenheit der Freiheit gehörte, so wären Gott, Jesus Christus, die Engel und Seligen, denen allen dieses Vermögen fehlt, entweder nicht frei, oder doch weniger vollkommen, als der unvollkommene Mensch, so lange er auf Erden wandelt. Über dieses Thema hat der englische Lehrer (Thomas von Aquin) sich nochmals des Weiteren ausgesprochen, woraus mit zwingender Folgerichtigkeit hervorgeht, dass die Fähigkeit zu sündigen keine Freiheit ist, sondern Knechtschaft. Sehr scharfsinnig bemerkt er zu den Worten Christi unseres Herrn: „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht!“ (Joh 8, 34): „Jedes ist das, was ihm seiner Natur nach zukommt. Wenn es also von einem anderen, was außer ihm liegt, bewegt wird, handelt es nicht aus sich, sondern infolge der Einwirkung eines anderen; das aber ist knechtisch. Der Mensch ist seiner Natur nach ein vernünftiges Wesen. Wenn er sich also von seiner Vernunft leiten lässt, so wird er aus eigenem Antrieb bewegt und handelt selbstständig; das ist ein Zeichen der Freiheit; wenn er aber sündigt, so handelt er nicht nach seiner Vernunft und wird alsdann gleichsam von einem anderen bewegt und von fremden Schranken beengt: und darum heißt es, wer Sünde tut, ist der Sünde Knecht.“

Selbst die Philosophie der Alten hat dies klar genug erkannt; insbesondere jene, welche lehrten: nur der Weise ist frei; für einen Weisen hielten sie aber nur den, der gelernt hatte, stets naturgemäß zu handeln, d.h. sittlich und tugendhaft.

Das Gesetz ist ein Schutz der Freiheit

7 Da es sich so mit der menschlichen Freiheit verhält, so musste sie gestählt werden durch entsprechende Hilfs- und Schutzmittel, durch welche ihre ganze Tätigkeit auf das Gute hin- und vom Bösen abgelenkt werde; widrigenfalls hätte die Willensfreiheit dem Menschen zum großen Schaden gereichen können.

Es ist die Ordnung der Vernunft

Zunächst war also das Gesetz notwendig, jene Regel für das, was zu tun und zu lassen ist; hiervon kann bei einem Lebewesen keine Rede sein, welche mit Notwendigkeit handeln, weil sie bei all ihrem Tun dem Drange der Natur folgen und anders überhaupt sich nicht betätigen können. Die vernünftigen Wesen jedoch haben eben deswegen, weil sie Freiheit besitzen, es in der Gewalt zu handeln oder nicht zu handeln, so oder anders zu handeln; sie wählen ja, was sie wollen und es geht der Wahl jenes Urteil der Vernunft voraus. Dieses Urteil sagt nicht bloß, was der Natur nach sittlich, was unsittlich ist, sondern auch was gut und zu tun ist, sowie was schlecht und zu meiden ist; die Vernunft schreibt nämlich dem Willen vor, wonach er verlangen darf, und was er zu meiden hat, damit der Mensch dereinstens sein letztes Ziel erreichen kann, auf welches alles hingeordnet ist werden muss. Diese Ordnung der Vernunft heiß Gesetz.

Der letzte Grund, warum dem Menschen ein Gesetz notwendig ist, liegt mithin in dem freien Willen; unsere Willensentschlüsse sollen nämlich mit der rechten Vernunft im Einklang stehen. Nichts ist deshalb so falsch und so unsinnig, wie die Behauptung, der Mensch dürfe die Fessel des Gesetzes nicht tragen, weil er von Natur aus frei ist. Wenn das wahr wäre, so würde daraus notwendig folgen, zur Freiheit gehöre, dass sie mit der Vernunft nicht zu tun habe; gerade das Gegenteil ist zweifellos richtig: deshalb muss der Mensch durch das Gesetz geleitet werden, weil er von Natur aus frei ist. Auf diese Weise wird das Gesetz für den Menschen ein Führer bei all seinen Handlungen: es lockt ihn zum Guten durch den Lohn den es verspricht, und schreckt ihn vom Bösen ab durch die Androhung von Strafe.

Das Naturgesetz ist Gottes Stimme, das ewige Gesetz

8 Ein solches Gesetz ist an erster Stelle das Naturgesetz, welches geschrieben steht und eingegraben ist in die Seele jedes einzelnen Menschen; es ist nämlich die menschliche Vernunft selbst, die da das Gute befiehlt und das Böse verbietet.

Diesem Gebote der menschlichen Vernunft kann aber die Bedeutung eines Gesetzes nur zukommen, weil es die Stimme und die Dolmetscherin jener höheren Vernunft ist, der unser Geist und unsere Freiheit zu gehorchen hat. Da die Macht des Gesetzes darin besteht, Pflichten aufzuerlegen und Rechte zu erteilen, so beruht sie ganz auf der Autorität, d.h. in der wahren Gewalt, sowohl Pflichten und Rechte zu bestimmen, als durch Strafe und Lohn den Befehlen die Sanktion zu verleihen. Es ist klar, dies alles könnte beim Menschen nicht geschehen, wenn nicht Gott es wäre, der als oberster Gesetzgeber ihm für seine Handlungen diese Norm gegeben. Daraus folgt,, dass das Naturgesetz ein und dasselbe ist wie das ewige Gesetz, welches den vernünftigen Wesen angeboren ist und sie hinlenkt, so zu handeln, wie es dem Ziele des Menschen entspricht; es ist nämlich die ewige Vernunft Gottes selbst, des Schöpfers und Lenkers der ganzen Welt.

Eine Hilfe des Gesetzes ist die Gnade

Mit dieser Regel für unser Handeln und diesem Zügel gegen die Sünde sind durch Gottes Güte noch einige besondere Schutzmittel verbunden, die sehr geeignet sind, den menschlichen Willen zu kräftigen und zu leiten. Unter diesen ragt an erster Stelle die Macht des göttlichen Gnade hervor; dadurch dass sie den Verstand erleuchtet und den Willen zu heilsamer Standhaftigkeit stählt, so dass dieser stets zum sittlich Guten angetrieben wird, bewirkt sie, dass wir leichter und sicherer den richtigen Gebrauch unserer angebornen Freiheit machen. Es ist also durchaus falsch, wenn man behauptet, dass durch die Einwirkung Gottes unsere Willensakte weniger frei würden; denn die Kraft der göttlichen Gnade wirkt innerlich im Menschen und zwar ganz entsprechend seiner natürlichen Neigung, da sie von dem Urheber unserer Seele und unserer Freiheit ausgeht, von dem jedes Wesen seiner Natur entsprechend bewegt wird. Ja gerade dadurch, bemerkt der englische Lehrer, dass die Einwirkung vom Schöpfer der Natur ausgeht, ist sie in wunderbarer Weise wie geschaffen und geeignet, jegliche Natur in ihrem Wesen zu schützen, und deren eigentümliche Handlungsweise, Kraft und Wirksamkeit zu erhalten.

Für das soziale Leben tritt das menschliche Gesetz hinzu

9 Was hier von der Freiheit des einzelnen Individuums gesagt ist, kann ohne Mühe auf jene angewandt werden, die in gesellschaftlichem Verbande leben. Was nämlich Vernunft und Naturgesetz für die einzelnen Menschen bedeuten, das besorgt in der Gesellschaft das zum Gemeinwohl aller Bürger erlassene menschliche Gesetz.

Es bezieht sich entweder direkt auf das Naturgesetz

Einige aus diesen menschlichen Gesetzen beziehen sich auf das,, was von natur aus gut oder böse ist; sie gebieten das eine zu tun und das andere zu lassen und fügen gleichzeitig die notwendige Sanktion (Lohn oder Strafe) hinzu.

Die Quelle dieser Gesetze ist aber keineswegs die menschliche Gesellschaft, denn die Gesellschaft ist nicht der Ursprung der menschlichen Natur, folglich entscheidet sie auch nicht, was der Natur entsprechend d.h. gut, noch was der Natur widersprechend d.h. böse ist. Gut und Böse ist vielmehr früher als die menschliche Gesellschaft und hat seinen Ursprung durchaus nur in dem Naturgesetz und infolge dessen in dem ewigen Gesetz. Die Gebote des Naturgesetzes also besitzen, wenn sie auch unter die menschlichen Gesetze aufgenommen sind, nicht bloß die Bedeutung eines menschlichen Gesetzes, sie sind vielmehr ausgerüstet mit jener viel höheren und erhabenen Gewalt, welche von dem Naturgesetze selbst und dem ewigen Gesetze ausgeht. Und in Bezug auf diese Art Gesetze ist es eben das Amt des bürgerlichen Gesetzgebers, unter Anwendung der allgemeinen Rechtsordnung der Bürger in Gehorsam zu erhalten, die Bösen aber und die unruhigen Element zu zügeln, damit sie vom Bösen abgeschreckt und zum Rechten hingelenkt werden, oder dem gesamten Volke doch wenigstens nicht zum Ärgernis und zum Schaden gereichen.

Oder es erklärt genauer das Naturgesetz

10 Andere Gesetze der bürgerlichen Obrigkeit aber fließen nicht unmittelbar und zunächst aus dem Naturrecht ab, sondern in weiterem Abstande und indirekt; sie behandeln verschiedene Dinge, für welche die Natur nur im allgemeinen und ohne genauere Detaillierung Sorge getragen hat. So befiehlt z.B. das Naturgesetz, dass die Bürger sorgen müssen für die öffentliche Ruhe und Wohlfahrt; wie viel sie beisteuern müssen, in welcher Weise, was sie zu leisten haben, wird nicht durch das Naturgesetz, sondern durch menschliche Weisheit genauer bestimmt. Hat man nach dem Maßstabe menschlicher Klugheit solche bestimmte Lebensregeln gefunden, und werden dieselben von der gesetzmäßigen Obrigkeit vorgeschrieben, so bilden sie ein menschliches Gesetz im eigentlichen Sinne des Wortes. Dieses Gesetz gebietet, dass alle Bürger zusammenwirken zum gemeinsamen Zweck der Gesellschaft, es verbietet, davon abzuweichen; insofern es nämlich dem Naturgesetze auf dem Fuße folgt und mit ihm im Einklange steht, führt es zum sittlich Guten und schreckt vom Bösen ab. Daraus erkennt jeder, dass die Norm und Regel nicht bloß für die Freiheit des Individuums, sondern auch des Staates und jeglicher menschlicher Gesellschaft unbedingt in dem ewigen Gesetze Gottes beruht. In einer menschlichen Gesellschaft besteht also die wahre Freiheit nicht darin, dass du kannst, was dir beliebt, denn daraus würde ja nur die größte Verwirrung und Unordnung entstehen und der Staat zu Grunde gerichtet werden, sondern vielmehr darin, dass du vermittels der bürgerlichen Gesetze desto leichter nach den Geboten des Naturgesetzes zu leben vermagst.

Die Staatsgesetze sollen uns fördern in der Erfüllung des ewigen Gesetzes

Die Freiheit der Vorgesetzten besteht also auch nicht darin, dass sie frech und willkürlich befehlen können, was ebenso schändlich als für den Staat verderblich wäre; die wahre Autorität der menschlichen Gesetze soll darin bestehen, dass man sieht, wie sie ein Ausfluss des eigen Gesetzes sind, und dass sie nicht vorschreiben, was nicht in ihm als der Quelle jeglichen Rechtes enthalten ist. Sehr weise bemerkt hierzu Augustinus (De lib. Arb. I, 6, n. 15): „Ich glaube, du erkennst auch, dass in jenem zeitlichen (Gesetze) nichts gerecht und gesetzmäßig ist, wenn es die Menschen nicht aus dem ewigen (Gesetze) genommen haben. Würde also irgend eine Obrigkeit etwas befehlen, das im Widerspruch stände mit den Grundsätzen der gesunden Vernunft und dem Staate schädlich wäre, so hätte es keine Gesetzeskraft, weil es keine Regel der Gerechtigkeit wäre und die Menschen jenem Gute entfremden würde, wofür die menschliche Gesellschaft doch da ist.

Alle Gesetzeskraft stammt von Gott

11 Ob die menschliche Freiheit in dem Individuum oder in der Gesellschaft, ob sie denen, die befehlen, oder in denen, die gehorchen, betrachtet wird, zu ihrem Wesen gehört notwendig, dass sie jener höchsten und ewigen Vernunft unterworfen ist, die nichts anderes ist als die Autorität Gottes, der befiehlt und verbietet. Diese gesetzmäßigste Gewalt Gottes über die Menschen hebt so wenig die Freiheit auf oder mindert sie, dass sie dieselbe vielmehr schützt und vervollkommnet. Die wahre Vollkommenheit jeglichen Wesens besteht ja darin, dass es nach seinem Ziele strebt und es erreicht; das höchste Ziel aber, das der Mensch in seiner Freiheit anstreben soll, ist Gott.

Die Kirche war stets eine Schützerin dieser Freiheit

12 Diese so wahren und so erhabenen Grundsätze, welche wir selbst mit dem bloßen Licht unserer Vernunft erkennen, hat die Kirche, durch das Beispiel und die Worte ihres göttlichen Stifters belehrt, allüberallhin verbreitet und festgehalten; niemals hat sie aufgehört, nach diesen Lehren ihr Amt zu bemessen und die christlichen Völker zu unterrichten. Auf dem sittlichen Gebiete überragen die Gebote des Evangeliums nicht bloß alle Weisheit der Heiden, sie rufen auch den Menschen auf zu einer den alten unbekannten sittlichen Vollkommenheit und leiten ihn dazu an, bringen ihn Gott näher und verleihen ihm dadurch eine viel vollkommenere Freiheit.

Darum schaffte sie die Sklaverei ab

So besaß die Kirche augenscheinlich stets eine au0erordentliche Macht, die bürgerliche und politische Freiheit der Völker zu schützen und zu schirmen Es geht hier nicht an, ihre Verdienste nach dieser Richtung hin aufzuzählen. Es genügt daran zu erinnern, dass hauptsächlich durch die Bemühungen und die wohltätige Mitwirkung der Kirche die Sklaverei abgeschafft wurde, jene alte Schmach der heidnischen Völker. Die Rechtsgleichheit aller, wie die wahre Brüderlichkeit der Menschen untereinander, hat Jesus Christus zuerst vor allen anderen gepredigt; die Stimme seiner Apostel war nur das Echo dieser Lehre, da sie predigten: es sein kein Jude mehr, noch Grieche, noch Barbar, noch Scythe, sondern alle seinen Brüder in Christus. So groß und so bekannt ist der Einfluss der Kirche in dieser Beziehung, dass dort, wohin immer sie ihren Fuß setzt, erfahrungsgemäß die Wildheit der Bewohner nicht lange mehr bestehen kann; es folgt gar bald auf Grausamkeit Milde und auf Finsternis der Barbarei das Licht der Wahrheit. Die Kirche hat aber nie nachgelassen, auch den bereits zivilisierten Völkern große Wohltaten dadurch zu erweisen, dass sie der Willkür gottloser Menschen sich entgegenstellte, oder dass sie Unschuldige und Schwache vor drohendem Unheil bewahrte, oder endlich dadurch, dass sie sich redlich bemühte, in den Staaten eine solche Verfassung zur Herrschaft zu bringen, welche die Guten wegen ihrer Gerechtigkeit hochschätzten, die Fremden aber wegen ihrer Stärke fürchteten.

Sie lehrt, dass es keine Pflicht ist, einer ungesetzlichen Obrigkeit zu gehorchen

13 Außerdem ist es zweifellos eine strenge Pflicht, der Autorität die schuldige Ehrfurcht zu bezeigen und sich den gerechten Gesetzen in Gehorsam zu unterwerfen: so werden die guten Bürger vermittels der Macht und Wachsamkeit bei Ausübung der Gesetze von Ungerechtigkeiten von seiten der Übeltäter beschützt. Die rechtmäßige Gewalt stammt von Gott, und wer der Gewalt widersteht, widersteht dem Willen Gottes; auf diese Weise erhält der Gehorsam eine ganz erhabene Würde, da er der gerechtesten und höchsten Autorität geleistet wird. Wo aber das Recht zu befehlen nicht vorhanden ist, oder wo etwas befohlen wird, was der Vernunft, dem ewigen Gesetze, dem Gebote Gottes zuwider ist, ist es recht, nicht zu gehorchen, nämlich den Menschen nicht zu gehorchen, damit Gott der schuldige Gehorsam geleistet werde. Hierdurch ist der Tyrannei der Zugang versperrt und die weltliche Obrigkeit angewiesen, dass sie nicht alles an sich ziehe, dem einzelnen Bürger sind seine Rechte gewahrt, ebenso der Familie wie allen Mitgliedern des Staatswesens; jedem wird das Maß seiner wahren Freiheit gegeben, das wie wir gezeigt haben, darin besteht, dass ein jeder nach den Gesetzen und nach der gesunden Vernunft leben kann.

Ein Feind der Freiheit ist der Liberalismus

14 Wenn man, so oft überhaupt von Freiheit die Rede ist, darunter die gesetzmäßige und sittliche Freiheit verstände, wie die gesunde Vernunft und unsere Darlegung sie erwiesen haben, würde niemand es wagen, die Kirche zu tadeln. Leider geschieht es,, indem man ihr in höchst ungerechter Weise den Vorwurf macht, sie wäre eine Feindin der Freiheit des Einzelnen oder des Staates. Sehr viele Folgen dem Beispiele Luzifers, der das gottlose Wort sprach: „Ich werde nicht dienen“, und streben im Namen der Freiheit eine unsinnige Zügellosigkeit an. Dazu gehören die Anhänger jener so weit verbreiteten und so mächtigen Sekte, die Liberale genannt werden wollen, indem sie ihren Namen von der Freiheit (libertus) herleiten.

Das Dogma des Rationalismus ist die Autonomie der Vernunft

15 In der Tat, was die Naturalisten oder Rationalisten in der Philosophie anstreben, das wollen auf dem Gebiete der Moral und des bürgerlichen Lebens die Anhänger des Liberalismus erreichen, indem sie von den Naturalisten aufgestellten Grundsätze in die Moral und das Leben einführen. Die Grundidee des ganzen Rationalismus ist aber die Oberherrlichkeit der menschlichen Vernunft, welche der göttlichen und ewigen Vernunft den Gehorsam verweigert, sich für unabhängig erklärt uns sich selbst zum obersten Prinzip, zur Quelle und zum Richter aller Wahrheit aufwirft.

Er lehrt die unabhängige Moral

Die genannten Anhänger des Liberalismus erklären also, dass es keine göttliche Gewalt über uns gebe, der wir im Leben zu gehorchen hätten, jeder sei vielmehr sich selbst Gesetz. Daraus ist jene sogenannte unabhängige Lebensanschauung entstanden, welche unter dem Scheine der Freiheit den Willen von der Heilighaltung der Gebote Gottes befreit, dem Menschen aber eine grenzenlose Zügellosigkeit zu gewähren pflegt.

Der Volkswille sei höchstes Gesetz

Es ist leicht vorauszusehen, wohin dies alles besonders in der menschlichen Gesellschaft führen muss. Steht einmal die Überzeugung fest, dass der Mensch niemanden untersteht, so folgt von selbst, dass die Ursache, durch welche eine bürgerliche oder staatliche Vereinigung zustande kommt, nicht in einer Macht, die außer oder über dem Menschen steht, zu suchen ist, sondern einzig und allein in dem freien Willen der Einzelnen; dann stammt die öffentliche Gewalt ebenfalls in ihrem letzten Ursprung vom Volke; und da die Vernunft des Einzelnen die einzige Führerin und Norm des Privatlebens ist, so muss folgerichtig die Vernunft der Gesamtheit die Norm für das öffentliche Leben bilden. Infolgedessen hat die größere Masse auch die größere Macht und die Majorität des Volkes ist es, welche die öffentliche Rechte und Pflichten bestimmt.

Diese Lehre ist unvernünftig

Aus dem Gesagten folgt, wie unvernünftig dies ist. Es widerspricht absolut der Natur, nicht bloß des Menschen, sondern auch aller anderen Geschöpfe, wenn man kein Band annehmen will, das den einzelnen Menschen oder die bürgerliche Gesellschaft mit Gott dem Schöpfer und somit mit dem höchsten Gesetzgeber aller verknüpft. Denn alle geschaffenen Dinge müssen notwendigerweise mit der Ursache ihres Daseins in irgend einem Zusammenhange stehen; es gehört zum Wesen der Dinge, ja es gereicht zur Vervollkommnung jedes Wesens, die Stelle und Stufe einzunehmen, welche die natürliche Ordnung verlangt: dass nämlich das Niedere dem Höheren unterworfen sei und ihm gehorche.

Diese Lehre ist gefährlich für den Staat

16 Außerdem ist jene Lehre für den Einzelnen wie für die Staaten äußerst verhängnisvoll; denn in der Tat, wenn die menschliche Vernunft einzig und allein über Gut und Bös zu entscheiden hat, wird jeder Unterschied zwischen Gut und Bös aufgehoben; es würde das Unsittliche vom Sittlichen sich nicht dem Wesen nach unterscheiden, der Unterschied wäre von der Meinung und dem Urteil des Einzelnen abhängig, was gefiele, wäre auch erlaubt. Diese sittliche Ordnung, die zur Bezähmung und Unterdrückung der stürmischen Leidenschaften fast keine Macht besitzt, würde von selbst zu jeglicher Sittenverderbnis führen. Im öffentlichen Leben löst sich alsdann die obrigkeitliche Gewalt los von ihrem wahren und natürlichen Fundamente, auf dem allein ihre ganze Macht der Förderung des Gemeinwohles beruht. Das Gesetz, das zu bestimmen hat, was zu tun und zu lassen ist der Willkür der Masse überantwortet, was leicht zur Tyrannei führen kann. Ist einmal die Oberherrlichkeit Gottes über den Menschen und über die menschliche Gesellschaft abgeschafft, so folgt von selbst, dass es öffentlich keine Religion mehr gibt und alles, was auf Religion bezug hat, gänzlich vernachlässigt werden wird. Ebenso wird die Menge, gestützt auf ihre vermeintliche Gewalt, leicht zu Empörung und Aufruhr sich erheben, und sind die Bande der Pflicht und des Gewissens zerrissen, so bleibt nichts als die rohe Gewalt mehr übrig, die aber für sich allein nicht stark genug ist, die Volksleidenschaft zu zügeln. Zur Genüge dies bewiesen durch den ständigen Kampf gegen die Sozialisten und andere aufrührerische Sekten, die schon daran sind, die Fundamente der Staaten zu erschüttern.

Es mögen also vorurteilsfreie Männer selbst entscheiden, ob solche Lehren dazu beitragen, dem Menschen die wahre und seiner würdige Freiheit zu erhalten, oder ob sie vielmehr diese verdrehen und ganz zu Grunde richten.

Der halbe Liberalismus ist ein Widerspruch

17 Es ist gewiss, dass nicht alle Anhänger des Liberalismus diesen Ansichten voll und ganz zustimmen, da sie doch durch ihre Ungeheuerlichkeit Schrecken einflößen und, wie wir gesehen haben, offenbar falsch sind und die Wurzel der allergrößten Übel bilden. Gezwungen durch die Macht der Wahrheit, gestehen manche ein, ja behaupten es mit Nachdruck, das sei eine falsche Freiheit und werde zur Zügellosigkeit, wenn sie es in ihrem Ungestüm wagt, Wahrheit und Gerechtigkeit zu missachten. Deshalb müsse sie stets von der gesunden Vernunft gelenkt und geleitet werden und müsse sich folgerichtig auch beugen vor dem Naturgesetz und dem ewigen göttlichen Gesetze. Aber hier, glauben sie, müsse man stehen bleiben, und leugnen, dass der freie Mensch sich auch den Gesetzen zu unterworfen habe, die Gott auf eine andere Weise als durch die natürliche Vernunft uns vorschreibe.

Doch in diesen Worten widersprechen sie sich selbst. Denn ist es wahr, was jene auch zugeben, und was von keinem vernünftigerweise geleugnet werden kann, dass wir dem Willen Gottes, des Gesetzgebers, zu gehorchen haben, weil der ganze Mensch in Gottes Gewalt steht und zu Gott hinstrebt, ist das wahr, so folgt daraus, dass keiner der gesetzgebenden Autorität Gottes Maß und Weise vorschreiben kann, ohne sich gegen den schuldigen Gehorsam zu verfehlen. Ja, wenn der menschliche Geist in seiner Anmaßung so weit geht, dass er selbst bestimmen will, welches und wie groß die Rechte Gottes und welches die Pflichten des Menschen sind, so hat er mehr dem Scheine als der Wirklichkeit nach eine wahre Ehrfurcht vor den göttlichen Gesetzen, und an Stelle der Autorität und Vorsehung Gottes gilt ihm nur noch sein eigener Wille. Als unsere Lebensnorm haben wir mithin in ständiger Ehrerbietigkeit sowohl das ewige Gesetz, als alle jene einzelnen Gebote zu betrachten, die der unendlich weise und allmächtige Gott nach der von ihm gewählten Weise gegeben hat; wir können sie an klaren und unzweifelbaren Merkmalen sicher erkennen. Und dies umso mehr, da jene Art von Gesetzen vollkommen mit unserer Vernunft harmonieren und das Naturgesetz vervollkommnen, da sie mit dem ewigen Gesetz sowohl den Ursprung als auch den Gesetzgeber gemeinsam haben. Diese Gesetze enthalten nämlich eine Belehrung Gottes selbst an uns, der uns gnädig lenkt und leitet, damit nicht unser Geist und Wille auf Abwege gerate. So muss denn heilig und unverletzt vereinigt bleiben, was nicht getrennt werden darf noch kann, und in allem müssen wir, wie die natürliche Vernunft es vorschreibt, Gott gehorsam und zu Diensten ergeben sein.

Der gemäßigte Liberalismus ist falsch

Er will nur das Privatleben Gott unterstellen

18 Etwas gemäßigter sind, aber ebenso widersprechen sich jene, die behaupten, das Leben und die Moral des Privatmannes haben sich nach dem Willen der göttlichen Gesetze zu richten, nicht aber das öffentliche Leben im Staate; es sei erlaubt, in der Staatsverwaltung von den Geboten Gottes abzuweichen, auch brauche man bei der Gesetzgebung auf sie keinerlei Rücksicht zu nehmen. Daraus ergibt sich jene verhängnisvolle Folgerung, Staat du Kirche seien zu trennen.

Auch der Staat hat die Gebote Gottes zu befolgen

Doch ist nicht schwer einzusehen, wie töricht diese Behauptung ist. Die natur selbst belehrt uns, dass der Staat den Bürgern die Mittel und Wege darbieten muss zu einem sittlichen Leben, d.h. zu einem Leben nach Gottes Gesetzen, weil Gott der Ursprung aller Sittlichkeit und Gerechtigkeit ist; es ist demnach der größte Widerspruch, zu behaupten, der Staat habe sich um diese Gesetze nicht zu kümmern, oder er dürfe sogar gegen sie etwas bestimmen.

Außerdem hat die staatliche Obrigkeit die Pflicht, nicht bloß für die äußere Wohlfahrt und äußeren Angelegenheiten, sondern ganz besonders durch weise Gesetzgebung für die geistigen Güter Sorge zu tragen. Wir können uns aber nichts denken, was so sehr geeignet ist, diese Güter zu fördern als jene Gesetze, welche Gott zum Urheber haben; deshalb missbrauchen jene, die bei der Staatsregierung keine Rücksicht auf die göttlichen Gesetze nehmen, die politische Macht entgegen ihrer Bestimmung und gegen das Gebot der Natur. Aber, wie Wir schon des öfteren erwähnt haben, noch wichtiger ist es, dass die bürgerliche Gewalt und die geistliche zuweilen einander entgegenkommen müssen, obgleich die bürgerliche Gewalt nicht dasselbe nächste Ziel im Auge haben noch dieselben Wege einschlagen kann, wie die geistliche. Sie besitzen nämlich beide Gewalt über dieselben Untertanen, und nicht selten müssen sie beide über dieselbe Sache bestimmen, wenngleich nicht in derselben Weise. So oft dieses stattfindet, muss es, da ein berechtigter Konflikt nicht möglich ist du dem allweisen Willen Gottes offenkundig zuwiderläuft, eine bestimmte Regel geben, durch welche die Ursache des Konfliktes und Zwiespaltes aufgehoben und ein einmütiges Vorgehen in diesen Sachen erzielt wird. Nicht mit Unrecht kann man diese Vereinigung vergleichen mit jener, welche zwischen Leib und Seele besteht und beiden zum Segen gereicht; die Trennung ist namentlich für den Leib gefährlich, denn sie raubt ihm das Leben.

Die „modernen“ Freiheiten

19 Um dies noch besser zu erkennen, müssen wir die verschiedenen Auswüchse der Freiheit, wie sie als Forderungen unserer Zeit genannt werden, im einzelnen genauer betrachten.

Die Kultusfreiheit

Richten wir zuerst unser Augenmerk auf das, was für die Einzelnen verlangt wird und was so sehr der Tugend der Religion widerstreitet, nämlich auf die sogenannte Kultusfreiheit. Sie besteht in ihrem innersten Wesen darin, dass es einem jedem überlassen bleibe, eine beliebige Religion oder auch gar keine zu bekennen

Der Mensch hat die Pflicht, der wahren Religion sich anzuschließen

20 Und dennoch gibt es unter allen Pflichten des Menschen keine, die so erhaben und so heilig ist, wie die Pflicht, die uns Frömmigkeit und Gottesverehrung gebietet. Es folgt dies notwendig daraus, dass wir stets in der Gewalt Gottes sind, durch Gottes Willen und Vorsehung geleitet werden und zu ihm zurückkehren müssen, von dem wir ausgegangen sind.

Dazu kommt, dass es keine wahre Tugend ohne Religion geben kann. Die Religion ist nämlich eine sittliche Tugend, welche jene Pflichten umfasst, die sich auf das beziehen, was uns zu Gott hinführt, insofern er das höchste und letzte Gut ist; deshalb ist die Religion, „welche sich in dem bestätigt, was direkt und unmittelbar auf die Ehre Gottes gerichtet ist“ (Thomas Summa Theol. II. II. q. 81. a. 6), die Fürstin und Leiterin aller Tugenden. Wenn aber die Frage aufgeworfen wird, welcher von den vielen und sich widerstreitenden Religionen wir zu folgen haben, so antworten Vernunft und Natur: jene, die Gott vorgeschrieben hat. Die Menschen können sie an gewissen äußern Merkmalen erkennen, mit denen die Vorsehung Gottes sie ausgezeichnet hat, da ein Irrtum im einer so wichtigen Sache von den schlimmsten Folgen sein müsste. Jene Freiheit also, von der Wir hier reden, würde dem Menschen das Recht zugestehen, die heiligste Pflicht ungestraft zu verletzten und zu vergessen. Wir sagten schon, dass dies keine Freiheit ist, sondern das Verderben der Freiheit und die Knechtschaft des Geistes, der unter die Gewalt der Sünde geraten ist.

Der „moderne“ Staat handelt, als ob er keine Pflichten gegen Gott habe

21 Wird diese Freiheit betrachtet, wie sie im Staatsleben sich darstellt, so behauptet sie, der Staat habe keinerlei Grund, Gott zu verehren und öffentliche Gottesverehrung zu wünschen; kein Kultus dürfe dem andern vorgezogen werden, alle seien gleichberechtigt anzusehen; auch sei auf das Volk keine Rücksicht zu nehmen, selbst da nicht, wo das Volk sich zur katholischen Religion bekennt. Dies könnte nur der Fall sein, wenn es wahr wäre, dass die bürgerliche Gesellschaft keine Pflichten gegen Gott besäße oder dieselben ungestraft verletzen könnte. Beides ist offenbar falsch; denn es kann nicht bezweifelt werden, dass die bürgerliche Gesellschaft durch Gottes Willen entstanden ist, mag man ihre Bestandteile, oder ihre Form, d.h. die Autorität, oder ihre Ursache oder endlich den großen Nutzen betrachten, den sie in reichem Maße den Menschen darbietet. Gott schuf den Menschen als gesellschaftliches Wesen und stellte ihn unter seinesgleichen, damit er das, was seine Natur verlangt, er aber allein nicht erlangen kann, in Gemeinschaft mit anderen sich erwerbe. Deshalb muss die bürgerliche Gesellschaft als Gesellschaft Gott als ihren Vater und Urheber anerkennen und sich seiner Macht und Oberherrlichkeit in Ehrfurcht unterwerfen. Ein gottloser Staat oder, was schließlich auf Gottesleugnung hinausläuft, ein Staat, der, wie man sagt, gegen alle Religionen gleichmäßig wohlwollend gesinnt ist und allen ohne Unterschied die gleichen Rechte zuerkennt, versündigt sich gegen die Gerechtigkeit wie gegen die gesunde Vernunft.

Der Staat hat die wahre Religion zu fördern

Da im Staate notwendigerweise Einheit im religiösen Bekenntnisse bestehen muss, so hat er sich zu der Religion zu bekennen, welche die einzig wahre ist; diese ist, namentlich in katholischen Staaten, nicht schwer zu erkennen, da an ihr die Merkmale der Wahrheit hervorleuchten. Diejenigen, die an der Spitze des Staates stehen, müssen demnach diese Religion erhalten und beschützen, wenn anders sie in kluger und nützlicher Weise das Wohl aller Bürger, wie es ihre Pflicht ist, fördern wollen. Die öffentliche Gewalt ist zum Wohle der Untertanen eingesetzt: und wenn sie auch zunächst die Aufgabe hat, die Bürger der irdischen Wohlfahrt des Lebens entgegenzuführen, so soll sie doch nicht die Erlangung jenes höchsten und letzten Gutes, in dessen Besitz die ewige Seligkeit des Menschen besteht, erschweren, sondern erleichtern; das könnten sie aber nicht, wenn sie die Religion vernachlässigen.

Dies gereicht dem Staate nur zum Segen

22 Aber das haben Wir schon an anderer Stelle ausführlich besprochen; für jetzt wollen Wir nur dies eine bemerken, dass eine solche Freiheit dem Herrscher wie den Untertanen höchst verderblich ist. Die Religion dagegen verbreitet einen wunderbaren Segen, da sie den Ursprung der Gewalt von Gott selbst herleitet und den Fürsten aufs nachdrücklichste einschärft, ihren Pflichten eingedenk zu sein, nichts Ungerechtes und Hartes zu befehlen, mit Milde und gewissermaßen mit väterlicher Liebe zu regieren. Die Religion will auch, dass die Bürger der rechtmäßigen Obrigkeit als der Bevollmächtigten Gottes untertänig sein sollen; sie verknüpft die Untertanen mit der Obrigkeit nicht allein durch das Band des Gehorsams, sondern auch durch das Band der Ehrfurcht und Liebe; sie verbietet den Aufruhr sowie jeden Versuch, die Ordnung und öffentliche Ruhe zu stören; beides gibt ja nur Veranlassung, die Freiheit der Bürger noch mehr einzuschränken. Wir wollen schweigen davon, wie viel die Religion zur Sittlichkeit beiträgt und wie viel die Sittlichkeit zur wahren Freiheit; denn die Vernunft beweist es, und die Geschichte bestätigt es: je sittlicher ein Staat ist, um so freier, reicher und mächtiger ist er auch.

Die Rede- und Pressefreiheit

Lüge und Laster haben kein Recht

23 Betrachten wir nun auch in Kürze die Rede- und Pressefreiheit. Wir brauchen kaum zu erwähnen, dass eine solche unbeschränkte, alles Maß und alle Schranken überschreitende Freiheit kein Recht auf Existenz besitzen kann. Das Recht ist nämlich eine sittliche Macht, und es ist daher töricht zu glauben, dasselbe sei von der Natur unterschiedslos und in gleichem Maße sowohl der Wahrheit wie der Lüge, der Sittlichkeit wie dem Laster verliehen. Es besteht ein Recht: das, was wahr und sittlich ist, frei und weise im Staat auszubreiten, damit es möglichst vielen zu gute komme; mit Recht unterdrückt aber die Obrigkeit, so viel sie kann, lügenhafte Meinungen, diese größte Pest des Geistes, wie auch Laster, welche die Seelen und die Sitten verderben, damit sie nicht zum Schaden des Staates um sich greifen.

Der Staat hat das Volk vor verderblichen Irrtümern zu bewahren

Es ist in der Ordnung, dass durch die Autorität der Gesetze auch die Irrtümer eines ausschweifenden Geistes, die das unerfahrene Volk geradezu vergewaltigen, ebenso kräftig unterdrückt werden, wie die mit offener Gewalt an den Schwächeren verübten Ungerechtigkeiten. Und dies umso mehr, da sich der weitaus größere Teil des Volkes vor diesen Scheingründen und verfänglichen Trugschlüssen, namentlich wenn sie der Leidenschaft schmeicheln, gar nicht oder doch nur sehr scher zu schützen vermag. Wird unbeschränkte Rede- und Pressefreiheit gestattet, so bleibt nicht mehr heilig und unverletzt; es werden selbst die höchsten und sichersten Urteile unserer natürlichen Vernunft nicht verschont bleiben, trotzdem sie doch das gemeinsame und kostbarste Erbgut des Menschengeschlechtes bilden. Wenn so allmählich die Wahrheit verdunkelt worden ist, gewinnen leicht vielfache und verderbliche Irrtümer die Oberhand. Die Zügellosigkeit wird dabei gerade so viel gewinnen, als die Freiheit Schaden leiden muss; die Freiheit ist eben um so größer und um so gesicherter, je festere Zügel der Zuchtlosigkeit angelegt werden.

Über Fragen, in welchen Gott oder die Kirche kein letztes Wort gesprochen hat, welche Gott der freien Aussprache überlassen hat, kann jeder denken, was er will. Was er für recht hält, mag er auch aussprechen, das ist nicht von der Natur verboten, denn diese Freiheit verleitet niemals die Menschen zur Unterdrückung der Wahrheit, vielmehr verhilft sie uns oft dazu, die Wahrheit zu finden und ans Licht zu ziehen.

Die Lehrfreiheit

24 Ähnlich ist die sogenannte Lehrfreiheit zu beurteilen

Für den Irrtum gibt es keine Freiheit

Es ist klar, nur die Wahrheit hat das Recht, in den Geist einzudringen, da in ihr allein das Ziel und die Vervollkommnung der intelligenten Wesen liegt; daher darf im Unterricht nur die Wahrheit vorgetragen werden, mag es sich um solche handeln, die die Wahrheit noch nicht kennen oder um solche, die sie schon wissen: den einen soll der Unterricht die Erkenntnis der Wahrheit bringen, bei den anderen soll er sie schützen. Aus eben demselben Grunde ist es offenbar die Pflicht der Lehrer, den Irrtum aus dem Geiste zu verbannen und den Weg zu falschen Meinungen durch solide Grundsätze abzuschneiden. Es ist also klar, dass jene Freiheit, von der die Rede ist, der gesunden Vernunft widerspricht und nur geeignet ist, die Geister im Innersten zu verderben, insofern sie unbeschränkte Lehrfreiheit beansprucht. Ohne Pflichtverletzung kann der Staat diese Zügellosigkeit den Bürgern nicht gestatten. Dies gilt umso mehr, weil der Einfluss des Lehrers bei seinen Zuhörern ein großer ist, und der Schüler selbst selten für sich allein beurteilen kann, ob das richtig ist, was der Lehrer vorträgt.

Der Staat hat die natürlichen Wahrheiten zu schützen

25 Deshalb muss auch diese Freiheit, soll sie eine sittliche sein, in bestimmten Grenzen gehalten werden, damit das Lehramt nicht ungestraft zu einer Quelle des Verderbens ausarten könne. Die Wahrheiten, über die allein sich der Unterricht zu erstrecken hat, sind teils natürliche, teils übernatürliche. Die natürlichen Wahrheiten, als da sind die obersten Grundsätze der Vernunft sowie die nächsten Schlussfolgerungen aus ihnen, bilden gleichsam das gemeinsame Erbgut des Menschengeschlechtes. Da auf ihnen wie auf dem festesten Fundamente Sitte, Gerechtigkeit und Religion wie auch das Band der menschlichen Gesellschaft beruht, so gibt es nichts gottloseres und unsinnigeres, als dieses Fundament ungestraft schädigen oder zerstören lassen zu wollen.

Die übernatürlichen Wahrheiten sind der Kirche anvertraut

26 Mit derselben Ehrerbietigkeit ist jener so große und so heilige Schatz von Wahrheiten zu bewahren, die wir durch Gottes Offenbarung kennen. Mit vielen und klaren Beweisen haben die Apologeten oft die Hauptwahrheiten zusammengestellt, wie z.B. die Existenz einer göttlichen Offenbarung, die Menschwerdung des eingeborenen Sohnes Gottes, „welcher kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben;“ die Einsetzung der Kirche als einer vollkommenen Gesellschaft, deren Haupt Christus selbst ist, und der er versprochen hat, bei ihr zu bleiben bis zum Ende der Welt. Dieser Gesellschaft hat er alle Wahrheiten, die er selbst gelehrt, anvertraut mit dem ausgesprochenen Willen, dass sie diese Wahrheiten bewahre, schütze und mit vollgültiger Autorität erkläre: zugleich hat er befohlen, dass alle Völker seine Kirche, wie ihn selbst hören sollen; die Zuwiderhandelnden soll ewiges Verderben treffen. Daraus ergibt sich, dass der Mensch an Gott seinen besten und zuverlässigsten Lehrer findet, der da die Quelle und der Ursprung aller Wahrheit ist, wie an dem Eingeborenen, der im Schoße des Vaters ist, der da ist der Weg, die Wahrheit, das Leben und das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, und auf dessen Wort alle gelehrig hören müssen: „Und sie werden alle gerne von Gott belehrt sein“ (Joh 6, 45).

27 Auf dem Gebiete des Glaubens und der Sitten hat Gott die Kirche zur Teilnahme am göttlichen Lehramte bestimmt und sie nach seinem göttlichen Wohlgefallen mit Unfehlbarkeit ausgerüstet; deshalb ist sie die höchste und zuverlässigste Lehrerin der Menschen und besitzt das unverletzliche Recht auf Lehrfreiheit. In der Tat hat die Kirche, deren Lebenskraft in den von Gott empfangenen Lehren besteht, keine dringendere Sorge, als die, das ihr von Gott übertragene Amt auch treulich zu verwalten; und mächtiger, als alle sie umgehenden Hindernisse, hat sie niemals den Kampf für ihre Lehrfreiheit aufgegeben. So geschah es, dass der Erdkreis dem kläglichen Aberglauben entrissen und zur Weisheit des Christentums wie neugeschaffen, empor geführt wurde.

Die Vernunft lehrt aber deutlich, dass die geoffenbarten göttlichen Wahrheiten und die natürlichen sich nicht widersprechen können, so dass, was jenen widerspricht, dadurch auch falsch sein muss. Darum ist das göttliche Lehramt nicht nur kein Hindernis für die Forschung und den wissenschaftlichen Forschritt, noch verzögert es irgendwie die Entwicklung der menschlichen Kultur, sondern verleiht ihnen vielmehr reichliches Licht und sicheren Schutz. Aus eben demselben Grunde trägt sie nicht wenig bei zur Vervollkommnung der menschlichen Freiheit, da es die Lehre Jesu Christi unseres Erlösers ist, dass der Mensch durch die Wahrheit frei werde. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8, 32).

Vernunft und Glaube verlangen Einschränkung der Lehrfreiheit

Es ist also kein Grund vorhanden, dass sich die wahre Freiheit beklagen könnte, noch auch können der Wissenschaft, sofern sie diesen Namen verdient, jene gerechten und notwendigen Gesetze schwer fallen, welche die Lehre des Einzelnen Schranken setzen, wie sie Kirche und Vernunft übereinstimmend fördern.

28 Wenn auch die Kirche hierin besonders und zu allermeist den Schutz des christlichen Glaubens im Auge hat, so sucht sie doch auch jede menschliche Wissenschaft zu pflegen und zu heben. Den Beweis liefert dafür die Erfahrung allenthalben. Die schönen Wissenschaften sind ja nach wirklich gut und lobenswert und wert, dass man sie eifrig betreibt. Außerdem trägt jede Art von Gelehrsamkeit, welche die rechte Vernunft erworben hat, und welche der Wirklichkeit entspricht, sehr viel bei zur Beleuchtung jener Wahrheiten, welche wir auf das Wort Gottes hin glauben. In der Tat, es ist das hohe Verdienst der Kirche, die Denkmäler der Weisheit des Altertums ruhmvoll erhalten zu haben, der Wissenschaft eine Zufluchtsstätte eröffnet, den Wettkampf der Geister immer von neuem angespornt und mit großem Eifer die Künste gepflegt zu haben, mit welchen die Bildung unserer Zeit so gerne sich schmückt.

Der freien Forschung bleibt ein großes Feld

Endlich dürfen wir nicht vergessen, dass noch ein sehr weites Feld offen steht, auf welchem die menschliche Tätigkeit sich ausdehnen und die Geister sich ungehindert üben können. Hierher gehören alle jene Fragen, die mit der Glaubens- und christlichen Sittenlehre nicht in notwendigem Zusammenhange stehen, oder über welche jeder Gelehrte seine Ansicht voll und frei beibehalten kann, weil die Kirche mit ihrer Autorität nicht für die eine oder andere eintritt, oder jene Fragen, in welchen die Kirche kein Urteil gefällt, sondern ausdrücklich die Sache den Gelehrten zur weiteren Untersuchung überlassen hat.

Der Liberalismus will für sich Freiheit, aber nicht für die Kirche

29 Aus all diesem erkennen wir, was von jener Art Freiheit zu halten ist, welche die Anhänger des Liberalismus mit stets gleichem Eifer erstreben und anpreisen. Auf der anderen Seite verlangen sie für sich und den Staat eine solche Zügellosigkeit, dass sie sich nicht scheuen, jedem verderblichen Irrtum Tür und Tor zu öffnen; auf der anderen Seite hindern sie in vielfacher Weise die Kirche und beschränken ihre Freiheit so viel als nur möglich, obgleich sie von der Lehre der Kirche keinen Schaden zu fürchten haben, wohl aber große Vorteile sich versprechen könnten.

Die Gewissensfreiheit

Die falsche und die wahre Gewissensfreiheit

30 Viel gepriesen wird auch die sogenannte Gewissensfreiheit. Wird sie in dem Sinne verstanden, dass jeder nach seinem Belieben Gott verehren oder auch nicht verehren mag, so ist sie durch das bereits Gesagte hinlänglich abgetan. Aber man kann sie auch in dem Sinn auffassen, dass es dem Bürger im Staate ungehindert gestattet sein soll, nach seiner Gewissenspflicht Gottes Willen zu erfüllen und dessen Gebote zu halten. Das ist jene wahre Freiheit, wie sie den Kindern Gottes wohl ansteht, welche die Würde der menschlichen Person aufs heiligste schützt und nicht Gewalt noch Zwang duldet. Diese Freiheit haben die Apostel sich standhaft gewahrt, die Apologeten durch ihre Schriften für unverletzlich erklärt, und die Martyrer in unübersehbarer Zahl mit ihrem Blute geweiht. Und mit Recht! Dem diese christliche Freiheit anerkennt die so hohe und heilige Oberherrlichkeit Gottes über die Menschen, aber ebenso auch di erste und höchste Pflicht der Menschen, die sie gegen Gott haben. Sie hat nichts gemein mit jenen aufrührerischen und unbotmäßigen Geiste, und nie darf man von ihr denken, als wolle sie der öffentlichen Gewalt den Gehorsam verweigern: denn zu befehlen und die Ausführung des Befehles zu verlangen, hat die menschliche Gewalt nur insofern das Recht, als sie nicht in Widerspruch gerät mit Gottes Gewalt und nur in den Grenzen der von Gott gesetzten Ordnung sich hält. Sollte aber etwas befohlen werden, was dem Willen Gottes offenbar widerspricht, so wiche dieser Befehl von jener Ordnung ab und geriete in Konflikt mit der Autorität Gottes: und da wäre es recht, nicht zu gehorchen.

Der Liberalismus knebelt die wahre Gewissensfreiheit

31 Die Anhänger des Liberalismus, welche der weltlichen Obrigkeit eine oberhirtliche und unbegrenzte Gewalt zuerkennen und behaupten, der Mensch habe in seinem Leben auf Gott keine Rücksicht zu nehmen, wollen von einem Zusammenhang der Freiheit mit Sittlichkeit und Religion durchaus nichts wissen; was immer zum Schutze dieser Freiheit geschieht, wird als Rechtsverletzung und als Staatsverbrechen gebrandmarkt. Wollten sie sagen, was sie wirklich meinen, so gäbe es keine noch so ungeheuerliche Gewalt, der man nicht gehorchen und die man nicht ertragen müsste.

Die wahre Toleranz

32 Die Kirche wünscht von Herzen, dass die oben berührten christlichen Grundsätze alle Zweige des Staatslebens ganz durchdringen möchten. In ihnen liegt eine überaus große Heilkraft gegen die vielen und großen Übel unserer Zeit, die großenteils aus jenen vielgepriesenen Freiheiten entstanden sind, in denen man die Quelle des Heiles und des Ruhmes gefunden zu haben glaubte. Der Erfolg hat diese Hoffnung zerstört. An Stelle der süßen und heilbringenden Früchte sind bittere und verdorbene gewachsen. Sucht man ein Heilmittel, so möge es gesucht werden in der Rückkehr zu den gesunden lehren, von denen allein man die Erhaltung der Ordnung und somit den Schutz der Freiheit zuversichtlich erwarten kann.

Toleranz darf zuweilen geübt werden

33 Nichtsdestoweniger hat die Kirche ein mütterliches Auge für die menschliche Schwäche, die sich so gewaltig geltend macht, und sie verkennt nicht die Richtung, in welcher in unseren Tagen die Geister und Verhältnisse treiben. Obgleich sie nur der Wahrheit und Sittlichkeit Rechte zuerkennt, so hat sie doch nicht dagegen, dass die öffentliche Gewalt etwas duldet, was der Wahrheit und Gerechtigkeit zuwider ist, wenn es sich darum handelt, ein größeres Übel zu verhindern oder ein wahres Gut zu erlangen oder zu schützen. Selbst der unendliche, gütige Gott, der alles kann, duldet in seiner weisen Vorsehung manches Übel in der Welt, teils damit nicht größere Güter verhindert werden, teils damit nicht noch größere Übel entstehen. Die Staatsregierungen sollen hierin dem Regierer der Welt nachahmen: Da die menschliche Obrigkeit nun einmal nicht alle Übel verhindern kann, muss sie „manches dulden und ungestraft dahingehen lassen, was aber durch Gottes Vorsehung bestraft wird und zwar mit Recht“ (Augustinus, de lib. Arb. I. 6. n. n. 14).

Toleranz darf das Übel nicht gut heißen

Wenn auch das menschliche Gesetz unter solchen umständen um des Gemeinwohles willen – und nur aus diesem Grunde – ein Übel dulden kann oder sogar folgen muss, so darf es doch nie das Übel gutgeheißen oder in sich wollen; denn das Übel ist der Mangel eines Gutes und widerspricht mithin dem Gemeinwohl, das der Gesetzgeber anstreben und schützen muss, so viel er nur kann. Auch hierin hat sich das menschliche Gesetz Gott zum Vorbild zu nehmen, der dadurch, dass er Böses in der Welt zulässt, „weder will, dass Böses geschieht, noch will, dass das Böse nicht geschehe, sondern zulässt, dass es geschehe; und das ist gut“ (Thomas I. q. 19. a. 9 ad 3). Diese Worte des englischen Lehrers enthalten kurz die ganz Lehre von der Zulassung des Bösen.

Diese Duldung darf nicht die Grenzen der Klugheit überschreiten

34 Aber, wenn man die Sache richtig beurteilen will, muss man zugeben, dass ein Staat um so weiter von seinem Ideale sich entfernet, je mehr er Böses zulassen muss; deshalb muss die Duldung des Bösen, da sie zu den Geboten der politischen Klugheit gehört, unbedingt in jenen Grenzen sich halten, welche der Zweck des Staates, d.h. das Gemeinwohl, verlangt. Wenn sie dem öffentlichen Wohle schadet und noch größere Übel verursacht, so darf sie folgerichtig nicht angewendet werden weil unter solchen Umständen kein Gut mehr erreicht wird. Wenn es aber geschieht, dass die Kirche unter besonders gearteten staatlichen Verhältnissen, bei gewissen modernen Freiheiten schweigt – nicht als ob sie diese an sich wünschte, sondern weil sie glaubt, die Duldung sei das Beste – so würde sie, wenn die Verhältnisse sich bessern würden, sich ihrer Freiheit wieder bedienen, um durch Rat, Mahnung und Bitten, wie es das von Gott ihr aufgetragene Amt erheischt, für das ewige Heil der Menschen Sorge zu tragen. Es bleibt ewig wahr: jene Freiheit, die allen gewährt wird und unterschiedslos sich über alles erstreckt, ist, dass der Irrtum dasselbe Recht besitze wie die Wahrheit.

Der Liberalismus huldigt einer falschen Toleranz

35 Was aber die Toleranz betrifft, so welchen die Anhänger des Liberalismus himmelweit ab von dem gerechten und klugen Vorgehen der Kirche. Indem sie den Bürgern in all den Dingen, von denen wir geredet; unbegrenzte Zügellosigkeit gewähren, überschreiten sie alles Maß und gelangen schließlich dahin, dass sie der Sittlichkeit und Wahrheit nicht mehr Recht zuzuerkennen scheinen als dem Irrtum und der Unsittlichkeit. Die Kirche wird als unduldsam und hart geschmäht, sie die Säule und Grundfeste der Wahrheit und unfehlbare Lehrerin der Sitten, weil sie diese Art von zügelloser und schmachvoller Toleranz stets pflichtmäßig verwirft und für unerlaubt erklärt. Bei diesem Beginnen merken jene Liberalen nicht einmal, dass sie lästern, was sie loben sollten. Während sie sich mit der Toleranz brüsten, kommt es oft vor, dass sie zurückhaltend und karg sind, wo es sich um die katholische Sache handelt; und eben dieselben, die nach allen Seiten reichlich Freiheit gewähren, verweigern sie vielfach der Kirche.

Zusammenfassung der Lehre über die Freiheit

36 Fassen wir der Klarheit halber die ganze Ausführung mit ihren Folgerungen der Hauptsache nach kurz zusammen, so ist der Kern der Sache dieser: es ist notwendige Wahrheit, dass der ganze Mensch vollkommen und zu jeder Zeit in der Hand Gottes ist; deshalb kann eine menschliche Freiheit, die nicht Gott unterworfen und seinen Willen nicht untertan ist, nicht gedacht werden.

Der konsequente Liberalismus leugnet die Oberherrlichkeit Gottes

Die Oberherrlichkeit Gottes leugnen oder sich ihr nicht fügen wollen, ist nicht das Zeichen des freien Mannes, sondern des Empörers, der seine Freiheit missbraucht; gerade aus dieser Gesinnung entsteht und in ihr besteht der Grundirrtum des Liberalismus. Er hat aber verschiedene Formen. Der Wille kann in verschiedener Weise und in verschiedenem Maße den Gehorsam verweigern, den er Gott oder den Stellvertretern der göttlichen Gewalt schuldet.

37 Die Oberherrlichkeit Gottes, des Allerhöchsten, vollständig verachten und jeden Gehorsam einfachhin im öffentlichen wie im privaten und häuslichen Leben verweigern, ist der schlimmste Missbrauch der Freiheit und darum die schlechteste Art des Liberalismus; von dieser gilt durchaus alles, was wir bis jetzt gegen ihn gesagt haben.

Der gemäßigtere Liberalismus fordert Trennung von Kirche und Staat

38 Ihm zunächst steht die Lehre jener, welche zwar zugeben, dass wir uns Gott, dem Schöpfer und Herrn der Welt, unterwerfen müssen, da ja durch seinen Willen die ganze Natur hervorgebracht sei; aber sie weisen sie durch die Autorität Gottes uns auferlegten Gesetze in Sachen des Glaubens und der Sitte, welche die Vernunft aus sich nicht erkennt, in kecker Weise zurück, oder sie behaupten wenigstens, man habe sie namentlich im öffentlichen Staatsleben, nicht zu berücksichtigen. Wir haben oben gezeigt, wie sehr sie im Unrecht sind und wie offenbar sie sich widersprechen. Aus dieser Lehre entspringt, wie aus ihrer Hauptquelle, jene verderbliche Lehre von der Trennung von Kirche und Staat. Und doch ist es klar, dass diese beiden Gewalten, wenn auch nach Aufgabe und Würde verschieden, unter sich durch einträchtiges Handeln und wechselseitige Dienstleistung harmonieren müssen.

Einige wollen die Kirche ganz ignorieren

39 Diese Art des Liberalismus teilt sich in zwei Richtungen. Manche verlangen, der Staat solle ganz und gar von der Kirche getrennt sein, in dem Sinne, dass alle Rechtsverhältnisse der Bürger, alle Einrichtungen, Sitten, Gesetze, Staatsämter, aller Jugend-Unterricht keine Rücksicht auf die Kirche nehmen, wie wenn sie gar nicht existierte; höchstens will man den einzelnen Bürgern gestatten, nach Belieben im Privatleben ihre Religion auszuüben. Gegen diese richtet sich die ganze Macht unserer Beweise, mit denen Wir die Ansicht von der Trennung der kirchlichen und staatlichen Angelegenheiten bekämpft haben. Wir fügen nur noch hinzu, dass es unsinnig ist, zu sagen, der einzelne Bürger habe die Kirche zu respektieren, die Gesamtheit der Bürger aber nicht.

Andere wollen der Kirche ihre Rechte absprechen

40 Die anderen sind nicht dagegen, dass die Kirche existiere; sie können auch nicht dagegen sein. Sie rauben ihr aber den ihr eignen Charakter und die ihr zukommenden Rechte einer vollkommenen Gesellschaft; sie behaupten, sie habe nicht das Recht, Gesetze zu erlassen, zu richten und zu bestrafen, sie dürfe nur jene, die sich ihr aus eigenem Antriebe und freiwillig unterwerfen, ermahnen, beraten und leiten. Sie erstellen also durch ihre Lehre den Charakter dieser Gesellschaft, sie schwächen und beschränken ihre Autorität, ihr Lehramt und ihre ganze Wirksamkeit; die Staatsgewalt aber heben sie so hoch empor, dass sie der staatlichen Macht und Botmäßigkeit auch die Kirche unterwerfen, als wäre sie bloß eine jener freien Vereinigung von Bürgern.

Zur Widerlegung dieser Ansicht genügen jene Beweisgründe, welche den Apologeten geläufig und von Uns nicht übergangen sind, namentlich in dem Rundschreiben Immortale Die (Die Kirche und der Staat), aus denen hervorgeht: es ist von Gott angeordnet, dass die Kirche alles Macht besitze, welche zum Wesen und zu den Rechten einer rechtmäßigen, höchsten und in jeder Hinsicht vollkommenen Gesellschaft gehört.

Das Staatskirchentum ist zu verwerfen

41 Viele endlich wollen keine Trennung von Kirche und Staat; aber sie meinen, man müsse darauf hinarbeiten, dass die Kirche sich den Zeitverhältnissen fügen und sich beugen und anschmiegen müsse an das, was die heutige Staatsklugheit in der Staatsverwaltung verlangt. Diese Ansicht ist falsch, so lange es sich um eine gewisse Billigkeit handelt, welche sich mit der Wahrheit und Gerechtigkeit verträgt; wenn nämlich die Kirche im Hinblick auf einen großen Vorteil sich nachgiebig zeigt und den Zeitverhältnissen sich anpasst, so weit sie es ohne Verletzung ihres heiligen Amtes vermag. Aber anders fällt unser Urteil aus, wenn es sich um Dinge und Lehren handelt, welche die veränderten Sitten und ein falsches Urteil gegen alles Recht eingeführt haben. Keine Zeit kann der Religion, der Wahrheit und der Gerechtigkeit entbehren. Da aber befohlen, dass die Kirche diese höchsten und heiligsten Dinge zu schützen hat, so gibt es nichts Verkehrteres, als zu verlangen, die Kirche solle Irrtum und Ungerechtigkeit stillschweigend dulden oder nachsichtig sein gegen das, was der Religion schadet.

Es ist unerlaubt, die „modernen“ Freiheiten schrankenlos zu gewähren

42 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass es niemals erlaubt ist, die Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Lehrfreiheit, sowie unterschiedslose Religionsfreiheit zu fordern, zu verteidigen, oder zu gewähren, als seien dies ebenso viele Rechte, welche die Natur dem Menschen verliehen habe. Hätte die Natur diese Rechte verliehen, so wäre es erlaubt, Gottes Oberherrlichkeit zu bestreiten, und der menschlichen Freiheit könnten durch kein Gesetz Schranken gezogen werden. – Ebenso folgt aus dem Gesagten, dass jene Freiheiten, wenn vernünftige Gründe vorhanden sind, geduldet werden können, unter der Bedingung, dass sie nicht schrankenlos sind, auch dass sie nicht in Zügellosigkeit und Frechheit ausarten. Wo aber diese Freiheiten eingeführt sind, da sollen die Bürger sie nur Benutzen, um recht zu handeln und darüber denken, was die Kirche darüber denkt. Jede Freiheit kann nur insoweit als eine rechtmäßige betrachtet werden, als sie eine größere Möglichkeit zum sittlichen handeln bietet; sonst nie.

Die Menschen sind nicht an eine bestimmte Staatform gebunden

43 Dort, wo die Staatsgewalt die Untertanen bedrückt und ausbeutet, so dass die Bürgerschaft unter ungerechter Gewalt seufzt oder die Kirche ihrer gebührenden Freiheit beraubt wird, da ist es erlaubt, eine andere Staatsverfassung anzustreben, in welcher Freiheit gewährt wird; hier verlangt man nicht nach jener maßlosen und falschen Freiheit, sondern es wird eine Milderung zum Wohle aller gesucht und dies geschieht nur deshalb, damit dort, wo dem Bösen Freiheit gelassen wird, einem nicht auch noch die Möglichkeit genommen wird, das Gute zu tun.

44 Auch ist es keine Pflichtverletzung, lieber eine Staatsverfassung zu haben, welche durch eine Volksvertretung gemäßigt ist, solange dabei die katholische Lehre von dem Ursprung und der Anwendung der Staatsgewalt gewahrt bleibt. Die Kirche verwirft keine jener verschiedenen Staatsformen, solange sie aus sich geeignet sind, das Gemeinwohl zu besorgen; sie verlangt aber, dass die einzelnen Verfassungen, wie es ja auch die Natur verlangt, ohne Rechtsverletzung zustande kommen namentlich unter Wahrung der kirchlichen Rechte.

45 Es ist gut, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, außer wenn es irgendwo wegen der besonderen Staats- und Zeitverhältnisse verboten ist; ja die Kirche billigt es sehr, das die Einzelnen ihre Kräfte in den Dienst des Gesamtwohles stellen, und so viel als sie können zum Schutze, zur Erhaltung und zur Blüte des Staates beitragen.

46 Auch das verurteilt die Kirche nicht, dass ihr Volk keinem Auswärtigen noch einen Herrn im eigenen Lande dienen will, solange die Gerechtigkeit dabei gewahrt bleibt. Auch tadelt sie die nicht, welche dahin streben, dass die Staaten nach ihren eigenen Gesetzen leben und den Bürgern die größtmögliche Gelegenheit gegeben wird, ihre Lage zu verbessern. Die Kirche war stets die treueste Förderin der maßvoll gehaltenen bürgerlichen Freiheiten. Zeugen dafür sind vor allem die italienischen Städte. Zur Zeit, als die heilsame Macht der Kirche alle Verhältnisse des Gemeinwesens ungehindert durchdrang, haben sie vermöge ihrer Munizipalverwaltung eine Zeit der Blüte, des Reichtums und des Ruhmes gehabt.

Ausblick zu Gott

47 Ehrwürdige Brüder, Wir vertrauen, dass das, was Wir hier Unserm apostolischen Amte gemäß Euch im Lichte des Glaubens und der Vernunft gelehrt haben, reichliche Frucht in Zukunft tragen werde, zumal wenn Ihr Uns unterstützt.

Wir aber erheben in der Demut Unseres Herzens unsere Augen zu Gott und bitten ihn inständig, er möge den Menschen gnädig das Licht seiner Weisheit und seines Rates verleihen, damit sie doch in Kraft dieser himmlischen Gnaden in diesen hochwichtigen Fragen die Wahrheit erkennen und demgemäss ihr privates und öffentliches Leben zu jeder Zeit mit ungebeugter Standhaftigkeit auch noch der Wahrheit einrichten.

Als Unterpfand dieser himmlischen Gaben und zum Zeichen Unseres Wohlwollens erteilen Wir Euch, Ehrwürdige Brüder, Eurem Klerus und Eurem Volke, dem Ihr vorsteht, gern den Apostolischen Segen im Herrn.

Gegeben zu Rom bei St. Peter, den 20. Juni 1888,
im elften Jahre Unseres Pontifikates
Leo XIII. PP.