Communium rerum (Wortlaut)

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Enzyklika
Communium rerum

unseres Heiligen Vaters
Pius X.
durch göttliche Vorsehung Papst
an alle Ehrwürdigen Brüder, die Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe
und die andere Ordinarien, welche in Gnade und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle stehen
über den heiligen Anselm, Erzbischof von Canterbury zum 800jährigen Jubiläum seines Heimganges
21. April 1909

(Offizieller lateinischer Text AAS 1 [1909] 333-388)

(Quelle: Rundschreiben unseres Heiligen Vaters Pius X. über den hl. Anselm, Freiburg im Breisgau, Herder Verlagsbuchhandlung 1909, Lateinischer und deutscher Text (in deutscher Sprache mit gebrochenen Buchstaben), Autorisierte Ausgabe. Die Nummerierung folgt der englischen Fassung [1]).

Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Ehrwürdige Brüder !
Gruß und apostolischen Segen

Einleitung: Tugend und Dank

1 Inmitten der schwierigen Zeitverhältnisse haben jüngst noch die inneren Missstände Uns mit drückendem Schmerz erfüllt. Aber eines tröstet Uns und erquickt Uns; das ist der frische Hauch der Frömmigkeit, der durch das ganze christliche Volk weht und auch heute nicht aufgehört hat, ein Schauspiel zu sein für die Welt, die Engel und die Menschen (1). Die gegenwärtigen Übelstände haben sie vielleicht zu größerer Lebendigkeit erweckt. Ihr letzter Grund aber ist einzig die Liebe unseres Herrn Jesu Christi. Denn da keine Tugend, die mit Recht diesen Namen führt, auf Erden existiert noch vorhanden sein kann außer durch Christus. So sind auf ihn allein die guten Früchte zurückführen, die von ihr ausgehen auch unter Menschen, deren Glaube minder lebendig ist, ja die vielleicht selbst der Religion feindlich gesinnt sind. Wo in solchen die Spuren wahrer Liebe sich finden, da sind sie der von Christus auf die Welt gebrachten Gesittung zu verdanken, welche man nicht ganz ablegen und von der christlichen Gesellschaft nicht ganz verbannen konnte.

2 Wenn Wir auf den edeln Wettstreit hinblicken, indem die Christgläubigen ihrem Vater Trost und ihren Brüdern in öffentlichen und privaten Anliegen Hilfe zu bringen suchen, da erfasst Uns eine tiefe Rührung, und Wir finden kaum Worte, um Unsere dankbare Befriedigung auszusprechen. Mehr als einmal haben Wir sie einzelnen gegenüber ausgesprochen. Wir wollen aber auch nicht zögern, die Pflicht öffentlicher Danksagung zu erfüllen, zunächst vor Euch, Ehrwürdige Brüder, und durch Euch auch vor allen Gläubigen, die Euerer Obhut anvertraut sind.

3 Wir wollen zugleich offen Unsere Dankbarkeit bekunden gegen Unsere geliebten Kinder aus allen Teilen der Erde, welche mit so vielen und so herrlichen Beweisen ihrer Liebe und Ergebenheit Unseres fünfzigjährigen Priesterjubiläums gedachten. Alle diese Bezeigungen der Liebe haben Uns nicht so sehr Unsretwillen, als um der Religion und Kirche willen erfreut. Sind sie doch Zeugnisse eines furchtlosen Glaubens und gleichsam öffentliche Bekundungen der Christus und der Kirche schuldigen Verehrung. Denn sie sind Ergebenheitsbezeigungen vor dem, den der Herr an die Spitze seiner Heilsfamilie setzen wollte. Auch Erfolge anderer Art haben Uns Grund zu großer Freude gegeben. Nordamerika konnte die Jubelfeier seiner Bistumsorganisation begehen und freute sich des Anlasses, Gott unauslöschlichen Dank zu sagen dafür, dass er der Katholischen Kirche so viele Kinder angegliedert hat. Die Britische Insel sah das ruhmvolle Schauspiel, dass innerhalb ihrer Grenzen die Verehrung des Allerheiligsten Sakramentes mit wunderbaren Glanze entfaltet wurde in Gegenwart zahlreicher Unserer Ehrwürdigen bischöflichen Brüder und Unseres Legaten und unter der Teilnahme dichtgedrängter Scharen des Volkes. In Frankreich trocknete die bedrängte Kirche ihre Tränen, als sie die Triumphzüge des Allerheiligsten Sakramentes schauen durfte, allermeist in der Stadt Lourdes, wo zu Unserer Freude der Anlass des Ruhmes der Stadt in feierlichem fünfzigjährigen Jubelfeste begangen worden ist. Mögen die Feinde des katholischen Namens an diesen und ähnlichen Begebenheiten erkennen und sich überzeugen, dass die Veranstaltung größerer Feierlichkeiten, die Verehrung der hehren Gottesmutter, die dem höchsten Oberpriester gezollten Ehrenbezeigungen, alle auf die größere Ehre Gottes abzielen, darauf, dass Christus alles in allen sei (2) und dass durch sein auf Erden bestelltes Reich den Menschen ewiges Heil gebracht werde.

Ziel: der göttliche Triumph

4 Der göttliche Triumph über die einzelnen und die ganze menschliche Gesellschaft besteht in nichts anderem als in der Rückkehr der Abgeirrten zu Gott durch Christus, zu Christus aber durch seine Kirche. Wir haben da in Unserer ersten Enzyklika E supremi Apostolatus Cathedra vom 4. Oktober 1903 (3) und oft seitdem offen als Unser Ziel ausgesprochen. Vertrauensvoll hoffen Wir auf diese Rückkehr; ihrer Beförderung gelten Unsere Pläne und Gebete; in ihr schauen Wir gleichsam den Hafen, wo auch die Stürme des gegenwärtigen Lebens zur Ruhe kommen. Aus diesem Grunde haben Wir die Unserer Person erzeigten Ehrungen gern und dankbar im Gefühle der Bescheidenheit hingenommen, weil sie als der Kirche öffentlich erwiesene Ehrenbezeigungen mit Gottes Gnade gleichsam zum Zeichen dienen möchten für die Rückkehr der Völker zu Christus und den engeren Anschluss an Petrus und die Kirche.

Der heilige Anselm von Aosta

5 Ist auch dieses Band der Liebe zum Apostolischen Stuhl nicht immer und überall gleich stark und zeigt es sich auch nicht überall in der gleichen Weise, so ist es doch als eine Fügung der göttlichen Vorsehung zu betrachten, dass es sich umso fester erwies, je mehr, wie es ja heute zutrifft, die schlimmen Zeitläufe der gesunden Lehre, der geistlichen Lebensordnung und der Freiheit der Kirche entgegenwirken. Das Beispiel solcher Anhänglichkeit haben einst in den Tagen der Verfolgung der Herde Christi oder des sittlichen Niedergangs die Heiligen gegeben, deren Tugend und Weisheit im rechten Augenblick Gott jenen Übeln entgegenstellte. Einen derselben haben Wir in diesem Rundschreiben erwähnten den trefflichen Grund. Man begeht ja in diesem Jahre zu seiner Ehre besondere Jubelfeiern, da seit seinem seligen Hinscheiden nunmehr acht Jahrhunderte verflossen sind. Es ist Anselm von Aosta, der Kirchenlehrer, der Herold der katholischen Wahrheit und mutige Vorkämpfer der kirchlichen Rechte als Mönch und Abt in Gallien wie als Erzbischof von Canterbury und Primas von England. Nachdem Wir mit festlichen Feiern zu den Kirchenlehrern Gregor der Große und Johannes Chrysostomus als wunderbaren Lichtgestirnen, der eine für das Abendland, der andere für den Osten, den Blick gelenkt haben, scheint es Uns sehr passend zu sein, zu einem anderen Stern aufzuschauen. Und wenn dieser in seinem Glanz von den vorgenannten sich auch unterscheidet (4), so ist er doch ein treues Abbild von jenen und hat das Licht des guten Beispiels und der Lehre in nicht geringem Maße ausgestrahlt. In einer Hinsicht darf man ihn sogar als bedeutender bezeichnen, denn Anselm steht uns zeitlich und örtlich näher, näher auch nach seiner Geistesanlage und seinem Studiengang. Die Kämpfe seiner Zeit haben wir denen unserer Tage nähere Verwandtschaft, ebenso wie die Art, wie er die Hirtensorge ausübte, die Methode des Unterrichtes, die er übte, wie seine Schüler sie weiter überliefert haben oder wie sie in Schriften niedergelegt ist. Dieselben zeigen den richtigen Weg, wie die christliche Religion verteidigt werden muss und das Heil der Seelen zu fördern ist. Alle Theologen, welche die heilige Wissenschaft in scholastischer Methode gepflegt haben, sind durch sie vorangeführt worden (5). Wie im Dunkel der Nacht die einen Sterne untergehen, andere die Welt zu erleuchten aufgehen, so folgen in der Kirche im Werk der geistigen Erleuchtung auf die „Väter“ Söhne. Und unter ihnen ist der heilige Anselm gleich dem lichtesten Gestirne strahlend aufgegangen.

Lob von allen, und aller Seiten

6 In den düstern Wirrnissen seiner Zeit, die Irrtum und Listen zusammengewoben, erscheint er wahrhaft als Licht der Wissenschaft und Heiligkeit und für die besten seiner Zeitgenossen. Er war ein Fürst des Glaubens, eine Zierde der Kirche ..., der Ruhm des bischöflichen Stuhles und übertraf alle auserlesenen und vortrefflichen Männer jener Tage (6). – Er war weise und gut, ein glänzender Redner, ein klarer Denker (7). Sein Ruf war so weit gedrungen, dass man mit Recht sagen konnte, es gebe niemand auf Erden, der hätte sagen wollen: Anselm muss hinter mich zurücktreten, oder: er ist mir ähnlich (8). Daher war er der Liebling der Könige, der Fürsten und der Päpste. Nicht nur seinen Freunden und dem gläubigen Volke, auch seinen Feinden war er teuer (9). Als er Abt war, schickte der große und starke Papst Gregor VII. an ihn einen Brief voll Hochachtung und Wohlwollen und empfahl seinem Gebete sich und die Kirche (10). Urban II. anerkannte gern seinen religiösen und gelehrten Vorrang (11). In mehreren Briefen voll oberhirtlicher Liebe lobte Paschalis II. an ihm die ehrfurchtsvolle Ergebenheit, die Kraft seines Glaubens und die Beharrlichkeit seines frommen Eifers. Seinem religiösen Geist und seiner Weisheit brachte er solches Vertrauen entgegen (12), dass er gerne den Wünschen seiner Gesellschaft zustimmte. Nannte er ihn doch ohne Zögern den weisesten und gewissenhaftesten Bischof Englands.

7 In seinen eigenen Augen freilich war Anselm nur ein verächtliches Menschenwesen, eine unbekannte bloße Nummer im Menschenschwarm, ein Mann von unzulänglichem Wissen, ein Sünder. Doch hinderte ihn seine demütige Selbstüberschätzung nicht, einen hohen Flug der Gedanken zu nehmen im Gegensatze zur Meinung jener, welche einer verdorbenen Sitten- und Geistesrichtung huldigen, und von denen die Heilige Schrift sagt: Der fleischliche Mensch versteht nicht, was des Geistes Gottes ist (13). Am meisten aber muss man sich wundern, dass seine Seelengröße und ungebeugte Standhaftigkeit trotz vieler Leiden, Verfolgungen und Verbannung mit einer Sanftmut und Freundlichkeit gepaart war, vor welcher selbst der Zorn der Feinde erlahmte und in Wohlwollen umschlug. So geschah es, dass auch jene ihn lobten, welchen seine Sache zur Last war, weil er persönlich doch selbst gut sei (14).

8 Es fand sich bei ihm ein wunderbarer Zusammenklang von Charaktereigenschaften, von welchen meistens, wenn auch fälschlich, geglaubt wird, sie müssten notwendig einander widerstreiten und könnten durchaus nicht miteinander vereinbart werden: Schlichtheit und Vornehmheit, hohes Streben und Bescheidenheit, mutige Entschlossenheit und Milde, frommer Sinn und Wissenschaft; deshalb galt er, wie in den Jahren seiner Einführung in den Orden, so während seines ganzen Lebens allen als ein bewunderungswürdiges Vorbild des Strebens nach Heiligung und Wissenschaft (15).

Schutz der kirchlichen Lehre

9 Die heimatlichen Mauern und die Grenzen seiner Schule konnten diesen zweifachen Ruhm Anselms nicht in sich abgeschlossen bewahren. Er musste aus dem Übungszelt hinaus und im freien Feld der Kämpfe sich bewähren. Es kam, wie Wir schon hervorgehoben, die Zeit, wo die Gerechtigkeit die Wahrheit von ihm forderte, dass er in die schwersten Kämpfe für sie eintrete. Seine Geistesanlage wandte ihn mehr den Studien kontemplativ-spekulativer Art zu. Aber die Verhältnisse zwangen ihn, sich mit mannigfaltigen und schwierigen Angelegenheiten des Lebens zu befassen, und als er sich zur leitenden Stellung in der Kirche erhoben sah, fand er sich auch mitten in Kämpfe und Schwierigkeiten versetzt. Den milden und sanftmütigen Mann zwang der Schutz der kirchlichen Lehre und Würde, auf die Freuden eines ruhigen Lebens zu verzichten, Freundschaft und Gunst der führenden Männer preiszugeben, selbst die angenehmsten Beziehungen zu Mitgliedern des religiösen Ordens und zu den Genossen seines Amtes, den Bischöfen, abzubrechen, die Mühen beständigen Kampfes zu tragen und die drückende Last jeder Beschwerde auf sich zu nehmen. England erwies sich für ihn als eine Stätte voll Hass und Gefahr. Gegen Könige und Fürsten, denen die Geschicke der Kirche und der Völker in die Hände gelegt waren, war da nachdrücklicher Widerstand notwendig. Träg und unwürdig waren selbst Geistliche. Die Vornehmen wie das Volk steckten tief in Unwissenheit und frönten den schlimmsten Lastern; doch niemals erlahmte in ihm der glühende Eifer, sich als Herold des Glaubens und der guten Sitten, der Ordnung und der Freiheit der Kirche und demgemäss ihrer Lehre und heiligen Würde zu zeigen. Er verdiente es so wahrlich dass der schon erwähnte Paschalis dieses Lob über ihn aussprach: Gott sei es gedankt, dass in dir das bischöfliche Ansehen immer erhalten wurde, und dass du unter Barbaren dich weder durch tyrannische Gewalttat noch durch die Gunst der Mächtigen, weder durch Feuersgefahr noch durch tätliche Angriffe von der Verkündigung der Wahrheit hast abhalten lassen. Und wiederum, wenn derselbe sagte: Wir sind voll Jubel darüber, dass Gottes Gnade dir beistand und dich weder Drohungen erschüttern noch Versprechungen verlocken konnten (16).

Zur Bewunderung und Nachahmung

10 Demgemäss ist es nur angemessen, Ehrwürdige Brüder, dass Wir jetzt, acht Jahrhunderte seit jener Zeit, mit Unserem Vorgänger Paschalis Uns freuen und seinen Worten zustimmen, indem Wir Gott danken. Zugleich möchten Wir Euch ermuntern, zu diesem Licht der Heiligkeit und Gelehrsamkeit hinaufzuschauen, das in Italien aufging, mehr als dreißig Jahre in Gallien leuchtete und mehr als fünfzehn in England und zuletzt für die ganze Kirche zum gemeinsamen Schutz und zur Zierde wurde.

11 Ragte Anselm durch Wort und Tat hervor, im Feld des Lebens wie der Wissenschaft, durch kontemplative Kraft und frische tätige Entschlossenheit, durch entschiedenen Kampf und stille Friedensliebe, hat er der Kirche glänzenden Triumphe bereitet und die bürgerliche Gesellschaft mit ausgezeichneten Wohltaten beglückt, so entstammt das alles seiner denkbar innigsten Anhänglichkeit an Christus und die Kirche, welche er in allen Abschnitten seines Lebens und in allen Verhältnissen seines Lehramtes treu bewahrt hat.

12 Wenn Wir, Ehrwürdige Brüder, an der Erinnerungsfeier des großen Lehrers dies den Herzen einprägen, so werden Wir dabei zur Bewunderung und Nachahmung vortreffliche und vorbildliche Züge finden. Diese Betrachtung bringt auch reichlich Kraft und Trost im heiligen Dienst, sie lehrt ihn bei aller Schwierigkeit und Besorgnis mutig zu erfüllen, sie ermutigt, nachdrücklich dafür zu wirken, dass alles in Christus erneuert und Christus in allen gestaltet werde (17), am meisten in denjenigen, welche den priesterlichen Beruf erhoffen lassen; sie stärkt zum mutigen Eintreten für das kirchliche Lehramt; sie stählt zum entschiedenen Kampf für die Freiheit der Braut Christi, für die Heilighaltung des göttlichen Rechtes und für den Schutz des oberhirtlichen Amtes in jeder Beziehung.

Außerhalb und innerhalb der Kirche im Vergleich zu Anselms Zeiten

Plan, der Kirche all ihrer Rechte zu berauben

13 Ihr wisst es ja genau, Ehrwürdige Brüder, und habt es oft mit Uns beklagt, wie traurig die Zeiten sind, in denen wir leben, und wie ungünstig die Lage ist, in der Wir uns befinden. Die schmerzlichen Wunden, welche Uns die öffentlichen Unglücksfälle mit unglaublicher Schärfe geschlagen haben, sind neu aufgegriffen worden, als auf die Geistlichkeit die Beschuldigung gewälzt wurde, dass sie in jener Notlage sich zu träg zur Hilfe gezeigt habe. Und dabei hat man Hindernis auf Hindernis versucht, um die rege Wohltätigkeit der Kirche vor ihren unglücklichen Kindern zu verbergen, und ist ihrer mütterlichen Fürsorge mit Verachtung begegnet. Wir wollen schweigen von anderen listigen und schlauen Anschläge und frevelhaften Taten zum Verderbnis der Kirche, die unter Verletzung des öffentlichen Rechtes und mit Hintansetzung aller natürlichen Angemessenheit und Gerechtigkeit unternommen worden sind. Am schwersten drückt es auf die Seele, dass solche Vorkommnisse in den Gegenden eintraten, in welche der Strom der von der Kirche verbreiteten Gesittung am vollsten geflossen ist. Kann es etwas Ungesittetes geben, als dass unter jenen Kindern der Kirche, welche sie wie ihre Erstgeborenen genährt und gepflegt hat in ihrer Blüte und Kraft, manche sich nicht scheuen, ihre Geschosse gegen die Brust der liebevollen Mutter zu richten? – Auch die Lage in andern Gegenden gibt nicht viel Anlass zur Beruhigung. Der Kampf geht dort in andere Weise vor sich, die Feindseligkeit ist dieselbe, mag sie nun schon ausgebrochen sein oder noch im verborgenen getroffenem Plane bald hervortreten. Das Endziel dieser Pläne ist das, die Kirche gerade bei denjenigen Völkern, welche den reichsten Anteil an den Wohltaten der christlichen Religion empfangen haben, all ihrer Rechte zu berauben; man will mit ihr verfahren, als wäre sie nicht eine nach ihrem Wesen und ihrer Begründung vollkommene Gesellschaft, wie sie der Erneuerer unserer Natur eingesetzt hat; sein Reich soll gebrochen werden, obwohl es, vorzüglich und direkt das seelische Gebiet umfassend, doch nicht weniger das ewige Heil der Seelen als die Sicherheit der bürgerlichen Wohlfahrt befördert; alles soll aufgeboten werden, um an die Stelle der Herrschaft Gottes die Herrschaft zügelloser Willkür zu setzen, die man in trügerischer Weise als Freiheit bezeichnet. Während sie dabei nur den Erfolg haben, dass mit der Herrschaft des Lasters und der Begierlichkeit die allerschlimmste Sklaverei auflebt und die Bürger in jähem Sturz dem Untergang verfallen – die Sünde macht ein Volk elend (18) -, hören sie nicht auf zu rufen: Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche! (19) Aus diesem Grunde sind die Ordensgenossenschaften aufgehoben worden, die immer einen starken Schutz und eine große Zier der Kirche gebildet und für die Verbreitung der Gesittung und der Wissenschaft sowohl unter heidnischen Naturvölkern als bei den Kulturnationen bahnbrechend gewirkt haben. Daher wurden die christlichen Wohltätigkeitsanstalten vernichtet und niedergedrückt. In dieser Absicht setzt man die Mitglieder des geistlichen Standes herab und tritt ihnen so in den Weg, dass sie ihre Anstrengungen vereitelt sehen, oder man verschließt ihnen den Weg zum öffentlichen Lehramt bald gänzlich, bald erschwert man ihn aufs äußerste, oder man lässt ihnen an dem Unterricht der Jugend keinen Anteil. Solchen Plänen entspringt die Behinderung jeder christlichen Unternehmung zum öffentlichen Wohle, die Zurücksetzung vortrefflicher Männer aus dem Volke, die ihren katholischen Glauben ganz offen bekennen, von ehrenvollen und einflussreichen Stellungen, die schroffe und ungerechte Art, sie anzugreifen, sie wie nichtswürdige und wehrlose Menschen zu misshandeln, gleichwie wenn früher oder später der Tag erscheinen müsste, wo die gesetzliche Macht in den Händen ihrer Feinde sie von der Beteiligung an allen zum öffentlichen Leben gehörigen Angelegenheiten ausschließen werde. Inzwischen erklären die Urheber des so gehässig und schlau eingeleiteten Kampfes, dass nur die Liebe zur Freiheit und das Streben nach Kulturfortschritt und insbesondere die Vaterlandsliebe ihr Beweggrund sei. Mit dieser Angabe freilich lügen sie, nicht anders als ihr Vater, der ein Menschenmörder war von Anbeginn, der da er lügt, aus seinem Eigenen redet, weil er ein Lügner ist (20) und von unersättlichem Hasse gegen Gott und das Menschengeschlecht brennt. Menschen mit kecker Stirne sind sie wahrlich, die Worte zu machen suchen und arglosen Ohren Fallstricke legen. Nicht teure Vaterlandsliebe noch ängstliche Sorge für das Volkswohl, kein Hauch des Rechten und Ehrenhaften treibt sie zu ihrem nichtswürdigem Kampf, sondern wahnwitzige Raserei gegen Gott und sein bewunderungswürdiges Werk, die Kirche. Aus der giftigen Quelle dieses Hasses stammen alle die verbrecherischen Pläne zur Unterdrückung der Kirche und zur Lostrennung derselben von der menschlichen Gesellschaft. Diesem Hass leihen jene unedeln Stimmen das Wort, welche die Kirche als tot verschreien, während man doch nicht ablässt, gegen sie zu kämpfen. So weit darf Keckheit und Sinnlosigkeit sich vorwagen, dass man ohne Scheu die Kirche, obwohl sie all ihrer Freiheit beraubt ist, doch beschuldigt, dass sie der Menschheit und dem Staate keinen Segen zeitige. Die herrlichen Wohltaten der Kirche und des Apostolischen Stuhles weiß dabei derselbe Geist der Feindseligkeit schlau zu verdunkeln oder mit Schweigen zu bedecken. Er ergreift auch wohl die Gelegenheit, um beim Volke Verdacht zu erregen und mit schlauen Kunstgriffen ihr Ohr und Herz zu beeinflussen, die einzelnen Maßnahmen und Erklärungen der Kirche aufzugreifen und als ebenso viele dem Staate drohende Gefahren hinzustellen, während doch kein Zweifel sein kann, dass die Ausbreitung wahrer Freiheit und edler Gesittung von Christus hauptsächlich ausgegangen und von der Kirche getragen worden ist.

14 Überall sehen Wir in diesem Kampfe, welcher von äußeren Feinden entfacht worden ist, die Kirche bedrängt, mag man nun an einem Ort in förmlicher Streiterreihe und offen zum Angriff vorgehen oder an einem andern mit List und aus verdecktem Hinterhalt es versuchen, und Wir haben Euch, Ehrwürdige Brüder, bei anderer Gelegenheit schon oft zu sorgsamer Wachsamkeit aufgefordert, insbesondere auch in der Allokution beim heiligen Konsistorium vom 10. Dezember 1907.

Krieg im Innern der Kirche, Verlangen nach neuem Gesetz und neuem Recht

15 Nicht minder ernst, nicht minder schmerzlich ist es für Uns, noch auf eine andere Art der Kriegsbedrängnis hinweisen und ihr entgegentreten zu müssen. Wir meinen den inneren, im eigenen Haus der Kirche entfachten Krieg, der um so unheilvoller wirkt, je verborgener die Schläge geführt werden. Verlorene Söhne der Kirche selber, die sich in ihrem Schoße verborgen halten, haben diese pestschwangeren Angriffsweise ersonnen. Hier fliegen die Geschosse in das Herz der Kirche, gleichsam in die Wurzel des Baumes, um sicher und planmäßig zu verwunden. Sie verfolgen den Plan, die Quellen des christlichen Lebens und der christlichen Lehre zu trüben, die heilige Hinterlage des Glaubens zu entfernen, durch Verächtlichmachung der päpstlichen und bischöflichen Autorität die Grundmauern der Kirche Christi einzureißen. Dann soll die Kirche neu gestaltet werden, neu Gesetze und ein neues Recht sollen entstehen, so wie es den ungeheuerlichen verderblichen Lehrmeinungen entspricht, welche sie hegen. Verblendet durch den hohlen Schein einer sogenannten neuen Kultur, d.h. einer fälschlich sogenannten Wissenschaft, entstellen sie gänzlich die Erscheinung der Braut Gottes. Vor solcher Scheinwissenschaft uns zu hüten, mahnt wiederholt der Apostel, indem er schreibt: Lasst euch von niemand täuschen durch Weltweisheit und leeren Trug menschlicher Überlieferung, die Kindheitslehren der Welt, die nicht Christus gemäß sind (21).

Der Modernismus – erheuchelte Frömmigkeit

16 Dieser Schein der Weltweisheit und der Verirrung einer eiteln Vielwisserei, die immer bereit ist, sich zur Schau zu stellen, und mit kühnstem Wagemut aburteilt, hat viele getäuscht, die nun eitel wurden in ihren Gedanken (22) und, weil sie das gute Gewissen ... von sich stießen, im Glauben Schiffbruch gelitten haben (23). Andere werden von Zweifeln hin und her geworfen. Von der Flut der Meinungen gleichsam überschüttet, wissen sie nicht, an welcher Küste sie noch landen werden. Noch andere missbrauchen ihre Muße und die wissenschaftliche Arbeit, um in fruchtlosem Kraftaufwand sich mit leeren Schwierigkeiten abzuplagen. Dadurch lassen sie sich vom Studium der göttlichen Wahrheiten und den lautern Quellen der Glaubenslehre abhalten. Diese verderbliche Krankheit, welche nach der von ihr entfachten krankhaften Neuerungssucht den Namen Modernismus bekommen hat, ist nun wohl öfters erwiesen und durch die Maßlosigkeit ihrer Vertreter ihrer Hüllen beraubt worden, aber sie hat noch nicht aufgehört, der christlichen Gesellschaft schweren Schaden zuzufügen. Noch ist das Gift in den Adern und im Herzen der Gesellschaft unserer Tage verborgen, die von Christus und der Kirche abgefallen sind. Am meisten schleicht sie wie ein Krebs unter der heranwachsenden Jugend einher, deren Erfahrung ja klein genug ist, und der in geistigen Dingen der Wagemut wie von Natur innewohnt. Denn nicht weil sie ein gründliches und ausgesuchtes Wissen besitzen, sind sie dieser Haltung verfallen, kann doch zwischen Vernunft und Glaube kein wirklicher Widerspruch bestehen, (24) sondern deshalb, weil sie wunderbar hoch von sich denken, weil sie vom verderblichen Hauch des Zeitgeistes erfasst sind und gleichsam unter einem unreinen und schwülen Klima leben, weil sie keine oder nur verworrene und ungeordnete Kenntnisse von den Dingen der Religion haben und damit eine törichte Anmaßung verbinden. Die Ansteckung dieser Krankheit wird durch Unglauben und den Abfall von Gott verbreitet. Denn diejenigen, welche diese blinde Neuerungssucht berückt hat, halten sich leicht für stark genug, um das Joch der göttlichen Autorität offen oder versteckt ganz abzuschütteln und sich eine Religion zusammenzuzimmern, die kaum über die Grenzen des Naturrechtes hinausgeht uns ich jeder Geistesrichtung anbequemt. Aussehen und Namen leiht sie noch vom Christentum, in der Tat aber ist sie in Leben aufs tiefste von ihr verschieden.

17 Der ewige Krieg gegen die Sache Gottes hat so neue Kriege hervorgebracht. Die Kampfesart ist eine andere geworden, eine gefährlichere, denn gar verschlagen führt ihre Waffen eine erheuchelte Frömmigkeit, eine großmütig sich gebende Natürlichkeit, ein gereizter Wille; und mit solchen streben hier die Parteigänger, die unvereinbarsten Dinge zu vereinigen, nämlich mit den Träumen einer irrigen menschlichen Wissenschaft den göttlichen Glauben, mit dem veränderlichen Geiste eines Zeitalters die würdevolle Gleichmäßigkeit der Kirche.

Zum Vergleich die Zeit des heiligen Anselm

18 Beklagt Ihr nun dies mit Uns, Ehrwürdige Brüder, so lasst dennoch den Mut nicht sinken, gebt die Hoffnung nicht preis. Ihr wisst,, vor welch schwere Kämpfe die vergangenen Jahrhunderte die christliche Gesellschaft gestellt haben, wenn sie auch anderer Art waren als die heutigen. Blicken wir zur Ermutigung auf die Zeiten des heiligen Anselm. Die Geschichte zeigt, dass jene zu den Schwierigkeiten gehörten. Der Kampf tobte damals um Altar und Herd, d. h. um das öffentliche Recht, um die Freiheit, die Gesittung, die Wahrheit; die Hut all dieser Güter war der Kirche anvertraut; sie musste der Gewalt der Fürsten Einhalt gebieten, die gemeinhin keinen Unterschied der Rechte zu beachten pflegten; die Lasterhaftigkeit musste ausgetilgt werden, Geistesbildung und bürgerliche Gesittung bedurften eifriger Pflege; schielte man doch noch sehr nach den alten barbarischen Gebräuchen zurück. Auch in der Geistlichkeit bedurfte es teilweise des Weckrufes, und während ein Teil zu saumselig war, fehlte der andere durch Mangel an Beherrschung. Überhaupt fanden sich im geistlichen Stand viele, welche lediglich nach Verfügung der Fürsten oder durch andere verkehrte Wege für ihn ausgewählt worden waren und welche deshalb sich in sklavischer Fügsamkeit allem zu beugen pflegten.

19 Das war der Stand der Gesittung gerade in den Ländern, in welchen Anselm seine beste Kraft und Sorge aufbot, um Abhilfe zu leisten. Ihrer Besserung weihte er die lehramtliche Tätigkeit, ihr diente sein vorbildliches religiöses Leben, ihr die unausgesetzte Wachsamkeit und allseitige Regsamkeit als Bischof und Primas. Die gallischen Länder, seit wenigen Generationen von den Normannen unterjocht, und die Britischen Inseln, damals einige Jahrhunderte der Kirche einverleibt, haben vor allem die einzigartigen Wohltaten dieser Bestrebungen erfahren. Häufige Aufstände im Innern und Kriegsbedrängnis von außen hatten bei Fürsten und Untertanen, bei Klerus und Volk die guten Sitten gelockert.

20 Niemals hat es bei den führenden Männern an ernster Klage über diese Zustände gefehlt. Wir sehen unter ihnen schon Lanfrank, den alten Lehrer Anselms, seinen Vorgänger auf dem Erzstuhl zu Canterbury. Besonders ist dies von den römischen Päpsten zu sagen. Es mag genügen, an einen zu erinnern, den unbeugsamen Geist, den furchtlosen Vorkämpfer für die Gerechtigkeit, den standhaften Anwalt der kirchlichen Rechte und Freiheiten, den wachsamen Hüter und Verfechter der Zucht im geistlichen Stande, an Gregor VII.

21 In die Fußstapfen dieser Männer trat der heilige Anselm und eignete sich ihre Bestrebungen an. An den Fürsten seines Volkes, der ihn mit Vorliebe seinen Vetter und Freund zu nennen pflegte, schrieb er mit gesteigerter Betonung des Schmerzes: Wie Ihr seht, mein teuerster Herr, wird die Kirche Gottes, unsere Mutter, welche Gott als seine Freundin voll Schönheit und als seine geliebte Braut bezeichnet, von schlechten Fürsten niedergetreten. Von denjenigen, welchen von Gott ihre Obhut anvertraut ist, wird sie, ungeachtet der Strafe der ewigen Verdammnis, gepeinigt. Voll Verwegenheit rissen sie ihr Eigentum zu selbstsüchtiger Verwendung an sich. Grausam rauben sie ihr die Freiheit und erniedrigen sie zum Sklavendienst. So gottlos sind sie, dass sie ihr Gesetz und die Verbindlichkeit desselben missachten und zerstören. Sie verweigern den apostolischen Anordnungen, welche den Rückrat der christlichen Religion ausmachen, den Gehorsam und beweisen dadurch, dass sie vom Gehorsam und beweisen dadurch, dass sie vom Gehorsam gegen den Apostel Petrus, an dessen Stelle der Inhaber des apostolischen Primates steht, abgefallen sind, ja von Christus, welcher Petrus seine Kirche übergab. ... Denn alle, welche dem Gesetze Gottes nicht gehorchen wollten, werden ohne Zweifel mit gutem Recht für Feinde Gottes betrachtet (25). So trat Anselm auf. O möchten doch seine Worte immer geeignetes Gehör gefunden haben, nicht nur bei den Nachfolgern jenes tapferen Fürsten, seinen Enkeln, sondern auch sonst bei den Königen und Völkern, die er so sehr geliebt, beschützt und gesegnet hat!

Treue zu Gott und zum Heiligen Stuhl

22 Beschwernisse uns Stürme, Beraubung und Verbannung und Streitigkeiten haben, weit entfernt, seine Tugendkraft zu brechen, Anselm nur enger mit der Kirche und mit dem Apostolischen Stuhle verbunden. Ich fürchte, schrieb er deshalb mitten in Nöten und Sorgen an den schon genannten Papst Paschalis, weder Exil noch Armut, weder Folter noch Tod. Zu allem dem bin ich bereit, mit Gottes Hilfe, wenn der Gehorsam gegen den Apostolischen Stuhl und die Freiheit der Kirche Christi, meiner Mutter, es erfordern (26). Er nahm seine Zuflucht zum Stuhl Petri in der Absicht, dass niemals die Stellung der kirchlichen Religion oder der apostolischen Autorität durch ihn oder um seinetwillen an Kraft einbüße. So spricht er es selbst in den Briefen an zwei gefeierte Bischöfe der Römischen Kirche aus. In der Begründung, die er dafür angibt, findet eine hervorragende Hirtenstärke und Hirtenwürde ihren klaren Ausdruck: Eher will ich sterben und lebenslang in tiefster Art der Verbannung darben, als dass meinetwegen oder durch mein Beispiel die Ehre der Kirche Gottes die geringste Einbuße erleide (27).

23 Die Ehre, die Freiheit und Unversehrtheit der Kirche waren die drei Ideale, welche also Tag und Nacht dem Heiligen vorschwebten. Für ihre Erhaltung bestürmte er Gott mit Tränen, Gebeten und Opfern; sie zu fördern, gereute ihn keine Anstrengung, möchte er ihre Gegner tapfer zu bekämpfen oder männlich für sie zu dulden haben. Ihrer Verteidigung diente seine Tatkraft, seine Feder, sein Wort. Zu ihrem Schutze rief er die Mitglieder der Orden, die Bischöfe, den Klerus und das gläubige Volk mit hinreisender und erschütternder Beredsamkeit auf. Dabei sparte er auch die strenge Rüge jener Fürsten nicht, welche die Rechte und die Freiheit der Kirche zum großen Schaden ihrer selbst und ihrer Untertanen mit Füßen traten.

Die Regierenden zur Wahrheit anmahnen

24 Gar sehr passt sein heiliger Freimut in unserer Zeit. Ganz besonders ist er jener würdig, die der Heilige Geist als Bischöfe eingesetzt hat, die Kirche Gottes zu regieren (28). Er wird selbst dann nicht ohne Frucht sein, wen sein Wort bei glaubensleeren, sittenschwachen oder verblendeten Hörern taube Ohren findet. Uns vor allen, Ehrwürdige Brüder, gilt, wie Ihr wohl wisst, die göttliche Aufforderung: Rufe, und höre nicht auf zu rufen, wie eine Posaune, so erhebe deine Stimme (29). Sie gilt zumeist, wo der Allerhöchste selbst seine Stimme erschallen ließ (30) im Knirschen der Erde und schreckvollen Heimsuchungen, die Stimme, mit welcher der Herr die Erde erschüttert, diese Stimme, die unsern Ohren, obgleich sie es nicht hören möchten, so schrill zuruft, dass alles nichts ist, was nicht ewig ist; denn wir haben hier keine bleibende Stätte, sondern suchen die zukünftige (31). Es war die Stimme der Gerechtigkeit und doch auch des Erbarmens, denn sie rief die Völker von den Abwegen zurück zum Pfade des Rechten und Guten. Bei solchen öffentlichen Unglücksfällen müssen wir unser Wort lauter erschallen lassen. Nicht nur den untersten Schichten müssen wie die gewaltigen Beweise des Glaubens einschärfen, sondern auch den höchsten sind sie mit Nachdruck vorzuhalten, denen, die in allem Wohlstand leben, den Lenkern der Völker und den Beratern der Staatsoberhäupter und –regierungen. Allen müssen wir jene unumstößlichen Wahrheiten vorhalten, welche die Geschichte mit blutigen Zügen bestätigt hat, wie z.B. die Sätze: Die Sünde macht elend die Völker (32) – Die Mächtigen werden mächtig gestraft werden (33), ebenso das Wort aus dem zweiten Psalm: Und nun, ihr Könige, versteht, lasst euch unterrichten, die ihr Richter seid auf Erden ..., ergreifet die Zucht, dass nicht etwa zürne der Herr ihr zum Untergange gehet vom rechten Wege. Mit aller Bitterkeit werden diese Drohungen zur Erfüllung kommen, wo die Sünde öffentlich sich breit machen darf, wo man Fürsten und Untertanen gerade dadurch am schwersten gesündigt wird, dass Gott beiseite gesetzt und die Kirche verlassen wird. Diese zweifache Abkehr hat den Umsturz aller Verhältnisse zur Folge. Eine endlose Saat des Unheils entspringt aus ihr für die einzelnen wie für den Staat.

25 Wenn wir etwa meinen möchten, wir könnten solche Missetaten bei uns schweigend geschehen lassen und uns ihnen unbequemen im Verhalten, das wir nicht selten selbst bei Guten beobachten können, das sollte doch ein jeder geistliche Hirt die Worte auf sich anwenden und andern geschickt nahe zu bringen suchen, welche Anselm an den damals mächtigen Fürsten von Flandern geschrieben hat: Ich bitte und beschwöre, ich mahne und rate in treuer Sorge für Eure Seele, mein in Gott wahrhaft geliebter Herr, haltet es niemals für eine Minderung Eurer Würde und Hoheit, wenn Ihr die Freiheit der Braut Christi und Euerer Mutter, der Kirche, liebt und verteidigt. Fürchtet nicht, Euch zu erniedrigen, wenn Ihr sie erhöht, noch glaubt, in ihrer Kräftigung eine eigene Schwächung zu erleiden. Schaut achtsam um Euch, die Beispiele liegen vor Augen. Schaut auf die Fürsten, welche die Kirche befehden und drücken. Was nützt es ihnen, was erreichen sie? Jedermann sieht es, ich brauche es nicht zu sagen (34). Mit Worten von gleicher Kraft und Schönheit hat er dasselbe weiter ausgeführt in einem Briefe an den König Balduin von Jerusalem. Als treuer Freund bitte ich Euch, ermahne und beschwöre Euch unter Gebet zu Gott, untertan dem Gesetze Gottes unterwerft in allem Euern Willen dem göttlichen Willen. Dann herrscht Ihr in Wahrheit zu Eurem Nutzen, wenn Ihr nach ‚Gottes Willen herrschet. Viele schlechte Könige glauben, die Kirche Gottes sei ihnen wie eine Sklavin übergeben. So sollt Ihr es nicht halten, sondern bedenken, dass Ihr der Schützer und Verteidiger derselben sein sollt. Nichts liebt Gott mehr auf dieser Welt als die Freiheit seiner Kirche. Wer aber mehr darauf denkt, sie zu beherrschen, als sie zu fördern, der erweist sich klar als ein Feind Gottes. Für seine Braut will Gott Freiheit, nicht Knechtschaft. Sie kindlich als Mutter lieben und verehren, das heißt auf sich als Kind Gottes zeigen. Wer aber über sie herrscht wie über Unterworfene, bekundet selbst, dass er nicht ein Sohn von ihr, sondern dass er ihr fremd ist. Mit Recht wird ein solcher daher auch von dem Erbe ausgeschlossen, das jener als Brautgabe verheißen ist (35). – So glühte in der Brust des heiligen Mannes die Liebe zur Kirche und brach hervor. Der Eifer für ihre Freiheit tritt als die notwendigste Angelegenheit im christlichen Staate, als das Gott teuerstes Werk zu Tage, so zwar, dass derselbe vortreffliche Lehrer kurz und kraftvoll den Grundsatz behauptet: Nichts liebt Gott mehr auf dieser Welt als die Freiheit seiner Kirche. Und mit nichts, Ehrwürdige Brüder, kann besser gezeigt werden, was Unsere Gedanken und Absichten sind, als wenn die Worte, die Wir eben angeführt haben, recht häufig gesprochen werden.

26 Auch die Worte, welche er an die Fürsten und Edlen gerichtet hat, möchten Wir Uns gleichermaßen zu eigen machen. Er schreibt an Mathilde, die Königin von England: Wenn Ihr gerecht, trefflich und erfolgreich in der Tat danken wollt, so denkt an jene Königin, welche er aus dieser Welt zu seiner Braut erheben wollte. ... An diese, sage ich, denket ... sie sollt Ihr erheben, ehren und verteidigen, damit Ihr in dieser Braut und mit ihr Gott gefallet und in ewiger Seligkeit mit ihr herrschet und lebet (36). Insbesondere dann, wenn Ihr einen Sohn findet, den die weltliche Macht aufgebläht hat, oder der seiner liebvollen Mutter vergaß und ihren Rechten Abtrag tut, dann vergesst nicht die Worte: Eure Sache ist es, dieses und ähnliches häufig, ob gelegen oder ungelegen, zur Beherzigung vorzulegen, und Sorge zu tragen, dass derselbe sich nicht als Herrn, sondern als Schützer, nicht als Stiefsohn, sondern als Kind der Kirche bewähre (37). Unsere Pflicht gebietet uns das. Es gereicht uns zur Zierde, solche aus dem edeln und väterlichen Herzen des heiligen Anselm stammende Worte zu empfehlen und in den Herzen mit Sorgfalt zu befestigen: Würde ich von Euch etwas hören, was Gott nicht gefällt und Euch nichts nützt, und würde ich es unterlassen. Euch zu warnen, so würde ich weder Gott fürchten noch Euch pflichtgemäß lieben (38). – Sollten wir hören, dass Ihr die Eurer Hand anvertrauten Kirchen anders behandelt, als wie es denselben und Eurem eigenen Seelenheile frommt, dann befiehlt uns das Vorbild des heiligen Anselm, Euch eindringlich zu bitten, vorzustellen und zu mahnen, doch ja diese Angelegenheiten mit großer Achtsamkeit wahrzunehmen, und wenn Ihr im Gewissen auf Dinge stoßet, welche der Besserung bedürfen, ohne Verzug diese zu bewirken (39). Denn man darf verbesserungsfähige Verhältnisse nicht verächtlich beruhen lassen. Gott wird von allen Rechenschaft fordern, nicht bloß über das, was sie Böses getan haben, sondern auch für das Böse, das sie zu bessern versäumt haben, obwohl sie es hätten tun können. Je größerere Gewalt jemand gegeben ist, bessernd zu wirken, um so strenger fordert Gott von ihm, dass er der Gewalt, die ihm aus Barmherzigkeit anvertraut ist, in Willen und Werk gerecht werde. ... Könnt Ihr nicht alles auf einmal vollbringen, so lasst den Eifer nicht erlahmen und strebt von einem guten Ziel zum andern und besseren vorzudringen. Gute Absichten und Unternehmungen pflegt Gottes Güte zur Verwirklichung zu führen und mit vollem Segen zu vergehen (40).

Vertrauensvoller Mut

27 Diese und ähnliche Erinnerungen hat einst der Heilige mutvoll den Königen und Machtgewaltigen zugerufen. Und sie geziemen sich an erster Stelle für die gerechten Hirten und Fürsten der Kirche, denen ja die Verteidigung der Wahrheit, Gerechtigkeit und Religion anvertraut ist. Wohl hat uns die Zeit viele Hindernisse in den Weg gelegt. Viele Fallstricke lauern auf uns, und kaum findet sich irgendwo eine Stelle, wo man ungehemmt uns sicher sich bewegen könnte. Während man in allen Verhältnissen die Zügel gelockert und die Willkür straflos walten lässt, schlägt man die Kirche hartnäckig und streng in Fesseln. Den Namen Freiheit behält man wie zum Spott noch bei und erfindet täglich neue Künste, Eure und des Klerus Tätigkeit zu unterbinden. So kann man sich nicht wundern, dass Ihr nicht alles zumal tun könnt, um die Menschen von Irrtum und Sünden zurückführen, schlechte Gewohnheiten abzustellen, in die Herzen die Begriffe von wahr und recht einzupflanzen und endlich die Kirche, welche unter so vielen Schwierigkeiten seufzt, zu fördern.

28 Doch dürfen wir guten Mut bewahren. Der Herr lebt. Er wird bewirken, dass denen, die Gott lieben, alles zum Guten hilft (41). Auch aus den Übeln wird er Gutes herleiten und der Kirche um so herrlichere Triumphe bereiten, je vermessener menschlicher Aberwitz sein Werk zu stören sich bemüht hat. Dass ist der bewunderungswürdige Ratschluss der göttlichen Vorsehung: das sind in den heutigen Verhältnissen seine unerforschlichen Wege (42); meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr (43). So muss die Kirche der Verähnlichung mit Christus, welcher so vieles und so Schweres erduldet hat, täglich näher kommen und sein getreues Abbild werden; so muss sie gewissermaßen erfüllen, was an den Leiden Christi noch fehlt (44). Darum ist ihr die Zeit des irdischen Kriegsdienstes das ‚Gesetz gegeben, dass sie in Kämpfen, Mühsalen und Nöten sich stets erprobt. In dieser Lebenslage soll sie durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen (45) und zuletzt der triumphierenden Kirche im Himmel sich einmal anschließen können.

29 Der heilige Anselm wendet darauf die Stelle bei Matthäus an: Jesus trieb seine Jünger an, in dass Schifflein zu steigen, und erklärt sie folgendermaßen: Nach dem mystischen Sinn wird hier im allgemeinen der Stand der Kirche von der Ankunft des Erlösers bis zum Ende der Welt beschrieben. ... Das Schifflein also wurde mitten auf dem Meere von den Fluten hin und her geworfen, während Jesus auf dem Gipfel des Berges weilte; denn seitdem der Erlöser zum Himmel hinaufgestiegen ist, haben große Trübsale die Heilige Kirche in dieser Welt befallen, und viele Verfolgungen haben sie mit ihren Stößen getroffen, der verkehrte Sinn böser Menschen sie mannigfach bedrückt und vielfältig lasterhaft versucht. Denn der Wind war ihr entgegen, weil stets die Geister des Bösen ihr widerstehen, auf dass sie nicht zum Hafen des Heiles gelange; der Wogenprall der Gegnerschaft dieser Welt soll sie bedecken und alle Widrigkeiten über sie bringen, welche dieselbe wirken kann (46).

Der Kampf gegen die Religion

30 Demgemäß befinden sich jene in einem großen Irrtum, welche von einem Zustande der Kirche frei von allen Störungen träumen und eine Gestaltung erhoffen, bei welcher alles nach Wunsch geht, wo niemand gegen die Geltung und Betätigung der kirchlichen Gewalt sich auflehnt, so dass man gleichsam des süßesten Friedens genießen könnte. Noch kläglicher ist die Täuschung derjenigen, welche sich von der falschen und eitlen Hoffnung auf einen solchen Frieden verleiten lassen, Besitz und Recht der Kirche zu verschleiern, sie privaten Rücksichten hintansetzen, widerrechtlich zu verkleinern und einer Welt, die ganz im argen liegt (47), beizupflichten, indem sie sich den Anschein geben, nach der Gunst jener Anhänger neuer Richtung zu haschen und mit ihnen die Kirche aussöhnen zu wollen, gleich als könnte es jemals eine Vereinbarung zwischen Licht und Finsternis oder zwischen Christus und Belial geben. Das sind Fieberträume. Ihre Trugbilder sind nie verschwunden und werden nie verschwinden, solange es feige Krieger gibt, die beim ersten Anblick den Schild wegwerfen und fliehen, oder Verräter, die nicht schnell genug mit dem Feinde ein Abkommen treffen können, das heißt in unserem Falle mit Gottes und des Menschengeschlechtes unversöhnlichstem Gegner.

Die Geistlichen Hirten

31 Die göttliche Vorsehung hat Euch, Ehrwürdige Brüder, zu Hirten und Führern des christlichen Volkes bestellt. Daher erwächst für Euch die Pflicht, nach Kräften dafür zu sorgen, dass unsere solch Bestrebungen geneigte Zeit aufhöre, während eines so erbitterten Kampfes gegen die Religion sich in schimpflicher Sorglosigkeit und Erschlaffung zu Gefallen, aufhöre, eine neutrale Stellung einzunehmen, dass sie aufhöre, durch Ausflüchte und Halbheiten göttliches und menschliches Recht zu beugen, und tief und dauernd jenes sichere und klare Wort Christi ins Herz eingrabe: Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich (48). Gewiss sollen die Diener Christi von väterlicher Liebe überfließen, denn ihnen gilt der Satz des heiligen Paulus: Ich bin allen alles geworden, um alle zu retten (49). – Gewiss kann es einmal geraten sein, etwas von seinem strengen Rechte zurückzutreten, wo es das Heil der Seelen zulässt oder fordert. Euch, welche die Liebe Christi drängt, trifft sicher hierin kein Verdacht, etwas verfehlt zu haben. Die Beobachtung der Angemessenheit unterliegt nicht dem Vorwurf der Pflichtverletzung, sie rührt auch nicht im mindesten an den ewigen Grundlagen der Wahrheit und Gerechtigkeit.

32 So ist es auch, wie wir in der Geschichte lesen, in der Sache des heiligen Anselm, oder besser gesagt, in der Sache Gottes und der Kirche gehalten worden, für welche er so lange und schwere Kämpfe wagen musste. Als der lange Streit endlich beigelegt worden war, da hat Unser schon oft erwähnter Vorgänger Paschalis die folgenden Worte des Lobes an ihn gerichtet: Das hat, so glauben wir, der Zauber Deiner Liebe und Deine Beharrlichkeit im Gebete zustande gebracht, dass die Erbarmung von oben jenem Volke hierbei zu teil geworden ist, welchen du als sorgsamer Hirt vorstehst. – Über die väterliche Nachsicht, mit welcher derselbe oberste Hohepriester die Schuldbeladenen aufnahm, lesen wir: Dass Wir so weit Uns herabgelassen haben, ist, wie Du weißt, aus Teilnahme und Mitleid geschehen. Wir wollten dadurch die Gelegenheit gewinnen, die Gefallenen aufzurichten. Der Stehende kann einem Gefallenen nur dann die Hand reichen und ihn aufrichten, wenn er auch sich selbst niederbeugt. Ein solches Sichniederbeugen kann dem Falle nahe scheinen, aber es verliert nicht den festen Standpunkt des Rechts (50).

Das Vorbild des heiligen Anselm

33 Was Unser edler Vorgänger zum Troste des heiligen Anselm ausgesprochen hat, machen wir Uns zu eigen, jedoch ohne Uns zu verhehlen, welch bange Zweifel gerade die besten geistlichen Hirten manchmal durchkämpfen müssen, wenn es in einer strittigen Sache sich fragt, ob Nachgiebigkeit oder entschiedener Widerstand am Platze sei. Die Beängstigungen, das Zagen und die Tränen heiliger Männer beweisen das, welche sie schwere Verantwortlichkeit der Seelenleitung und die Größe der über ihnen lastenden Gefahr wohl kannten. Ein hervorragendes Beispiel dessen bietet das Leben des heiligen Anselm. Von den liebgewordenen Übungen der Frömmigkeit und des Studiums wurde er in bedrohlichsten Zeiten, wie schon erwähnt wurde, zu den höchsten Ämtern berufen und musste sich den schwierigsten Aufgaben unterziehen. Und während er dabei von zahlreichen Sorgen bedrängt wurde, war seine größte Furcht immer die, er möchte für sein und des Volkes Heil, für die Ehre Gottes und die Würde der Kirche zu wenig tun. In den Stunden der Niedergeschlagenheit seiner Seele, welche solche Gedanken herbeiführten, in dem Schmerze, den der Abfall so vieler, selbst aus der Zahl kirchlicher Würdenträger, ihm bereitete, da war die vertrauensvolle Zuversicht auf Gottes Hilfe und die Zuflucht im Schoße der Kirche seine beste Erquickung. So floh er aus dem Schiffbruch und aus dem Gewoge der Stürme an die Mutterbrust der Kirche und erbat vom Papst in Rom gütige und rasche Hilfe und Trost (51). Vielleicht hat es aber gerade Gottes Weisheit gefügt, dass dieser Mann einzigartiger Weisheit und Heiligkeit von so vielen Bedrängnissen heimgesucht worden ist. Denn durch seine Kümmernisse kann er uns zum Beispiel und Trost gereichen in den Arbeiten des kirchlichen Amtes und in den großen Schwierigkeiten, die uns verfolgen, und in denen jeder von uns die Gefühle und Wünsche des heiligen Paulus in sich erwecken darf, der schreibt: Gern will ich meiner Schwachheiten mich rühmen, damit in mir wohne die Kraft Christi, deshalb freue ich mich meiner Leiden ..., denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark (52). Verwandt mit diesen Worten ist, was Anselm an Urban II. geschrieben hat: Heiliger Vater, es schmerzt mich, zu sein, was ich bin, und es schmerzt mich, nicht zu sein, was ich war. Es schmerzt mich, Bischof zu sein, weil ich meiner Sünden wegen nicht tue, was des Bischof Amt ist. Als ich in niedriger Stellung mich befand, schien ich etwas zu leisten; zum hohen Amte auserlesen, drückt mich seine schwere Last, und ich erreiche für mich selbst keinen Gewinn noch bringe ich andern Nutzen. Ich unterliege unter der Last, weil es mir mehr, als man glauben möchte, an der kraft der Tugendfülle, dem Fleiße und der Wissenschaft fehlt, die zu solchem Amte erforderlich sind. Ich wünsche einer unerträglichen Sorge los zu werden und ihrer Last mich ledig machen; im Gegensatz dazu fürchte ich, Gott zu beleidigen. Die Furcht Gottes hat mich angetrieben, die Last auf mich zu nehmen; gleiche Gottesfurcht drängt mich, sie auf mir zu behalten. ... Da mir der Wille Gottes nur verborgen ist und nicht weiß, was ich tun soll, so irre ich seufzend umher und weiß nicht, nach welchem Ausgang der Angelegenheit ich streben soll (53).

Eifer und Gehorsam dem Apostolischen Stuhl

34 Gottes Güte wollte es fügen, dass Männer von ausgezeichneter Heiligkeit recht erfahren sollen, wie schwach ihre Natur ist. Daran sollen alle sich überzeugen, dass der von oben gegebenen Tugend vollständig zuzuschreiben sei, was sie Hervorragende vollführten. Und jene Demut des Geistes soll dadurch in ihnen geweckt werden, welche die Menschen zu inniger Ergebenheit gegen die kirchliche Autorität führt. Anselm und andern Bischöfen, welche für die Freiheit und Wahrheit der Kirche unter Führung des Apostolischen Stuhles im Kampfe standen, ist dies geglückt. Der Gehorsam führte sie in den Kämpfen zum Sieg, und ihr Beispiel bestätigt den göttlichen Ausspruch: Ein gehorsamer Mann wird sich des Sieges rühmen (54). Diejenigen haben die größte Hoffnung auf einen solchen Erfolg, welche dem Stellvertreter Christi mit lauterem Herzen gehorsamen in allen auf die Leitung der Seelen, die Verwaltung der christlichen Gemeinschaft bezüglichen Dingen oder irgendwie mit denselben verbundenen Angelegenheiten; denn für die Söhne der Kirche unterstehen Wege und Entschließungen der Autorität des Apostolischen Stuhles (55).

35 Wie rühmenswert hat Anselm auf diesem Gebiet sich bewährt! Mit welchem Eifer, mit welcher Treue hat er der Verbindung mit dem Heiligen Geist festgehalten! Wir haben einen Maßstab dafür in den Worten, welche in einem Schreiben eben desselben an Papst Paschalis zu lesen sind: Wie eifervoll mein Herz die Ehrfurcht und den Gehorsam gegen den Apostolischen Stuhl sucht und pflegt, bezeugen meine vielen und schweren Trübsale, die allein Gott und ich kennen. ... Ich hoffe in Gott, dass nichts mich davon wird abziehen können. Soweit es mir möglich ist, will ich daher all meine Handlungen der Leitung dieser Autorität unterstellen, und wo es nötig ist, ihrer Berichtigung anvertrauen (56).

36 Alle Taten und Schriften geben Zeugnis von demselben festen Willen des Mannes. Obenan stehen dabei jene anmutigen Briefe, von denen Unser schon genannter Vorgänger Paschalis sagt, sie seien mit dem Griffel der Liebe geschrieben (57). Nicht allein gütigen Beistand und Trost erbittet er aber in seinen Briefen (58), sondern sie enthalten auch das Versprechen, dass er ohne Unterlass sein Gebet zu Gott senden werde. So richtet der Abt von Beck an Urban II. die liebevollen Worte: Für Eure und der Römischen Kirche Bewahrung vor Trübsal, die auch unsere und wohl aller Gläubigen Trübsal ist, bitten wir unablässig zu Gott, auf dass er Euch lindere die bösen Tage, bis dem Sünder ein Grab gegraben wird (59). Und wenn es auch scheint, als zögere er, so sind wir doch dessen gewiss, dass er nicht dauernd die Herrschaft der Sünder über dem Los der Gerechten dulden wird; denn er wird sein Erbe nicht im Stiche lassen, und die Pforten der Hölle werden gegen dasselbe nicht obsiegen (60).

37 Außerordentlich erfreuen Wir Uns an diesen und ähnlichen vom heiligen Anselm niedergeschriebenen Sentenzen, teils weil sie das Andenken an den Mann neu beleben, der in seiner Ergebenheit gegen diesen Apostolischen Stuhl wahrlich von niemand übertroffen wird, teils weil sie Uns an Eure treue Gesinnung, Ehrwürdige Brüder, in Kämpfen gleicher Art erinnern, die Ihr in Euren Briefen und so vielen andern Zeichen der Verbindlichkeit dargelegt habt.

Der Zusammenschluss der Glieder mit dem Haupte muss täglich inniger werden

38 Die Stürme, welche im langen Laufe der Jahrhunderte gegen das Christentum erbraust sind, haben wahrlich ganz wunderbar zur Kräftigung und Befestigung der Verbindung gewirkt, durch welche die Bischöfe und die gläubige Herde täglich enger dem römischen Papste anhängen bis auf diese Tage; und in ihnen ist der Eifer hierin so sehr gewachsen, dass man es als ein Wunder Gottes betrachten möchte, wie der Wille der Menschen zu einer solchen Einmütigkeit sich zusammenschließen konnte. Diese Einigkeit, getragen von Gehorsam und Liebe, richtet Uns mächtig auf und bestärkt Uns; der Kirche selbst dient sie zur Zierde und zum kräftigsten Schutz. Der Neid der alten Schlange aber regt sich um so gehässiger gegen uns, je größer die Wohltat ist, die uns beglückt; böse Menschen sammeln um so heftigeren Zorn in sich an gegen uns, je mehr die Überraschung über die unerwarteten Vorgänge sie erschüttert. Denn mit Bewunderung sehen sie hier Dinge, die keine andere Gesellschaft aufweisen kann, und können über die Ursachen derselben sich nicht klar werden. Die politischen Vorgänge bringen ihnen keine Erklärung dafür, noch vermögen sie eine andere zureichende Ursache in den menschlichen Verhältnissen zu finden.

39 An jenes erhabene Gebet denken sie nicht, das Christus beim letzten Abendmahle im Kreise der Apostel verrichtete (61), und welches im Erfolge keine Kraft offenbart. Daher muss, Ehrwürdige Brüder der Zusammenschluss der Glieder mit dem Haupte täglich inniger werden. Alle Mühe müsst Ihr Euch hierfür geben, geleitet nicht von irdischen Rücksichten, sondern von dem Gesichtspunkt der göttlichen Ziele, so dass alle eins seien (62) in Christus. Wenn wir diesem Ziele mit allen Kräften und Mitteln zusteuern, dann erfüllen wir die uns übertragene Pflicht, Christi Werk zu fördern und sein Reich auf Erden auszubreiten, aufs Beste. In diesem Geiste betet die Kirche freudig zu ihrem himmlischen Bräutigam mit inständigem Flehen, und auch Unsere innigsten Wünsche spricht dieses Gebet aus: Heiliger Vater, bewahre diejenigen, die du mir gegeben hast, in deinem Namen, damit sie eins seien wie auch wir (63).

Ansteckung durch den Zeitgeist

40 Das Ziel dieser Bestrebungen ist die Verteidigung der Kirche nicht allein gegen die äußeren Angriffe jener, welche im offenen Kampf die Rechte und Freiheiten derselben zu erschüttern suchen, sondern auch gegen die Gefahren des häuslichen, inneren Krieges. Es geschah oben dieser Gefahr Erwähnung, als Wir Unserem Schmerze darüber Ausdruck gaben, dass eine gewisse Gruppe mit listiger Umdeutung die Form und Natur der Kirche in ihrem Kerne abzuändern sucht, die Reinheit der Lehre bedroht und alle Zucht verderben möchte. Noch schleicht jenes Gift durch den Zeitgeist und steckt viele an, selbst Mitglieder des geistlichen Standes, besonders von den jüngeren. Sie werden, wie Wir hervorgehoben haben, gleichsam von der verdorbenen Luft erfasst, und die entfesselte Neuerungssucht reißt sie, ohne ihnen Besinnung zu lassen, unaufhaltsam fort.

durch Materialismus

41 Auch in der Klasse der Menschen geringerer Geistestiefe und Selbstbeherrschung gibt es solche, welche die augenblicklichen Errungenschaften der naturwissenschaftlichen Forschung und die technische Bereicherung in Nutzbarmachung und Verschönerung dieses Lebens als neue Angriffswaffen gegen die göttliche Offenbarungswahrheit mit großer Schlauheit und Frechheit zu kehren suchen. Diese mögen doch bedenken, wie weit die Begünstiger dieser unbesonnen Neuerungen auseinandergehen in ihren Ansichten über Dinge, die zur Erkenntnis der Seele und zur rechten Lebensführung durchaus notwendig sind. Da mögen sie erkennen, wie der menschliche Stolz gerade dadurch gestraft wird, dass solche zu keiner festen Überzeugung kommen und auf ihrer Fahrt schon von den Wellen verschlungen werden, ehe sie den Hafen der Wahrheit nur erblicken können. Allein diese haben auch an ihrem eigenen Beispiel, von sich bescheiden zu denken und von sich alle Pläne fernzuhalten und alle Überhebung, welche gegen die Weisheit Gottes sich auflehnt, und ihren Geist dem Gehorsam gegen Christus gefangen zu geben (64).

durch Agnostizismus

42 Von der allzu großen Anmaßung sind sie sogar eher in den entgegngesetzten Fehler verfallen. Sie folgten einer philosophischen Methode, welche an allen zweifelt und die Dinge gleichsam in Nacht hüllt, und bekannten sich zum Agnostizismus mit dem ganzen Gefolge seiner Irrtümer, die fast unzählig nach Menge und Mannigfaltigkeit in wunderlicher Weise einander widersprechen. In diesem Widerstreit sind sie der Eitelkeit verfallen mit ihrem Denken ...; indem sie sich für weise erklärten, sind sie zu Toren geworden (65).

43 Bei dem Aufputz großklingender Worte und dem Versprechen, eine neue, gleichsam vom Himmel gefallene Wissenschaft und neuentdeckte Methode des Lernens mitzuteilen, ist inzwischen ein Teil der Jugend wankend geworden und begann sich allmählich abzuwenden. Gleiches widerfuhr einst Augustinus, als der Trug der Manichäer ihn umgarnt hatte. Indessen haben Wir über die unglückseligen Lehrer dieser wahnwitzigen Wissenschaft, ihre Anschläge, Täuschungen und Blendwerke Uns genugsam in dem Rundschreiben vom 8. September 1907 Pascendi dominici gregis geäußert.

44 Da aber müssen Wir an dieser Stelle erwähnen, dass die dort bezeichneten Gefahren jetzt noch schwerer und drohender geworden sind. Und sie sind denen nicht ganz unähnlich, welche zur Zeit des heiligen Anselm die Kirchenlehre bedrohten. Außerdem müssen wir beherzigen, dass Anselm fast gleichermaßen durch seine Lehr zur Hut der Wahrheit und durch seine apostolische Tatkraft für die Verteidigung der kirchlichen Rechte und Freiheit uns Schutz und Trost bringen kann.

Gefahren in der Zeit des heiligen Anselm

45 Wir übergehen hier den Rückstand der Gesittung jener Zeit und der Bildung bei Klerus und Volk und wollen kurz die doppelt Gefahr berühren, die damals die Geister beunruhigte, doppelt, weil dieselben nach zwei entgegengesetzten Abwegen auseinander gingen.

46 Da waren eitle und alberne Menschen, oberflächlich und ungenau unterrichtet, die, während sie sich der unverdauten Masse ihrer Kenntnisse rühmten, doch nur vom leeren Schein der Philosophie und Dialektik berückt waren. Indem sie ihr trügerisches Scheinwissen mit dem Namen der Wissenschaft bezeichneten, glaubten sie die geistliche Autorität missachten zu dürfen. Mit Frevelmut erkühnen sie sich, Einwände zu erheben gegen alles, was der christliche Glaube lehrt. ... Eher urteilen sie in hochmütiger Unwissenheit, dass es nichts gebe, was sie nicht einsehen können, als dass sie in weiser Demut geständen, wie viele Dinge es gibt, welche sie nicht erfassen können. ... Wenn manche kaum begonnen haben, von ihrer Wissenschaft voll Selbstvertrauen die Früchte zu erzielen, und noch gar nicht wissen, dass, wie sehr man auch etwas zu wissen meint, doch noch lange nicht auch die rechte Methode der Wissenschaft gewonnen ist, da vermessen sie sich schon, die schwierigsten Fragen über den Glauben in Angriff zu nehmen, noch ehe sie zu diesem Flug durch festen Glauben die Vorbereitung erworben haben. Daher kommt es dann ..., dass sie beim verfrühten Versuch, zur geistig-vernünftigen Erfassung des Glaubensinhaltes sich zu erheben, infolge des Mangels an Vernunftdurchbildung in vielerlei Irrtümer herabgedrängt werden (66). Solche Beispiele schweben Uns auch aus dem heutigen Leben in großer Zahl vor Augen.

47 Auf der andern Seite hinwieder gab es Leute, welche durch den Sturz der vielen, die am Glauben Schiffbruch gelitten hatten, so erschüttert wurden, dass sie bei ihrer geistigen Genügsamkeit und Zaghaftigkeit, aus Furcht vor der Wissenschaft, die aufbläht, alle Beschäftigung mit der Philosophie, vielleicht selbst jede ernste Erörterung sogar über geistliche Dinge, flohen.

48 Die katholische Übung hält zwischen beiden die Mitte ein. Sie hält sich gleich fern von den Überschreitungen der erstgenannten Gruppe – die Gregor IX. im folgenden Jahrhundert schon rügte, weil sie vom Geist der Eitelkeit strotzten und den Glauben über Gebühr der Vernunft anpassen wollten, dabei aber das Wort Gottes durch die Beimengung philosophischer Meinungen entstellten (67) – wie von der Saumseligkeit der andern, die von keinem Wunsche, die Wahrheit zu erforschen, berührt werden, noch durch den Glauben zur Erkenntnis vorzudringen (68) suchen, selbst wenn ihr Amt ihnen die Pflicht auferlegte, den wahren Glauben gegen die zusammengetragenen Irrtümer zu verteidigen.

Anselm, der Vorläufer der Scholastik

49 In dieser Aufgabe der Glaubensverteidigung scheint Gott den heiligen Anselm berufen zu haben. Durch Beispiel, Wort und Schrift scheint er bestimmt gewesen zu sein, den sichern Weg zu zeigen, den Trank der christlichen Weisheit zum allgemeinen Wohl darzubieten und den Lehrern Führer und Regel zu sein, die nach ihm die heilige Wissenschaft in der Weise der Scholastik lehrten (69). Mit Recht wird er für ihren Vorläufer gehalten.

50 Das ist nicht so zu verstehen, als hätte der Kirchenlehrer von Aosta beim ersten Anlauf die Höhe der philosophischen und theologischen Spekulation erreicht oder als sei er zu einer Berühmtheit gelangt gleich den großen Theologen Thomas und Bonaventura. Zur Reife der Weisheit dieser Männer bedurfte es der Zeit und der vereinigten Arbeit der Lehrer in der vorangehenden Epoche. Mit der Bescheidenheit des echten Gelehrten hat Anselm, obwohl ebenso produktiven und scharfsinnigen Geistes, keine seiner Schriften herausgegeben, ohne dass die Zeitlage es erfordert oder andere angesehene Männer ihn dazu getrieben hätten. Immer hat er die Mahnung auf den Lippen: Wenn wir etwas geschrieben haben, was der Berichtigung bedarf, so weigerten wir uns nicht, sie vorwegzunehmen (70). Ja in Sachen, die nicht zum Glauben gehören und über die noch Unklarheit bestand, wollte er nicht, dass der Schüler so an das, was wir lehrten, sich halte, dass du auch dann noch hartnäckig darauf beharrest, wenn ein anderer dies mit besseren Gründen entkräften und das Gegenteil erweisen kann. Wo das eintrifft, wirst du immerhin nicht in Abrede stellen, dass die Erörterung uns in der Kunst des Disputierens gefördert habe (71).

Dialektiker in der Zeit des Anselm

51 Dennoch hat er weit mehr erreicht, als er selbst hoffte oder ein anderer sich versprochen hätte. Denn seine Erfolge sind so bedeutend, dass der Ruhm der nach ihm aufgetretenen Theologen sein Verdienst nicht verdunkeln konnte, selbst nicht der Glanz des heiligen Thomas, obwohl letzterer nicht allen Schlussfolgerungen des heiligen Anselm beitrat und andere Gegenstände später umfänglicher und vollkommener behandelt wurden. Das Hauptverdienst bleibt dem heiligen Anselm, dass er der Forschung die Wege gebahnt, ängstliche Befürchtungen gegen den Wissenschaftsbetrieb zerstreut, minder Vorsichtige hinwieder vor Gefahr gefeit und die Schädigungen hohlen, leichtfertigen Eigensinns abgewehrt hat. Mit Recht hat er selbst letzteren Geist mit den Worten gekennzeichnet: Jene Dialektiker unserer Zeit oder besser die dialektischen Häretiker (72), weil ihr Geist im Bann ihrer Träumereien und ihres Ehrgeizes sich allein bewegte.

Beziehung zwischen Philosophie und Theologie

52 Bezüglich dieser eben Erwähnten äußerte er sich so: Wenn alle zu ermahnen sind, dass sie nur mit größter Vorsicht an die Untersuchung der Offenbarungswahrheiten herantreten, so muss man jene Dialektiker unserer Zeit führwahr ganz von der Erörterung theologischer Fragen fernhalten. Und der Grund, den er hierfür angibt, passt trefflich auf die heutigen Nachtreter dieser Richtung, welche jene Torheiten aufs neue nachbeten: Die Vernunft, welche Fürst und Führer für alles sein muss, was im Menschen ist, ist in ihren Seelen so sehr von den körperlichen Phantasiebildern umwölkt, dass sie denselben gar nicht entwinden kann, noch von ihnen dasjenige recht zu unterscheiden vermag, was sie allein und für sich zum Gegenstand ihrer Betrachtung machen muss (73). Auf unsere Zeit sind auch die Worte anwendbar, mit welchen er die Philosophen jener Klasse verspottet, welche gegen die von den heiligen Vätern bestätigte Wahrheit des Glaubens sich wenden, weil sie nicht einsehen können, was Gegenstand des Glaubens ist. Es ist, wie wenn Fledermäuse und Nachteulen, die nur nachts den Himmel sehen, eine Meinung über die Lichtstrahlen der Mittagssonne gegen die Adler durchsetzen wollen, welche die Sonne selbst mit offenem Blick schauen (74). Daher hat er hier wie an anderen Stellen (75) die verkehrte Haltung derjenigen getadelt, welche der Philosophie ungebührliche Konzessionen machten und ihr selbst das Recht zugestanden, in das Gebiet der Theologie einzubringen. Solcher Verkehrtheit trat der treffliche Lehrer entgegen und stellte die Grenzen beider Disziplinen fest, ohne zu vergessen, welche Aufgabe die Vernunft in Hinsicht auf di mit der göttlichen Offenbarungslehre in Verbindung stehenden Dinge habe. Unser Glaube, sagt er, muss gegen die Gottlosen mit Vernunftgründen verteidigt werden. – Aber wie und wie weit? – Darüber gibt er im folgenden klaren Aufschluss: Man muss ihnen mit Vernunftgründen zeigen, wie unvernünftig ihre ablehnende Haltung gegen uns ist. (76)

53 Die Hauptaufgabe der Philosophie ist also die klare Darlegung, dass unser Glaube eine vernünftige Zustimmung ist und, was sich daraus ergibt, dass es Pflicht ist, der Autorität sich zu unterwerfen, wenn sie die tiefen Geheimnisse des göttlichen Glaubens vorlegt, die durch die reichlichsten Merkmale der Wahrheit gar sehr glaubhaft geworden sind (77). Seht verschieden hiervon ist die theologische Aufgabe. Die Theologie stützt sich auf die göttliche Offenbarung und wirkt für die Befestigung jener im Glauben, welche bereits zur christlichen Sache mit Freude und zu ihrer Ehre sich bekennen. Kein Christ darf also bei der wissenschaftlichen Erörterung den kirchlichen Glaubensinhalt und das kirchliche Glaubensbekenntnis in Frage stellen. Feststehend auf dem Standpunkt des Glaubens, voll Liebe zu ihm und in seiner treuen Betätigung soll der Christ mit aller Demut in der Untersuchung nur zu verstehen suchen, wie die Wahrheit des Glaubens sich ergibt. Vermag er das einzusehen, so danke er Gott; kann er es nicht, so erhebe er nicht das Haupt, um zu kritisieren, sondern er beuge sich, um anzubeten (78).

54 Wenn daher entweder die Theologen nach Vernunftgründen für unsern Glauben suchen oder die Gläubigen nach solchen verlangen, so stützen sie sich nicht auf diese Gründe, sondern auf die Autorität des sich offenbarenden Gottes. Da erfüllt sich, war wir bei Anselm lesen: Wie die rechte Ordnung verlangt, dass wir die tiefen Lehren des christlichen Glaubens, welche Geheimnisse genannt werden, annehmen, ehe wir sie der Vernunfterkenntnis zu unterziehen versuchen, ebenso scheint es mir eine Nachlässigkeit zu sein, wenn wir uns nicht um ein Verständnis des Glaubensinhaltes bemühen, nachdem wir zur Befestigung im Glauben gelangt sind (79). Hier stimmt er mit seinem Wort über das Verständnis wahrhaft mit dem Vatikanischen Konzil (80) überein. An einer anderen Stelle drückt er sich ja folgendermaßen aus: Wenngleich nach den Aposteln unsere vielen heiligen Väter und Lehrer so vieles und Bedeutsames über den Grund unseres Glaubens aussprechen ..., so haben sie doch nicht alles gesagt, was ihnen bei längerem Leben möglich gewesen wäre, und die Wahrheit ist so groß und tief, dass kein Sterblicher auf ihren Grund hinabdringt. Der Herr hört nun in seiner Kirche, bei welcher er bis zum Weltende zu bleiben versprochen hat, nicht auf, die Geschenke seiner Gnade zu spenden. Ich will von andern Ermunterungen der Heiligen Schrift, die zur Erforschung ihres Sinnes einlädt, schweigen. Doch wo sie sagt: Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht zum Verständnis kommen, da ermutigt sie uns doch offenbar, unser Streben auf die Erkenntnis zu richten, indem sie lehrt, wie wir zu ihr vordringen sollen. Wir dürfen hierbei den Grund nicht übersehen, welchen er zuletzt angibt: Zwischen Glauben und Schauen halte die Einsicht, die wir in diesem Leben erlangen, die Mitte. Zu dem Maße (also), als jemand nach jener strebt, in dem wird er sich dem Schauen nähern, nach dem wir alle uns sehnen (81).

55 So hat – um hierbei stehen zu bleiben – Anselm für die Philosophie und Theologie ein festes Fundament gelegt. Das ist die Ordnung des Studiums, welche der Nachwelt zum Gebrauch vorgelegt hat. Die weisesten Vertreter und Fürsten der Scholastik haben sie eingehalten und mit bedeutsamen Zutaten bereichert, sie erläutert und fortgebildet der Kirche zu hehrer Zier und Wehr, darunter zumeist der Kirchenlehrer Thomas von Aquin.

Schluss

Wir haben all dies über den heiligen Anselm erwähnen wollen, Ehrwürdige Brüder, weil Wir dabei gewünschte Gelegenheit zur Ermahnung fanden, wie Ihr die heilvollen, zuerst vom Doktor von Aosta erschlossenen und vom heiligen Thomas reichlich vermehrten Quellen der christlichen Weisheit dem Nachwuchs des geistlichen Standes sorgfältig offen halten sollt. Möchte nie vergessen werden, was hierüber Unser Vorgänger seligen Angedenkens, Leo XIII. (82), und Wir selbst an Bestimmungen erlassen haben, unter anderem besonders in dem Rundschrieben vom 8. September 1907 Pascendi dominici gregis. Allzu viele Ruinen sind zu sehen, welche die Vernachlässigung dieser Studien oder ihr Betrieb ohne sichere Wegrichtung geschaffen hat, da selbst viele Kleriker ohne entsprechende Veranlagung und Vorbereitung unbedenklich sich kühn an die schwierigsten Fragen des Glaubens heranmachten (83). Mit Anselm trauern Wir über solche Vorkommnisse und schließen Uns seinen ernsten Mahnworten an: Keiner soll verwegen sich in die verwickelten Fragen der Gotteswissenschaft hineinwagen, ehe er zur Festigkeit im Glauben gekommen ist und eine ernste sittliche Haltung und ernste Erschaffung der Weisheit erreicht hat, auf dass er nicht, unvorsichtig und oberflächlich die mannigfaltigen Winkelzüge der Sophistik abwandelnd, von irgend einem Irrtum dauernd gefesselt werde (84). Wo Leichtsinn und Leidenschaft sich die Hand reichen, wie es vorkommt, da ist es vorbei mit ernsten Studien und der Reinheit der Lehre. Aufgeblasen von unwissendem Hochmut, wie ihn Anselm bei seinen dialektischen Häretikern mit Schmerz feststellt, verachten sie die geistliche Autorität, die Heilige Schrift, die Väter, die Kirchenlehrer; und doch kann über diese, wer einigermaßen Ehrfurcht hat, nicht anders urteilen, als dass er sagt: Weder jetzt noch in künftigen Zeiten können wir jemand erhoffen, der jenen gleichkäme in Betrachtung der Wahrheit (85).

56 Ebenso wenig wissen sie die Mahnungen der Kirche und ihres Oberhauptes zu schätzen, welche sie zu einer besseren Haltung zurückrufen möchten. Statt Tatsachen zu zeigen, suchen sie mit guten Worten sich los zu machen, bereit zu einer scheinbaren Ergebenheit, und mit diesen Äußerlichkeiten streben sie in weiten Kreisen Ansehen und Gunst zu erlangen. Es ist kaum noch Hoffnung, dass diese zu einer besseren Einsicht zurückkehren; denn sie haben den Gehorsam gegen jenen verweigert, welchen die göttliche Vorsehung als Herrn und Vater der ganzen Kirche, die auf Erden pilgert, die Hut des christlichen Glaubens und Lebens und die Leitung der Kirche übertragen hat. Dort ist daher die Stelle, wo am allerrichtigsten in der Kirche gegen den Glauben auftretende Irrtümer ihre maßgebende Berichtigung finden. Nirgendwo anders kann mit größerer Sicherheit das, was dem Irrtum entgegengestellt wird, zur umsichtigen Prüfung vorgetragen werden (86). Möchten doch diese Feinde, welche sich so rein, so offen, so pflichttreu, so erfahren in Leben und Religion, so tätig im Glauben hinstellen, die weisen Worte des heiligen Anselm vernehmen, sein Beispiel befolgen und vor allem tief ins Herz sich die Worte einschreiben: Zuerst muss durch den Glauben das Herz rein gemacht werden ... Zuerst muss durch Beobachtung der Gebote Gottes das Auge erleuchtet werden, in demütigem Gehorsam gegen die Bezeugungen Gottes müssen wir erst Kinder werden, um Weisheit zu lernen. Und nicht nur für den Aufstieg zur höheren Erkenntnis verliert der Geist ohne Glauben und Gehorsam gegen die Gebote Gottes die Fähigkeit, sondern auch die schon gewonnene Erkenntnis geht wieder verloren, und der Glaube selbst bricht zusammen, wo das gute Gewissen nicht bewahrt wird (87).

57 Aufrührerische und verkehrte Menschen werden fortfahren, Irrungen und Zwietracht zu veranlassen, das Erbgut des heiligen Glaubens zu zerpflücken, die christliche Zucht zu verletzen, ehrwürdige Übungen, die zu durchbrechen eine Art Häresie ist (88), dem Spott preiszugeben, ja sogar die göttliche Gründung der Kirche selbst an ihrer Wurzel umzustürzen; so seht Ihr, Ehrwürdige Brüder, wie sehr Wir wachen müssen, dass dieses schwere Verderben nicht die Herde Christi, ganz besonders nicht ihre jugendlichen Sprossen, erfasse. Mit unablässigem Gebet flehen Wir dafür zu Gott, unter Anrufung des kräftigen Schutzes der allerheiligsten Mutter Gottes und der Fürbitte der triumphierenden Kirche im Himmel, besonders des heiligen Anselm, dieser Leuchte christlicher Weisheit, dieses unbestechlichen Hortes und Verfechters aller kirchlichen Rechte. Ihn dürfen wir mit demselben Worten jetzt bestürmen, mit denen einst Gregor VII., Unser Vorgänger, in ihn drang, als er noch auf Erden weilte: Der Wohlgeruch Deiner guten Werke ist bis zu Uns gedrungen. Wie danken Wir Gott dafür und umarmen Dich aus herzlicher Liebe in Christus! Wir glauben fest, dass das Vorbild Deiner Studien die Kirche Gottes zu besseren Verhältnissen führen wird und dass Deine Gebete und diejenigen Deiner Geistesverwandten sie nach Christi Barmherzigkeit aus den drohenden Gefahren erretten können. ... Daher wünschen Wir, dass Du und Deine Genossenschaften unablässig zu Gott beten mögen, er möge seine Kirche und Uns, die Wir, ob zwar unwürdig, ihr vorstehen, vor dem Ausbruch häretische Gefahren bewahren und jene vom Irrtum heilen und auf den Pfad der Wahrheit zurückführen (89).

58 Im Vertrauen auf solchen Schutz und in Erwartung Eurer eifrigen Mitarbeit erteilen Wir als Interpfand der Gnade und als Zeichen Unseres besonderen Wohlwollens Euch allen, Ehrwürdige Brüder, Eurem gesamten Klerus und dem einem jeden von Euch anvertrauten Volk in aller Liebe den apostolischen Segen im Herrn.

Gegeben zu Rom bei Sankt Peter
am Feste des heiligen Anselm, am 21. April 1909,
im sechsten Jahre Unseres Pontifikates.
Papst Pius X.

Anmerkungen

(1) 1 Kor 4, 9.

(2) Kol 3, 11.

(3) Zum Regierungsantritt, Freiburg im Breisgau 1904.

(4) 1 Kor 15, 41.

(5) Römisches Brevier am 21. April.

(6) Epidzedium zum Tod des heiligen Anselm; cf. Op. Ed. Gerberon, Paris. 1721, Suppl.

(7) Grabschrift.

(8) Epizedium.

(9) Epizedium zum Tod des heiligen Anselm.

(10) Römisches Brevier am 21. April.

(11) Briefe des heiligen Anselm 2. Buch, 32. Brief.

(12) Ebd. 3. Buch, 74. und 42. Brief.

(13) 1 Kor 2, 14.

(14) Epizedium zum Tod des heiligen Anselm.

(15) Römisches Brevier am 21. April.

(16) Briefe des heiligen Anselm 3. Buch, Brief 44 und 74.

(17) Gal 4, 19.

(18) Spr 14, 34.

(19) Lk 19, 14.

(20) Jo 8, 44.

(21) Kol 2, 8.

(22) Röm 1, 21.

(23) 1 Tim 1, 10.

(24) Conc. Vat. Const. Dei filius No. 4. Denzinger, Enchir. N. 1645 (9. Aufl.).

(25) Briefe des heiligen Anselm 3. Buch, 65. Brief.

(26) Ebd. 73. Brief.

(27) Briefe des heiligen Anselm 4. Buch, 48. Brief.

(28) Apg 20, 28.

(29) Is 58, 1.

(30) Ps 17, 14.

(31) Hebr 13, 14.

(32) Spr. 14, 34.

(33) Weish 6, 7.

(34) Briefe des heiligen Anselm (ed. Gerberon) 4. Buch, 13. Brief.

(35) Ebd. 9 Brief.

(36) Briefe des heiligen Anselm 3. Buch, 57. Brief.

(37) Ebd. 59. Brief.

(38) Ebd. 4. Buch, 54. Brief.

(39) Briefe des heiligen Anselm 4. Buch, 54. Brief.

(40) Ebd. 3. Buch, 142. Brief.

(41) Röm 8, 28.

(42) Röm 11, 38.

(43) 55, 8.

(44) Kol 1, 24.

(45) Apg 14, 21.

(46) 3. Homilie.

(47) 1 Jo 5, 19.

(48) Mt 12, 30.

(49) 1 Kor 9, 22.

(50) Briefe des heiligen Anselm 3. Buch, Brief 140.

(51) Briefe des heiligen Anselm 3. Buch, 37. Brief.

(52) 2 Kor 12, 9.10.

(53) Briefe des heiligen Anselm 3. Buch, 37. Brief.

(54) Spr 21, 28.

(55) Briefe des heiligen Anselm 4. Buch, 1. Brief.

(56) Briefe des heiligen Anselm 4. Buch, 6. Brief.

(57) Ebd. 3. Buch, 74. Brief.

(58) Ebd. 37. Brief.

(59) Ps 98, 13.

(60) Briefe des heiligen Anselm 2. Buch, 33. Brief.

(61) Jo 17, 1-26.

(62) Jo 17, 21.

(63) Jo 17, 11.

(64) 2 Kor 10, 4.5.

(65) Röm 1, 21.22.

(66) Sankt Anselm, Über den Glauben an die Dreifaltigkeit, Kap. 2.

(67) Gregor IX., Brief an die Theologen zu Paris, 7. Juli 1228. Denz. 379.

(68) Briefe des heiligen Anselm 2. Buch, 41. Brief.

(69) Römisches Brevier am 21. April

(70) Weshalb Gott Mensch wurde, 9. Buch, 22. Kap.

(71) De Grammatico, 21. Kap. am Ende.

(72) Über den Glauben an die Dreifaltigkeit, 2. Kap.

(73) Ebd.

(74) Ebd.

(75) Briefe des heiligen Anselm 2. Buch, 41. Brief.

(76) Ebd.

(77) Ps 92, 5.

(78) Über den Glauben an die Dreifaltigkeit, 2. Kap.

(79) Weshalb Gott Mensch wurde, 1. Buch, 2. Kap.

(80) Konstitution Dei filius, 4. Kap.

(81) Über den Glauben an die Dreifaltigkeit, Vorrede.

(82) Rundschreiben Aeterni patris vom 4. August 1879. Erste Sammlung S. 54ff.

(83) Über den Glauben an die Dreifaltigkeit, 2. Kap.

(84) Ebd.

(85) Über den Glauben an die Dreifaltigkeit, Vorrede.

(86) Ebd.

(87) Über den Glauben an die Dreifaltigkeit, Vorrede.

(88) Sankt Anselm, Über die Ehe der Blutsverwandten, 1. Kap.

(89) Briefe des heiligen Anselm 2. Buch, 31. Brief.